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Den Osten gibt es nicht

Erstellt von Redaktion am Freitag 26. Juli 2019

Essay zum Gebiet der ehemaligen DDR

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Den Platz hat übernommen:  der Staatsfunk der BRD einschließlich der  Zwangsgebühren?

Von Gunnar Hinck

Vor den Wahlen wollen wieder alle den Osten verstehen. Doch der hat sich längst ausdifferenziert bis zur Unkenntlichkeit.

Es stehen drei Landtagswahlen im Osten an, und damit schlägt wieder die Stunde der Ostversteher. Viele Redaktionen schicken derzeit ReporterInnen los, die sich auf die Suche nach der Ostseele begeben sollen. Und wenn der Herbst jene Wahlergebnisse – AfD! – liefern sollte, die die öffentliche Mehrheitsmeinung darin bestätigen, dass der Osten ein merkwürdiges Terrain ist, dann wird Anne Will natürlich zur Krisensitzung am Sonntag laden. Der Osten wird wieder auf die Couch gelegt werden.

Aber was ist eigentlich ostdeutsch? Eine rein geografische Definition – der Osten ist das Gebiet der ehemaligen DDR – ist inzwischen selbst den Apologeten des Ostdeutschen zu dürftig. Dafür ist die Mauer inzwischen zu lange Vergangenheit; nach einer Datenanalyse von Zeit Online sind bis zum Jahr 2017 rund 3,7 Millionen Ostdeutsche in den Westen gegangen und 2,5 Millionen Westdeutsche in die andere Richtung – für ein Gebiet, das 1989 16 Millionen Menschen zählte, sind das gewaltige Zahlen.

Je unklarer ist, was ostdeutsch eigentlich ist, desto schwieriger werden die Definitionsversuche. Als vor ein paar Monaten eine Ostquote für Führungspositionen diskutiert wurde, kursierten komplizierte Vorschläge. Einige übernahmen eine eigenwillige Definition aus einer wissenschaftlichen Studie zum MDR-Film „Wer beherrscht den Osten?“. Ostdeutsch sind demnach neben gebürtigen DDR-Bürgern auch „junge Menschen, die nach 1975 in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern geboren wurden und durch ihr Umfeld ostdeutsch sozialisiert wurden“. Der aus Hessen stammende Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow, der seit fast 30 Jahren im Osten lebt, ist demnach kein Ossi. Und darf sich ein Kind von eingewanderten Wessis, 1991 in Dresden geboren, ostdeutsch nennen? Ist es ausreichend „ostdeutsch sozialisiert“ oder lebt es nur in einer Blase von Zugezogenen?

Der Versuch, eine Art ostdeutsche Sonder­ethnie mit komplizierten Zugehörigkeitsbedingungen zu schaffen, kann nur schiefgehen – und hat den Geschmack totalitärer Systeme, die Bevölkerungsgruppen bürokratisch nach Herkunft und Geburtsjahr kategorisieren.

Nudossi statt Nutella

Andere versuchen es mit der vermeintlich ostdeutschen Mentalität, aber es mangelt bis heute an einer überzeugenden Klärung, was das eigentlich sein soll. Die einen nennen Alltagskultur und Konsumverhalten (Nudossi statt Nutella), andere werden grundsätzlich („Die DDR war der erste antifaschistische Staat auf deutschem Boden“). Manche betonen das angeblich menschlichere Miteinander („Wir gehen offener und direkter miteinander um“), wieder andere erklären die Protestneigung im Osten mit den Entwertungen von Biografien nach dem Systemwechsel von 1989/90.

In den nuller Jahren kursierte die These, dass der Osten für Deutschland das ist, was der amerikanische Süden für die USA bedeutet: ein Landstrich mit kulturellem Eigensinn und eigener Geschichte; arm, aber stolz. Nur: Der Vergleich funktioniert nicht. Wer einen Südstaatler fragt, was der „Deep South“ ist, wird immer wieder ähnliche Antworten bekommen: das Lebensgefühl, die kulinarischen Vorlieben, der gemeinsame Dialekt, die Verwurzelung im Ländlichen, die Abgrenzung zum Norden – Eigenschaften und Vorlieben, die sich über Jahrhunderte schufen und über Klassen und die ethnische Herkunft hinweggehen. Im deutschen Osten gibt es keine derartiger Eigenschaften, die einen Konsens finden würden. Selbst der naheliegende Punkt – Abgrenzung zum Westen – wird vermutlich nicht (mehr) mehrheitsfähig sein.

Historisch gesehen war die DDR nur ein Wimpernschlag. Der Osten ist regional, mental und wirtschaftlich zu heterogen, um nach 1990 eine eigene Identität geschaffen zu haben. Historisch haben ein Mecklenburger und eine Bautzenerin nichts miteinander zu tun, die Ost-West-Grenze wurde 1945 dafür viel zu willkürlich gezogen. Ältere Prägungen schlagen jetzt, wo die Episode DDR immer länger zurückliegt, durch – und verknüpfen sich mit neuen regionalen Identitäten. Das zeigte sich frappierend bei den Wahlen im Frühjahr. Von der Öffentlichkeit kaum beachtet, haben sich bei den Europa- und Kommunalwahlen gravierende Unterschiede innerhalb Ostdeutschlands gezeigt.

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Im Landesteil Mecklenburg ist die AfD bei den Europawahlen nur drittstärkste, bei den Kommunalwahlen gar nur viertstärkste Partei geworden. In Vorpommern wiederum wurde sie bei den beiden Wahlen knapp hinter der CDU zweitstärkste Partei. Im Norden Sachsen-Anhalts und Brandenburgs schnitt sie schlechter ab als im jeweils südlichen Landesteil. Man kann grob eine Achse von Nordwesten nach Südosten ziehen, also von Mecklenburg hinunter in die Oberlausitz. Je südlicher man dieser Achse folgt, desto stärker wird die AfD gewählt. Nur zwei Zahlen: Im Kreis Nordwestmecklenburg holte die AfD bei den Europawahlen 15,8 Prozent – am anderen Ende, in Görlitz, mit 32,4 Prozent mehr als das Doppelte.

Quelle      :         TAZ         >>>>>          weiterlesen

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