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RENTENANGST

Das Dilemma linker Strategie

Erstellt von Redaktion am Montag 7. September 2015

Die Griechenland-Debatte und das Dilemma linker Strategie.

Heute Morgen hatten wir uns noch über Meldungen amüsiert aus welchen wir erlesen konnten, wie Mitglieder aus der Linken glauben, Menschen mit anderen Meinungen wieder einmal zurechtweisen zu müssen ohne zuvor auch nur einmal den Focus auf sich selber und die realistische Situation  gerichtet zu haben. Das zu diesen Wirrköpfen auch wieder einmal die BUNTE Sahra gehörte, versteht sich fast schon von selbst.

Mit Jürgen Aust, dem Sprecher der Antikapitalistischen Linken NRW und als  Mitglied im Landesvorstand der LINKEN NRW zuständig für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, macht sich nun der Nächste ans Werk den Griechen Lehrende Ratschläge erteilen zu müssen. Womit es aber bei Weitem nicht damit getan ist, springt er doch mit seinem Traktat auf jedermann/frau ein welche/r es in seiner Partei auch nur wagt einmal ein wenig in die Zukunft zu blicken, aber sich nicht gerade als Mitglied seiner Splittergruppe zählt.

Als Zuständiger im NRW Landesverband für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik beginnt er seine Belehrung ausgerechnet mit Karl Marx welcher sich als armer Hungerleider heute wohl kaum dafür eignet als Idol hervorgekramt zu werden. Überhaupt, linke Politik sollte in die Zukunft und nicht Vergangenheit gerichtet sein und kann damit getrost auf Knochenreste, Obrigkeiten und Idole verzichten. Die Vergangenheit mit ihren Helden sollten wir denen überlassen welchen es an die nötige Denkfähigkeit samt Ideen für die Zukunft fehlt.

Wie haben wir hier noch vor einigen Tagen, den Ratschlag eines Lebenden gelesen: „Nur ein Tor zieht in einen Krieg ohne jede Chance auf einen Gewinn.“ Dieses ist ganz besonders dem zuzurufen welcher hier glaubt auf einen richtigen Weg zu sein. Mit 10 % Wählerstimmen hier im Land ist DIE LINKE Welten davon entfernt auch nur annähernd die hiesige Politik mit zu gestalten. Und mit dem Ballast dieser Orthodoxie von roten Blutsäufern aus längst vergangenen Dekaden wird Politik aus  Selbstzweck  betrieben, da alles nur der Selbstbereicherung dient. Geld ohne Arbeit für wenige auf Kosten der Ärmsten, denen mit einer verkorksten Ideologie auch noch der letzte Cent aus die Nase gezogen wird.

Die Griechenland-Debatte und das Dilemma linker Strategie.

„Statt entschiedener politischer Opposition – allgemeine Vermittlung; statt des Kampfes gegen die Regierung und Bourgeoisie – der Versuch, sie zu gewinnen und zu überreden; statt trotzigeren Widerstands gegen Misshandlungen von oben – demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient.“ (Karl Marx, Zirkularbrief an die SPD-Führung, 1879, MEW 19, 162 – 165).

von Jürgen Aust

Die griechischen Ereignisse scheinen sich förmlich zu überschlagen. Der Rücktritt von Tsipras und die Ansetzung von Neuwahlen führten zu einer Abspaltung eines größeren Teils der Syriza-Linken und der Gründung einer neuen Fraktion mit dem Namen „Volkseinheit“, die zu den vermutlich am 20.09.2015 stattfindenden Parlamentswahlen als eine neue linke Formation antritt. Außerdem haben inzwischen 53 Mitglieder des Zentralkomitees ihren Rücktritt erklärt, der für Syriza zweifellos eine dramatische Zerreißprobe bedeutet. Es besteht deshalb für die deutsche und europäische Linke die Notwendigkeit, die Debatte darüber, welche Konsequenzen sich für eine linke Strategie daraus ergeben, erneut auf die politische Agenda zu setzen.

Mit der scheinbar alternativlosen Kapitulation der griechischen Regierung vor dem Diktat der Troika wurden zunächst einmal alle Hoffnungen begraben, die eine europäische Linke in den Wahlsieg von Syriza gesetzt hatte. Syriza war mit einem Wahlprogramm angetreten, das der jahrelangen Austeritätspolitik der Euro-Gruppe unter der Regie der deutschen Bundesregierung eine linkssozialdemokratische Alternative entgegensetzte. In ihrem „Thessaloniki-Programm“ wurde u.a. unmissverständlich erklärt: „Die gegenwärtige Regierung Samaras ist wieder einmal bereit, die Beschlüsse der Gläubiger zu akzeptieren. Das einzige Bündnis, um das sie sich sorgt, ist das mit der deutschen Regierung. Dies unterscheidet uns und dies ist die Alternative: europäische Verhandlungen durch eine Syriza-Regierung oder Anerkennung der Auflagen der Gläubiger für Griechenland durch die Regierung Samaras.“

Inzwischen ist die europäische Linke um eine weitere und schmerzhafte Erfahrung reicher geworden: die seit vielen Jahrzehnten von allen linksreformistischen Gruppierungen, Parteien und Regierungskonstellationen ausgegebene Losung „Wir wollen mit dem Kapital und seinen Regierungen die Gesellschaft verändern und nicht im Widerstand gegen sie“ ist einmal mehr gescheitert. Gescheitert an der in der linken Bewegung scheinbar unausrottbaren Illusion, dass es ein allmähliches „Hineinwachsen“ in das sozialistische Transformationsprojekt gäbe, dass nur von vielen Akteuren immer wieder lautstark propagiert werden müsse, um das Kapital und seine Agenturen zu überzeugen. Wer allerdings gehofft hatte, dass die historische Niederlage von Syriza beim (deutschen) reformkapitalistischen Flügel zu einem Erkenntnisgewinn oder gar Kurswechsel geführt hätte, der wird durch die zahlreichen nahezu „beckmesserischen“ Beiträge in den letzten Wochen eines Besseren belehrt.

Die „Abrechnung“ mit dem linken (Grexit)-Flügel

Unter der Rubrik „Debatte“ im „Neuen Deutschland“ versucht der reformistische Flügel innerhalb und außerhalb der Linkspartei in einer erstaunlichen Taktfolge eine von links formulierte Alternative zum Kurs der griechischen Regierung nicht nur ins Reich der „Träumerei“ oder des linksradikalen Fundamentalismus zu verbannen. Diese denunziatorische Abstrafung des linken Flügels will glauben machen, dass das nahezu gebetsmühlenartig vorgetragene Programm einer neokeynisianischen Politik grundsätzlich alternativlos sei und alle sich davon distanzierenden linken Forderungen ins Reich der „Träumerei“ oder besser noch, in die Nähe rechtspopulistischer oder faschistischer Parteien verbannt.
Zu einem der Exponenten dieses reformistischen Flügels gehört seit längerer Zeit u.a. Niels Kadritzke, der sowohl in der „Le Monde Diplomatique“, als auch auf den „Nachdenkseiten“ seit vielen Monaten als „Griechenland-Experte“ gehandelt wird und keine Mühe scheut, einen (linken) Grexit gewissermaßen als ein Katastrophenszenario zu diskreditieren. Der Kurs von Tsipras wird zwar (moderat) kritisiert, aber angesichts der europäischen Machtverhältnisse als alternativlos dargestellt.

Wer diese reformistische „Klaviatur“ ebenfalls regelmäßig bespielt, sind die verschiedenen Repräsentanten des „Forum Demokratischer Sozialismus“ in Allianz mit Teilen der „Sozialistischen Linken“. Das „Sozialismus-Magazin“, welches von Joachim Bischoff u.a. herausgegeben wird, versucht seit mehreren Wochen, die Deutungshoheit in der Griechenland-Debatte zu übernehmen. Während in seinem Beitrag vom 30.07.2015 („Den Grexit von links träumen“) selbst das NEIN der linken Bundestagsfraktion in die Nähe von ultrarechten Positionen des CDU/CSU-Flügels gestellt wird, wird im Beitrag vom 07.08.2015 (‚Grexit‘ oder ‚Rettung des Kapitalismus‘) die Dosis noch einmal gesteigert und nahezu apodiktisch festgestellt, es sei „….leider wahr geworden, dass die Anhänger eines revolutionären Maximalismus das schmutzige Geschäft des Neoliberalismus übernehmen.“ Während angebliche „linksradikale Fehleinschätzungen“ skandalisiert werden, wird Kommissionspräsident Juncker zum „Retter Europas“ aufgebaut, indem er angeblich in einer (konstruierten) Gegnerschaft zur deutschen Bundesregierung „…einen kleinen Weg zur Stärkung öffentlicher Investitionen in Europa zusammen mit der europäischen Investitionsbank eröffnet.“ Dass die rechten und kapitalorientierten Vertreter des europäischen Kapitals nunmehr angeblich für eine zukunftsweisende Politik für Griechenland stehen, hat zweifellos nahezu realsatirische Dimensionen.

Wer bei diesem reformistischen „Trommelfeuer“ ebenfalls nur selten fehlt, ist u.a. Axel Troost, der es auf dem Göttinger Parteitag im Juli 2012 gegen die dem linken Flügel zuzurechnende ehemalige NRW-Landessprecherin, Katharina Schwabedissen, zum stellvertretenden Parteivorsitzenden der LINKEN „geschafft“ hatte und als ein Mitglied des Sprecherkreises des rot-rot-grünen Projektes „Institut Solidarische Moderne“ die Funktion übernommen hat, als wirtschaftspolitischer Experte immer wieder den linken Flügel auszubremsen und seine Exponenten mit unterschiedlicher Intensität zu diffamieren. So in seinem neuesten Beitrag im ND vom 26.08.2015 („Überschätzte Spielräume“) und so in dem unmittelbar nach der Kapitulation von Tsipras veröffentlichten Beitrag vom 15.07.2015 („Chance auf eine lebenswerte Zukunft oder Grexit“), in dem er nicht nur den von rechts geforderten Grexit mit einem linken Grexit in einen Topf wirft, sondern in „verantwortungsbewusster“ und moralisierender Diktion dem linken Flügel von Syriza bzw. der europäischen Linken ins Gebetbuch schreibt, dass er es für „…politisch unverantwortlich (halte), in dieser Situation erneut einen freiwilligen, lange unvorbereiteten Grexit als Alternative oder Plan B zu propagieren“. Tsipras wird in diesem Beitrag trotz seines Kniefalls eine gewissermaßen staatsmännische Weitsicht attestiert, was inzwischen die FAZ und der deutsche Kapitalflügel nicht anders bewerten. In einem nahezu alles in den Schatten stellenden Beitrag („Gegen das linke Grexit-Gerede“) verortet einer der Mitsprecher des „Institut Solidarische Moderne“, Thomas Seibert, der sich eindrucksvoll als Philosoph und Aktivist vermarktet, den linken Grexit in die Nähe einer „autoritär-realsozialistischen Verwaltung eines Elendszustands“, die nach seinem Geschichtsverständnis „die erste Bedingung der neoliberalen Hegemonie“ gewesen sei. Ob man diese Version als zeitlosen Antikommunismus oder geistige Vernebelung wertet, im Ergebnis ist es das wortreiche Bekenntnis zum linksbürgerlichen Lager mit einer unerschütterlichen „rot-rot-grünen“ Option, das alle systemüberwindenden Initiativen ins Reich des Verderbens verbannt.

Diese hauptsächlich mit einer neokeynisianischen Messlatte diskreditierte Alternative von links wird in der reformistischen Debatte notwendigerweise ergänzt um Beiträge, die für ein „Mehr von Europa“ werben und die u.a. von dem ehemaligen Mitglied des geschäftsführenden Parteivorstandes der LINKEN und FDS-Mitglied, Halina Wawzyniak, repräsentiert werden. In ihrem auf den Pro-Grexit-Beitrag von Janine Wissler und Nicole Gohlke im ND vom 23.07.2015 reagierenden Artikel (ND vom 29.07.2015) fordert sie nahezu enthusiastisch ein „JA zur EU“, indem sie mit nahezu religiöser Beschwörung formuliert, dass „… es eine andere EU wird. Demokratisch, friedlich und sozial gerecht.“ Auf derselben Wellenlänge argumentiert Axel Troost, indem er in dem bereits zitierten Beitrag vom 26.08.2015 sein unerschütterliches Europa-Bekenntnis wie folgt formuliert: „Die Alternative zu weniger Europa ist mehr Europa, aber anders. Ziel ist ein demokratisches und soziales Europa, das mit der neoliberalen Logik des Maastrichter Vertrags bricht.“ Man könnte ihnen fast emphatisch zurufen: „Ja, Halina, ja, Axel, wer wollte das nicht!“, aber unter verschärften kapitalistischen Machtverhältnissen, was Schäuble und Co. soeben einmal mehr demonstriert haben, wird es mit diesen Europa-affinen Appellen nicht annähernd funktionieren, sondern diese Politik wird wie bereits in den letzten 30 Jahren mit vergleichbaren Appellen zum Scheitern verurteilt sein. Erstaunlicherweise argumentiert auch der Blockupy-Aktivist, Jan Schlemermeyer, in seinem Beitrag im ND vom 23.08.2015 („Zeit für Plan C“) auf ähnlichem Niveau, indem er einen Grexit von links als „Neuauflage der alten linksnationalistischen These, dass die Rückkehr in die nationalstaatliche Wagenburg unvermeidlich sei“ brandmarkt, um dann sein Credo zu verkünden, dass „das linke Revival des Nationalstaates eine Verkennung der gefährlichen Dynamik des neuen Nationalismus“ sei. Er zitiert dann in seinem Beitrag die von Thomas Konicz vertretene These, dass die „Rückkehr zur Nation, der das ökonomische Fundament längst abhanden gekommen ist, …nur noch als reaktionäres Projekt möglich (sei).“ Deshalb seine krude Schlussfolgerung: „Sozial geht nicht national. Eine fortschrittliche Lösung lässt sich heute nur noch transnational denken. Darunter ist sie nicht zu haben.“

In einer unmittelbar nach Tsipras‘ Kapitulation veröffentlichten Erklärung der „Interventionistischen Linken“ vom 11.07.2015 („Für eine Autonomie der Kämpfe – Sechs Gegenthesen zum OXI und den Folgen“) wird zugespitzt diese Europa-“tümelnde“ Position sehr radikal beantwortet mit: „Der Reformismus ist tot und mit ihm auch alle Illusionen über eine demokratische, solidarische EU.“ Die Kontroverse innerhalb linker Positionen zur Griechenland-Debatte könnte also kaum größer sein. Die entscheidende Frage linker Bewegung in verschärften neoliberalen Zeiten lautet also nach wie vor und umso mehr: Was tun?

Was tun?

Diese von Lenin 1902 formulierte Fragestellung ist auch 2015 für die linke Bewegung von nahezu historischer Aktualität. Denn es existiert in der europäischen Linken kein Konsens darüber, welche Strategie notwendig ist, um den Kapitalismus als ein System zu überwinden, das zwar einem kleinen Teil der Gesellschaft zu inzwischen unermesslichen Reichtum verhilft, aber einen immer größer werdenden Teil zu menschenverachtenden Armutsverhältnisse verdammt. Die Debatte über eine linke Strategie stellt sich deshalb nach der „Griechischen Tragödie“ mit unverminderter Schärfe neu. Wir können dieser Frage nicht ausweichen und insbesondere auch nicht uns der Illusion hingeben, dass wir nur neue linke Rezepturen „verschreiben“ müssen, damit der politische Gegner zu neuen Erkenntnissen gelangt. Das wird er, wie alle konterrevolutionären Projekte in früheren Jahren bewiesen haben, ob in der putschistischen Variante (Chile 1973) oder in der autoritär ökonomistischen Variante (Athen 2015) nicht freiwillig tun. Dafür bedarf es jenseits reformistischer Rezepte einer Debatte über eine linke Strategie, die sich mit den herrschenden Machtverhältnissen anlegt und nicht die historisch widerlegten Illusionen schürt, dass das Kapital sich von den besseren Argumenten überzeugen ließe.

Bevor wir uns jedoch mit diesem zentralen und entscheidenden Problem befassen, lohnt es noch einmal, einen Blick auf die „Verfasstheit“ des Führungspersonals von Syriza und der von ihr gestellten Regierung zu werfen. Denn eine Debatte über linke Strategie sollte sich notwendigerweise mit der Frage auseinandersetzen, warum konnte es denn überhaupt dazu kommen, dass Tsipras und die Mehrheit der neuen griechischen Regierung sich dem Diktat des deutschen und europäischen Kapitalflügels nahezu bedingungslos unterworfen haben, obwohl sie mit einem dazu völlig konträr verfassten Programm („Thessaloniki-Programm“) angetreten waren.

Dass es überhaupt zu einem derartigen „worst case“ kommen konnte, hat seine Ursachen einmal in der Entstehungsgeschichte von SYRIZA und zum anderen darin, dass sich, wie es in nahezu allen sozialistischen bis kommunistischen Parteien historisch der Fall war, zwei politische Flügel gegenüberstehen. Ein reformistisch orientierter und ein auf einen Bruch mit dem System orientierter Flügel. Syriza ist bekanntlich aus der sich „Synaspismos“ nennenden eurokommunistisch orientierten Partei hervorgegangen, die sich mit anderen linken Parteien und Organisationen 2004 zunächst zu einem Wahlbündnis zusammenschloss, um sich dann 2012 vor den Wahlen als Partei zu konstituieren. In dieser neuen Formation kamen zahlreiche unterschiedliche linke Kräfte zusammen, die von einer Abspaltung der KKE bis zu übergewechselten Mitgliedern der PASOK reichten (also nicht sehr verschieden von der Zusammensetzung der Mitgliedschaft in der deutschen Linkspartei).

Als SYRIZA am 25.01.2015 seinen historischen Wahlsieg errang, als erste mit einem erklärtermaßen linkssozialdemokratischen Programm angetretene Partei, konzentrierten sich verständlicherweise die Hoffnungen der europäischen Linken auf Griechenland. Denn es war die erste Regierungsübernahme einer linken Partei in Europa seit Jahrzehnten und sie beflügelte die Hoffnungen, dass die noch 2015 stattfindenden Parlamentswahlen in Spanien und Portugal die europäische Architektur maßgeblich verändern könnten. Diese Hoffnungen haben Tsipras und die von ihm geführte Regierung nicht nur enttäuscht, sondern in der europäischen Linken scharfe Kontroversen ausgelöst. Der Sprecher des Zentralkomitees von SYRIZA, Stathis Kouvelakis, hat in einem mehr als informativen Interview versucht, die Ursachen der Niederlage zu analysieren und damit auch einen detaillierten Einblick in das „Machtzentrum“ von SYRIZA bzw. auch der griechischen Regierung verschafft. Daraus wird deutlich, dass Tsipras sich in einem immer stärkeren Maße von Vertretern des (rechten) reformistischen Flügels das „Gesetz des Handelns“ hat diktieren lassen und sich damit vom linken Flügel und der Mehrheit des Zentralkomitees in einem gewissermaßen schleichenden Prozess distanziert hat. Insofern war auch die Unterwerfung unter die „Kapitulationsurkunde“ in Gestalt des „3. Hilfsprogramms“ nicht nur absehbar, sondern nahezu folgerichtig. Denn einer der rechten Regisseure innerhalb der Regierung, der „Chefökonom“ Dragasakis, ist einer der zentralen Wortführer, der enge Kontakte zu Bankenkreisen unterhält und in den vergangenen Monaten jede linkere Variante ausgebremst hat. Kouvelakis berichtet u.a. darüber, dass Dragasakis z.B. 2013 ein aufsehen erregendes Interview gegeben habe, in dem er sich für „minimale Verbesserungen“ des Kurses der Nea Demokratia ausgesprochen hatte. In Zusammenarbeit mit dem amtierenden Wirtschaftsminister Giorgios Stathakis und anderen Vertretern des rechten Flügels wurden alle davon abweichenden Varianten bekämpft, so dass sich ein linkerer Kurs, der sich dem „Thessaloniki-Programm“ verpflichtet fühlte, nicht durchsetzen konnte, und zwar deshalb nicht, weil Tsipras und auch Varoufakis diese Regie mittrugen bzw. sich ihr nicht entscheidend widersetzten. Vor diesem Hintergrund ist es auch nachvollziehbar, dass Tsipras und der rechte Regierungsflügel keinesfalls die mit dem überwältigenden OXI geschaffene Dynamik ausnutzten, um damit ein erhöhtes Druckpotential in die Verhandlungen einzubringen, sondern er machte unmittelbar anschließend nahezu eine Rolle rückwärts, indem er die durch das Referendum angeschlagenen Spitzen der bürgerlichen Parteien kurz danach zu einer „Allparteienkoalition“ einlud, um sie auf die kommende Kapitulation einzustimmen.

Die reformkapitalistischen Alternativen

Wie nicht anders zu erwarten, versucht in dieser Situation die reformistische Linke ihre altbekannten Rezepte nach dem TINA-Prinzip als Rettung Griechenlands und Europas zu vermarkten. Ihre zahlreichen Beiträge im Rahmen der im ND veröffentlichen Debatte haben dabei in erster Linie die Funktion, einen Grexit von links gewissermaßen als „Weltuntergang“ zu diskreditieren. So verbannt Axel Troost in seinem bereits zitierten Beitrag „Chance auf ein lebenswertes Leben oder Grexit“ eine Alternative zu seinem wirtschaftspolitischen Verständnis ins Reich der Verantwortungslosigkeit. Ihm gelingt es dann auch mit leichter Hand, die Kapitulation als Erfolg zu verkaufen, denn „…in dieser Situation hat er sich für sein Land und seine Regierung eine Perspektive erkämpft…. Die griechische Linksregierung hat eine Chance unter Rückgriff auf Investitionsmittel aus EU-Fonds sich auf einen Wachstumspfad zurück zu kämpfen.“ Wie diese Akrobatik angesichts der Unterwerfung unter ein Diktat, das verschärfte Privatisierungen, Massenentlassungen, Mehrwertsteuererhöhung, etc. gelingen soll, bleibt sicherlich das Geheimnis von Axel Troost. Aber unbeeindruckt von der Kritik an seinen Positionen legt er in Allianz mit zwei Mitgliedern des Bundestages (der SPD- und Grünen-Fraktion) kurze Zeit später nach, indem er unter dem Label des „Institut Solidarische Moderne“, dessen Mitsprecher er ist, ein weiteres nahezu „glühendes“ Bekenntnis zur EU formuliert und seine keynisianische Mixtur in erneuter Auflage verabreicht. Heißt es zunächst: „Wir werden uns weiterhin entschieden dafür einsetzen, Griechenland in der europäischen Familie sowie in der Gemeinschaftswährung zu halten. Unsere Gemeinschaft begründet sich in der Solidarität der Nationen und ihrer gleichberechtigten Teilhabe an den supranationalen Institutionen Europas,“ so darf der interessierte Leser anschließend erfahren, mit welchen „Wunderwaffen“ denn die Alternative in Griechenland umgesetzt werden soll. Diese heißt nach wie vor: „Sozialökologisches Zukunftsinvestitionsprogramm statt stumpfer Austeritätspolitik.“ Diese Allheilmittel werden unbeeindruckt von der bisherigen Wirkungslosigkeit dieser von einer Massenmobilisierung völlig losgelösten Forderungen gebetsmühlenartig vorgetragen, weil offensichtlich die Hoffnung besteht, dass sich Merkel, Schäuble und Co. dadurch von ihrem desaströsen Weg abbringen lassen werden.

Auf einer ähnlichen „Erfolgsschiene“ ist das Projekt „SozialismusAktuell“ mit ihrem Hauptautor Joachim Bischof seit vielen Jahren unterwegs und glaubt, nach der Kapitulation von Tsipras sich zu seinem Ehrenretter machen zu müssen. In mehreren Debatten-Beiträgen versuchen Bischof und Co. gewissermaßen die „Quadratur des Kreises“, indem sie einerseits sämtliche alternativen Beiträge von links ins Reich der Träumerei oder des Fundamentalismus verbannen, um dann als „Erfolgsmodell“ den neokeynisianischen Ruf nach Investitionen und Wachstum für Griechenland anzustimmen, so u.a. in den Beiträgen vom 07.08.2015 „Grexit oder ‚Rettung‘ des Kapitalismus?“ und vom 13.08.2015 „Das dritte Memorandum: „neoliberaler Wahnsinn?“. Im letzteren wird dann u.a. Sahra Wagenknecht abgestraft, die es „gewagt“ hatte, den Kniefall von Tsipras zu kritisieren: „Mit der pauschalen Kritik, die zwar an die Adresse der Bundesregierung gerichtet ist, nimmt die zukünftige Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag auch die fundamentalistische Position der »Linken Plattform« ein – und eine deutliche Distanzierung zur Politik der Regierung Tsipras, die sich die Option einer Alternative nicht völlig aus der Hand nehmen lassen will. Denn ein Austritt aus dem Euro-Verbund wäre die schlechtere Politik.“

Diese nahezu „ökonomistische“ Reduzierung einer gesellschaftlichen Umbruchssituation auf das bekannte Mantra „Griechenland braucht Wachstum und Investitionen“ ist auch nicht annähernd in der Lage, eine gesellschaftliche Dynamik auszulösen, die größere Teile der griechischen Bevölkerung „mitnimmt“ bzw. zu ihrer notwendigen Mobilisierung beitragen würde. Auch wenn die von Bischof u.a. vorgetragenen Bedenken gegen einen Grexit zweifellos ernst zu nehmen sind, also die Verteuerung von Importen, die Entwertung von Bankguthaben, die möglicherweise Erschwerung und Verteuerung von Krediten durch ESM, EZB, IWF, etc., enthalten diese gegen einen Grexit von links beschworenen Gefahren jedoch immer wieder dieselbe Botschaft: der Arzt am Krankenbett des kapitalistischen Systems verordnet lieber Hustenbonbons gegen Lungenkrebs, als die Fesseln durchzuschneiden und eine befreiende und menschenwürdige Perspektive zu wagen. Insbesondere ist ihre „Kampfansage“, dass ein Grexit von links im „Revival des Nationalstaats“ sich verorte, eine Absage an ein linkes Projekt, dass unter verschärften kapitalistischen Verhältnissen zunächst grundsätzlich auf einen „nationalen Klassenkampf“ orientieren muss, um damit überhaupt die Voraussetzungen zu schaffen, dass ein zukünftiges internationales Projekt so etwas wie ein Gegenmodell gegen eine europäische Austeritätspolitik ermöglichen könnte. Es ist deshalb aus linker und antikapitalistischer Sicht Andreas Wehr entschieden zuzustimmen, wenn er in seinem Beitrag „Kampffeld Nationalstaat“ Gramsci zustimmend zitiert („Gewiss treibt die Entwicklung auf den Internationalismus zu, aber der Ausgangspunkt ist national.“), um zu schlussfolgern, dass es sich um eine falsche „unter Linken verbreitete Vorstellung (handelt), den kapitalistischen bzw. imperialistischen Staaten der EU eine sozial gerechte und demokratische Union quasi überstülpen zu können.“

 Grexit von links?

 Will der linke Flügel von Syriza und der europäischen Linken dieser erwiesenermaßen erfolglosen reformistischen Politik eine erfolgreiche Alternative entgegensetzen, dann wird sie nicht daran vorbei kommen, der „neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht“ in Gestalt der EU ein entschieden radikaleres Gegenmodell entgegenzusetzen, dann ist der Bruch mit den Institutionen der EU und dem Euro die entscheidende Voraussetzung für ein alternatives Gesellschaftsmodell in Griechenland. Wir wissen inzwischen, dass Tsipras und der rechte Regierungsflügel zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt hatten, eine solche Alternative als Drohkulisse in der Hinterhand zu halten bzw. in die Verhandlungen mit der Troika einzubringen. Sie haben im Gegenteil, wie Kouvelakis anschaulich schildert, ähnlich wie der deutsche Reformflügel, den Grexit als Katastrophe an die Wand gemalt, um sich dann doch lieber in voller Überzeugung von der Verantwortung gegenüber der griechischen Bevölkerung dem nahezu kolonialen Status als angeblich kleinerem Übel zu unterwerfen.

Anders als in der deutschen Linkspartei hat der linke Flügel von SYRIZA eine relativ starke Position innerhalb der Partei, wie u.a. in der Abstimmung im Zentralkomitee mit 109 zu 101 Stimmen gegen die Annahme des dritten Memorandums zum Ausdruck kam. Seine führenden Repräsentanten wie Lazafanis, Kouvelakis oder Lapsavitas haben nach den monatelangen Auseinandersetzungen mit dem Tsipras-Flügel erklärt, dass „…der Zerfallsprozess von Syriza bereits begonnen (habe) …. und die Spaltung absolut unumgänglich“ sei. Da die Verhältnisse in Griechenland gewissermaßen „galoppieren“, hat die „Linke Plattform“ inzwischen erklärt: »Der Kampf gegen die neue Vereinbarung beginnt jetzt«, kündigte Lafazanis mit Blick auf die Einigung über die umstrittenen Auflagen für ein neues Kreditprogramm laut der Athener Zeitung »Kathimerini« an. Man wolle nun die »Menschen in jeder Ecke des Landes« mobilisieren. Lafazanis und die elf anderen Unterzeichner kritisierten, der Deal mit den Gläubiger-Institutionen richte sich gegen den Willen von mehr als 61 Prozent der Griechen, die beim Referendum Anfang Juli mit »Nein« gestimmt hatten,“ und hat zur Gründung einer „vereinten Bewegung“ aufgerufen. Ob dieser neue Prozess dazu führen wird, dass eine breitere linke Front in Griechenland entstehen kann, können wir aus deutscher Perspektive zwar aktiv begleiten, aber nicht entscheidend beeinflussen. Die entscheidende Frage muss aber sein, ob wir uns mit ihm solidarisieren sollen?

Die deutsche Linke braucht systemüberwindende Alternativen

Wir nähern uns nunmehr erneut der zweifellos schwierigsten Frage: was tun? In eindrucksvoller Weise hat Stathis Kouvelakis in seinem Interview eingestanden, dass „nun selbstverständlich der Moment der unausweichlichen Selbstkritik gekommen (ist), der gerade anläuft…. Der Fehler ist unübersehbar, da ein entsprechendes Papier existierte und man nur intern gezögert hat, was den richtigen Zeitpunkt für die Veröffentlichung anging… Es stimmt also, dass es an grundlegendem Realitätssinn fehlte, was wiederum direkt mit dem zentralen Problem zusammenhängt, dem sich die heutige Linke stellen muss – unserer eigenen Ohnmacht.“ Dies ist zweifellos ein Bekenntnis von radikaler Offenheit, was auf der linken Seite nicht allzu häufig anzutreffen ist. Deshalb nochmals: was tun?

Es geht in der linken Debatte m.E. um zwei zentrale „Baustellen“ in der aktuellen Auseinandersetzung, die die reformistische und antikapitalistische („radikale“) Linke trennen. Das ist einmal das Verhältnis zu „Europa“, also einerseits zu einem politischen Glaubensbekenntnis, wie es Kouvelakis formuliert hat, welches einen nahezu religiösen Glauben an das europäische Projekt seit Jahren auslöst und in dem weiter oben zitierten Bekenntnis von Axel Troost u.a. seinen aktuellen Ausdruck findet („Wir werden uns weiterhin entschieden dafür einsetzen, Griechenland in der europäischen Familie sowie in der Gemeinschaftswährung zu halten. Unsere Gemeinschaft begründet sich in der Solidarität der Nationen und ihrer gleichberechtigten Teilhabe an den supranationalen Institutionen Europas.“). Erfreulicherweise scheint sich nunmehr auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung von dieser Sichtweise zu distanzieren, wenn Mario Candaias in seinem Beitrag im ND vom 04.08.2015 schreibt: „Von links kann dieses Projekt europäischer Einigung kaum noch verteidigt werden, ohne in blanken Illusionismus umzuschlagen.“ Der von Schäuble und der ihm hörigen Euro-Gruppe inszenierte „Staatstreich“ („This Is A Coup“) sollte auch dem letzten Keynesianer die Augen geöffnet haben, dass innerhalb der EU und ihrer einigen wenigen Kapitalgruppen verpflichteten Institutionen es keinen Politikwechsel mit linker Perspektive geben kann. Es wird also nicht „mit“ ihnen im Sinne eines sozialdemokratischen und sozialpartnerschaftlichen Politikmodells einen Aufbruch zu einem Politikwechsel geben können, sondern nur gegen sie, was bedeutet, dass die deutsche und europäische Linke auf einen Bruch mit diesem neoliberalen Europa orientieren muss. Nicht mehr, aber insbesondere auch nicht weniger.

Die andere, nicht minder schwere Baustelle ist im entscheidenden Unterschied zu allen „reformkapitalistischen“ Beiträgen die notwendige Verbindung eines linken Grexit mit der Systemfrage, da ein Grexit i.S. der Rückkehr zur Drachme allein an den politischen Machtverhältnissen in Griechenland nichts Entscheidendes ändern würde. Denn ohne substantielle Eingriffe wie Vergesellschaftung der Banken und Schlüsselindustrien und ohne Entfernung der bisherigen korrupten Eliten von den Schaltzentralen kann und wird es auch mit einer nationalen Währung zu keiner entscheidenden Verbesserung der Lebensverhältnisse des überwiegenden Teils der griechischen Bevölkerung kommen können. Zusammen mit diesen Übergangsmaßnahmen muss notwendiger Weise eine entscheidende Veränderung demokratischer Prozesse und Strukturen erfolgen, also die Übertragung von substantiellen Mitbestimmungs- und Eingriffsrechten auf die Belegschaften, die Schaffung von kommunalen und Regional-Räten, die mit Verfügungs- und Entscheidungsgewalt ausgestattet werden, um der Bevölkerung aufzuzeigen, dass eine demokratische Veränderung entschieden mehr ist, als das bürgerlich-parlamentarische Repräsentationsmodell (Maßnahmen „direkter Demokratie“ sind zwar als Sofortmaßnehmen im „Thessaloniki-Programm“ enthalten, aber wurden auch nicht annähernd von der griechischen Regierung in den ersten sieben Monaten in Angriff genommen.) Diese notwendigen Übergangsmaßnahmen sollen hier nur beispielhaft aufgeführt werden, um deutlich zu machen, dass ein Politikwechsel notwendigerweise sowohl mit Eingriffen in die Besitz- und Machtverhältnisse, als auch mit einer Entfernung der alten Eliten von den Kommandohöhen erfolgen muss.

Diese systemüberwindende Strategie ist schließlich genau das Gegenteil von einem „Revival des Nationalstaats“, da sie notwendigerweise auf nationale Kämpfe orientiert, um damit die erforderliche Ausstrahlungskraft in Richtung der europäischen Linken insgesamt zu bewirken. Linker Widerstand findet notwendigerweise aktuell vor den brennenden Flüchtlingsheimen in Heidenau, Freistatt, etc. statt. Er muss (entschiedener) in Kalkar und den Zentralen der deutschen Rüstungsindustrie entwickelt werden. Er muss insbesondere bei den nationalen Streikkämpfen andere Dimensionen annehmen, um dem neoliberalen Projekt in die „Speichen“ zu greifen. Aber diese antikapitalistische Strategie wird nicht ansatzweise mit der „Erzählung“ zu einem Erfolgsmodell, dass wir uns von den nationalen Kämpfen zugunsten eines „europäischen Projekts“ verabschieden sollen. Mit einer derartigen Strategie wird die deutsche Linke dasselbe Schicksal erleiden, das die französische und italienische Linke nahezu pulverisiert hat.

Diese Orientierung wird zweifellos eine sehr umkämpfte Strategie sein, da sie ein großes Lager von nahezu allen Gewerkschaftsführungen bis zu größeren Teilen der linksliberalen wissenschaftlichen Think Tanks zunächst nicht auf ihrer Seite hat. Diese sind bisher weitestgehend einem Politikmodell verpflichtet, welches entweder in neoliberale Strukturen eingebunden ist (große Teile der Gewerkschaftsführungen) oder aber aus Gründen der Arbeitsplatzsicherung sich radikaleren Alternativen als die immer wieder aufgelegten „Diskussionsangebote“ (Hans-Böckler-Stiftung, WSI, IAQ, etc.) nicht verschreiben können bzw. wollen. Denn der „Bruch“ mit dem kapitalistischen System, das bereits in seinem Normalzustand für die meisten Menschen eine Katastrophe ist, gleicht für sie einer nahezu gefährlichen Perspektive. Sie ist insbesondere ein bisher völlig unbekanntes Gelände, auf dem man sich wie auf einer Eisfläche nicht annähernd im gewohnten Umfeld politischer Debatten befindet.

Weil diese Angst offensichtlich „übermächtig“ zu sein scheint, werden bisher erfolgreiche „Revolutionen“ auch als unzeitgemäß oder schlimmer noch, als putschistisch denunziert. So gelingt es dem bereits zitierten Joachim Bischof in seinem Beitrag „Rot-rot-grüne Zusammenarbeitsprojekte?“ im Rahmen zahlreicher Beiträge zur Debatte um ein „Rot-rot-grünes“ Projekt die russische Revolution im Jahre 1917 nahezu hundert Jahre später als „Lenins linksradikalen Tigersprung über die bürgerlich-parlamentarische Demokratie hinaus“ zu diskreditieren, so dass nach dieser reformistischen Sichtweise eine Revolution im Prinzip immer zu früh stattfindet, weil sie die angeblich historisch zwingende Abfolge von zunächst entwickelter bürgerlich-parlamentarischer Demokratie und dann über ein „transformatorisches“ Projekt fortschreitender Reformprojekte in nahezu sträflicher Weise abkürze. Nach diesem Politikverständnis hätte es z.B. auch die kubanische Revolution nicht geben dürfen, da auch sie vermutlich völlig „unzeitgemäß“ erfolgte. Es handelt sich bei diesem „antirevolutionären“ Politikverständnis um immer dieselbe Absage an jegliche radikale bis revolutionäre gesellschaftliche Veränderung, die Rosa Luxemburg in ihrem berühmten Werk „Reform oder Revolution“, in dem sie mit dem Revisionismus von Eduard Bernstein abrechnete, bereits dahingehend kritisierte: „…Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein untrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.“

Die deutsche Linkspartei und ihr europäischer Flügel werden sich deshalb erheblich intensiver mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob sie so weiter machen wollen wie bisher oder ob sie sich entschieden radikaler mit den herrschenden Machtverhältnissen anlegen wollen, um deutlich zu machen, dass der parlamentarische Weg für entscheidende gesellschaftliche Veränderungen nicht annähernd ausreicht. Deshalb ist insbesondere Raul Zelik zuzustimmen, der in seinem Beitrag „Jenseits der politischen Arithmetik. Mitte-Links-Regierungen und/oder gesellschaftliche Veränderungen“ u.a. ausführt: „…dass die Verknüpfung von Linksregierungen, Politikwechsel und sozialem Fortschritt offenkundig falsch ist. Die ‚Machtoption‘ Regierungsbildung, von der in der parlamentarischen Linken so häufig die Rede ist, ist eine Chimäre. In Anbetracht der realen Machtstrukturen kapitalistischer Gesellschaften sind die Gestaltungsräume für (Mitte-) Linksregierungen viel geringer, als gemeinhin unterstellt. Ohne gesellschaftliche Aufbrüche, die den Regierungswechseln vorausgehen, das Potential radikalerer Veränderungen in sich tragen und von eben diesen Regierungswechseln in der Regel auch wieder unterbrochen werden, ist emanzipatorische Reformpolitik undenkbar. Ohne Mobilisierung der Gesellschaft und ohne die Gefahr, dass die Mobilisierung außer Kontrolle geraten könnte, werden sich (Mitte-) Linksregierungen darauf beschränken (müssen), die herrschenden Machtverhältnisse zu verwalten.“

Schlussendlich: Dieser Beitrag verfolgt nicht die Absicht, gewissermaßen nach dem TINA-Prinzip, eine alternative (revolutionär)-linke Strategie quasi zu verordnen und eine abgeschlossene Rezeptur zu präsentieren, sondern er will zu einer überfälligen Debatte auffordern, die sich einem systemüberwindenden linken Projekt verpflichtet fühlt. Ich plädiere aber entschieden dafür, dass es unterhalb der Machtebene mit ausschließlich systemimmanenten „Vorschlägen“ à la Troost, Bischof, Hickel, u.a. nicht „gehen“ wird, wie die europäische (linke) Geschichte der letzten 40 Jahre mehr als deutlich bewiesen hat. Ohne die Systemfrage neu zu stellen, wird die deutsche und europäische Linke, wofür alle historischen Erfahrungen sprechen, sich weiter marginalisieren.

Jürgen Aust ist Sprecher der Antikapitalistischen Linken.NRW und als Mitglied im Landesvorstand der LINKEN. NRW zuständig für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

Quelle: Die Linke AKL

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Fotoquelle:  / Blogsport

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