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Déjà-vu in Nigeria

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 22. Oktober 2020

Nigeria – Ein Aufschrei aus aktuellem Anlass.

Lagos Island.jpg

Essay des Schriftstellers Wole Soyinka

Der nigerianische Staat ist im Begriff, die junge hoffnungsvolle Protestbewegung des Landes in Blut zu ertränken. Ein Aufschrei aus aktuellem Anlass.

Als ich vor knapp über einer Woche aus dem Ausland zurückkehrte, erwartete mich ein außergewöhnliches Willkommensgeschenk. Es war eine Bewegung – mal zornig, mal mitreißend und ergreifend, manchmal schrill, sicherlich mit hohen Erwartungen, aber immer gefühlvoll, visionär, organisiert. Die Bewegung verlangte ein Ende der Brutalität staatlicher Sicherheitsorgane, vor allem der berüchtigten Polizeieinheit SARS. Natürlich stand SARS für parasitäres Regieren insgesamt.

Die Bewegung umfasste Anwälte, Feministen, Technokraten, Studenten, Prälaten, Industrielle, Künstler. Sie war jung, ihre Energie, ihre schöpferische Kraft strahlte durch die ganze Nation. Sie war vor allem ordentlich. Zuweilen spürte man Vibrationen wie ein Woodstock-Echo, oder auch wie die Massenaufmärsche der Gelbwesten oder die Wellen von Solidarnosc oder zuletzt die geduldigen, stoischen Versammlungen von Mali.

Diese Jugend hat frisches Blut in müde Venen gepumpt. Was für ein Segen, in dieser Zeit am Leben zu sein und mitzuerleben, wie die Jugend endlich beginnt, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen.

Aber – und waren wir hier nicht schon einmal? – plötzlich, über Nacht, veränderte sich alles. Die Staatssicherheitsdienste – wer genau, müssen wir erst noch herausfinden – karrten Schläger heran, um die Proteste aufzulösen. Die Videos sind da, glitzernde Konvois mit verdeckten Nummernschildern, die Schläger und Verbrecher einsammeln und dann ausspucken, um die friedlichen Proteste zu brechen. Die Söldner zündeten die Autos der Protestierenden an, mit Knüppeln und Macheten gingen sie auf die versammelten Jugendlichen los, sie stürmten mindestens ein Gefängnis und ließen die Insassen frei. Manche dieser Vandalen, wie wir inzwischen wissen, waren selbst Häftlinge, die man angeheuert hat und die man vermutlich nicht nur mit Geld bezahlt hat. Die Opferzahlen stiegen erst sporadisch und gipfelten schließlich vergangene Nacht in der Tötung einer noch unbekannten Anzahl von Protestierenden in einem Stadtteil von Lagos namens Lekki.

Diese Jugend hat frisches Blut in müde Venen gepumpt. Was für ein Segen, in dieser Zeit am Leben zu sein

Dieser teuflische Eingriff hat die Stimmung des Protestes abrupt und vernichtend verändert. Wut und Nihilismus fassen Fuß, zum ersten Mal, und beherrschen bald die Emotionen. An die Stelle organisierter Militanz tritt rachsüchtiger Hass, der in alle Richtungen ausschlägt. Die Hauptstadt Abuja ist an einigen Orten in Flammen aufgegangen, unter anderem der berühmte Apo-Markt, dessen Name Erinnerungen an ein altes SARS-Massaker an Jugendlichen wachruft, die „Apo Six“.

Wole Soyinka in 2018-4.jpg

Am 20. Oktober machte ich mich im Auto auf den Weg in meine Heimatstadt Abeokuta, um zu Hause zu sein, wenn die Spirale der Gewalt sich sinnlos in alle Richtungen dreht. Ich verhandelte meinen Weg durch acht oder neun Straßensperren der Protestierenden, bis ich umkehren musste. Es war ein einziges Déjà-vu: die Aufstände in der einstigen Westregion von Nigeria, der Widerstand gegen die Abacha-Diktatur. Doch durch meinen Reiseversuch konnte ich die Stimmung und die Verwandlung der Bewegung einschätzen. Ich war besser vorbereitet. Ich verschob meine Fahrt auf den nächsten Tag, also den Morgen des 21. Oktober.

Zwischenzeitlich, also in den darauffolgenden acht bis zehn Stunden, ist die Anspannung allerdings unvorstellbar geworden! Im Stadtteil Lekki von Lagos, wo die meisten Versammlungen stattgefunden hatten, eröffneten Soldaten das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten, töteten und verletzten eine noch unbekannte Zahl. Eine dieser außergerichtlichen Tötungen hat die nigerianische Flagge im Blut Unschuldiger getränkt, und das nicht nur symbolisch. Das Video davon ist „viral“ gegangen, wie man so sagt. Ich habe mit Augenzeugen telefoniert. Einer davon, eine bekannte Person des öffentlichen Lebens, hat seine Erlebnisse im Fernsehen mitgeteilt. Die Regierung sollte aufhören, mit ihren bockigen Dementis die Nation für dumm zu verkaufen.

Quelle         :        TAZ       >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —      Lagos Island and part of Lagos Harbour, taken from close to Victoria Island, looking north-west (NB this is not Ikoyi Bay as wrongly labelled elsewhere)

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