Ein gar nicht seltenes Merkmal von Ereignis-Debatten im 21. Jahrhundert ist, dass man sie schon Stunden nach ihrer Entstehung kaum mehr erträgt. Das liegt auch an der extremen Beschleunigung: In sozialen Medien ist schon kurze Zeit nach einem beliebigen Großereignis jede Position und Gegenposition eingenommen, jeder Gag und jede Trollerei gemacht, jede noch so fernliegende Einordnung unternommen und jede Metaebene erklommen worden. Die Öffentlichkeit dürstet dann nach dem Gefühl neuer Fakten oder neuen Entwicklungen und alles beginnt fast wieder von vorn. Aber je größer ein Ereignis auf den ersten Blick scheint, desto wirkmächtiger ist der informationelle Erstschlag. Mit den sozialen Medien und ihrer Wirkung auf redaktionelle Medien ist eine neue Kategorie von potenziellen Fake News entstanden. Sie hat offenbar noch keinen Namen, deshalb schlage ich vor:
Praecox-News oder Vorzeitiger Nachrichtenerguss.
Es handelt sich dabei um lautstarke News, die nach dem Anscheinsprinzip arbeiten, also einen manchmal zweifelhaften oder erkennbar unvollständigen Zwischenstand als valide nachrichtliche Erkenntnis verkaufen. Und im Gefolge Meinungsbeiträge, Interviews, Wortmeldungen, Zitate und Metaartikel darauf aufbauen. Schlimmer noch: So wird die Wahrnehmung des Publikums geprägt. Wie schnell das geschehen kann, zeigt ein klassischer Fake-News-Fall. Anfang 2017 erwähnte Trumps Beraterin Kellyanne Conway in mehreren Interviews ein „Bowling Green“-Massaker. Umfragen wenig später ergaben, dass 51 Prozent der Trump-Wähler Bowling Green ausdrücklich als Rechtfertigung für Trumps extreme Exekutiv-Maßnahmen betrachteten. Das Problem: Es gab nie ein Bowling-Green-Massaker. Das Publikum hatte beim Erstkontakt eine Meinung entwickelt, die von rasch folgenden Richtigstellungen kaum beeinflusst wurde.
Wieviele Kritiker haben den Umweltsau-Song selbst angehört?
In den letzten Wochen haben wir eine Reihe von Ereignis-Debatten erlebt, die zwar schwer erträglich, aber doch notwendig waren, etwa die #Umweltsau-Debatte des WDR oder die Diskussion um den Silvester-Konflikt um die Leipziger Polizei in Connewitz. In beiden Fällen waren Praecox-News nicht bloß vorhanden – die vorzeitigen Nachrichtenergüsse waren in vielerlei Hinsicht debattenprägend. Kein Zufall, dass die „Bild“-Zeitung, die Praecox-News zum Boulevard-Prinzip erhoben hat, in beiden Debatten nicht nur Berichterstattung, sondern aktive Politik betrieben hat.
Die #Umweltsau ist überhaupt nur groß geworden, weil NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und die „Bild“-Zeitung auf den Zug der Empörung aufgesprungen sind. Der wiederum von Rechten angeschoben oder initiiert worden sein mag – an dem sich aber schon kurze Zeit später eine Vielzahl verschiedener Leute mit unterschiedlichem politischen Hintergrund beteiligt hat. Es ist mir persönlich ein komplettes Rätsel, wie man ohne bewusstseinsverbiegende Drogen erst „Je suis Charlie“ und „Pressefreiheit!!!“ rausschreien und dann den harmlosesten Satiresong des Universums für eine unzumutbare Entgleisung halten kann. Das liegt meiner Ansicht nach an einem Praecox-Phänomen, denn es kam mir nicht so vor, als hätte die Mehrzahl der Leute den Song gehört oder den Kontext gesehen, bevor sie sich geäußert haben. Und schlimmer noch: Fast niemand scheint nachgeschaut zu haben, wie genau der Empörungssturm entstanden ist und ob eventuell eine absichtsvolle Manipulation vorlag.
Aber die Debatte hatte auch etwas Gutes, sie hat nämlich offenbart, dass Tom Buhrow komplett untauglich für die WDR-Intendanz ist. Sowohl sein Wissen um digitale Öffentlichkeiten als auch sein Rückgrat bestehen offensichtlich aus Antidiamant, dem weichstdenkbaren Material der Welt. Man stelle sich eine Sekunde lang vor, wie Werk und Leben von Jan Böhmermann verlaufen wären, wenn er derart angstgetriebene Vorgesetzte gehabt hätte. Buhrow hätte Böhmermanns Kopf wahrscheinlich auf einem güldenen Tablett aus purem Gold persönlich in den Präsidentenpalast nach Ankara gebracht und sich bei der Übergabe für die Existenz des WDR, Kölns und der EU entschuldigt.
Irreführung der Medien und des Publikums
Interessanter – und leider wichtiger – ist aber das fortgesetzte Debakel um die Ereignisse der Silvesternacht in Leipzig. Die dortige Stadtzeitung namens „Kreuzer“ ist schon häufiger mit detaillierten Analysen und klugen Einschätzungen aufgefallen und hat unterdessen sogar ein Video einiger entscheidender Situationen aufgetan. Insbesondere auch durch die Recherchen der „taz“ wird nach und nach ein Schuh erkennbar, den sich fast die gesamte bundesdeutsche Medienlandschaft anziehen muss:
Praecox-News als politisches Instrument. Traurigerweise hat das mustergültig weder Putin noch Trump vorgeführt – sondern die Leipziger Polizei in Verbindung mit Politik und Medien.
Die Erstinformation zu einem Ereignis ist seit jeher in den meisten Fällen die einflussreichste – aber mit den sozialen Medien hat sich eine besondere Dynamik entwickelt. Das liegt vor allem an der hohen Geschwindigkeit, der Bereitschaft zur Zuspitzung und vor allem an der Eigenart, dass die Verbreitung in sozialen Medien viral und situativ erfolgt und sich niemals wiederholen lässt. Geteilt wird, was genau jetzt interessant erscheint, es ergibt sich eine völlig einzigartige Kette von Informationsweitergaben. Deshalb ist die Richtigstellung einer Nachricht in sozialen Medien oft eher symbolischer Natur – sie erreicht praktisch niemals die gleichen, die eine falsche Ursprungsnachricht sahen. Eigentlich müsste das für alle redlichen Beteiligten an nachrichtlichen Prozessen zu größerer Sorgfalt führen. Das Gegenteil ist der Fall, das vermeintliche Diktat der Geschwindigkeit verlockt Medien und Multiplikatoren zu Schnellschüssen.
Quelle : Spiegel >>>>> weiterlesen
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