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Das Elend der Paketboten

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 18. Dezember 2019

Vom Verlust guter Arbeit:

von Anette Dowideit

Arbeit ist einer der wichtigsten Lebensinhalte der Menschen heute, für viele von uns ist sie sogar der allerwichtigste. Und damit erfüllt sie auch eine gesellschaftliche Funktion: Sie stiftet Sinn, sie gibt den Menschen das Gefühl, etwas wert zu sein. Wer Arbeit hat, der hat auch Stolz. Sie ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Gesellschaften, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist, sind politisch deutlich instabiler als jene mit niedriger Arbeitslosigkeit. Wer keine Arbeit hat, beginnt auch schneller an der Politik zu zweifeln, die er dafür verantwortlich macht.

Um eine stabile politische Lage zu gewährleisten, reicht es jedoch nicht, die richtige Anzahl von Arbeitsplätzen zu haben. Es müssen auch gute Arbeitsplätze sein, faire. Solche, die angemessen entlohnt sind. Wer den ganzen Tag arbeitet, sich anstrengt, sich dann aber am Ende über den Tisch gezogen fühlt, wenn er seinen Gehaltszettel sieht, wird unzufrieden sein. Das Menschenrecht auf Arbeit darf nicht in den Kosten gedrückt werden. Und es darf auch nicht darin beschnitten werden, ständig in seinem Bestand bedroht zu sein: Wer sich nach bestem Wissen und Gewissen für seine Arbeit einsetzt und dann trotzdem immer wieder nur mit befristeten Arbeitsverträgen abgespeist oder nur als Freelancer beschäftigt wird, obwohl er sich – und so geht es sehr vielen – eine Festanstellung wünscht, der wird frustriert sein.

Wenn wir aber schon dieses grundlegende Problem unserer Gesellschaft zunehmend schlechter in den Griff bekommen, wenn wir um die Zukunft unserer Arbeit fürchten müssen – wie sollen wir dann all die anderen gesellschaftlichen Aufgaben angehen? Die Diskussion über den Arbeitsmarkt kommt derzeit daher, als ginge es hier nur um ein weiteres unter vielen politischen Problemen im Land, als wären faire Entlohnung und Arbeitsplatzsicherung eine Sache, der Umgang mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen eine andere. In Wahrheit gibt es eine Verbindung. In Wahrheit ist eine vernünftige, gerechte und zukunftsorientierte Gestaltung der Arbeitswelt das Fundament und auch die Lösung für fast alle anderen Herausforderungen. Wer gute, fair bezahlte, sichere Arbeit hat, der wird auch die Kraft und den Mut haben, sich für Klimaschutz, Biodiversität, Tierwohl, arme Menschen, Geflüchtete und Bildung einzusetzen.

Unternehmenschefs und Politiker wissen durchaus um diese grundlegenden Zusammenhänge. Eigentlich hätten sie die Aufgabe, die Arbeitswelt so umzugestalten, dass die Digitalisierung nicht Arbeitskräfte freisetzt, sondern Arbeitskräfte anders einzusetzen ermöglicht. Mit dem Ziel, den gewaltigen ökologischen und sozialen Herausforderungen entgegenzutreten, für die wir jede Hand brauchen. Ökologie und sozialer Zusammenhalt dürfen keine Gegensätze sein, die Wertschätzung der Arbeitskraft ist in dieser Frage der Schlüssel. Trotzdem hat in den vergangenen Jahren keine Seite entschlossen gegengesteuert. Weder Wirtschaft noch Politik haben Kraft und Ideen investiert.

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Diese fatale Grundeinstellung ist mittlerweile auch bei uns Konsumenten angekommen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Dinge für wenig Geld zu haben sein müssen. Und damit eben auch die Arbeitskraft, mit der Dienstleistungen verrichtet und Waren produziert werden. Den Grundsatz „das geht doch noch billiger“ haben wir mittlerweile für große Teile unserer Wirtschaftswelt derart verinnerlicht, dass wir kaum noch hinterfragen, wie all die niedrigen Preise für das, was wir uns kaufen, eigentlich zustande kommen – und wer am Ende den Preis dafür bezahlt. Wir akzeptieren, dass es Niedriglohnjobs gibt: Viele von uns finden es völlig okay, dass Menschen für Löhne Regale einräumen, Essen ausfahren, Teller spülen oder Hotelzimmer reinigen, mit denen sie am Existenzminimum krebsen und Zuschüsse vom Jobcenter brauchen. Fast 3,4 Millionen Vollzeitbeschäftigte verdienen laut Bundessozialministerium heute weniger als 2000 Euro brutto, das sind 16 Prozent aller Beschäftigten.

In Ostdeutschland betrifft das sogar mehr als ein Viertel der Vollzeitkräfte. Der Zusammenhang lässt sich schließlich rational argumentieren: Wer nichts gelernt hat, wird Billiglöhner. Und doch finde ich es grotesk: Es gibt kaum etwas, das ein Mensch geben kann, das so kostbar ist wie seine Arbeitskraft, seine Lebenszeit – warum gibt es in unserer florierenden Wirtschaft derart viele Fälle, in denen diese Leistung nicht zum Leben reicht? Relativ neu ist es, dass das gesellschaftliche Diktum, Arbeitskraft müsse möglichst billig zu haben sein, mittlerweile auch für viele Arbeitsplätze der Mittelschicht gilt. Berufsbilder, die früher als angesehen und erstrebenswert galten – als gut bezahlt, als krisensicher –, rutschen ab. Es trifft die Akademiker, die Selbstständigen, die Fachkräfte. Überall finden sich Beispiele für Berufe und Branchen, die noch in den achtziger und neunziger Jahren ein gutes Einkommen und ein geregeltes Leben versprachen – bei denen man dagegen heute lieber zweimal überlegt, wie zukunftsfähig und krisensicher sie wohl sind: Bankberater. Versicherungsvertreter. Fachverkäufer im Einzelhandel. Polizist. Postbeamter. Krankenschwester. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Am unteren Ende des Arbeitsmarktes

Um zu verstehen, warum der Arbeitsmarkt so tickt, wie er tickt, und warum so viele Mittelschichtsberufe abrutschen, muss man auch ausleuchten, wie es den Schwächsten in diesem Gefüge geht, den Niedriglöhnern. Nur so lässt sich nachvollziehen, warum wir als Konsumenten es mittlerweile für so selbstverständlich halten, dass Arbeit immer möglichst billig verrichtet werden muss. Dazu ein paar Fakten: Es gibt 3,4 Millionen Menschen im Land, die zwei Jobs machen müssen, um von ihrer Arbeit leben zu können. Und es werden immer mehr: Laut Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl der Betroffenen in den vergangenen 15 Jahren kontinuierlich gestiegen.[1]

Etwa jeder Fünfte, der in Deutschland in Vollzeit arbeitet, verdient unterhalb der sogenannten Niedriglohnschwelle – also weniger als 2139 Euro brutto im Monat. Das ging Ende 2018 aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linke-Bundestagsfraktion hervor. In absoluten Zahlen heißt das: Von knapp 22 Millionen sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten liegen rund 4,2 Millionen unterhalb dieses kritischen Werts. Wohlgemerkt: Es geht hier nur um sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die in Vollzeit arbeiten. All die Angestellten in flexibler Teilzeit, in Minijobs oder in erzwungener Selbstständigkeit sind darin noch gar nicht eingerechnet.

Der Niedriglohnsektor ist seit der Jahrtausendwende spürbar gewachsen, und besonders groß ist er heute im Osten Deutschlands. In allen fünf ostdeutschen Bundesländern verdient mehr als jeder Dritte trotz Vollzeitjob weniger als 2139 Euro brutto im Monat. In Mecklenburg-Vorpommern liegt der Anteil sogar bei 39,5 Prozent. Besonders wenig lohnt sich Arbeit übrigens in diesen Berufsgruppen: im Gastgewerbe (dort verdienten Angestellte 2017 im Durchschnitt 1899 Euro brutto pro Monat), in der Land- und Forstwirtschaft (2025 Euro) und in haushaltsnahen Dienstleistungsberufen (1906 Euro). Nur knapp mehr als das Einkommen, das „niedrige“ offiziell von „normalen“ Verdiensten abgrenzt, verdienen Angestellte in der Logistikbranche und im Unterhaltungs- und Tourismussektor.

Wir Konsumenten sind mit schuld

Wir sind allerdings nicht nur Beschäftigte, sondern auch: Konsumenten. Und so machen die allermeisten von uns bei diesem Spiel mit. Dem Spiel der Marktwirtschaft. Wir kaufen gern bequem und billig ein, egal ob Kleidung, Flüge oder Fleisch. Wie die niedrigen Preise zustande kommen, wollen wir aber nicht so genau wissen. Und drehen damit kräftig mit an der Lohnspirale am Arbeitsmarkt, die sich wie ein Teufelskreis immer weiter nach unten schraubt. Wie genau wir Konsumenten mit an der Schraube drehen, will ich an meinem eigenen Leben beispielhaft erzählen. Ich habe in meinem Leben viel zu tun. Sehr viel. Ich bin, was man neudeutsch eine Working Mom nennt. Ich habe drei Kinder und dazu einen Job, für den ich rund um die Uhr im Einsatz und ziemlich oft auf Dienstreisen sein muss. All das zusammen, dieser nie abreißende Strom an Dingen, die sofort erledigt werden müssen, führt dazu, dass ich mein Alltagsleben möglichst pragmatisch angehe. Also alle Aufgaben, die Tag für Tag anfallen, mit so wenig Aufwand wie möglich erledige.

Brauchen die Kinder Schulbücher, bestelle ich sie über Amazon Prime. Oft herrscht Not im Kleiderschrank, weil meine Söhne beim Fußballkicken auf dem Schulhof wieder alle Hosen löcherig gespielt haben. Dann halte ich auf dem Rückweg von irgendeiner Dienstreise bei Primark oder KiK und kaufe gleich einen ganzen Stapel günstiger Jeans. Das geht, weil der Laden praktischerweise noch abends bis um zehn geöffnet hat – der Lohn für die Verkäuferinnen ist ja nicht so hoch, also können sich die Betreiber der Läden solche Öffnungszeiten leisten. Dasselbe gilt für die Supermärkte am Flughafen und am Bahnhof, bei denen ich spätabends noch manchmal einkaufe. Müde Angestellte ziehen bis spät in die Nacht Salatköpfe über die Kassenscanner. Liegt allerdings abends bei uns trotzdem mal wieder nichts zu essen in unserem Kühlschrank, lassen wir uns schon mal Essen vom Fahrradkurier liefern. Die Liefergebühr für den jungen Mann auf dem Fahrrad, der keuchend und schwitzend vor unserer Haustür steht, kostet ja nicht die Welt. Und wenn ich für die Arbeit verreisen muss, nehme ich den Billigflieger. Auf diese Weise gibt es keinen Ärger mit der Spesenabteilung bei uns im Verlag.

Auf den Punkt gebracht: Mein Leben funktioniert nur auf diese Weise, weil es so viele günstige Arbeitsbienen gibt. Wie gefährlich mein Konsumverhalten ist, war mir lange Zeit nicht klar. Nicht nur für die Arbeitsbienen. Sondern auch für mich selbst. Als ich vor ungefähr fünf Jahren damit begann, mich beruflich mit Missständen am Arbeitsmarkt zu befassen, stieß ich immer häufiger auf Firmen, in denen viel schieflief: Bekleidungsketten, Logistiker, Restaurants oder Hotels – die sich letztendlich alle um dasselbe Thema drehten: Die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter verschlechterten sich von Jahr zu Jahr. Mit jedem Artikel, den ich veröffentlichte, verfestigte sich das Gefühl, dass auf dem Arbeitsmarkt etwas Grundsätzliches nicht rund läuft. Irgendwann dämmerte mir im Laufe dieser Recherchen, dass das auch etwas mit mir zu tun hat. Ich selbst konsumiere all diese Billigdienstleistungen, ich freue mich sogar über die niedrigen Preise, weil sie mein Leben auf erschwingliche Weise erleichtern. Wie sie zustande kommen, hätte ich nie und nimmer hinterfragt – wäre ich nicht durch meinen Beruf mit der Nase darauf gestoßen worden.

Manchmal meldet sich leise mein Gewissen und erinnert mich daran, dass es eventuell besser wäre, keine Arbeitgeber zu unterstützen, die ihren Mitarbeitern keinen Mindestlohn zahlen, sie auf Abruf beschäftigen oder sie endlos unbezahlte Überstunden machen lassen. Und dann tue ich es doch immer wieder. Ich fliege, wie viele von uns, für 20 oder 30 Euro durchs Land. Ich gehe abends um zehn noch einkaufen und wundere mich kaum, warum die Lebensmittel trotz der langen Öffnungszeiten gar nicht teurer werden. Ich bestelle Schuhe in zwei verschiedenen Farben im Internet, lasse sie vom Paketdienst liefern und schicke das überflüssige Paar einfach wieder zurück. Kostenlos. Sorgenfrei. Jedenfalls für mich. Aber warum mache ich das? Ich weiß, es ist eine miese Ausrede, aber vor mir selbst rechtfertige ich das so: Machen es nicht fast alle so? Stecken nicht die allermeisten von uns die Köpfe in den Sand wie der sprichwörtliche Vogel Strauß – um nicht zu sehen, wozu wir mit unserem Konsumverhalten beitragen?

Und, natürlich, ist da noch ein valides Argument: Viele in dieser Gesellschaft müssen ganz einfach so billig wie möglich einkaufen, egal ob Lebensmittel, Klamotten oder Möbel, weil sie selbst nicht so viel Geld zur Verfügung haben. Wer am unteren Rand der Mittelschicht lebt oder sogar zur Unterschicht gehört, der hat einfach keine Alternative. Der muss ganz einfach mit Ryanair und Konsorten fliegen, weil seine Familie sich sonst nie einen Urlaub am Meer leisten könnte. Dem erscheint es vermutlich als Luxusproblem der Oberschicht, bewusst konsumieren zu können, nachhaltig, arbeitnehmerfreundlich.

Fakt ist trotzdem: Für den billigen Konsum, von dem vor allem wir in der Mittelschicht profitieren, zahlen andere die Rechnung. Das Mindeste, das jeder von uns tun müsste, ist, sich diesen Zusammenhang klar vor Augen zu führen. Jeder einzelne Konsument muss sich fragen, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, mit Ryanair zu fliegen, bei Primark zu kaufen, sich von Uber von der Party nach Hause fahren zu lassen und sich sein Essen vom Fahrradkurier liefern zu lassen. Die Augen verschließen gilt nicht. Dafür ist die Frage, was Arbeit unserer Gesellschaft wert sein muss, zu wichtig. Wir hängen alle mit drin. Wenn das Diktum, dass Arbeit immer zum niedrigstmöglichen Preis geleistet werden muss, von der gesamten Gesellschaft verinnerlicht ist, dann kommt diese Haltung ganz schnell bei allen Löhnen zum Tragen. Und spätestens dann können wir Mittelschichtlöhner gar nicht mehr anders, als nur noch bei Primark und Ryanair zu kaufen – und steuern schlimmstenfalls selbst auf Altersarmut zu.

Abgestempelt und abgefahren

Quelle          :      Blätter           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —           DHL fraktfly Boeing 757.

2.) von Oben       —         Deutscher DHL-Lieferwagen basierend auf einem Iveco Daily IV

Author Bahnfisch
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3.) von Oben       —   Brevbärare med cykel i Bochum, Tyskland

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