Der Minority Report
Erstellt von Redaktion am Montag 16. März 2020
Europa steckt in der Krise, endlich kann es was lernen
Für allzu viele Politiker – Innen sind Worte leider nur Schall und Rauch
Von Fatma Aydemir
Vor fünf Wochen saß ich im Zug nach Süddeutschland. Zwei Asiat_innen stiegen ein. Ich sah sie viermal an mir vorbeiziehen. Es gab hier und da freie Plätze, vorsichtig bewegten sie sich auf sie zu, doch jedes Mal wurden sie abgeschreckt von dem kollektiven Starren des halben Waggons. Sie beschlossen, es woanders zu probieren. Am Ende standen sie auf einer dieser wackligen Metallplatten, die zwei Waggons verbinden, mit größtmöglichem Abstand zu allen anderen, die inzwischen passiv-aggressiv zu tuscheln begannen.
Was Asiat_innen wegen Corona erlebten, als sein Ausbruch sich noch weitgehend auf China und dessen Nachbarländer beschränkte, ist dasselbe, was muslimisch markierten Personen mit 9/11 passiert war: Schuldzuweisung für eine globale Krise, aufgrund von phänotypischen Merkmalen. Es gibt einen Ausdruck dafür: gruppenbezogener Rassismus.
Natürlich hat es Rassismus schon vor Corona gegeben, doch er wurde mit dem Ausbruch des Virus besonders greifbar, besonders spürbar. Dass heute Europa zum Corona-Epizentrum geworden ist und Europäer_innen in viele Länder nicht mehr einreisen dürfen, ist insofern vielleicht gar nicht mal so schlecht.
Ich meine das nicht zynisch. Auch ich sorge mich um meine Mitmenschen. Auch ich nehme die Pandemie ernst. Aber ich denke, es geht beides zusammen: sich des Ernsts der Lage bewusst sein und die Chancen in ihr erkennen.
Sogar in Polen liest sich manches besser!
Denn mit Corona sind wir dieselbe Gesellschaft wie vorher, nur dürfen wir uns jetzt quasi durchs Mikroskop betrachten. „Unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander sind auf eine Probe gestellt“, fasste es Bundeskanzlerin Merkel am Donnerstag zusammen, als sie uns alle darum bat, in Selbstisolation zu gehen. Diese schönen Worte hätten auch als Kommentar nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau gepasst oder als Reaktion auf die desaströse Lage für Geflüchtete an der türkisch-griechischen Grenze. Nur hätten sie sich weniger Menschen zu Herzen genommen. Das Virus aber kann jeden von uns treffen. Er macht keine Unterschiede. Die Gesellschaft schon.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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