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Das Meer in der Mitte

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 21. August 2019

Ein Essay über ein Meer, das Hilfe braucht

Von Doris Akrap

Früher war das Mittelmeer Zentrum der Identität Europas, Symbol für Innovation und Verbundenheit. Heute wenden sich die Menschen von ihm ab.

rüher hielt man die Gegend hier, das westliche Ende des Mittelmeers, für das Ende der Welt. „Non plus ultra“ – „Nicht mehr weiter“ – soll auf den Schildern gestanden haben, die vor dem Atlantik warnten und die Herkules auf dem Felsen von Gibraltar und dem nordafrikanischen Berg Dschebel Musa angebracht haben soll.

Heute stehe ich an der Küste im spanischen Tarifa und blicke nicht nach Westen Richtung Atlantik, sondern nach Süden. Von Tarifa aus hat man einen Panoramablick über die Straße von Gibraltar, auf das Rifgebirge bis hin zu den weißen Häusern im marokkanischen Tanger. Gerade mal 15 Kilometer ist die nordafrikanische Küste entfernt. Und trotzdem scheint es, als würde unsere Welt hier aufhören und eine neue beginnen. Früher einte das Mittelmeer das Hier und das Drüben, heute trennt es beide Seiten. Vieles ist nicht mehr so, wie es einmal war, hier am Lieblingsmeer des Massentourismus, an meinem Lieblingsmeer. Es gibt zwar in Tarifa kein Schild mit der Aufschrift „Nicht mehr weiter“. Aber ich hatte dort einen grausamen Gedanken: Europa hat das Mittelmeer aufgegeben.

Ende August ist die Saison am Mittelmeer vorbei. Nur die paar Anwohner, die ganzjährig an seiner Küste leben, bleiben. Alle anderen verabschieden sich und drehen dem Mittelmeer den Rücken zu. Bis zum nächsten Sommer. Aber das Mittelmeer stellt nicht die Plastikstühle rein und lässt die Rollläden runter. Es hat immer Saison. Wenn die meisten Europäer weg sind, geht das wilde Zubetonieren in Strandnähe weiter, lassen Fabriken, Gemeinden und Private ihre giftigen Abfälle ins Meer, schlittern die Öltanker knapp an den Küsten entlang, sterben Menschen auf der Flucht nach Europa.

Und Europa scheint diese Region immer weniger für Europa zu halten. Es guckt auf das Mittelmeer nicht mehr als Zentrum seiner Identität, seiner Geschichte – seinen Zivilisationsgrund. Es guckt auf diese Gegend nur noch als Grenzregion. Es ist, als würde Europa sich dafür schämen und deshalb wegschauen. Niemand kommt mehr vom Mittelmeer zurück und erzählt, wie schön es war und dann sagen alle: „Neid!“ Mindestens ein Zuhörer fragt: „Keine Flüchtlinge gesehen?“, „Bist du etwa geflogen?“, „Wie kann man da überhaupt noch guten Gewissens hinfahren?“. Als wäre es ein abgeschiedenes, schwer zu erreichendes, fieses Ungetüm, dem man nicht begegnen will.

Dabei ist es – sein lateinischer Name „mare mediterraneum“ betont dies unzweifelhaft – ein Meer zwischen Land, also ein Meer, das Länder verbindet. Es ist mare nostrum. Es ist unser Meer. Und diesen Anspruch sollten wir nicht aufgeben. Denn es geht uns alle an, die wir am und vom Mittelmeer leben. Vor allem aber uns Europäer, als wirtschaftlich mächtigster und damit verantwortlichster Mittelmeeranrainer. Allen Wahlberechtigten dieses Kontinents sollte es ein dringendes Anliegen sein, endlich jemanden zu finden, der unser Meer beschützt.

Bei Google hat das Mittelmeer 4,5 von 5 Sternen. Bekannte und geschätzte Eigenschaften: blau und lauwarm. Jeder kennt den Empfang, den das Mittelmeer seinen Besuchern bereitet: Man steigt aus Auto, Bus, Zug oder Flugzeug und die Luft ist heiß, trocken, riecht nach Kiefer, Salz, kochendem Asphalt und Müll, und durch sie durch flirrt ein unaufhörlicher Schwall Zikadengeschrammel. Die Glückstaste rastet ein.

Über das Mittelmeer zu schreiben ist eigentlich vermessen. Denn das Mittelmeer ist Universalgeschichte. Kein Text kann seiner ganzen historischen und kulturellen Bedeutung gerecht werden. Der französische Historiker Fernand Braudel hat sein ganzes Leben mit der Erforschung dieses Raumes verbracht und sein Werk ist bis heute das wichtigste zum Tiefenverständnis des Mittelmeers. Auf die Frage, was die mediterrane Welt ist, schrieb er 1947: „Tausend Dinge auf einmal. […] Im Mittelmeer reisen heißt, auf die römische Welt im Libanon treffen, auf eine prähistorische in Sardinien, auf griechische Städte in Sizilien, auf Spuren arabischer Anwesenheit in Spanien, solche des türkischen Islam in Jugoslawien. […] Es heißt, Altes und Uraltes, das noch lebendig ist, Seite an Seite mit höchst Neuzeitlichem zu finden: den ungeheuren Industriekomplex von Mestre neben dem scheinbar unverrückbaren Venedig, die Fischerbarke, die sich in nichts von dem Boot des Odysseus unterscheidet, neben einem Supertanker oder einem jener Hochseefangschiffe, welche die Meere plündern.“ Es scheint als hätten die Menschen heute all das vergessen.

Kein anderes Meer dieser Welt spielt in der Geschichte der Zivilisation eine so wichtige Rolle. Kein anderes Meer dieser Welt hat derart vielfältige Vermischungen und Verbindungen verschiedener Kulturen aufzuweisen. Es gibt keine autochthone Mittelmeerkultur. Die Zivilisationen am Mittelmeer sind immer als Amalgam verschiedener Kulturen entstanden. Sicher, meistens alles andere als friedlich. Auf dem Mittelmeer wurde Krieg geführt und gehandelt, an seinen Rändern Mensch und Natur unterworfen und ausgebeutet. Aber hier hat man sich nun mal auch die Demokratie ausgedacht (Athen) und den Kapitalismus erfunden (Venedig), hier ist das Zentrum, um das sich die moderne europäische Identität bildete, die die Grenzen in friedlicher Absicht überwinden will. Es sind die Bürger, die Reisenden, die Schriftsteller, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Mediterranée suchen und sich von ihr inspirieren lassen: das Ideal von Humanität, Weltfrieden und Schönheit.

Wo früher Freiheit und Universalismus definiert wurde, heißt es heute „Grenzsicherung“. Das ehemalige Zentrum ist Peripherie geworden. Lager, Zäune, prügelnde und schießende Polizisten, kenternde Schlauchboote und kriminalisierte private Rettungsschiffe, Regierungen, die sich gegenseitig Schuldvorwürfe machen – im Mittelmeer herrscht Krieg. Das Mittelmeer ist ein Schützengraben. Für das UN-Flüchtlingshilfswerk ist das Mittelmeer seit 2014 das tödlichste Gewässer der Welt.

Schon im Namen der europäischen Küstenwache Frontex steckt der Exit und der Exitus. Dort, wo Industrialisierung, Betonisierung und Touristifizierung überhaupt noch Lücken gelassen haben, werden seit Jahren Leichen angespült. Was die Juden „großes Meer“, die Türken „weißes Meer“, der französische Dichter Paul Valéry „privilegiertes Meer“ und die britischen Historiker Nicholas Purcell und Peregrine Horden „korruptes Meer“ nennen, könnte man heute schon „tödliches Meer“ nennen.

Den besten Blick über dieses Meer haben die 200 Berberaffen auf dem steil aus dem Meer ragenden Felsenzahn von Gibraltar. Sie bedienen sich aus den Rucksäcken der Touristen und fauchen auch mal kurz, wenn man sie bei ihren Meditationen – im Schneidersitz mit Meerblick – stört. Die einzigen freilebenden Affen Europas sind allerdings keine Europäer, wie man lange dachte. Sie kommen vom anderen Ufer, mitgebracht von Mauren zwischen 700 und 1492 – im Zeitalter von al Andalus, als unter arabischer Herrschaft das einzigartige Miteinander von Muslimen, Christen und Juden auch in Wissenschaft, Philosophie, Literatur und Kunst ungekannte Höhen erreichte. Der britische Premier Winston Churchill sorgte mitten im Zweiten Weltkrieg dafür, dass die Makakenkolonie auf Gibraltar nicht ausstirbt. Er glaubte der Legende, dass die Halbinsel Gibraltar nur so lange britisch ist (was sie seit 1704 ist), wie die Affen auf dem Felsen leben.

Es gibt Wissenschaftler, die nicht ausschließen wollen, dass auch der Homo sapiens vor über 200.000 Jahren diesen Weg durch die Straße von Gibraltar nahm, um nach Europa zu kommen. Weder der Berberaffe noch der Homo sapiens hatten eine direkte, 40 Minuten dauernde Fährverbindung zwischen Tanger und Tarifa, wie es sie heute gibt. Aber heute ist es für Marokkaner und andere Afrikaner schwerer als damals für den Homo sapiens, Europa zu erreichen.

Mein Vater hatte das Glück, kein Meer überqueren zu müssen, um nach Deutschland zu kommen. Er war zwar ein Seefahrer und kam vom Meer, aber von der jugoslawischen Adria. Also hatte ich das Glück, ein südeuropäisches Gastarbeiterkind zu sein. Das brachte zwar in Deutschland einige Unannehmlichkeiten und Absurditäten mit sich, aber auch ein einzigartiges Privileg: ein Haus mit Meerblick.

Quelle        :          TAZ           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —        Bucht nahe Gigaro an der französischen Riviera

Photo of a bay near Gigaro, La Croix-Valmer, Var department, Cote d’Azur, France. Photograhped by myself in October 2006.

Unten         —          Blick auf das Mittelmeer bei Kap Bon in Tunesien

 

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