Das Meer oder die Armut
Erstellt von Redaktion am Donnerstag 5. August 2021
Der Libanon ein Jahr nach der Explosion
Von Karim El-Gawhary
Seit der Explosion im Beiruter Hafen haben sich die Lebensumstände der Menschen im Libanon weiter verschlimmert. Ein Ortsbericht.
An die Hafenmauer von Beirut sind die entscheidenden Fragen gepinselt: Wer, wie, warum – und wie geht es weiter? Dazu die Namen einiger der über 200 Toten, die die Explosion damals hinterlassen hat.
Ein paar Hundert Meter von den zerstörten Hafensilos entfernt, in denen vor einem Jahr das dort gelagerte Ammoniumnitrat in die Luft geflogen ist, steht Noaman Kinno auf seinem Balkon und erzählt von dem schicksalshaften Tag. Wie er, seine Frau und seine Kinder damals verletzt wurden und seine Wohnung zerstört.
NOAMAN KINNO, ÜBERLEBENDER UND FAMILIENVATER :
„Von der Regierung habe ich bisher keinerlei Unterstützung bekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt“
Er zeigt Fotos auf seinem Handy, von der verwüsteten Wohnung, von den Verletzungen seiner Kinder und denen seiner Frau, die durch einen Glassplitter fast ihr Auge verlor. Von den Verletzungen, meist von zerbrochenen Scheiben, sind nur noch die Narben über.
Die seelischen lauern im Verborgenen. „Meine zwei Kinder zucken bis heute zusammen, wenn sie ein lautes Geräusch hören“, erzählt Noaman. Die Wohnung wurde inzwischen wieder renoviert, mit der Unterstützung privater libanesischer Selbsthilfeorganisationen. „Von der Regierung habe ich bisher keinerlei Unterstützung bekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt“.
Keine Medikamente, kein Strom
Das libanesische Pfund hat seit der Explosion 95 Prozent seines Werts verloren. In einem Land, in dem so ziemlich alles importiert wird, heißt das, dass auch die Menschen 95 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben. Man sieht es im Apothekenschrank des größten staatlichen Krankenhauses des Landes, der Rafik-Hariri-Universitätsklink, den Muhammad Ismail öffnet.
Bei den Präparaten für eine Krebschemotherapie herrscht gähnende Leere. Im Lagerschrank daneben, der für Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente bestimmt ist, liegen ein paar vereinsamte Packungen. „Selbst zu den Zeiten des Bürgerkriegs waren unsere Bestände nicht so aufgebraucht“, sagt Ismail. Der Grund ist einfach: Weil der Libanon schon länger nicht mehr seine Rechnungen für die im Ausland gekauften Medikamente bezahlt hat, liefert niemand mehr.
Hassan Moaz sieht im Kontrollraum seiner sechs riesigen Generatoren besorgt auf die Temperaturanzeige. Bei 90 Grad schaltet sich der Generator wegen Überhitzung ab. Der Zeiger steht zwischen 88 und 89 Grad, weil die Generatoren zu lange durchlaufen.
Im Moment hat das Krankenhaus im Schnitt nur 12 Stunden am Tag Strom aus dem libanesischen Netz, den Rest müssen die Generatoren schaffen. „Ich lasse mich jeden Tag von neuen Herausforderungen überraschen. Vor Kurzem gab es drei Tage lang keinen Strom aus dem Netz, und auch das haben wir überstanden“, erzählt Moaz.
Der Geruch der Krise: Faules Fleisch
Auch in der nordlibanesischen Stadt Tripoli, eineinhalb Autostunden von Beirut entfernt, riecht es auf dem Markt nach wirtschaftlichem Kollaps oder besser gesagt: nach verrottetem Fleisch, weil die Kühlketten kaum aufrechterhalten werden können. Das ist ein Grund, warum es im Land vermehrt Lebensmittelvergiftungen gibt. Aber wer kann sich schon Fleisch leisten.
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Der große Knall und die Gründe
Von Julia Neumann
Vor einem Jahr explodierten tonnenweise Chemikalien im Hafen von Beirut. Für die Katastrophe sollen Korruption und Mafia verantwortlich sein.
Fünf Tage sollte die eingesetzte Untersuchungskommission brauchen, um dem libanesischen Kabinett einen ersten Bericht vorzulegen. Das versprach die Regierung am Tag nach der gigantischen Explosion in Beirut am 4. August vergangenen Jahres. An jenem Dienstag um 18.08 Uhr waren Hunderte Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der libanesischen Hauptstadt explodiert.
Es waren wohl Schweißarbeiten, die zunächst ein Feuer entfacht hatten. Feuerwerkskörper in einem Warenhaus gingen hoch, bevor schließlich eine gewaltige Bombe aus Kerosin und Säure sowie tonnenweise Ammoniumnitrat explodierten. Ein orange-schwarzer Feuerball stieg auf, die Druckwelle erschütterte die Küstenstadt.
Die Explosion war stärker als 1986 in Tschernobyl. Die Explosion des Nuklearreaktors hatte eine Stärke von 10 Tonnen TNT. Die Sprengkraft des Beiruter Ammoniumnitrats verglichen Expert*innen mit 200 bis 300 Tonnen TNT. Dabei war nach jüngst bekannt gewordenen Erkenntnissen des FBI nur ein Bruchteil des Ammoniumnitrats in die Luft gegangen, das Jahre zuvor in den Hafen gebracht worden war.
Das FBI geht davon aus, dass von der Gesamtladung lediglich ein Fünftel, rund 552 Tonnen, explodierten, wie die Nachrichtenagentur Reuters vergangene Woche berichtete, der ein entsprechender FBI-Bericht vorliegt. Der Rest muss zuvor entfernt worden oder durch die Explosion im Meer verschwunden sein.
Journalist*innen machen Job der Regierung
„Ich werde nicht ruhen, bis wir die Verantwortlichen für das Geschehene zur Rechenschaft gezogen und die Höchststrafe verhängt haben“, sagte Libanons damaliger Regierungschef Hassan Diab. Doch noch immer gibt es keinen Bericht der Untersuchungskommission. Auch zur Rechenschaft gezogen wurde bislang niemand.
Dank journalistischen Recherchen ist jedoch zumindest bekannt, wie die Fracht nach Beirut kam: Eine ukrainisch-russische Crew hatte sie im Jahr 2013 auf dem Tanker „Rhosus“ geladen, um sie zu einem Sprengstoffhersteller in Mosambik zu transportieren. Das Schiff verließ einen Hafen in Georgien, bevor libanesische Behörden der „Rhosus“ in Beirut wegen Sicherheitsmängeln die Weiterfahrt untersagten.
LIBANONS EX-REGIERUNGSCHEF HASSAN DIAB VOR EINEM JAHR :
„Ich werde nicht ruhen, bis wir die Verantwortlichen für das Geschehene zur Rechenschaft gezogen und die Höchststrafe verhängt haben“
Der Kapitän, Boris Prokoshev, gab nach der Explosion der Fracht an, seine Crew sei 2014 im Libanon festgehalten worden, da der Besitzer der „Rhosus“ die Gebühren nicht zahlte. Als Besitzer nannte Prokoshev einen russischen Geschäftsmann.
Recherchen des Spiegel und des Journalist*innennetzwerks Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) zufolge war der wahre Besitzer jedoch der zyprische Reeder Charalambos Manoli. Gerichtsprotokolle zeigen, dass Manoli einen Millionenkredit bei der tansanischen FBME-Bank aufgenommen hatte, diesen jedoch nicht begleichen konnte.
Ein Gefallen für die Hisbollah?
US-Ermittler*innen haben der Bank in der Vergangenheit vorgeworfen, für die libanesische Partei und Schiitenmiliz Hisbollah als Geldwäscherin fungiert zu haben. Die Bank sei dafür bekannt gewesen, säumige Schuldner zu Gefälligkeiten gegenüber Kund*innen zu drängen.
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Grafikquellen :
Oben — Zerstörungen in der City von Beirut nach der Explosionskatastophe 2020