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Das muss die Politik richten

Erstellt von Redaktion am Montag 8. Juli 2019

Ärzte ohne Grenzen über Seenotrettung

Some crew members of the research vessel "Aquarius" in Marseilles, France, on October 6th, 2018.jpg

Das Interview führte Christian Jakob

Vereine wie Sea-Watch helfen Flüchtenden, weil die EU versagt. Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen spricht über die politische Dimension des Helfens.

taz am wochenende: Herr Stöbe, nach der Festnahme der „Sea-Watch 3“-Kapitänin Carola Rackete vergangenes Wochenende wurde sehr viel für Sea-Watch gespendet. Es reicht, um das beschlagnahmte Schiff zu ersetzen. Aber das kann auf Dauer nicht die Lösung sein, oder?

Tankred Stöbe: Nein, das politische Versagen Europas muss aufhören. Die Zustände für Flüchtende in Libyen sind kata­stro­phal, den Menschen muss geholfen werden, statt die zivilen Helfer zu kriminalisieren.

Ärzte ohne Grenzen hat zusammen mit der Hilfsorganisation SOS Méditerranée bis Ende vergangenen Jahres mit dem Schiff „Aquarius“ selbst Seenotrettung betrieben. Warum wurde das beendet?

Anfangs hatten wir drei Rettungsschiffe im Mittelmeer, im vergangenen Jahr wurde zweimal auf massiven Druck Ita­liens hin die Flagge des letzten Schiffes entzogen, ihm also die Betriebserlaubnis weggenommen. Statt das Sterben im Mittelmeer mit staatlichen Hilfsprogrammen zu beenden, wie es eigentlich sein müsste, unterbindet die europäische Politik also die zivile Seenotrettung – das ist zynisch.

Ist Seenotrettung von zivilen Helfern politischer Aktivismus oder humanitäre Hilfe? Kann man das überhaupt trennen?

Für uns als Ärzte ohne Grenzen waren die unzähligen ertrinkenden Flüchtlinge vor Libyen 2015 unerträglich geworden. Wir konnten und wollten nicht mehr mit ansehen, dass das Mittelmeer zum Massengrab vor den Küsten Europas wird. Und weil die Politik versagte, wurden wir aktiv. Wir haben in vier Wochen auf der „Dignity 1“ über 1.400 Menschenleben gerettet. Und keine Geschichte der Überlebenden war einfach, sie alle haben schlimmste Menschenrechtsverstöße, Folter, Hunger und Leid erlebt. Für uns ist Seenotrettung ebenso humanitäre Hilfe wie die Hilfe in den Herkunftsländern – wir wissen, warum diese Menschen fliehen.

Wie politisch dürfen Hilforganisationen sein? Wie politisch sind Ärzte ohne Grenzen?

Als humanitäre Organisation folgen wir dem Prinzip, human, neutral, unparteilich und unpolitisch zu helfen. Gleichzeitig war es ein Gründungsimpuls unserer Organisation, den Menschen, denen wir helfen, als Sprachrohr zu dienen. Wir benennen die Probleme, aber nicht die Schuldigen oder Lösungswege aus einer Krise; das muss die Politik richten.

Aus Protest gegen die europäi­sche Flüchtlingspolitik nehmen Ärzte ohne Grenzen seit 2016 aber kein Geld mehr von der EU. Sie haben seither auf über 50 Millionen Euro verzichtet, um politischen Druck aufzubauen. Hatte das eine Wirkung?

Es ging dabei um das EU-Budget für humanitäre Hilfe. Wir haben gesehen, wie die Situation in der Türkei und in Griechenland ist – und dass mit Geldern aus diesem Topf die Abschottung bezahlt wurde.

Genau genommen hat die EU seitdem in der Türkei mehr für humanitäre Hilfe ausgegeben als im Rest der Welt zusammengenommen.

Für uns war da der Moment, zu sagen: Wenn das die EU-Definition von humanitäre Hilfe ist, dann können wir nichts davon nehmen. Das war natürlich ein moralisches Dilemma, weil wir mit dem Geld viele Projekte hätten finanzieren können. Es gab viele interne Diskussionen, aber wir haben entschieden, dass das das Einzige war, was wir tun können, um unser Unverständnis und unsere Empörung auszudrücken. Wir waren erstaunt über das enorme Medien­echo auf unseren Schritt.

Aquarius (Schiff) 2010 01 (RaBoe).jpg

Die Türkei liegt direkt vor der Tür Europas. Welchen Einfluss hat Europa auf die Krisen in der Welt?

Wir sehen eine Renaissance von Stellvertreterkriegen. Syrien, Libyen oder Jemen, das sind ja nicht einfach innerstaatliche Konflikte, wo sich irgendwelche Rebellengruppen nicht einigen können. Das sind international unterstützte Kriege, und es wird sehr wenig getan, um diese Konflikte zu befrieden. Wenn diese menschengemachten Konflikte nicht adressiert werden, dann werden sie mit jedem weiteren Monat komplexer und irgendwann tatsächlich kaum noch lösbar. Ein Problem, das viel mit Europa zu tun hat, ist dabei der neu aufflammende Nationalismus. Der priorisiert nationale Interessen gegenüber den globalen Bemühungen, Konflikte einzudämmen.

Fast alle Berichte von Hilfsorganisationen kommen heute mit Rekorden daher. Gibt es mehr Leid in der Welt als früher?

Eine schwierige Frage, da gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen. Zum einen können wir Leid heute sehr viel besser erfassen als früher. Und viele einstige Konfliktregionen sind heute keine mehr, etwa Teile Westafrikas oder Südostasien, wo jahrzehntelang Bürgerkriege herrschten. Was im Moment für uns möglicherweise den Eindruck verstärkt, dass die Not größer wird, ist aber, dass sie näher an Europa herankommt durch die Konflikte in den arabischen Staaten und die Lage auf dem Mittelmeer. Die Konflikte sind für uns nicht mehr ganz so weit weg wie vor Jahren noch.

Im Juni wurde die neue Liste der „vernachlässigten Konflikte“ vorgestellt. Dort fehlt es an Aufmerksamkeit und Hilfe, entsprechend leiden die Menschen dort umso mehr. Verteilen die Medien ihre Aufmerksamkeit ungerecht – oder gibt es heute immer mehr Konflikte, sodass gar nicht auf alle geschaut werden kann?

„Vergessene Konflikte“ erlebe ich, seitdem ich vor 20 Jahren mit humanitärer Hilfe angefangen habe. Viele große Krisen stehen nicht im Fokus der Öffentlichkeit – sei es Kongo, Südsudan, die Zentralafrikanische Republik oder Tschad. Das sind Konflikte, die es seit Jahrzehnten gibt, und es wird eigentlich gar nicht darüber berichtet. Umgekehrt gibt es viel Aufmerksamkeit für Naturkatastrophen. Da sehen wir auch immer eine entsprechend große Spendenbereitschaft. Je stärker eine Krise menschengemacht ist, je chronischer sie ist und je weniger strategische Bedeutung sie global hat, desto eher fällt sie aus der medialen Berichterstattung heraus.

Hat der Eindruck, dass das Leid zunimmt, womöglich auch damit zu tun, dass es heute klare Standards dafür gibt, was Menschen in Notsituationen an Versorgung zusteht, dass diese Ansprüche dann aber nicht erfüllt werden?

In der Tat gibt es heute solche Standards. Wir wissen, wie viele Kalorien der Mensch täglich zu sich nehmen sollte, wie viel Wasser und wie viel Raum er zum Leben bräuchte und wie viele Toi­letten für wie viele Flüchtlinge aufgestellt werden müssten. Wir können meist messen, wie groß Konflikte sind, wie viele Menschen dort krank werden und sterben. Einerseits. Andererseits ist das Wissen oft trotzdem schockierend ungenau. In Syrien etwa wurde bei einer halben Million Getöteter aufgehört zu zählen – die Statistik ließ sich nicht verlässlich weiterführen. Im Mittelmeer war die Dunkelziffer der Toten lange sehr hoch. Dann begannen die NGOs und die Internationale Organisation für Migration zu zählen, die Dunkelziffer schrumpfte. Heute aber sind kaum noch NGOs vor Ort. Entsprechend größer wird die Kluft zwischen dem, was wir wissen könnten, und dem, was wir wissen.

Quelle        :         TAZ        >>>>>         weiterlesen

 EU-Länder und Seenotrettung

Menschenfeindlicher Unsinn

Von Belinda Grasnick

Gibt es Alternativen zum Anlegen von Rettungsschiffen in den Häfen von Lampedusa und Malta? Nein – denn Libyen ist und bleibt kein sicherer Drittstaat.

Seit der öffentlichkeitswirksamen Festnahme der „Sea-Watch 3“-Kapitänin Carola Rackete diskutiert halb Europa wieder einmal über Seenotrettung im Mittelmeer. Italiens stramm rechter Innenminister Matteo Salvini verbietet Rettungsschiffen das Anlegen im Hafen der italienischen Insel Lampedusa, und auch Maltas Häfen werden für Menschenrettungsschiffe immer wieder geschlossen. Schon werden Stimmen laut, es gebe Alternativen. Man könne die Geretteten schließlich zurück nach Libyen oder in den jeweiligen Heimathafen der Schiffe bringen. Doch das ist menschenfeindlicher Unsinn.

Aus Seenot gerettete Menschen kann man nicht guten Gewissens nach Libyen bringen – auch wenn das Boot unweit der libyschen Küste in Seenot geraten ist. Das ist eine Erkenntnis, die nicht erst seit einer Woche besteht. In dem nordafrikanischen Land herrscht seit Jahren Bürgerkrieg. Aus anderen Ländern Flüchtende werden dort in Lagern untergebracht, gefoltert oder versklavt.

Auch wenn einige Europäer*innen es noch immer nicht wahrhaben und möglichst die libysche Küste abriegeln wollen, damit sich keine Menschen aus dem Land über das Mittelmeer in Richtung Europa auf den Weg machen: Libyen ist kein sicherer Drittstaat. Das hat auch die vergangene Woche wieder verdeutlicht, als mindestens 40 Menschen bei einem Luftangriff auf ein Internierungslager für Migrant*innen ums Leben kamen.

Quelle       :      TAZ         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —        Une partie de l’équipage de l’Aquarius, à Marseille, France, le 6 10 2018

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 2. von Oben        —     Aquarius

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Unten    —       Bootsflüchtlinge mit einem sich nähernden Schiff der spanischen Küstenwache.

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