Das Böse in uns
Erstellt von Redaktion am Sonntag 21. September 2014
Der Islamische Staat und wir selbst
VON JULIA LEY
Der Islamische Staat IS hat mich gepackt. Die Brutalität, die Abgebrühtheit, das Morden, die Gleichzeitigkeit von vermeintlichem Mittelalter und modernem YouTube-Pop, das alles ist auf schreckliche Weise faszinierend. Weil es so wahnsinnig wirkt, so unberechenbar, so entfesselt.
Ich will das Grauen verstehen. Jahrelang habe ich mich im Studium mit dem Islam und dem Nahen Osten befasst. Ich müsste doch etwas sagen können, das über die klischeehaften, reißerischen Reaktionen von Politikern und Medien hinausgeht, die vom „Kalifat des Schreckens“ oder der „Isis-Bestie“ sprechen.
Vielleicht mischt sich in mein Unverständnis auch eine Art irrationaler Wut. Seit Jahren stelle ich mich gegen antimuslimische Vorurteile, versuche Freunden zu erklären, warum vieles im Nahen Osten so ganz anders ist, als man es aus dem Fernsehen kennt. Versuche zu erklären, dass der Islamismus zwar brutal und verquer ist, man ihn aber aus der Geschichte der Region heraus erklären kann. Und was ich auch immer sage: Dass die allermeisten Muslime nichts damit zu tun haben, sondern darin eine Perversion ihrer Religion sehen.
Und nun kommt die Isis, die sich mittlerweile nur noch IS nennt: Eine radikalislamistische Organisation, die selbst al-Qaida in den Schatten stellt, und jedes Vorurteil, das über arabische Muslime kursiert, noch übersteigt. Ich muss einsehen, dass es nichts bringt. Fünf Jahre Studium bringen mich dem Verstehen keinen Schritt näher. Selbst ausgewiesene Nahost-Kenner waren auf den IS nicht vorbereitet. Fast alle waren überrascht, wie leicht der IS riesige Gebiete im Irak und in Syrien einfach überrannte.
Freunden aus der Region geht es ähnlich. In Istanbul arbeitete ich kürzlich mit einem jungen Syrer zusammen. Auch er, der mit seiner Familie seit drei Jahren im syrischen Bürgerkrieg ausharrt, der die politische Lage vor Ort tagtäglich verfolgt, hat keine Erklärung. Auch auf ihn wirkt der IS wie eine Heimsuchung, eine Plage von beinah biblischem Ausmaß.
So weit wie möglich von sich weisen
Der Freund ist einer dieser angenehm bescheidenen Menschen, die einem vor Augen führen, wie viel Stärke ein Mensch aus seiner Religion ziehen kann. Die brutale, missionarische Ideologie des IS ist für ihn so weit weg wie für mich. Eine Organisation, die gewaltsam Moscheen und jahrhundertealte muslimische Heiligtümer zerstört, die sogar auf Twitter verkündet, sie wolle die Kaaba zerstören – wo soll das herkommen?
Der IS wendet sich gegen jede etablierte muslimische Tradition, in der der syrische Freund aufgewachsen ist, gegen die syrische Kultur. Der IS will all das zerstören, er instrumentalisiert politische Unterschiede, bringt Sunniten gegen Schiiten auf, und alle gegen Christen, Jesiden und andere Minderheiten. Und er wendet sich gegen die große Vielfalt, die diese Region seither ausmacht und die bei allen Kriegen doch vielerorts überlebt hat.
Der Reflex meines Freundes ähnelt also meinem eigenen: Man will den IS so weit wie möglich von sich weisen.
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Fotoquelle: Wikipedia – Author Tsuzuki26
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