Der Blick über den Zaun
Erstellt von Redaktion am Freitag 3. April 2020
Coronavirus: Zwischen Orakel und Prognose
Quelle : INFOsperber CH.
Virologen sind die Experten dieser Tage. Wir glauben ihnen alles. Obwohl sie nur vermuten. Eine kleine Geschichte der Wahrsagerei.
Im Jahr 2019, als das Coronavirus Sars-CoV-2 noch kein Thema war, sass ich in netter Runde einer Virologin gegenüber. Sie arbeitete beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) und studierte den Verlauf von Grippewellen in der Schweiz. Wir sprachen über Grippeviren und den Schutz davor. Ich würde mich mit vielen Vitaminen dagegen wehren, insbesondere mit dem C. Das sei doch sinnvoll, oder? Ihr Lächeln war mild und höflich. Sie blieb stumm. «Oder?» insistierte ich. Als Mittel gegen Grippeviren sei Vitamin C im Bereich des Aberglaubens einzuordnen, hob sie an. «Vermutlich» sei es wichtiger, das Immunsystem nicht zu schwächen. Geschwächt werde es etwa mit viel Rauchen, viel Alkohol, viel Stress und wenig Schlaf, erklärte sie geduldig.
Nun lächelte sie wie die Mona Lisa: irritierend geheimnisvoll. Aber ich glaubte ihr bedingungslos, auch wenn sie «vermutlich» sagte.
An dieses Mona-Lisa-Lächeln werde ich erinnert, wenn ich gegenwärtig von Ferne sehe, wie die Virolog*innen den Lauf der Welt vorhersagen. Sie tun das mit Prognosen. Und wir glauben ihnen – bedingungslos. Auch wenn sie «hoffen» und «vermuten», «spekulieren» oder «schätzen». Und sich untereinander «in aller Deutlichkeit» widersprechen. Sie haben in den letzten Wochen eine herausragende gesellschaftliche Position erlangt. Ein Berufsstand, den vor Corona nur wenige wahrgenommen haben. Er bestimmt nun den Gang der Welt und hat (vorübergehend) die Ökonomie abgelöst.
Aber die Virolog*innen können unmöglich wissen, was diese winzigsten, «vermutlich» hochgefährlichen Partikel, künftig treiben werden. Weil alles so komplex und unübersichtlich ist im Gewusel von unvorstellbar vielen Daten, Irrationalitäten und Möglichkeiten. Entscheidend ist nur, die Vorhersagen überzeugend zu vertreten. Wer dies beherrscht, erreicht eine gewisse Hoheit über die Meinung anderer. Hilfreich ist dabei die Prominenz der Institution, des Expertenwissens, das er/sie vertritt. Eine überragend exklusive Position, fast ein Deutungsmonopol, hat das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin erlangt. Und die ersten Medienstars sind auch schon bestimmt: Frau Dr. Melanie Brinkmann, Professorin am Institut für Genetik an der Technischen Universität Braunschweig und Herr Professor Dr. Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie an der Charité – Universitätsmedizin in Berlin.
Virologen spenden Trost und Hoffnung
Zum Glück sind die Prognosen der Virolog*innen vielfältig, kreativ und bunt. Die ganze Weltbevölkerung kann irgendetwas finden, das Trost und Hoffnung spendet. Denn viel mehr können die Virolog*innen auch nicht tun, als Trost und Hoffnung spenden. Das ist das Wesen der Wahrsagerei.
Wahrsagen ist historisch in allen Gesellschaften und Zeitabschnitten überliefert. Und nur gottähnlichen Wesen wurde eine «Kenntnis» der Zukunft zugewiesen.
Georges Minois ist ein französischer Historiker, spezialisiert auf Religions-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte. In seinem Werk «Geschichte der Prophezeiungen», erschienen 2002, erzählt er die Geschichte von Techniken, die Zukunft vorherzusagen. Er zieht die Linie von vorchristlichen Orakeln und Prophezeiungen bis zu Utopien und wissenschaftsbasierten Prognosen (letztere würden momentan die Virolog*innen betreffen). Die Epochen und Formen überlappen sich und sind zeitlich nicht eindeutig abzugrenzen. Sie sind aber durch eine Dominanz einzelner Praktiken charakterisiert. Dabei wandelt sich die Bedeutung, Praktiken geraten aus der Mode und werden neu entdeckt.
Die Techniken haben Namen. Lekanomantie (Weissagung mittels Öl), Teratomantie (Vorhersagen anhand von Missbildungen) oder die Oniromantie (Deutung von Warnträumen). Artemidor von Daldis’ Werk «Traumdeutung», im 2. Jahrhundert der Kaiserzeit des Römischen Reichs geschrieben, wurde bis in die frühe Neuzeit übersetzt. Selbst Sigmund Freud zitierte noch daraus. Eine hoch entwickelte Technik war das Haruspizium, die Vorhersage anhand der Betrachtung der Eingeweide speziell geschlachteter Opfertiere. Erste Zeugnisse stammen aus dem Alten Orient und lassen sich bis 3000 vor Christus zurückverfolgen.
Die Herrschaft der Futurokratie
Wahrsager deuteten äussere Zeichen – im Unterschied zum Propheten. Er verkündet Worte, die er direkt von einem Gott empfangen haben soll. Das Orakel wiederum ist mit der Prophetie verwandt. Dem Orakel, der rituellen Befragung einer höheren Instanz, kam im antiken Griechenland eine grosse Bedeutung zu. Minois spricht von einer «Futurokratie», einer Herrschaft der (angeblichen) Zukunft. Die Griechen waren die ersten, die das Problem der Vorhersage zu ergründen suchten.
Und damit auch die Utopie, den Entwurf einer besseren Welt. In Platons utopischem Staat besitzt die «Oberschicht» maximal das vierfache der «Unterschicht». Gelderwerb und Handel diente nur dem Wohl von allen. Konträr zum platonischen Staat steht die Sonneninsel des Jambulos im 3. Jahrhundert v. Chr., ein anarchistisch-egalitäres Schlaraffenland. Die Römer hingegen bevorzugten die bukolische Idylle als utopische Gesellschaftsvariante.
Parallel dazu verlor das kollektive Schicksal an Bedeutung. Das Individuum schob sich in den Vordergrund und damit die Astrologie: die Kunst, das individuelle Schicksal mit Konstellationen der Planeten am Tag der Geburt vorherzusagen. Die erste Astrologieschule der hellenistischen Welt gründete der Babylonier Berossos gegen Ende des vierten Jahrhunderts vor Christus auf der Insel Kos. Seine Lehren machten ihn bei der geistigen Elite berühmt. Die Astrologie kam dem Streben nach Rationalität und gedanklicher Strenge entgegen. Sie wurde als Wissenschaft betrachtet.
Im Vergleich dazu waren die Römer intellektuelle Banausen. Aber ihr Selbstbild war grandios. Sie wollten nicht die Meinung der Götter wissen, sondern diese beugen. Sie versuchten Sonnenfinsternis, Blitz und Donner nicht zu deuten, sondern den Zorn der Götter auszuschalten. Als Seher, Propheten und Orakel in der Bevölkerung aber immer populärer wurden, sah Kaiser Augustus darin ein aussergewöhnliches Machtpotential. Er verbot die Praktiken, liess sämtliche Schriften konfiszieren und verwendete sie als exklusives Herrschaftsinstrument.
Die Kirche kontrolliert die Vorhersage
Mit der Bekehrung der ersten Kaiser zum Christentum blieb die Prophetie – die direkte Zukunfts-Inspiration durch einen Gott. Der Schwerpunkt der Ankündigungen verschob sich von politischen und militärischen Ereignissen auf globale Dimensionen: auf das Ende dieser Welt. Die Orakelstätten wurden zerstört, Bücher mit heidnischen Prophezeiungen verbrannt, Haruspizium mit Folter und Tod bestraft. An die Stelle des Kaisers, der bislang die Kontrolle über die Weissagung für sich beansprucht hatte, trat die Kirche.
Die prophetische Religion verkündete ein baldiges Ende dieser Welt. Aber die christlichen Hohepriester standen bald wieder im Wettbewerb mit der ordinären Prophetie. Das frühe Mittelalter sei geprägt von einem «spontanen Durcheinander» verschiedenster Traditionen. Die Masse sei gierig auf beruhigende Gewissheiten. Sie sei bereit, jede Ankündigung zu akzeptieren. Wichtig sei, einen festen Punkt in der Zukunft zu versprechen, schreibt Minois. Die intellektuelle Stagnation des frühen Mittelalters wurde zunächst durch ein Revival antiker Schriften und der Astrologie abgelöst, dann durch eine erneute Banalisierung der Vorhersagen, ehe ab dem 17. Jahrhundert die modernen Wissenschaften die seherischen Disziplinen verdrängten.
Die modernen, so genannt exakten Wissenschaften haben seither eine spektakuläre Entwicklung und Popularisierung hingelegt. Das wissenschaftliche Expertentum hat die christlichen Hohepriester abgelöst. Gemeint sind Naturwissenschaften wie Biologie, Chemie, Physik, Medizin und ihre spezialisierten Ausprägungen. Die Geisteswissenschaften, obwohl sie nicht nur auf Nanopartikel, sondern aufs grosse Ganze schauen, haben sich im Wettbewerb der Deutungsmacht kaum etablieren können. Die modernen Naturwissenschaften sind geprägt von wissenschaftsbasierten Prognosen – von Versuch und Irrtum, von Annahmen und Annäherungen, nicht mehr.
In diese exklusive Kaste haben sich auch die Ökonomen geschoben. Mehr noch: Sie haben in den letzten hundert Jahren eine beherrschende Machtposition erhalten – obwohl sie noch anfälliger sind für Annahmen, deren Gültigkeit kaum nachgewiesen werden kann. Denn «ökonomische Modelle beschreiben Menschen (…) und keine Magnetresonanzen oder Elementarteilchen. Menschen ändern einfach ihre Meinung und verhalten sich völlig anders, als angenommen», schreibt Robert J. Shiller, Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaft.
Ökonomie als Form der Wahrsagerei
Eine noch originellere Definition von Ökonomen, die sich im Bereich der Meinungsforschung etablierten, hat Hans Magnus Enzensberger geliefert. Der deutsche Dichter und Schriftsteller bezeichnete 1965 das Institut für Demoskopie Allensbach als Orakel vom Bodensee. Er sah eine «strukturelle Ähnlichkeit mit den mantischen Praktiken der Alten Welt. (…) Demoskopische Befragungen werden im Allgemeinen in Auftrag gegeben: Der Unwissende bringt den Priestern von Allensbach seine Opfergaben dar und stellt seine Fragen. Die Pythia antwortet nicht auf eigene Faust, sie gibt die Fragen an eine höhere Instanz weiter, an die Stimme Gottes, die im Jargon der Demoskopen «repräsentativer Querschnitt» heisst.»
Ökonomen irren jeden Tag. Finanzanalysten, die irgendwelche Aussagen über Wertpapiere machen, über Unternehmen, Volkswirtschaften, Kapitalmärkte und Branchen, sowieso. Ihre meist schriftlichen Analysen verfassen sie aufgrund von Informationen, kaum überprüfbaren Vorkenntnissen und Vermutungen, was die Zukunft bringen wird. Die Analysen münden in Empfehlungen und beeinflussen in ihrer Gesamtheit den Lauf der (Wirtschafts-)Welt. Im Grunde ist es nichts anderes als im Durcheinander von unvorstellbar vielen Daten und im Chaos der menschlichen Befindlichkeiten irgendeine Behauptung aufzustellen und diese beharrlich zu vertreten.
Die Tätigkeit des Finanzanalysten unterscheidet sich kaum von jener der Wahrsagerei. Auch die Prognosearbeit der Virolog*innen – vielleicht etwas weniger explizit – ist nur eine durch vermeintliches Expertenwissen abgestützte Behauptung. Die Eingebung beziehen sie ebenfalls aus schrecklich vielen, nicht quantifizierbaren Risiken. Aber Virolog*innen haben einen grandiosen Vorteil: Ihr Ruf ist noch nicht beschädigt. Ihnen traut man eine ethische Gesinnung zu – den (Finanz)-Ökonomen kaum.
PS 1: Die NZZ lies am 28. März 2020 einen Wirtschaftswissenschaftler und einen Virologen zusammen über den Lauf der Welt plaudern. Eine derart absurde Kombination wäre vor zwei Monaten undenkbar gewesen.
PS 2: Die nette Virologin mit dem Mona-Lisa-Lächeln «vermutete» kürzlich am Telefon, dass die Krise eineinhalb Jahr dauern könnte. Diesmal glaube ich ihr nicht. Ich will, dass die Zukunft nicht so lange dauert.
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