Das Elend der Anderen
Erstellt von Redaktion am Montag 24. August 2015
Mare Nostrum. Unser gemeinsames Meer.
´von Yasemin Ergin
Mare Nostrum. Unser gemeinsames Meer. Diesen Namen gaben die Italiener im Oktober 2013 jener Marineoperation, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten sollte. Er klingt umso zynischer, jetzt da besagte Rettungsaktion schon wieder Geschichte ist. Eingestellt nach nur einem Jahr aus politischen und finanziellen Gründen, während das Massensterben vor Europa unvermindert weitergeht. Das Mittelmeer als Ort der Schande, des Versagens und der Unmenschlichkeit.
Und doch, es bleibt unser aller Meer. Es symbolisiert nur ganz Unterschiedliches, je nachdem auf welcher Seite der Grenzen man steht, die sich immer fester und höher und unerbittlicher rund um die Festung Europa ziehen. Auf der einen Seite Touristen, die zum Vergnügen auf Luxusdampfern herumschippern. Auf der anderen Seite Menschen auf der Flucht, so verzweifelt, dass sie sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben dem Meer schutzlos ausliefern. Urlaubsziel und Massengrab zugleich – das Mittelmeer als Brennpunkt globaler Ungerechtigkeit. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die norddeutsche Autorin und Filmemacherin Merle Kröger in ihrem neuen Roman „Havarie“. Im Mittelpunkt steht die Begegnung zwischen einem Kreuzfahrtschiff und einem Flüchtlingsboot. Kurz vor der spanischen Küstenstadt Cartagena stoßen sie beinahe zusammen. Den algerischen Flüchtlingen ist der Sprit ausgegangen, sie hoffen auf Rettung, doch das Vergnügungsschiff dürfen sie nicht betreten. Die Konzernzentrale im fernen Miami untersagt der Besatzung die Aufnahme von Flüchtlingen. Das Seerecht aber verbietet es dem Schiff, einfach weiterzufahren. Also wird die Küstenwache alarmiert, und dann liegen sie da nebeneinander und warten, der Kreuzfahrtriese und das Schlauchboot. Den Flüchtlingen schwindet die Hoffnung. Die Touristen werden unruhig: Einige befürchten, die Menschen vom Boot könnten bewaffnet sein. Andere wollen so schnell wie möglich weiter nach Mallorca, dem nächsten Stopp auf der Reise, bevor dort die besten Sachen ausverkauft sind.
So symbolstark kommt dieses Szenario daher, man könnte es für konstruiert halten. Wenn die Nachrichten nicht voll wären von den Flüchtlingen, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind, von den Hunderten, Tausenden Toten, die in ihm treiben. Von Seenotrettern, die täglich Leichen aus dem Meer fischen. Und auch von Seeleuten, die überfordert sind mit der Verantwortung, die aus der Begegnung mit Flüchtlingen immer öfter erwächst. Gerade waren wieder mehrere Hunderte auf einmal ertrunken, war die immer wieder verdrängte Flüchtlingskatastrophe erneut im Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Debatte angekommen, als Merle Krögers Roman erschien. Ein literarischer Kommentar zum Thema der Stunde, so könnte man meinen, geradezu perfektes Timing. Geplant hat sie das so natürlich nicht. Die Arbeit am Roman dauerte drei Jahre, er basiert auf einem realen Ereignis, auf das sie zufällig stieß, als sie sogenannte Harraga-Videos recherchierte: Clips von jungen Nordafrikanern, die ihre erfolgreichen Überfahrten nach Europa filmen und mit Musik unterlegt online stellen. Wahnsinnig populär seien diese Filme, sagt Merle Kröger, regelrechte Heldenvideos. Und als sie im Netz nach ihnen suchte, entdeckte sie diesen Clip, darin ein winziges Boot mitten auf dem Meer, aus einer merkwürdigen Perspektive von ganz weit oben gefilmt. Von einem Kreuzfahrttouristen, aufgenommen mit seiner Urlaubskamera. Soziale Kollision auf dem Mittelmeer.
Quelle: Blätter >>>>> weiterlesen
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Fotoquelle: Wikipedia – Author Noborder Network
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