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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am Dienstag 2. März 2021

Nicht für jeden gleich geil

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Durch die Woche mit Ariane Lemme

Gerechtigkeit bedeutet nicht immer Gleichbehandlung. Für manche ist es schlimmer ist als für andere, gerade ihr Leben zu verpassen.

Schockschwerenot! Als müsste man derzeit nicht eh schon mit mannigfachen Schreckensnachrichten fertigwerden, las ich diese Woche auch noch von jenem Fall, den der Bundesgerichtshof gerade verhandelt: Ein 44-Jähriger hatte geklagt, weil er nicht aufs Isarrauschen vorgelassen wurde, ein Technofestival in München. (Keine Sorge, das war schon 2017, Sie haben also keine illegale Coronaparty verpasst.)

Ob der Mann und seine Begleiter den Türstehern wirklich zu alt waren, wie sie vermuten, oder ob andere Gründe auch eine Rolle spielten, ist nicht ganz klar. Die Begründung des Veranstalters lautet aber, „… der Jurist passe nicht zur Zielgruppe der „Partygänger“ zwischen 18 und 28 Jahren. Man entscheide nach dem optischen Eindruck.“

Mich hat die Meldung jedenfalls in Panik versetzt. Ich weiß nicht, wovon andere derzeit träumen, um nicht den Verstand zu verlieren, für mich sind es klar zwei Dinge: endlich wieder in einem Flugzeug nach irgendwo (möglichst weit weg) zu sitzen – und dieser Wunsch ist bizarr genug für jemanden mit absurder Flugangst wie mich, deshalb lasse ich die sozial erwünschte Flugscham jetzt mal lässig weg.

Und: endlich wieder inmitten anderer schwitzender Menschen meinen Körper zu verlassen, mich aufzulösen, zu reiner Trance in Bewegung zu werden, sprich: in einen Klub zu gehen. Jetzt kann es aber gut sein, dass ich, wenn es endlich so weit ist, 44 Jahre alt bin. Und selbst wenn nicht – schon das letzte Mal, als ich in der Schlange vorm Berghain stand – vor ziemlich genau einem Jahr … ach, lassen wir das, Sie können es sich denken.

Besser also, ich sehe schon jetzt meinem Luxusproblem ins Auge: „Heute leider nicht“ steht fett über meiner Zukunft. Tanzen kann ich fortan zu Hause. Und ich kann mir immerhin die Würde bewahren, dann, wenn die Klubs wieder öffnen, nicht gegen mein Draußenbleiben zu klagen. Klar, man soll gegen jede Art von Diskriminierung kämpfen, auch gegen Altersdiskriminierung. Aber zum Älterwerden gehört auch manchmal Einsicht. Etwa die, dass Gerechtigkeit nicht immer Gleichbehandlung bedeutet.

Die Panik vor Privilegien kotzt mich an

Ich bin ja nicht die Einzige mit Fomo, Fear of missing out, also der Angst, was zu verpassen. Alle verpassen gerade ihr Leben. Und mein Gerechtigkeitssinn sagt, dass das für manche schlimmer ist als für andere. Nämlich für die, die, rein statistisch, nicht mehr so viel Leben vor sich haben, das sie, statt es vor dem Fernseher oder sinnlosen Zoomkonferenzen zu verplempern, auskosten können. Lustigerweise sind das genau die, die jetzt, wenn auch läppernd, geimpft werden. Die Panik wegen irgendwelcher „Privilegien“ für diese Menschen kotzt mich deshalb an.

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Ich sage: Rollt die Alten samt ihren Pfle­ge­r:in­nen in die Theater, karrt sie in Reisebussen an die Côte d’Azur oder wo auch immer sie hinwollen, und verkneift euch den Neid. Der war noch nicht mal niedlich, als man noch um acht Uhr ins Bett musste und der ältere Bruder noch „Wetten, dass..?“ gucken durfte.

Mit Neid auf andere versaut man nur sich selbst das Leben, und das kann man sich beim derzeitigen Stand des Spaßbarometers eigentlich nicht leisten. Sich für andere freuen kann die eigene Laune hingegen erstaunlicherweise auch heben, auch wenn’s, ehrlich gesagt, sauschwer ist. Ich konnte sie jedenfalls nicht finden, diese Freude, damals vor einem Jahr in der Schlange vorm Berghain.

Quelle        :      TAZ        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —             Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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