Das große und das kleine
Erstellt von Redaktion am Freitag 4. Mai 2012
Glück Europas
Die Entstehung und die Zukunft Europas ist das Thema des folgenden Kommentar von Neal Ascherson.
Die Union bestimmt das Schicksal Europas. Doch in der heutigen Krise ist daran zu erinnern, dass es mehr ist als ein bürokratisches Gebilde – und dass in seiner Geschichte utopische Überschüsse aufzuspüren sind, die uns einladen, unsere Zukunft neu zu denken.
Es klingt auf düstere Weise prophetisch: „Der Tod der heutigen Formen der sozialen Ordnung sollte die Seele eher erfreuen als beunruhigen. Das Erschreckende ist jedoch, dass die scheidende Welt nicht etwa einen Erbfolger hinterlässt, sondern eine schwangere Witwe. Zwischen dem Tod der einen und der Geburt der anderen Ordnung wird viel Wasser fließen, wird es eine lange Nacht voller Chaos und Verwüstung geben.“
Diese Sätze stammen von Alexander Herzen. Der russische Demokrat schrieb sie im Exil, kurz nachdem die Revolutionen von 1848 in ganz Europa gescheitert waren. Danach hatten die alten Imperien alles wieder im Griff. Aber dass 1848 ein Vorbote ihres endgültigen Untergangs war, das war Herzen bewusst. Wie dieser Untergang aussehen und welche neue Ordnung die alten Reiche ablösen würde, darüber konnte er nur Spekulationen und Befürchtungen äußern.
Wie vieles, was Herzen damals geschrieben hat, scheinen die zitierten Sätze zunächst mehr über Russland auszusagen als über den Westen und Zentraleuropa. In seinen Londoner Exiljahren hat er einmal die Traditionen der russischen und der polnischen Revolutionäre verglichen: Die Polen hätten zahllose Reliquien der Vergangenheit, von denen sie sich inspirieren lassen könnten, die Russen dagegen hätten nichts als „leere Wiegen“. Auch nach dem Aufstieg und Fall der bolschewistischen Revolution, die für das kurze 20. Jahrhundert so ungeheuer folgenreich war, und nach zehn rätselhaften Putin-Jahren wissen wir immer noch nicht, was für ein Kind die schwangere Witwe Russland am Ende in ihre Wiege legen wird.
Wenn ich heute Herzens Sätze lese, muss ich an die große „Matrjoschka“ Europa denken: ein Kontinent, der vom Atlantik bis zum Ural reicht, in dem aber eine kleinere EU steckt und darin eine wiederum kleinere Eurozone – die noch weiter schrumpfen könnte. In dem großen Europa sind seit Ende der 1980er Jahre zwei Formen sozialer Ordnung abgestorben: die kommunistische, die in das mehr als 40 Jahre währende System des Kalten Kriegs eingebettet war, und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat, der sich in Westeuropa nach 1945 herausgebildet hat. Der erste Tod mag die Seele erfreuen, der zweite sollte sie verstören.
Im dunklen Korridor zwischen alter und neuer Ordnung
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