Haben Sie die Osterprobe bestanden? Oder kämpfen Sie noch? Wenn ja: Mit wem, und gegen was? Ich weiß, dass es vielen schwerfällt, lesen zu müssen, man könne oder solle die Frage der Verhältnismäßigkeit nicht auf die Maßnahmen des sich angeblich im Todeskampf aufbäumenden Staats beziehen, sondern auf einen Vergleich zwischen dem Leiden anderer und dem eigenen Jammer. Solche Ratschläge gelten als unsensibel und mitleidlos, obgleich die deutsche Meinungsgemeinde sich im Allgemeinen gern für Gleichmut und Nervenstärke lobt.
Die Osterprobe sollte, wie man hörte, die härteste Herausforderung sein, welche diejenigen, die sich „Deutschland“ nennen, seit Mai 1945 bestehen mussten. Die meisten wissen nicht genau, ob und wie die deutschen Juden in diesem Jahr das Pessachfest begangen haben und wie sich die Muslime in Deutschland auf den Beginn des Ramadan am Abend des 23. April vorbereiten. Umfassend informiert sind sie aber über den vorösterlichen Einfallsreichtum, mit dem die Landeskirche Mecklenburg-Vorpommern trotz Corona Gottesdienste ermöglicht. Früher wäre für kirchliche Obrigkeiten ein Coronavirus gewesen, was bei Gauland unter „Geschenk des Himmels“ läuft (siehe DER SPIEGEL, 12.12.2015): Anlass zu Schuldbetrachtung und Verheissung von Erlösung durch Unterwerfung unter den einen Willen, der vorerst der seiner Verkünder sein muss. Im Jahr 2020 verschwinden Viren nicht like a miracle. Hilfe wird nicht vom Vorsitzenden der Bischofskonferenz erfleht, sondern vom Präsidenten des Robert Koch Instituts.
Nun hat am 11. April der Bundespräsident mir wie allen dafür gedankt, dass ich angeblich Leben gerettet habe und dies täglich weiter tue. Ich habe das, ehrlich gesagt, für übertrieben gehalten; es macht mich verlegen, als Lebensretter geehrt zu werden, obwohl ich nichts dergleichen getan habe. Meine lebensrettende Tat hat darin bestanden, dass ich mich im Großen und Ganzen an Empfehlungen und Gebote gehalten habe, die der Verhütung einer zu schnellen Ausbreitung der Corona-Epidemie dienen. Da nicht für! Man muss mir auch nicht dafür danken, dass ich an roten Ampeln halte, nicht Blumentöpfe vom Balkon in die Fußgängerzone werfe und keine Brände lege. Tatsächlich habe ich einfach keine Lust, an Covid-19 zu erkranken, eine nicht therapierbare Lungenentzündung zu bekommen, wochenlang nach Luft zu ringen und monatelang gehandicapt zu sein. Das Wohlergehen der Herde liegt mir ehrlich gesagt nur mittelbar am Herzen, obwohl ich gewiss niemandem Schlechtes wünsche. Das ist wie beim Rauchen: Man muss mir nicht danken, dass ich vor 20 Jahren aufgehört und andere vor Lungenkrebs durch Passivrauchen bewahrt habe.
Natürlich war die Dankesrede des Bundespräsidenten gut gemeint und lernpsychologisch plausibel: Lob, Belohnung und Ermunterung, das weiß man, wirken besser als Tadel und Strafe. Das sollten sich Redaktionen in Erinnerung rufen, die ohne Unterlass formulieren, was als nächstes „droht“. Meist bleibt dabei unklar, ob das Drohen einen Urheber hat oder sich insoweit mit einem schlichten „es“ begnügen muss: „Es droht…“, „Nun droht…“. Wenn Genaueres gesagt wird, wird es nicht unbedingt besser: „Söder droht mit Maskenpflicht“. Die lustigste Drohmeldung der Woche war der Hinweis auf ein drohendes Bundesland: „Sachsen droht Quarantäne-Verweigerern mit Psychiatrie“ (n-tv, 11.4., und viele andere). Tatsächlich lautet § 30 Abs. 2 Bundes-Infektionsschutzgesetz:
Kommt der Betroffene den seine Absonderung betreffenden Anordnungen nicht nach oder ist nach seinem bisherigen Verhalten anzunehmen, dass er solchen Anordnungen nicht ausreichend Folge leisten wird, so ist er zwangsweise durch Unterbringung in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einem abgeschlossenen Teileines Krankenhauses abzusondern (…)
Es droht also nicht Sachsen, sondern ein Bundesgesetz ordnet an, dass Personen unter bestimmten Voraussetzungen zwingend unterzubringen sind. Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung muss ein Richter entscheiden. Es handelt sich um eine seit Jahrzehnten bestehende gesetzliche Ermächtigung zu Eingriffsmaßnahmen in bestimmten Notlagen. Dass es im Einzelfall vernünftig und verhältnismäßig sein kann, hochinfektiöse Personen, die uneinsichtig andere gefährden und sich allen Sicherungsversuchen widersetzen, vorübergehend zwangsweise abzusondern, liegt nahe und ist nicht streitig: Einen mit einer gefährlichen Krankheit infizierten Süchtigen wird man nicht sehenden Auges auf dem Straßenstrich hinterm Hauptbahnhof herumlaufen lassen wollen.
Obwohl die Meldung wenig sinnvoll war, berichteten Dutzende von Zeitungen und Online-Portalen über die „Drohung“ durch „Sachsen“; tausende von Internet-Benutzern erregten sich über die angeblichen Polizeistaats-Methoden. Woher kommt eine solche Fehleinschätzung? Sind die Alarmmeldungen und die Panikbereitschaft, die sie bedienen und anstacheln, noch „gut gemeint“? Oder läuft auf der Angebotsseite ein professionelles Programm ab, das man nicht gutheißen kann, und bedient auf der Empfängerseite eine umfassende Bereitschaft, bloße Symbole und Formen als Ersatz für Inhalte zu nehmen, sich mit bloßen Simulationen von Geschehen zu begnügen? Es geht mir bei dieser Frage nicht um Moral und Ethik, sondern darum, Geschehens- und Deutungsabläufe zu verstehen.
Man muss bedenken, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute Wirklichkeit außerhalb eines engen persönlichen Rahmens als symbolische wahrnimmt. Wo selbst die wilde weite Welt auf das Maß von Dokumentarfilmen gesunken und zur gestalteten Szenerie geworden ist, Nordpol, Südsee und Schatzinseln als Event-Locations angeboten werden, gibt es zwischen analogen und virtuellen Bundesministern vielleicht nur noch für Nostalgiker einen Unterschied. Dann wäre das Leben bloßes Symbol seiner selbst, ein Film, dessen Szenenfolge, Schnitttechnik und Zeitabläufe der Kritik und dem Remake unterworfen sind.
Verhältnismäßigkeiten
Zur allgemeinen staatsbürgerlichen Erhebung und aus pädogogischem Kalkül kann man gewiss einmal den Mitbürgerinnen und Mitbürgern dafür danken, dass eine Million Pauschal- und Individualreisen abgesagt wurden, Openair-Konzerte ausgefallen sind und Großeltern die Schokoladeneier nur via Skype mit ihren Enkeln teilen konnten. Der Leidensdruck durch vorübergehende Einschränkung der Einkaufsmöglichkeiten scheint mir dagegen erträglich.
„Wir alle“, so heißt es, müssen aus Solidarität leiden. Aber wer ist „wir“? Was verstehen Sie unter Leiden, und was genau ist mit Solidarität gemeint? Dass „Deutschland“ als solches oder Ganzes leidet, scheint mir unwahrscheinlich. Ich selbst leide bislang nicht; auch Versandhändler und Tankstellenpächter kommen gut klar. Das ist natürlich eine selektive Wahrnehmung: Die meisten Menschen, die ich kenne, sind halt nicht Inhaber von Boutiquen, Nagelstudios, Friseurläden, Galerien oder Hallenbädern, und keiner meiner Freunde wohnt zu sechst auf 50 Quadratmetern mit Menschen, die meist schreien, saufen und sich prügeln.
Ich finde es zwar interessant, dass „Deutschland“ behauptet, sich Sorgen um arme Menschen zu machen, die in winzigen Wohnungen zusammengepfercht das Schicksal „unserer Wirtschaft“ mitansehen und sich fragen lassen müssen, wann diese wieder „hochgefahren“ werden soll. Aber ehrlich gesagt kann ich die plötzliche Begeisterung für systemrelevante Mindestlohnempfänger und Aufstocker noch nicht recht glauben. Ich bin daher gespannt auf die Vorsorgeprogramme, die nach der Jahrhundertkrise und vor Beginn der nächsten entworfen und umgesetzt werden, damit allen Bürgern ausreichender und lebenswerter Wohnraum zur Verfügung steht, um den Angriff des nächsten Killervirus komfortabel auszusitzen. Oder könnte es sein, dass die Solidarität nach dem Verzicht auf die diesjährige Sylt-Reise ermattet ist und nach dem „Hochfahren“ alle Leistungsträger und alle Systemrelevanten aus dem deutschen „Wir“ dahin zurückkehren, wo sie hingehören?
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — München, berittene Polizei nach dem Festzug zur Eröffnung des Oktoberfests 2018.
Dienstag 14. April 2020 um 13:26
Nun hat am 11. April der Bundespräsident mir wie allen dafür gedankt, dass ich angeblich Leben gerettet habe und dies täglich weiter tue.
Schönredner des Monats April!