Das Konzept „Gute Arbeit“
Erstellt von Redaktion am Samstag 4. Januar 2020
Wirtschaftsdemokratie als Transformationshebel
Von Hans-Jürgen Urban
Was das Konzept Guter Arbeit verlangt.
Die ökologisch-soziale Transformation der Industriegesellschaft ist ein gewaltiges Projekt mit diversen Dimensionen und Konflikten. Es erfordert Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, aber auch der Kultur und der täglichen Lebensweise. Doch vieles, vielleicht sogar das Wichtigste, wird sich in den Unternehmen abspielen müssen. Da aber sind die Bedingungen alles andere als günstig. Kapitalistische Betriebe funktionieren nicht nach sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitskriterien, sondern nach den Spielregeln eigentumsbasierter Hierarchien und vor allem: maximaler Kapitalverwertung. Die Konkurrenz auf kapitalistischen Märkten exekutiert diesen Verwertungsimperativ. Von demokratischen Verfahren, dem Ringen um Mehrheiten und der Durchsetzung eines Mehrheitswillens kann da keine Rede sein. Mehr noch, die betriebliche Realität ist nicht nur von den neuen Versprechen eines „demokratischen Unternehmens“ weit entfernt, das uns mitunter als Verheißung der digitalen Wirtschaftswelt präsentiert wird. In den Giganten (nicht nur) der digitalen Ökonomie, etwa bei Amazon und Apple, aber auch bei Walmart oder Tyson, dominieren autokratische, ja diktatorische Strukturen.
Dies jedenfalls ist die Kernthese von Elizabeth Andersons Studie über autokratische Herrschaft in der Wirtschaft.[1] Anderson spricht gar von „kommunistischen Diktaturen“ in den Betrieben: „Außer der Arbeit selbst besitzt die Regierung alle Produktionsmittel in der Gesellschaft, die sie regiert. Sie organisiert die Produktion mit Hilfe zentralistischer Planung. Die Regierungsform ist eine Diktatur. In manchen Fällen wird der Diktator von einer Oligarchie ernannt. In anderen Fällen ist der Diktator selbsternannt.“ (79 f.) Dabei liefern die Beherrschten nicht nur ihre Arbeitskraft, sie ordnen sich einer ihr ganzes Leben erfassenden Herrschaftsbeziehung unter. Die diktatorische Beherrschung der Beschäftigten durch die Unternehmensspitzen tauche heute weder in den wissenschaftlichen Debatten noch in den öffentlichen Diskursen auf. Diese Unfähigkeit zur Thematisierung von Zwangsverhältnissen, die die übergroße Mehrheit der Gesellschaft in Unfreiheit halten, geht nach Ansicht von Anderson auf ein „tiefgreifendes Versagen der aktuellen Denkweisen“ (ebd.: 125) zurück. Sie basiere bis heute auf Vorstellungen einer freien Gesellschaft von Gleichen, in der libertäre und egalitäre Ideale individualistischen Zuschnitts miteinander verbunden sind. In der Phase des aufkommenden Liberalismus, also zu Zeiten eines Adam Smith, war die Idee des Markts mit seinen freien Marktakteuren tatsächlich eine fortschrittliche Idee, so Anderson weiter. Sie richtete sich gegen Obrigkeitsstaat, Leibeigenschaft und das Monopol der Zünfte. Doch dieses „Ideal einer freien Gesellschaft von Gleichen, die auf allgemeine wirtschaftliche Selbstständigkeit gegründet ist“ (ebd.: 200), verlor mit der Industrialisierung und der Entstehung der Großbetriebe an Realitätsbezug. Es mutierte von einer Freiheitsidee zur Rechtfertigungsideologie der privaten Regierung.
Dass es in kapitalistischen Betrieben nicht fair und schon gar nicht demokratisch zugeht, ist keine Neuigkeit. Schon Marx bemerkte, dass „die kapitalistische Leitung […] der Form nach despotisch“ ist.[2] Das gilt auch für die digitale Ökonomie. Auch dort wird in erster Linie Kapital verwertet. Andere Aspekte, auch die Bedürfnisse von Individuen, Gesellschaft und Natur werden dem untergeordnet. Zwar sind die Methoden oft partizipativer und setzen an den Bedürfnissen hochqualifizierter Individualisten nach anspruchsvoller Arbeit an. Aber warum sollte in dieser schönen neuen Welt die machtpolitische Asymmetrie zwischen Beschäftigtem und Arbeitgeber auf einmal verschwunden sein, warum die soziale Schutzbedürftigkeit der abhängigen Arbeit plötzlich enden?
Globale Player, globale Macht
Was bedeutet es nun für das Projekt einer ökologisch-sozialen Transformation, dass in den Betrieben autokratische Verhältnisse herrschen, in der „Old“ wie in der „New Economy“? Zunächst einmal stellt der betriebliche Autoritarismus, den Anderson ins öffentliche Bewusstsein zurückholen will, eine zusätzliche Hürde für eine Politik dar, die sich nicht an Profiten, sondern an sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitskriterien ausrichten will. Als gäbe es nicht Hürden genug. Der dem Kapitalismus inhärente Drang, in der Gesellschaft neue Felder profitabler Kapitalverwertung zu erobern, hat schon immer auch auf die Systeme der sozialen Sicherheit, der Bildung und Forschung sowie der Kultur und der individuellen Lebenswelten übergegriffen. Doch gegenüber dem Wohlfahrtsstaats-Kapitalismus des vergangenen Jahrhunderts hat sich die „Spielanordnung“ (Stephan Schulmeister) im Gegenwartskapitalismus noch einmal radikal verändert. Das bezieht sich auf die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit, aber auch auf das Verhältnis von Real- und Finanzkapital sowie die Beziehungen zwischen Kapital und Staat. Bekanntlich nutzt das Kapital seine erhöhte Mobilität und die gestiegene Glaubwürdigkeit angedrohter Standortverlagerungen zu noch effektiveren Erpressungen der Belegschaften als in der Vergangenheit; die Prekarisierung von Arbeit und die Privatisierung sozialer Sicherheiten schwächen die Verhandlungsmacht der organisierten Arbeit; und die Erosion des Tarifvertragssystems sowie der rückläufige Organisationsgrad unterminieren die institutionelle und Organisationsmacht der Gewerkschaften. Auch die Staaten versuchen immer stärker, wirtschaftliche Abwanderungen durch kapitalfreundliche Rahmenbedingungen zu verhindern.
Doch die markanteste Veränderung ist wohl der Machtzuwachs des Finanzsektors. Er hat gerade in den schwach regulierten Sphären ein riesiges Ausmaß erreicht. Schon wenige Fakten illustrieren die Dimension. Mit 149 Billionen Dollar wurde fast die Hälfte des gesamten Finanzvermögens auf der Welt zuletzt nicht mehr von Banken bewegt, sondern von Versicherungen, Pensionsfonds und einer wachsenden Zahl anderer Finanzvermittler.[3] Zu diesen gehören auch gewaltige Schattenbanken. Dabei handelt es sich um Akteure auf den Finanzmärkten, die bankähnliche Funktionen (insbesondere im Kreditvergabeprozess) wahrnehmen, aber keine Banken sind und somit nicht der Regulierung für Kreditinstitute unterliegen. Für der Regulation unterliegende Kreditinstitute steckt darin der große Vorteil, dass sie ihre Geschäfte an spezialisierte Schattenbanken auslagern und so die Regulierungsmaßnahmen umgehen können. Insgesamt wird dieser „Graumarkt der Finanzwelt“ (FAZ) auf 76 Billionen US-Dollar geschätzt, wobei sich der hoch riskant angelegte Anteil am weltweiten Vermögen der Schattenbanken im Jahr 2015 auf rund 34,2 Billionen US-Dollar belief.[4]
Wichtige Player sind auch Hedgefonds, die wenigen oder gar keinen Anlagerestriktionen unterliegen. Im Jahr 2017 belief sich ihr weltweit verwaltetes Vermögen auf eine Summe von rund 3179 Mrd. US-Dollar und hat sich damit seit Beginn des Jahrhunderts mehr als verdreizehnfacht.[5] Kurzum: Nicht mehr oder weniger regulierte Banken, sondern Versicherungen, Pensionsfonds und eine wachsende Zahl anderer Finanzvermittler bewegen heute fast die Hälfte des gesamten Finanzvermögens auf der Welt. Diese weitgehend ungebändigten Märkte destabilisieren nicht nur die Finanz-, sondern auch die Realwirtschaft. Sie wirken in nahezu alle Felder von Gesellschaft und Politik hinein – mit eigenen Interessen und gegen alle Regeln der Demokratie. Natürlich auch in die Unternehmen: Dort setzen aktivistische Investoren durch, dass sich die Vorstände nicht an Beschäftigung und Innovation, sondern in erster Linie am Shareholder-Value orientieren, die autokratischen und asymmetrischen Machtverhältnisse in den Unternehmen kommen da gerade recht. Mit ihrer Lobbymacht setzen sie zugleich Staaten unter Druck, den Abbau von Sozialrechten, die Ausweitung von Steuerprivilegien und die Privatisierung und Finanzialisierung von sozialen Sicherungssystemen durchzusetzen. Diese „finanzmarktkapitalistische Landnahme“ (Klaus Dörre) verändert nicht nur die Bedingungen gewerkschaftlicher Politik grundlegend. Die kapitalistische Spielanordnung des 21. Jahrhunderts ist geprägt durch autokratische Verhältnisse im Inneren der Betriebe und finanzkapitalistische Restriktionen von außen in Form aggressiver Deregulierungs- und Ökonomisierungspolitik. Sie prägt die Rahmenbedingungen jeglicher Transformationspolitik, auch die einer ökologisch-sozialen Reformpolitik.
Sozialismus und Wirtschaftsdemokratie
Diese Spielanordnung gilt es zu überwinden. Das erfordert im Kern nicht weniger als eine radikale Demokratisierung der kapitalistischen Ökonomie und damit letztlich ihre Überwindung. Mit dem Imperativ radikaler Demokratisierung sind wir beim strategischen Kern (auch) einer ökologisch-sozialen Reformalternative angelangt. Demokratie als einzig bewährte Methode, die Interessen von Gesellschaft und Natur gegenüber denen einer Minderheit zur Geltung zu bringen; und Demokratie als Verfahren der Verständigung unter sozialen Gruppen, die mit jeweils legitimen Interessen zu gemeinsamen Lösungen gelangen wollen oder müssen. Gerade Wirtschaftsdemokratie wird zum archimedischen Punkt von Konversionskonzepten, die eine naturverträgliche Produktions- und Konsumtionsweise mit sozialen und Beschäftigungsinteressen und der Überwindung autokratischer Strukturen in den Unternehmen ausbalancieren wollen.
Wie aber müsste ein zeitgemäßes wirtschaftsdemokratisches Modell konzipiert und wie seine Realisierungsbedingungen gedacht werden? Zunächst einmal ist festzuhalten: „Der Kampf für die Demokratisierung der Arbeit und der Wirtschaft erfordert eine ideenreiche – in der Tat utopische – Gegenoffensive: eine überzeugende Vision einer anderen und besseren Gesellschaft und Wirtschaft.“[6] Hier sind vorsichtige Bewegungen zu beobachten. Forciert durch die historische Blamage des Neoliberalismus in der Großen Krise ab 2008 wird in jüngster Zeit an Konzepten nichtkapitalistischen Wirtschaftens und Arbeitens gearbeitet. Einige dieser Debatten werden unter dem Rubrum „Neo-Sozialismus“[7] geführt, andere suchen nach Anregungspotentialen bei den Theoretikern der „traditionellen“ Wirtschaftsdemokratie wie Rudolf Hilferding, Fritz Naphtali und Viktor Agartz.[8]
Debatten dieser Art stehen jedoch vor der Aufgabe, gleich zwei Sackgassen analytisch zu überwinden. Zum einen die des Gegenwartskapitalismus, der sich immer offensichtlicher als unfähig erweist, die gesellschaftlichen und ökologischen Probleme der Zeit in den Griff zu bekommen. Aber auch die historische Bilanz der diversen Sozialismusversuche fällt mehr als ernüchternd aus. Der demokratische Sozialismus, das einstige Erfolgsprojekt der europäischen Sozialdemokratie, fiel fast ohne Gegenwehr dem Neoliberalismus zum Opfer. Doch dessen Scheitern und selbst noch die eklatanten Fehlentwicklungen im lateinamerikanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ verblassen vor dem Desaster, mit dem das historische Großexperiment des bürokratischen Staatssozialismus von der historischen Bühne abtrat.
Die Ursachen für sein Scheitern sind gewiss vielfältig. Doch ökonomische Ineffizienz, undemokratische Staatsstrukturen und ein eklatantes Defizit an Grundrechten und zivilgesellschaftlichem Pluralismus gehören sicherlich dazu. Sie müssen als historische Lernchancen Eingang in die Debatten einer kapitalismuskritischen Linken finden. Natürlich bleibt es ihre Aufgabe, die enormen Folgekosten der kapitalistischen „Leistungen“ ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückzuholen. Sie fallen in Form prekärer Arbeit, sozialer Spaltungen und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen an; oder sie werden in andere Regionen der Welt externalisiert, verschwiegen oder zu „systemunabhängigen“ Sachproblemen uminterpretiert. Doch an einer analytischen Durchdringung und normativen Bewältigung der Altlasten gescheiterter Modellversuche führt kein Weg vorbei, sollen Perspektiven jenseits des Kapitalismus wieder die notwendige utopische Kraft entfalten.
Auch für Überlegungen, die stärker in der Tradition der Wirtschaftsdemokratie stehen, lassen sich historische Anknüpfungspunkte und Lehren bzw. Defizite benennen. Angeknüpft werden kann erstens an der Einsicht der Wirtschaftsdemokrat*innen, dass die politische Demokratie, der bürgerliche Parlamentarismus zumal, lediglich eine „halbierte“, unvollendete Demokratieform darstellt, weil sie das Prinzip der demokratischen Selbstbestimmung nur für die Sphäre des Politischen zur Geltung kommen lässt. Richtig erkannt wurden zweitens die Bedeutung, aber auch die Grenzen betrieblicher und unternehmenspolitischer Mitbestimmung und die Notwendigkeit ihrer Einbettung in überbetriebliche, regional- und strukturpolitische, gesamtwirtschaftliche sowie sozial- und arbeitsmarktpolitische Strategien und Strukturen. Und drittens waren sich Naphtali u. a. der machtpolitischen Dimension der Demokratisierung kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse bewusst; die Entmachtung der wirtschaftlichen Eliten der monopolisierten Großkonzerne sowie der politischen Eliten des bürgerlich-kapitalistischen Staates wurde als Ziel wirtschaftsdemokratischer Zwischenschritte und als Voraussetzung der Erreichung des sozialistischen Endziels aufgefasst.
Dennoch muss mit Blick auf die Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus an den traditionellen Wirtschaftsdemokratiemodellen einiges hinterfragt, korrigiert bzw. weiterentwickelt werden. Das gilt erstens für die Gewissheit, mit der das Endziel Sozialismus als unumstößlicher Fixpunkt wirtschaftsdemokratischer Reformen galt. Weder kann das Sozialismus-Ziel als Konsens aller derer unterstellt werden, die als Protagonisten wirtschaftsdemokratischer Reformen gewonnen werden müssen; noch existiert in der Linken der Gegenwart eine hinreichende Idee von dem, was nach dem Scheitern der Systeme des bürokratischen Staatssozialismus heute unter einer sozialistischen Ökonomie und Gesellschaft verstanden werden sollte – von den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen im globalen Finanzmarkt-Kapitalismus ganz zu schweigen.
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Donald Trump bei einer gemeinsamen Pressekonferenz im Weißen Haus in Washington, D.C.
Source | YouTube: Joint Press Conference – View/save archived versions on archive.org and archive.today |
Author | The White House |
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Unten — A display of politician pet hate dolls for sale in the shop window of Scribbler Cards which is located in the Royal Arcade within the city of Norwich, Norfolk, United Kingdom.
attribution – Kolforn (Kolforn) I’d appreciate if you could mail me (Kolforn@gmail.com) if you want to use this picture out of the Wikimedia project scope. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.
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- Created: 18 December 2019