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Der Kampf unseres Lebens

Erstellt von Redaktion am Sonntag 7. September 2014

Machen wir Halt: 
Der Kampf unseres Lebens

von Naomi Klein

Diese Geschichte handelt von miserablem Timing. Eine der verstörendsten Auswirkungen, die der Klimawandel schon heute zeitigt, bezeichnen Ökologen als mismatch oder mistiming. Gemeint ist der Prozess, in dem Tierarten aufgrund der Erderwärmung den Anschluss an die Entwicklung lebenswichtiger Nahrungsquellen verlieren, und zwar insbesondere während der Brutperioden. In diesen kann es zu rapiden Populationsverlusten kommen, wenn die Tiere nicht genug Futter finden.

Das Zugverhalten vieler Singvogelarten hat sich über Jahrtausende so entwickelt, dass die Jungtiere exakt dann schlüpfen, wenn Nahrungsquellen besonders üppig sprudeln und den Eltern genügend Futter – Raupen beispielsweise – für ihre hungrigen Jungen bieten. Doch weil der Frühling heute oft zeitiger einsetzt, schlüpfen auch die Schmetterlinge früher, weshalb Raupen in manchen Gegenden ausgerechnet dann weniger reichlich vorkommen, wenn die Vogelküken schlüpfen. Das aber bringt eine Reihe bedrohlicher Folgen für die Gesundheit und die Zahl der Nachkommen mit sich.

Ähnlich ergeht es den Rentieren in Westgrönland. Wenn sie die Gebiete erreichen, in denen die weiblichen Tiere üblicherweise kalben, finden sie heute nicht mehr genügend jener Futterpflanzen, auf die sie sich seit Jahrtausenden verlassen. Denn diese wachsen und vergehen wegen der ansteigenden Temperaturen früher. Deshalb müssen die Renkühe in der Schwangerschaft, bei der Milchproduktion und Versorgung ihres Nachwuchses, mit weniger Energie auskommen. Diese Inkongruenz wird mit einem starken Geburtenrückgang und deutlich verringerten Überlebensraten in Verbindung gebracht. Wissenschaftler untersuchen derzeit bei Dutzenden von Tierarten, bei arktischen Küstenseeschwalben (Sterna paradisaea) ebenso wie bei Trauerschnäppern (Ficedula hypoleuca), das Auftreten klimabedingter Unzeitigkeiten. Doch eine wichtige Spezies entgeht ihrer Aufmerksamkeit gänzlich: Der Homo sapiens, also wir selbst. Auch wir leiden in Sachen Klima unter einem schrecklichen mistiming, wenngleich eher in kulturgeschichtlicher als in biologischer Hinsicht. Unser Problem besteht darin, dass die Klimakrise uns ausgerechnet an dem Punkt der Geschichte ereilte, an dem die politische und gesellschaftliche Konstellation für die Lösung eines Problems dieser Art und Größenordnung geradezu einmalig ungünstig aussah – nämlich am äußersten Zipfel der partygestimmten 1980er Jahre. Damals rief man gerade den neoliberalen Kreuzzug zur Ausbreitung des deregulierten Kapitalismus über den ganzen Erdball aus. Nun stellt der Klimawandel aber ein Kollektivproblem dar, das kollektives Handeln erfordert, und zwar in Größenordnungen, welche die Menschheit so noch nie wirklich zu bewältigen hatte. Doch ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit trat das Problem ausgerechnet mitten in einem Kulturkampf, in dem schon die Idee der Kollektivität als solche erbittert bekämpft wurde.

Quelle: Blätter >>>>> weiterlesen

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Fotoquelle: Wikipedia – Author Mediatus

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