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AFD-nahe Erasmus-Stiftung

Erstellt von Redaktion am 19. Februar 2022

Eine AfD-nahe Stiftung erwartet Steuermillionen

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Jürg Müller-Muralt /   

Eine Kaderschmiede der Neuen Rechten in Deutschland will an die staatlichen Fördertöpfe. Sie stösst auf beträchtlichen Widerstand.

In Deutschland verfügt jede Partei über eine ihr nahestehende Stiftung, benannt nach wichtigen Persönlichkeiten. Bei der SPD beispielsweise ist es die Friedrich-Ebert-Stiftung, bei der CDU die Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese parteinahen Institutionen haben verschiedene Aufgaben, etwa politische Bildung, sie mischen informell in der Aussenpolitik mit, haben nicht selten Büros in diversen Ländern, unterhalten die Archive der ihnen nahestehen Parteien und verwalten Politikernachlässe.

«Rechtlich besser absichern»

Finanziert werden diese Stiftungen zum allergrössten Teil vom Staat, konkret etwa vom Innen-, Aussen-, Umwelt- und Bildungsministerium. Die Bundesmittel erreichen dreistellige Millionenbeträge, Tendenz steigend. Nur: Die Finanzierung steht rechtlich auf wackligen Beinen, sie ist nicht sonderlich transparent, und eine klare gesetzliche Grundlage gibt es nicht. Die neue deutsche Regierungskoalition hat das Problem zwar erkannt und den folgenden Satz in den Koalitionsvertrag geschrieben: «Die Arbeit und Finanzierung der politischen Stiftungen wollen wir rechtlich besser absichern.» Sehr konkret ist das nicht. Und die Parteien sind sich auch nicht einig, in welcher Form das geschehen soll.

Acht Millionen Euro für die AfD?

Deshalb gilt wohl bis auf weiteres Gewohnheitsrecht. Dieses sieht vor, dass eine Partei, die ein zweites Mal in Folge in den Bundestag einzieht, Anrecht auf staatliche Förderung ihrer parteinahen Stiftung hat. Zuständig für den Entscheid ist der Haushaltsausschuss (Finanzkommission) des Bundestages. Doch was bisher Routine war, gewinnt nun plötzlich an Brisanz – weil es um die AfD geht. Formal erfüllt die Partei die Bedingungen zur Finanzierung, sie wurde im vergangenen Herbst zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt. Allerdings machen nun grosse Teile der deutschen Zivilgesellschaft mobil und wollen verhindern, dass die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) mit Steuergeldern unterstützt werden soll. Die Stiftung rechnet mit rund acht Millionen Euro im ersten Jahr: «Wenn alles nach Recht und Gesetz zugeht, stehen der Desiderius-Erasmus-Stiftung ab dem Jahr 2022 Fördermittel des Bundes zu. Auf jeden Fall werden sich die Verhandlungen dazu aufgrund der vorangegangenen Bundestagswahl bis zum Ende des ersten Quartals 2022 hinziehen», heisst es auf der Homepage der DES.

Für Völkerverständigung

Die DES gibt sich offiziell zurückhaltend und staatstragend. Dies ganz im Gegensatz zur AfD: Seit dem Rücktritt von Jörg Meuthen als Parteichef unter gleichzeitigem Parteiaustritt im Januar 2022 scheint sich jedenfalls der völkische Flügel der ohnehin in Teilen rechtsradikalen AfD durchzusetzen. Auf der Homepage der Stiftung dagegen kann man lesen: «Wir setzen uns für die Förderung des demokratischen Staatswesens und die Vermittlung staatsbürgerlicher Bildung ein.» Und: Die Stiftung unterstützt «die Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie die wissenschaftliche Aus- und Fortbildung begabter junger Menschen.» Herausgestrichen wird auch «die internationale Gesinnung, die Völkerverständigung, die Toleranz auf allen Gebieten der Kultur.»

Ganz so weichgespült und eingemittet, wie sich die DES nach aussen gibt, ist sie allerdings nicht. Das zeigt allein schon ein Blick auf die Veranstaltungen: Da geht es etwa um die «Islamisierung Deutschlands», um die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg «aus ihren angestammten Siedlungsgebieten unter dem Aspekt des Völkerrechts», um «Massenzuwanderung» und «Migration als Sicherheitsrisiko». Auch das Führungspersonal lässt aufhorchen. Die 2017 gegründete Stiftung wird von Erika Steinbach präsidiert, einer früheren Bundestagsabgeordneten, die lange Zeit am rechten Rand der CDU politisierte. 2017 trat sie aus der CDU aus, weil sie mit der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht einverstanden war.

Ende Januar 2022 – pikanterweise nach dem Austritt von Jörg Meuthen – stellte sie einen Mitgliedsantrag bei der AfD. Polarisiert hat Steinbach schon als Präsidentin des deutschen «Bundes der Vertriebenen», wo sie die Interessen der im Gefolge des Zweiten Weltkriegs aus dem Osten Europas vertriebenen Deutschen vertreten hat. Sie musste sich auch immer wieder gegen den Vorwurf wehren, mit ihrer Fokussierung auf die deutschen Vertriebenen die nationalsozialistischen Verbrechen zu verharmlosen. Aufgefallen ist sie zudem mit geschichtsrevisionistischen Positionen; so stimmte sie etwa 1991 im Bundestag gegen die Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze.

Tweet von Erika Steinbach
Tweet von Erika Steinbach anlässlich des Muttertags 2017. © Erika Steinbach / www.twitter.com

Scharfmacher geben den Ton an

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Was für eine andere Aufgabe sollten die den Parteien anhängenden Stiftungen haben, als die einer  Geldwäsche? 

Im Stiftungsvorstand sitzen weitere Scharfmacher. So etwa Thore Stein, der Mitglied in extrem rechten Burschenschaften war und noch heute in der «Halle-Leobener Burschenschaft Germania» ist. Ebenfalls im Vorstand sitzt der sächsische AfD-Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel. Er war unter anderem Mitbegründer der völkisch-nationalistischen «Patriotischen Plattform» in der AfD, wie Le Monde diplomatique vom Februar 2022 schreibt. Zum Gedenktag der Bombardierung Dresdens durch die Westalliierten am 13./14. Februar 1945 sind auf der Homepage von Sebastian Wippel die ungeheuerlichen Worte zu finden: «Nach Kriegsende inszenierten sich die Alliierten letztlich als die grossen Befreier des deutschen Volkes. Doch die Taten, die sie auf dem Weg bis zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland verübten, versuchen sie bis heute zu relativieren und zu kaschieren.» Das jährliche Gedenken an die Bombardierung Dresdens wird seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts in unschöner Regelmässigkeit von Rechtsextremisten für geschichtsrevisionistische Zwecke missbraucht.

Stiftung kämpft mit Verfassungsbeschwerde

«Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Neue Rechte einer derart grossen Millionenförderung durch den Staat so nahe gewesen. (…) Sollte die DES tatsächlich staatliche Förderung erhalten, könnte sie Strukturen aufbauen, die selbst ein Verbot der AfD oder eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz überdauern könnten», schreibt Le Monde diplomatique. Noch ist unklar, ob die Stiftung ihren finanziellen Anspruch gegen den breiten Widerstand durchsetzen kann. Die DES hat jedenfalls «als Reaktion auf dieses verfassungswidrige Verhalten», wie sie schreibt, eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

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Oben      —      Für Sie und Deutschland Erika Steinbach Sicher in die Zukunft CDUAbbildung

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KOLUMNE * MATERIE

Erstellt von Redaktion am 13. Februar 2022

Faszination Autobahnblockade: Alle Räder stehen still

Aufstand der Letzten Generation - Strassenblockade 02.jpg

Eine Kolumne von Kersten Augustin

Eine Handvoll Menschen reicht, um eine Autobahn zu blockieren und Aufmerksamkeit zu erregen. Doch reicht das, um Wandel zu bewirken?

Räumen wir zu Beginn diesen schönen Sendeplatz für die KollegInnen des Spartensenders „Bild.tv“: Die saßen in dieser Woche wie üblich in trauter Runde zusammen, um sich gegenseitig ihrer Ressentiments zu vergewissern. Es ging um die Autobahnblockierer. Nach einigen Sätzen, in denen die Worte „Wohlstandsverwahrlosung“ und „spätrömische Dekadenz“ fielen, gaben mehrere Gäste zu, dass sie klammheimliche Sympathie mit der Aktion haben.

„Wie radikal muss man sein, um etwas zu verändern?“, fragte die Moderatorin in die Runde. „So radikal wie die“, sagt die Ex-Bunte-Chefin, und auch der „Bild.tv“-Chef erzählte von seiner Tochter, die ihm diese Frage stelle.

Wie kann es sein, dass so viele Menschen von den Blockaden der Autobahn fasziniert sind?

Es ist faszinierend, weil es so wenig braucht, um den Alltag zu unterbrechen, der sonst alternativlos erscheint. Weniger als zehn Menschen setzen sich auf die Straße – und der Verkehr bricht zusammen. Eine beeindruckende Effektivität, vor allem, wenn man sie mit dem Zustand vergleicht, in dem sich die Klimabewegung nach zwei Jahren Pandemie befindet.

Mit dem eigenen Körper

Wie misst man den Erfolg einer Bewegung? Es scheint, als sei weder die Zahl der DemonstrantInnen noch der Applaus, den sie bekommen, der entscheidende Gradmesser. Es hat der Klimabewegung nichts gebracht, von Olaf Scholz und Angela Merkel umarmt zu werden. Als 1,4 Millionen Menschen am 20. September 2019 auf die Straße gingen, bekamen sie ein Klimapaket, das seinen Namen nicht verdiente.

Für die Bewertung der Blockaden ist ein anderer Maßstab brauchbarer: Disruption.

Noch haben die Autobahnblockaden außer Aufmerksamkeit wenig erreicht. Aber Selbstwirksamkeit, also die Erfahrung, mit dem eigenen Körper einen Unterschied zu machen, ist eine bleibende Erfahrung, nicht nur für die Beteiligten. Und auch die ZuschauerInnen des Spektakels trennen sehr wohl zwischen Form und Inhalt. Man kann die Blockaden falsch finden, aber selbst die Statements von AutofahrerInnen im Stau beginnen oft mit der Einschränkung: „Ich find’s ja richtig, dass die demonstrieren, aber …“

Verteilung von weggeworfenen Lebensmitteln durch den Aufstand der letzten Generation, Kaufland, Residenzstraße, Berlin (51808549528).jpg

Meist wurde kritisiert, dass die Blockaden die Falschen treffen würden. Dabei wurde eine Strohpuppe aus dem Schrank geholt, die aus der Benzinpreisdebatte bekannt ist: Es ist die alleinerziehende Krankenschwester, die nun im Stau stehe (als würde sie normalerweise problemlos über die leere Berliner Stadtautobahn düsen). Auch SPD-General Kevin Kühnert berief sich auf sie und kritisierte die Aktion: Bei einem regulären Streik in einem Betrieb richte sich die Aktion gegen den Arbeitgeber, sagte er. Hier bestreike man sich gegenseitig.

Eine einfache Rechnung

Quelle      :         TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Aufstand der Letzten Generation – Strassenblockade in Freiburg für eine Agrarwende, 7. Februar 2022

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Zeit für Notwehr ?

Erstellt von Redaktion am 12. Februar 2022

„Wenn man denkt, dass Militanz jemals in der Geschichte ethisch gerechtfertigt war, dann sind es auch diese Proteste“

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Auch eine sich Selbsternannte Demokratie regiert nur mit Gewalt ihrer Söldner.

Von Susanne Schwarz

Die Gruppe „Aufstand der letzten Generation“ sorgt mit Straßenblockaden für große Aufregung. Die Diskussion über die Legitimität radikaler Protestformen gegen Klimaschädigung ist in vollem Gange.

Meistens ist es ziemlich einfach: Sie laufen bei Rot auf die Straße und gehen nicht mehr runter. Keine große Sache eigentlich. Aber kein Auto kommt mehr durch. Was ist das für eine Gruppe, die sich „Aufstand der letzten Generation“ nennt und über die sich gerade alle aufregen?

Gegen den Berufsverkehr, den sie blockieren, haben die Aufständischen erst einmal nicht viel. Sie wollen ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung. Und weiter noch eine Politik gegen den Klimakollaps. Darauf bezieht sich auch der Name der Gruppe. Sie sieht sich als Teil der letzten Generation, die noch etwas bewirken kann, bevor die Menschheit durch die Klima­krise völlig ihrem Untergang geweiht ist. Aus dieser Dringlichkeit heraus haben die Ak­ti­vis­t:in­nen ihre Aktionsform gewählt. Sie wollen Druck machen, sodass es wehtut. Eine Massenbewegung ist der „Aufstand“ allerdings nicht gerade. Pro Aktion sind es vielleicht ein, zwei, drei Dutzend. Die kommen aber eben immer wieder. Die Polizei steckt Ak­ti­vis­t:in­nen in Gewahrsam, entlässt sie, sie kommen wieder. Angefangen haben sie in Berlin, weitere Aktionen gibt es in Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart und München.

Und plötzlich liefert eine Gruppe mit zweistelliger Mitgliederzahl die Gesichter der Klimabewegung in Deutschland. Es ist nicht die Zeit für große Demos, auch aus Infektionsschutzgründen. Fridays for Future haben zwar für Ende März den nächsten globalen Klimastreik angemeldet. Ob sich aber wie 2019 irgendwann wieder jeden Freitag die Marktplätze mit Schulstreikenden füllen, die eine lebenswerte Zukunft für sich einfordern, steht in den Sternen.

Die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ sorgen für Empörung, auch wenn die Polizei sie jeweils recht schnell auflöst. Es kursieren Videos, in denen Au­to­fah­re­r:in­nen die Ak­ti­vis­t:in­nen beschimpfen, in Selbstjustiz eigenhändig von der Straße schleifen. In einem Fall schlägt ein hysterisch brüllender Mann einer Aktivistin gar ins Gesicht. Auch in der Politik stoßen die Aktionen nicht unbedingt auf Gegenliebe. „Unangemeldete Demos auf Autobahnen sind und bleiben rechtswidrig“, twitterte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Und nachdem Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) diese Woche zivilen Ungehorsam in einer Diskussionsrunde zunächst „absolut legitim“ genannt hatte, sprang sie Buschmann auf Twitter bei: „Alle, die darauf warten, dass es endlich einen saftigen Koalitionskrach geben möge, enttäusche ich jetzt mal“, schrieb sie. „Ich stimme mit meinem Kollegen Marco Buschmann überein.“ Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (auch Grüne), der von Amts wegen für Fragen der Ernährung zuständig ist, sagte in der taz bereits, „dass Straßenblockaden unserem gemeinsamen Ziel schaden“.

Aufstand der Letzten Generation - Strassenblockade 02.jpg

Noch ein Gesicht der Klimabewegung in der Öffentlichkeit ist derzeit Tadzio Müller. Er gehört keiner bestimmten Organisation mehr an, war aber Mitgründer der Gruppe „Ende Gelände“ und Klimagerechtigkeitsreferent für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Selbst Blockaden wie die der „Letzten Generation“ gehen ihm nicht mehr weit genug. Müller empfiehlt der Bewegung die Erweiterung ihrer Aktionsformen: Fossile Infrastruktur zerstören, ohne Menschen zu gefährden. „Friedliche Sabotage“ hat er das schon in zahlreichen Interviews genannt, in der taz, im Spiegel, zuletzt auf dem „Heißen Stuhl“ bei Stern TV. „Alles andere hat nichts oder nicht genug gebracht“, argumentiert er. „Und wenn man merkt, eine Strategie funktioniert nicht, dann ist es doch Quatsch, immer wieder dasselbe zu machen.“

Was Müller vorschlägt, ist im Kleinen schon Realität. Anonyme ließen in mehreren Städten Luft aus SUV-Reifen und hinterließen klimapolitische Botschaften an den Autos sowie auf der Online-Plattform Indymedia. Dort wurde kurz zuvor ein Bekennerschreiben publiziert, in dem anonyme Personen behaupten, für das Klima auf dem Gelände des Lausitzer Kohlekonzerns Bagger und andere Gerätschaften beschädigt zu haben. „Polizei und LKA ermitteln“, bestätigte ein Unternehmenssprecher der taz. Ist das nur die Radikalisierung einer Nische oder treiben diese Ak­ti­vis­t:in­nen als Pioniere die Klimabewegung vor sich her?

Wenn man Tadzio Müller fragt, ob friedliche Sabotage nicht ein Widerspruch in sich sei, redet er sich schnell in Rage. „Natürlich ist das friedlich, wie soll man denn Gegenständen Gewalt antun? Die haben keine Seele und kein Schmerzempfinden“, meint er. „Da von Gewalt zu sprechen, ist absurd.“

Das sieht die Philosophin Eva von Redecker anders. Die Wissenschaftlerin, die sich unter anderem mit Fragen des Eigentums und des sozialen Wandels beschäftigt, meint: „Ich würde sogar sagen, dass unsere gesamte Lebensweise auf Gewalt gegenüber Sachen begründet ist.“ Sie führt die Ausbeutung der Natur als Beispiel an, die weitaus größere Gewalt natürlich, die in vielen Fällen auch noch legal ist.

Vor zwei Jahren ist von Redeckers Buch „Revolution für das Leben“ erschienen, in dem sie sich auch mit der Klimabewegung auseinandersetzt. „Ich würde die aktuelle Diskussion leider eher als Zeichen der Schwäche der Bewegung werten“, sagt sie. „Die Kapazität zur Mobilisierung und Massenbegeisterung hat sich reduziert, zum einen durch die Pandemie, aber auch durch ausbleibende politische Erfolge, Repressionsmaßnahmen und Erschöpfung im neoliberalen Alltag.“

Verteilung von weggeworfenen Lebensmitteln durch den Aufstand der letzten Generation, Kaufland, Residenzstraße, Berlin (51808546243).jpg

Es stelle sich eine Art Wille der Verzweiflung ein, der zu der Überzeugung führe, die Bewegung müsse drastischer, militanter und effektiver werden, meint von Redecker. Grundsätzlich überzeuge es sie zwar nicht, dass man zur Bekämpfung von größerer Gewalt auch selbst gewalttätig sein dürfe. Aber: „Wenn man denkt, dass Militanz jemals in der Geschichte ethisch gerechtfertigt war, dann sind es auch diese Proteste.“

Von Notwehr spricht Tadzio Müller. Ob diese Argumentation vor Gericht Bestand hat? Die Lage ist kompliziert: Juristisch gesehen setzt Notwehr eigentlich voraus, dass man einem Verbrechen ausgesetzt ist. Nun kann man die Verursachung der Klimakrise für ein solches halten, die nötigen Genehmigungen vorausgesetzt ist es derzeit aber legal, dass Autos fahren und Kohlebagger baggern. Erkundigt man sich bei Jurist:innen, die mit derartigen Fällen zu tun haben, erfährt man von vielen juristischen Diskussionen um diese Frage.

Quelle     :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Ultras des Fußballvereins de:Eintracht Frankfurtanlässlich eines Lokalderbys (gegen Offenbach, August 2009). Die Polizei greift ein, nachdem es Verletzte gab.

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Unten     —       Aktivisten vom Aufstand der Letzten Generation retten weggeworfene Lebensmittel. Da Containern in Deutschland unter Strafe steht, schreitet die Polizei ein. Hinten links Henning Jeschke, rote Jacke Carla Hinrichs, vorn Lina Eichler, Berlin, Lager der Gorillas, Schwedenstraße, 08.01.21

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DIE UKRAINE-KRISE:

Erstellt von Redaktion am 11. Februar 2022

ESKALATION MIT ANSAG

Von David Teurtrie

Die aktuellen Spannungen haben eine lange Vorgeschichte, die mit dem Ende des Kalten Kriegs begann und sich mit der Osterweiterung der Nato fortsetzte. Die EU hat bei dieser Entwicklung zu keinem eigenen gemeinsamen Standpunkt gefunden, sondern sich für US-amerikanische Interessen einspannen lassen.

Das Säbelrasseln im Osten Europas hat die Regierungen des Westens aufgeschreckt. Russland zieht starke Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen und hat den USA zwei Vertragsentwürfe zur Reform der Sicherheitsarchitektur in Europa vorgelegt, die den Schutz seiner territorialen Integrität garantieren sollen. Darin wird verlangt, dass die Nato sich nicht weiter nach Osten ausdehnt, dass die westlichen Truppen Osteuropa verlassen und dass die USA ihre Atomwaffen aus Europa abziehen.

Die Forderungen können in dieser Form nicht erfüllt werden, entsprechend ablehnend fiel die Antwort Washingtons aus. Dadurch wächst die Gefahr einer russischen Militärinvasion in der Ukraine. Die aktuelle Situation wird nun auf zwei sehr unterschiedliche Weise interpretiert: Die einen glauben, Moskau erhöhe den Druck, um Zugeständnisse von Washington und den Europäern zu erzwingen. Die anderen unterstellen, Moskau suche einen Vorwand, um in der Ukraine zur Tat zu schreiten. Bei beiden Szenarien stellt sich die Frage, warum Putin gerade diesen Moment für ein Kräftemessen gewählt hat. Warum spielt er dieses riskante Spiel und warum jetzt?

Seit 2014 hat Russland mehrere Maßnahmen ergriffen, um seine Wirtschaft gegen Schocks zu wappnen, insbesondere den Banken- und Finanzsektor. Der Dollar-Anteil an den Reserven der Zentralbank wurde reduziert. Die nationale Geldkarte Mir steckt heute im Portemonnaie von 87 Prozent der Russinnen und Russen. Sollten die USA ihre Drohung wahr machen, Russland vom westlichen Swift-System abzukoppeln, wie sie es 2012 und 2018 mit Iran getan haben, könnten die Geldströme zwischen russischen Banken und Unternehmen über eine lokale Zahlungsinfrastruktur abgewickelt werden.

Falsche Versprechen an Gorbatschow

Russland fühlt sich also besser gerüstet, um im Fall eines Konflikts harte Sanktionen auszuhalten. Zudem hat die letzte Mobilisierung der russischen Armee an der ukrainischen Grenze – im Frühjahr 2021 – zur Neuauflage des russisch-amerikanischen Dialogs über strategische Fragen und Cybersicherheit geführt. Auch diesmal meint der Kreml offenbar, der Aufbau von Spannungen sei das einzige Mittel, um im Westen gehört zu werden, und die neue US-Regierung sei bereit, noch mehr Zugeständnisse zu machen, um sich auf die wachsende Konfrontation mit China zu konzentrieren.

Putin will offenbar vor allem den westlichen Plan durchkreuzen, die Ukrai­ne zu einem – wie er es nennt – „nationalistischen Anti-Russland“ zu machen.1 Eigentlich hatte der russische Präsident auf das Minsker Protokoll von 2014 und das Umsetzungsabkommen vom Februar 2015 gehofft, um sich über den Umweg der Donbass-Republiken ein Mitspracherecht in der ukrainischen Politik zu sichern. Das Gegenteil ist geschehen: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ist an einem toten Punkt angelangt.

Die Wahl von Präsident Volodimir Selenski im April 2019 hatte in Moskau die Hoffnung auf bessere Beziehungen zu Kiew geweckt, aber er hat die von seinem Vorgänger eingeleitete Politik des Bruchs mit der „russischen Welt“ noch verstärkt. Außerdem wird die militärisch-technische Kooperation zwischen der Ukraine und der Nato immer enger. Die Türkei, selbst Nato-Mitglied, hat Kiew sogar Kampfdrohnen geliefert, weshalb Moskau befürchtet, die Ukraine könnte eine militärische Rückeroberung des Donbass versuchen.

Putin will also die Initiative ergreifen, solange noch Zeit ist. Doch unabhängig von den kurzfristigen Faktoren wie dem russischen Truppenaufmarsch, die zu den gegenwärtigen Spannungen geführt haben: Es bleibt festzustellen, dass Russland lediglich Forderungen aktualisiert hat, die es seit dem Ende des Kalten Kriegs immer wieder vorgebracht hat, ohne dass der Westen sie für akzeptabel oder zumindest legitim angesehen hätte.

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Das Missverständnis reicht zurück bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1991. Es wäre nur logisch gewesen, wenn das Verschwinden des Warschauer Pakts zur Auflösung der Nato geführt hätte, die ja in Reaktion auf die „sowjetische Bedrohung“ gegründet worden war. Den ehemaligen Ostblockstaaten, die sich dem Westen annähern wollten, hätte man auch alternative Formate zur Integration anbieten können.

Der Moment war günstig, weil die russische Elite die Liquidierung ihres Reichs ohne jede Gegenwehr hingenommen hatte und so prowestlich eingestellt war wie noch nie.2 Es fehlte auch nicht an anderen Vorschlägen, etwa vonseiten Frankreichs, die aber unter dem Druck aus Washington aufgegeben wurden. Die USA wollten sich ihren „Sieg“ nicht nehmen lassen und forcierten die Osterweiterung der euro-atlantischen Strukturen, um ihre Dominanz in Europa zu festigen. Dabei hatten sie einen gewichtigen Verbündeten in Deutschland, das auf seinen Einfluss in Mitteleuropa aus war.

Ab 1997 wurde die Nato-Osterweiterung umgesetzt, obwohl der Westen Gorbatschow 1990 versprochen hatte, dazu werde es nicht kommen.3 In den USA gab es kritische Stimmen von prominenter Seite. Der Historiker George Kennan, der als Architekt der Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR galt, sagte die ebenso logischen wie schädlichen Konsequenzen dieser Entscheidung voraus: „Die Nato-Erweiterung wäre der folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges. Es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit schürt, einen neuen Kalten Krieg in den Ost-West-Beziehungen auslöst und die russische Außenpolitik in eine Richtung drängt, die überhaupt nicht unseren Wünschen entspricht.“4

1999 feierte die Nato mit großem Pomp ihren 50. Gründungstag, setzte ihre erste Osterweiterung (Ungarn, Polen und Tschechische Republik) um und kündigte an, der Prozess werde fortgesetzt. Zur gleichen Zeit begann die Nato ihren Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, wodurch aus dem Verteidigungsbündnis eine Angriffsallianz wurde, die internationales Recht missachtete. Da der Krieg gegen Belgrad ohne UN-Mandat geführt wurde, konnte Moskau eins seiner letzten Macht­instru­mente, das Vetorecht im Sicherheitsrat, nicht einsetzen.

Quelle        :      Le Monde Diplomatie-online       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Slowjansk: Die Stadtverwaltung, kontrolliert von vermummtem Militär mit Kalaschnikows und RPGs

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Unten     — Green Cross International Gründer Mikhail Gorbachev (rechts) und Owen Kilgour in der Green Cross International Ausstellung Foto von Paul Garwood, Green Cross International

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Gott jetzt ohne Staat ?

Erstellt von Redaktion am 8. Februar 2022

Ampel setzt Idee aus Weimarer Verfassung um

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Von Ruth Lang Fuentes

Jährlich zahlt der Staat etwa eine halbe Milliarde Euro an die Kirchen. Die Ampel will diese Zahlungen aufheben und damit eine mehr als 100 Jahre alte Forderung umsetzen.

„Mehr Fortschritt wagen“ möchte die Ampelkoalition. Dazu gehört auch, Verträge hinter sich zu lassen, die zu Zeiten Napoleons beschlossen wurden. Denn seit über 200 Jahren zahlen die Länder bis auf Bremen und Hamburg jährlich Gelder an die Kirchen. Rund 591 Millionen Euro gaben die Länder im vergangenen Jahr an die katholische und evangelische Kirche.

Grund dafür ist etwa die Säkularisierung kirchlicher Gebiete Anfang des 19. Jahrhunderts. Damals wurden Besitztümer der Kirche wie Ländereien und Immobilien enteignet und den weltlichen Landesherren übertragen. Um weiterhin laufende Kosten begleichen zu können, übernahm der Staat die Finanzierung der Pfarrer und anderer notwendiger Ausgaben.

Schon vor mehr als 100 Jahren hieß es in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung, dass diese Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften durch die Landesgesetzgebung abgelöst werden sollten. Die Grundsätze hierfür hätte die Weimarer Republik aufstellen sollen. Dazu kam es nicht. Auch in das Grundgesetz der BRD wurde dieses Ablösegebot übernommen. Weiter ist seitdem nichts geschehen.

Laut Koalitionsvertrag soll das jetzt geändert werden. „Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen“, heißt dort. Doch was bedeutet das? Was braucht es, um das jahrhundertealte Vorhaben der Weimarer Republik endlich umzusetzen?

Der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser erklärt: „Der Bund ist dafür zuständig, den Rahmen festzulegen, in welchem die Verhandlungen zwischen Ländern und Kirchen über die Ablösung der Staatsleistungen stattfinden. Der Grundgedanke der Weimarer Verfassungsväter und -mütter war, dass der Bund bei der Ablösung keine eigenen Interessen hat und so als unabhängiger Makler zwischen den Interessen agieren kann.“

Zu vereinbaren sind dabei drei Dinge: der Spielraum für die Höhe der Entschädigungssumme, die Verhandlungszeit, die Kirche und Länder dafür bekommen, und die Zeit, in der die Summe dann abbezahlt sein muss.

Strassers Partei stellte schon im Mai 2021 zusammen mit der Linken und den Grünen im Bundestag einen Gesetzesentwurf vor. Dieser wurde damals von der Großen Koalition abgelehnt. Der Entwurf sah eine fünfjährige Frist für den Erlass von Gesetzen zur Ablösung der Staatsleistungen für die Länder vor. Die Ablösung sollte dann binnen 20 Jahren abgeschlossen sein und hätte auch in Raten erfolgen können. Als Ablösefaktor wurde das 18,6-Fache der aktuellen jährlichen Leistungen vorgeschlagen. Das entspräche um die 11 Milliarden Euro, die die Länder insgesamt innerhalb von 20 Jahren an die Kirchen hätten zahlen sollen. Danach wären sie von den Staatsleistungen befreit.

Unter anderem stimmte damals die SPD-Fraktion dem Entwurf nicht zu. Auch der SPD-Abgeordnete Lars Castellucci sprach sich gegen den Entwurf aus. Das heißt nicht, dass seine Partei dem Auftrag des Grundgesetzes, die Staatsleistung abzuschaffen, nicht endlich nachkommen möchte. „Bisher wurden in die Diskussion die Bundesländer nicht mit einbezogen, obwohl sie die Kosten der Ablösung zu tragen haben, deshalb sind bisherige Vorschläge auch nicht zustimmungsfähig gewesen“, sagt er. Eine finanzielle Entflechtung von Staat und Kirche liege aber in beiderseitigem Interesse.

Nordeingang Kölner Dom mit Treppe vom Bahnhofsvorplatz (3950-52).jpg

Der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz, der den Gesetzesentwurf von 2021 mit ausarbeitete, ist überzeugt davon, dass auch die Kirchen ein Interesse an der Abschaffung der Staatsleistungen haben. Für sie bedeute das Emanzipation vom Staat und mehr Autarkie. Überzeugt werden muss also niemand mehr. Vielmehr geht es jetzt darum, die angemessene Höhe der Ablösesumme zu verhandeln – aufwendige Verhandlungen, die bisher immer wieder aufgeschoben wurden, über ein Jahrhundert lang.

Es sei positiv, „dass die Koalition die Ablösung der Staatsleistungen angehen will und dazu Gespräche mit Gebern und Empfängern der Staatsleistungen sucht, also den Ländern, Landeskirchen und Diözesen“, so ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland. Doch man solle die Ablösesumme anhand des Äquivalenzprinzips ermitteln. Das heißt, für eine wertgleiche Entschädigung sorgen, also einen Ersatz bieten für entgangene Erträge, die zum Beispiel Ländereien erbracht hätten. Dabei könnten beispielsweise auch enteignete Immobilien an die Kirchen zurückgegeben werden. Bei der Berechnung der Höhe der Entschädigung würden die bisherigen Zahlungen nicht mit einfließen. Den Ländern werde dann ermöglicht, nach oben und unten moderat davon abzuweichen.

„Es mag sein, dass Menschen bei der Ablösesumme ein Störgefühl empfinden“

KONSTANTIN VON NOTZ, GRÜNE

Auch Matthias Kopp, Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz, betont: „Die Kirche wird sich einer weitergehenden Lösung nicht verschließen, wenn und soweit diese ausgewogen ist.“ Die Entscheidung liege bei den einzelnen Bistümern. Allerdings habe es bislang, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen sehr erheblichen Kostenverpflichtungen, keine diesbezügliche Initiative des Bundes gegeben. Auf weitere Details wie konkrete geforderte Ablösesummen wolle er derzeit nicht eingehen. In einer Stellungnahme zum im vergangenen Jahr vorgelegten Gesetzentwurf hieß es, dass die katholische Kirche es für sinnvoll halte, „die Bundesländer und Kirchen frühzeitig in die Beratungen über ein Grundsätzegesetz einzubeziehen“.

Wenn es nach Rechtswissenschaftler Johann-Albrecht Haupt von der Humanistischen Union ginge, haben Kirchen bereits mehr als genug bekommen. Er ist Sprecher des „Bündnisses altrechtliche Staatsleistungen abschaffen“, kurz BAStA, und setzt sich schon länger für die Ablösung der Staatsleistungen ein. „Die 20-jährige Übergangspflicht wie sie FDP, Grüne und Linke vorgeschlagen hatten, sollte aber verkürzt werden. Denn diese würde bedeuten, dass die Kirchen 24 Milliarden Euro zusätzlich bekämen“, sagt er. Eine Ablösesumme sollte es ihm nach überhaupt nicht geben.

Quelle        :           TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Heißluftballonfahrt quer durch Köln; RathausturmKölner DomGroße Martinskirche

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Aktion in Berlin

Erstellt von Redaktion am 6. Februar 2022

Global Coastal Rebellion

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von  – pm 

Ein dramatischer Anlass in Peru schafft neue Allianzen. Eine katastrophale Ölverschmutzung durch den spanischen Öl- und Gaskonzern Repsol beeinträchtigt über 24 Strände in Peru.

Die Ölkatastrophe zerstört das Meeresleben und die Ökosysteme, bringt mehrere stark gefährdete Arten an den Rand des Aussterbens und bedroht die Gesundheit sowie die Existenzgrundlage von Tausenden von Menschen. Das Unternehmen bestreitet die Verantwortung für die Ölpest und will auch nicht für die Beseitigung der Schäden aufkommen.Die europäische Klimabewegung kann nicht untätig bleiben und tatenlos zusehen, wie ein europäisches multinationales Unternehmen am anderen Ende der Welt einen Ökozid verursacht und es ungestraft davonkommen lassen.Auf legaler Ebene hat auch der spanische Staat hier eine Verpflichtung, sich darum zu kümmern, was die landeseigenen Firmen im Ausland tun. Dieses dramatische Ereignis treibt nun sowohl die grosse peruanische Gemeinschaft in Berlin, als auch Klimaaktivisten von Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände und andere, auf die Strasse. Zusammen werden sie vor der spanischen Botschaft demonstrieren. Es wird ein Brief an die Botschaft übergeben. Es wird Redebeiträge geben, Musik und Tanzaufführungen von peruanischen, deutschen und internationalen Künstler:innen.

Danach ist ein Umzug geplant, vorbei ander Norwegischen Botschaft. Denn anderswo, an den Küsten Argentiniens, mobilisieren gleichzeitig Tausende gegen zwei weitere europäische Unternehmen – Shell aus den Niederlanden und Equinor aus Norwegen, die im Begriff sind, seismische Untersuchungen, Tiefseebohrungen und Fracking vorzunehmen. Der Umzug wird sich von da über die Strasse des 17. Junis bis zum Brandenburger Tor bewegen und dann weiter zur Vertretung der Europäischen Kommission. Auch dort wird ein Brief übergeben, und der Umzug endet hier, mit letzten Redebeiträgen.

Und nicht nur in Berlin werden an diesem Tag Menschen für Klimagerechtigkeit und gegen die neokolonialen Machenschaften transnationaler Konzerne auf die Strasse gehen. Der 4. Februar ist ein Tag, an dem Menschen weltweit zusammenkommen, um zu verhindern, dass transnationale Konzerne die Klimakrise weiter ungestört befeuern, im Globalen Süden und schliesslich überall Ökosysteme zerstören, Demokratien untergraben, und der Öffentlichkeit falsche Lösungen für die Klimakrise verkaufen.

Berlin wird sich am 4. Februar an der globalen Aktion “Global Coastal Rebellion”, einer koordinierten internationalen Initiative eines bisher noch nie dagewesenen Ausmasses beteiligen, bei der über 15 Länder aus dem Globalen Norden und Süden zusammenkommen, um die Verbrechen dieser Konzerne sichtbar zu machen. Wir fordern, dass Repsol die Verantwortung für die Ölpest in Peru übernimmt, dass Equinor und Shell ihre Pläne für Offshore-Bohrungen und Fracking in Argentinien aufgeben, und wir stehen in Solidarität mit allen anderen Kämpfen gegen die fossilen Energiekonzerne auf der ganzen Welt!

Die Ölkatastrophen der letzten Tage in Thailand und Ecuador unterstreichen umso mehr die Dringlichkeit des Abbaus der Fossilen Industrie sowie die Wichtigkeit transnationalen zivilgesellschaftlichen Handelns.

Das Motto ist: Die Ozeane steigen, stehen auf, und wir auch! “The oceans are rising, and so are we!”

Grafikquellen          :

Oben     —    Ehemaliger Hauptsitz von Repsol in Madrid, Spanien.

Verfasser Carlos Delgado          /         Quelle    :  Eigener Artikel
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Namensnennung: Carlos Delgado

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Amazons Kuckucksei:

Erstellt von Redaktion am 5. Februar 2022

Drei Thesen über die Expansion des Logistikgiganten in Osteuropa

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Quelle        :     Berliner Gazette

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Die Kritik an Amazon gehört zum Grundrauschen (sub-)politischer Debatten. Betrachten wir, wofür der Onlineversandhändler in der öffentlichen Wahrnehmung steht, so bleibt ein wichtiger Aspekt unterbelichtet: die laufende Expansion nach Ost- und Südosteuropa und die damit einhergehenden Konsequenzen für die arbeitenden und konsumierenden Bevölkerungen vor Ort. Die Autorin und Wissenschaftlerin Sabrina Apicella stellt im Folgenden drei Thesen vor, um die gesellschaftspolitische Bedeutung der Expansion Amazons in Osteuropa zu reflektieren.

Es gibt Dinge, die praktisch alle kapitalistischen Unternehmen tun. Sie beuten ihre Arbeiter*innen aus und versuchen, die Löhne so weit zu drücken, dass sie gerade noch für die Reproduktion der Arbeiter*innen ausreichen. Auch nutzen sie den Stand der Produktivkräfte zur Steigerung der Produktivität ihrer Arbeitsprozesse, bestenfalls um im Wettbewerb mit anderen Unternehmen einen Vorsprung zu haben. Dazu gehört auch, dass Unternehmen expandieren. Die konkrete Beschreibung der Art und Weise, wie Amazon dies alles für sich umsetzt, ist dennoch wichtig – nicht zuletzt, um die Basis für politische Potenziale auszuloten.

Das Besondere

Was also ist neu an Amazon? Zum Beispiel, dass das 1994 in Seattle gegründete Unternehmen von Anfang an massiv wächst, obwohl es erst seit der COVID-19-Pandemie Gewinne im Bereich Onlineversandhandel einfährt. Und dies trotz hoher Versandkosten und obwohl es mit viel Aufwand Retouren bearbeitet, bezahlt, teilweise sogar intakte Waren entsorgt. Dennoch ist Amazon heute weltweit größter Onlineversandhändler mit großem Gewicht besonders in den USA und Europa und nach seinem Konkurrenten Walmart, einem US-Einzel- und Versandhandelsunternehmen mit stationärem Schwerpunkt, sogar auf Platz zwei der weltweit umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Auf der Seite der Kund*innenschaft haben zwei Jahre Pandemie und fehlende staatliche Einschränkungen dem Onlineversandhandel insgesamt zu mehr Popularität und Umsatz verholfen. Sein Anteil am gesamten Marktvolumen des Einzel- und Versandhandels in Deutschland hat sich der Pandemie verdoppelt.

Amazons hohe Umsätze und Produktivität fielen schon zuvor ins Auge. Früh hat Amazon durch die Nutzung des Internet und Einbindung digitaler Technologien sowie Transportentwicklungen einen Produktivitätsvorsprung gegenüber der Konkurrenz für sich genutzt, einen jungen Markt erschaffen und sich selbst darin als Vorreiter und Trendsetter positioniert. Mit Folgen für die Verkaufsarbeit, für die das „Prinzip Amazon“ steht: Das besondere an Amazons Modell ist die vollständige Trennung des für den Verkauf notwendigen Kontakts zu Kund*innen (der im Onlineversandhandel auf der „toten“ Plattform stattfindet) von denjenigen Arbeiten, die zur Warenbewegung nötig sind.

Dies führt uns in die Distributionszentren, die sogenannten Amazon Fulfillment Center, benannt nach dem Firmenselbstbild – wie von magischer Hand sollen hier alle Kund*innenwünsche erfüllt werden. Ergänzt durch kleinere Prime Hubs und Verteilzentren, in denen allerdings externe Verkäufer*innen keine Waren einlagern können, stellen die Distributionszentren allein schon durch ihre Größe wichtige Dreh- und Angelpunkte der Warenbewegungen im Logistiknetzwerk dar. Hier bewegen verhältnismäßig wenige Arbeitskräfte fernab der Kund*innen eine große Menge an Waren. Dies geschieht als Fabrikarbeit, in einfachen Arbeitsschritten, die stark vorgegeben sind und kontrolliert werden.

Die Arbeiter*innen werden in wenigen Stunden angelernt, technische Geräte und Software leiten sie zu Hunderten durch die riesigen Hallen, geben den nächsten Handlungsschritt vor, während die Arbeiter*innen nicht selbst entscheiden, welche Waren sie in welcher Reihenfolge verräumen („Stow“) oder den Regalen entnehmen („Pick“). Die Verkaufsarbeit wird, mit Karl Marx gesprochen, reell subsumiert, mit der Folge, dass sie äußerst produktiv und zugleich von vielen Arbeiter*innen als entfremdet erlebt wird: als uninteressant, als wenig bis gar nicht beeinflussbar, als gefährdend für Körper und Geist oder – aufgrund der ständigen Leistungskontrollen – als stressig. Dies verbindet Amazon mit einer wenig ausgeprägten Mitbestimmungskultur, einer feindseligen Managementlinie gegenüber Gewerkschaften, seiner Niedriglohnpolitik und einem leistungsbezogenen, paternalistischen und hierarchisch-autoritären Führungsstil.

Doch mit Amazon expandiert auch der Protest der Beschäftigten in den Distributionszentren: an Standorten in Polen, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich gibt es seit 2013 anhaltende, organisierte Streiks. Die Pandemie hat zu einem weiteren Erstarken von gewerkschaftlichen Protesten und Streiks geführt – sogar auch erstmalig „zu Hause“ in den USA.

Amazons Expansion nach Osteuropa

Amazon möchte seinen (potenziellen) Kund*innen näherkommen, um diese innerhalb eines Tages und sogar innerhalb von Stunden zu beliefern. Schon früh eröffnete das Unternehmen hierzu die ersten Distributionszentren in Europa. Heute sind über 80 Standorte über Europa verteilt – Tendenz steigend. Jedoch spannen die Standorte kein gleichmäßig verteiltes Netz über den Kontinent, sondern konzentrieren sich in west- und zentraleuropäischen Ländern. Die ersten europäischen Distributionszentren gingen ab 1998 in Großbritannien und ab 1999 in Deutschland in Betrieb; bis heute sind diese Länder Schwerpunkt des Geschäfts außerhalb der USA. Es folgten Neuansiedlungen in Frankreich, Spanien, Italien und seit Mitte der 2010er Jahren auch in Polen, Tschechien und der Slowakei. Die logistische Ratio bei der Verteilung der Standorte lautet: Egal von wo in Europa Kund*innen ihre Bestellung aufgeben – sie sollen in nicht mehr als 24 Stunden beliefert werden können. Es dürfte nicht überraschen, dass den großen Absatzmärkten hohe Priorität bei der Ansiedlung eingeräumt wird.

Die relativ späten Ansiedlungen in Osteuropa ab den 2010er Jahren wurden bisher zurecht als Strategie der Aufstandsbekämpfung zur Spaltung der Beschäftigten an verschiedenen Standorten gesehen. Hierüber legen beispielsweise die polnischen Gewerkschaftsaktivistinnen Magda Milanowska und Agnieszka Mroz lesenswert Zeugnis ab. Nationale Unterschiede wie divergierende Lohnhöhen, Steuern, Mitbestimmungs- und Arbeitsschutzgesetze begünstigen dies. Sie sind im Prozess der EU-Konversion nicht abgebaut worden. Man könnte also sagen: sie sind politisch gewollt. Auch Amazon bedient mit kostengünstigen Arbeitskräften aus Polen, Tschechien und der Slowakei vorwiegend den deutschen Markt.

Daher lautet meine erste These, dass Amazon auch weiterhin versuchen wird, die gewerkschaftliche Forderung nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen in den europäischen Distributionszentren durch innerbetriebliche Konkurrenz und das Ausnutzen des europäischen Lohngefälles zunichte zu machen.

Wie Bevölkerungen (mit öffentlichen Mitteln) zu Neukund*innen gemacht werden

Doch sind Polen und andere zentral- und südosteuropäische Länder nicht allein die „verlängerte Werkbank“ Deutschlands. Heute hat Amazon in Polen mit 13 Standorten annähernd so viele Distributionszentren wie in Deutschland, wo es 15 sind. Zum Vergleich: Großbritannien hat 26, Spanien 10, Frankreich und Italien jeweils 7 Distributionszentren und die Slowakei und Tschechien jeweils eines. Insofern gilt: Während Amazon in Osteuropa günstige Bedingungen für sich nutzt, um Personalkosten oder Steuern zu sparen, wirbt es dort auch um neue Kundschaft, weil es gesättigte Märkte in anderen Teilen Europas fürchtet.

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Die polnischsprachige Website wurde (erst) 2021 gelauncht. Dies markiert die Verschiebung weg von der alleinigen Ausnutzung von Arbeitskräften für den Westen und hin zur gezielteren Neuerschließung von Kund*innen in Osteuropa. Dabei konkurriert Amazon mit anderen großen Unternehmen, wie dem Onlineriesen Alibaba aus China.

Viele ost- und südosteuropäische Länder zusammen weisen ein seit den 2000ern anhaltendes und auch durch die Finanzkrise kaum unterbrochenes starkes Wirtschaftswachstum auf, besonders im produzierenden Gewerbe. Gleichzeitig haben sich in Polen, Tschechien, Slowenien, Rumänien oder Ungarn kaufkräftige urbane Ballungszentren herausgebildet mit einem für den Einzel- und Versandhandel interessanten Nachfrageüberhang, einem steigenden pro-Kopf-Einkommen und einem hochquotierten Kaufkraftwachstum. Die Expansion Amazons kann also auch als Bestandteil eines bereits in den 1990ern begonnen Prozesses innerhalb der Branche gesehen werden: die stagnierenden Wachstumsmöglichkeiten des Einzel- und Versandhandels in Ländern wie Deutschland werden mit der Expansion auf osteuropäischen Märkten kompensiert.

In Fachkreisen wird gleichzeitig moniert, dass die Infrastrukturen für Transport und Kommunikation in Osteuropa nicht denen der westeuropäischen Staaten entsprechen. Diese sind in den letzten Jahren auf Grundlage von staatlichen und durch die EU garantierte Mittel gezielt angepasst worden. Sonderwirtschaftszonen wurden eingerichtet, Förderprogramme zur europäischen Kohäsion mit Schwerpunkt Transport und Kommunikation sind finanziert worden. Insbesondere Polen ist mit Fördermitteln für Straßenbau, den Anschluss des polnischen an den europäischen Schienenverkehr und die Modernisierung des entsprechenden Kommunikationssystems in Höhe von 676 Millionen Euro gefördert worden. Auch zukünftig sollen EU-Gelder in die Bereiche „Innovation, Unterstützung kleiner Unternehmen, digitale Technologien und Modernisierung der Wirtschaft fließen“, mit Fokus auf einen reduzierten CO2-Ausstoß. Dieses Förderpaket richtet sich mit wenigen Ausnahmen noch bis 2027 hauptsächlich an Regionen Ost- und Südosteuropas, die gemessen am pro Kopf-BIP als unterentwickelt gelten (weniger als 75% des Durchschnitts der EU-27-Länder) und ist von der EU mit 500 Milliarden Euro ausgestattet.

Die Erschließung Osteuropas durch Amazon und seine Konkurrent*innen erfolgt nicht gleichmäßig, sondern konzentriert sich insbesondere auf die urbanen Ballungszentren rund um Warschau und Regionen im polnischen Westen, um Prag und den tschechischen Westen, sowie auf die Städte Bratislava, Budapest, Bukarest, Ljubljana und Sofia. Ländliche Regionen oder insgesamt statistisch weniger kaufkräftige Bevölkerungen haben eine geringere Priorität und werden daher beispielsweise nicht schnell „versorgt“: im Osten Polens gibt es keine Amazon-Standorte, ebenso wenig in Rumänien oder Bulgarien.

Grob verallgemeinert ließe sich also sagen: Während etwa staatliche Ausgaben für die soziale Absicherung der Bevölkerungen niedrig bleiben, findet eine massive Erschließung von Neukund*innen durch international agierende Einzel- und Versandhändler statt.

Die zweite These lautet daher, dass Amazon auf Basis einer öffentlich finanzierten Infrastrukturpolitik expandiert, die den Osten gemäß Kapitalinteressen erschließt. Es ist der öffentliche Sektor, der diese Ausbreitung vorbereitet: mit Investitionen in IT und Straßenbau, die für das Modell Amazons nötig sind. Amazon profitiert hierbei also von staatlichen Investitionen wie EU-Fördergeldern.

Wie weiter?

Amazon, Alibaba und Co. setzen sich quasi ins gemachte Nest. Diesen Prozess hat die COVID-19-Pandemie durch Schließungen vom stationären Einzelhandel noch beschleunigt, da tendenziell eher größere Ketten und der Versandhandel die Präventionsmaßnahmen unbeschadet und teils sogar mit Rekordgewinnen überstehen konnten.

Wie schon für Länder wie die USA oder Deutschland diskutiert, wird sich die Ausbreitung des Onlinehandels und der darin dominanten Unternehmen kaum rückgängig machen lassen. Die Investitionsprojekte der EU und der Empfang Amazons mit offenen Armen in polnischen Sonderwirtschaftszonen und vielen europäischen Regionen zeigen: die Ausbreitung des Versandhandels, insbesondere von Amazon als globalen Player, wird nicht nur politisch geduldet, sondern auch gefördert. Bisher sind jedenfalls keine Versuche zur Einflussnahme auf diesen Prozess oder gar das Suchen nach Alternativen zu Amazons Verkaufsmodell erkennbar

Datei:Amazon Spheres from 6th Avenue, Juni 2017.jpg.

Meine dritte und letzte These lautet hierzu entsprechend: Die Konsequenz für die Einzelhandelsstrukturen in Ost- und Südosteuropa wird verheerender sein, als in Westeuropa. Das hat mit der Struktur des Einzelhandels zu tun: ein Großteil der Umsätze entfällt in Osteuropa auf kleine Einkaufsläden und den traditionellen Einzelhandel. Der Betriebsformenwandel hin zu großen und modernen Betriebsformaten ist noch nicht vollzogen. Das ohnehin pandemiegebeutelte Kleinstgewerbe in den Städten wird nun zunehmend mit Unternehmen wie Amazon konkurrieren müssen, wodurch sich Innenstädte verändern und neue Arbeitskräfte frei werden – auch für die Arbeit in den Distributionszentren. Da die privaten Konsumausgaben in beinahe allen ost- und südosteuropäischen Staaten deutlich zugelegt und das Prä-Pandemie-Niveau teilweise deutlich überstiegen haben, wird die Erschließung Osteuropas durch Amazon und seine Konkurrent*innen weitergehen, der Anpassungsdruck an seine produktive Organisation des Arbeitsprozesses wird groß sein.

Die Emigration großer Bevölkerungsteile und der demografische Wandel in der Region tragen zusätzlich zu einer Konzentration auf die urbanen Ballungszentren bei. Genau hier siedelt sich Amazon an. Menschen und Regionen, die nicht im Zentrum dieses Akkumulationsregimes stehen, werden tendenziell weiter abgehängt. Dieser fortschreitende Prozess der „Eroberung des Ostens“ durch Amazon erinnert an die Thesen Rosa Luxemburgs zur kapitalistischen Landnahme durch Produktivitätssteigerungen: zunächst gibt es, grob verallgemeinert, staatliche Intervention durch Infrastrukturinvestitionen, es folgt dadurch die zeitliche und räumliche Anbindung an die Zentren der Akkumulation, dann kommt es zum erhöhten Konsum in bestimmten Regionen, dadurch entsteht wiederum die profitable Möglichkeit der reellen Subsumtion der Verkaufsarbeit. Dies lässt sich nun in Osteuropa beobachten, auch mit Blick auf den Einzel- und Versandhandel.

Bisherige Debatten zur politischen Reaktion auf diese Entwicklung zielen vor allem auf staatlichen politischen Willen und Regulierung: eine stärkere Besteuerung als Umverteilungsmechanismus sowie die Herstellung von Transparenz von Steuerzahlungen. Auch eine Angleichung der Löhne europaweit könnte eine Reaktion sein, was auch schon diskutiert wurde. Sie lassen jedoch zwei Punkte außer Acht: erstens, dass der Protest bei Amazon grenzübergreifend auf das Erleben der Arbeit als entfremdet hindeutet und zweitens, dass wirtschaftliches Wachstum und Massenkonsum die Klimakrise weiter verschärfen.

An diesen Problemen setzen momentan weder gewerkschaftliche, noch soziale Bewegungen, Arbeitslosenorganisationen oder die Klimabewegung an. Für sie sehe ich gleichwohl die Chance, andere Modelle der Warendistribution und des Konsums zu entwickeln: ohne Überausbeutung, ohne das Zerreiben der Arbeitskräfte in entfremdeter Arbeit, ohne abgehängte Peripherien und Innenstädte mit Leerstand oder dominanten Versandhandelsketten; und hin zum Wandel zu einer klimabewussten Warenzirkulation auf Grundlage des Stands digitaler Technologien und logistischen Wissens. Das gelingt nicht als nationales Projekt, sondern nur europaweit, mindestens.

Copyright | Creative Commons-Lizenz

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Grafikquellen     :

Oben          —     Straßenaufkleber in Washington, DC.

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2.) von Oben         —    Der Präsident, Vorsitzende und CEO von Amazon.com, Jeffrey P. Bezos, rief am 3. Oktober 2014 in Neu-Delhi Premierminister Narendra Modi an.

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Daten als Schnäppchen ?

Erstellt von Redaktion am 3. Februar 2022

Verhindert den Ausverkauf der Schufa-Daten!

Schufa –  ein privater Konzern im Auftrag  der Staats-Räson ?

Von Jimmy Bulanik

Ein gefährlicher Vorgang ist im Gang. Eine kapitalistische Heuschrecke will die Schufa Holding AG kaufen. Wozu braucht es noch die Tätigkeit von Auslandsgeheimdiensten, wenn man innerhalb der Privatwirtschaft an die sehr sensiblen Daten von über 67,5 Millionen Menschen in der EU und Welt zugleich gewinnen kann durch einen Kauf der gesamten Unternehmung ?

Allein das Hacken und die Computersabotage à la „Evil Maid Attac“ ist preiswerter

Der Gedanke das die Daten verwendet werden können zwecks Missbrauch, Manipulation ist zwangsläufig naheliegend. Dem kann durch eine weit aufgestellte aufmerksame Zivilgesellschaft etwas entgegenstellen. Respektive dessen gibt es auf der Webseite von Campact eine aktuelle Petiton welche ich selber am 31. Januar 2022 selber unterzeichnet habe.

Quelle: aktion.campact.de/datenschutz/schufa-deal/teilnehmen

Der Inhalt lautet:

Der Finanzinvestor EQT Private Equity will die Wirtschaftsauskunftei Schufa kaufen und sich Milliarden von Daten sichern – verpasste Rechnungen, Kredite und Verträge von Millionen Bürger*innen. Noch gehört die Schufa einer Gruppe von Sparkassen, Genossenschaftsbanken und anderen Kreditinstituten. Sie haben ein Vorkaufsrecht. Nutzen sie das, platzt der Deal.

Unterzeichnen Sie jetzt den Appell an die Schufa-Eigentümer!

Appell – Empfänger Schaft:

Helmut Schleweis (Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes)
Marija Kolak (Präsidentin des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken)
Christian Sewing (Vorstand der Deutschen Bank)
Manfred Knof (Vorstand der Commerzbank AG)

Die Schufa Holding AG besitzt sensible Finanzdaten von fast 70 Millionen Deutschen. Die Investitionsgruppe EQT hat deutlich gemacht, dass sie in diesen Daten vor allem eins sieht: eine Goldgrube. Dem schwedischen Konzern geht es um Gewinne, Wachstum und mehr Rendite für seine Investoren. Wir fordern Sie auf:
• Nutzen Sie Ihr Vorkaufsrecht und sorgen Sie dafür, dass keine Schufa-Anteile an EQT Private Equity und ähnliche Investoren verkauft werden.

• Machen Sie Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Zukunft für die Schufa zur Priorität. Dazu gehört auch, die Berechnungsformel für die Bonitätsbewertung – den Schufa-Score – transparent zu machen.

5-Minuten-Info

Was ist die Schufa?

Die Schufa Holding AG ist die bekannteste und größte deutsche Wirtschaftsauskunftei. Sie ist ein privater Konzern – und sammelt für ihre Vertragspartner*innen Informationen über die Kreditwürdigkeit von Verbraucher*innen. Schufa steht für „Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung”.

Die Auskunftei besitzt Daten von 67,5 Millionen Menschen in Deutschland und erstellt Prognosen über ihre Zahlungsfähigkeit. Jede*r Verbraucher*in erhält eine Bewertung – den sogenannten Schufa-Score.

Wer will die Schufa kaufen?

Der schwedische Finanzinvestor EQT möchte die Schufa übernehmen – das hat er beim Kartellamt angemeldet. Damit hätte der Konzern vollen Zugriff auf unsere Daten. EQT erklärt, dabei Datenschutzinteressen „konsequent“ zu verfolgen und verbraucher*innenfreundliche Produkte anbieten zu wollen. Internen Dokumenten zufolge steht für den Investor aber letztlich die Rendite im Mittelpunkt – ihm geht es um Wachstum, Wertsteigerung und die Erhöhung der Gewinne. EQT sieht in der Schufa ein gutes Geschäft; schon jetzt wirft die Auskunftei jährlich 200 Millionen Euro Umsatz ab. Insgesamt wird der Wert der Schufa Holding auf 2 Milliarden Euro geschätzt.
Lässt sich der Verkauf noch verhindern?

Die Schufa macht nicht öffentlich, welchem Eigentümer wie viele Anteile gehören. Bekannt ist aber, dass zahlreiche Banken und Handelsgesellschaften an der Schufa beteiligt sind. Dazu gehören Kreditbanken wie Deutsche Bank und Commerzbank, Sparkassen, Genossenschaftsbanken sowie Handelsunternehmen.

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Heuschreckenschwärme sind nicht nur als Insekten in Afrika unterwegs

Zuerst will EQT jetzt die Anteile der französischen Société Générale für 200 Millionen Euro erwerben – weitere sollen folgen. Die anderen Anteilseigner haben jedoch ein Vorkaufsrecht: Wenn sie die Millionen aufbringen, platzt der Deal für EQT. Besonders wichtig sind dabei die Sparkassen und Genossenschaftsbanken; sie halten gemeinsam 47 Prozent der Anteile. Sie haben bereits anklingen lassen, dass die Neutralität der Schufa für sie wichtig ist. Noch ist aber nicht klar, ob die Banken die Anteile tatsächlich übernehmen.

Warum muss die Schufa verbraucherfreundlicher und transparenter werden?

Ein guter Schufa-Score ist oftmals Voraussetzung für einen Mietvertrag, einen Handyvertrag oder einen Bankkredit. Ein schlechter Score kann also schwerwiegende Auswirkungen haben. Dennoch sind Verbraucher*innen meist gezwungen, sich von der Schufa bewerten zu lassen – zum Beispiel, damit sie auf dem Wohnungsmarkt überhaupt eine Chance haben.

Das Scoring-Verfahren ist jedoch höchst intransparent. Die Schufa weigert sich, Informationen zum Verfahren preiszugeben und stuft es als Geschäftsgeheimnis ein. Viele Menschen erklärte die Auskunftei ohne jegliche Negativeinträge zum Risikofall – das ergab eine Recherche des Bayerischen Rundfunks und des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Den Grund erfahren die Verbraucher*innen nicht. Auch werden offenbar junge Männer generell als höheres Risiko eingestuft. Fest steht: Die Prognosen der Schufa beruhen auf teilweise höchst fragwürdigen Annahmen. Hier muss das Unternehmen dringend nachbessern.

Dass sie lernfähig ist, hat die Schufa vor zwei Jahren schon einmal gezeigt. Nach großem Protest unserer Bürgerbewegung begrub sie ihre Pläne, mithilfe eines „Konto-Checks” an noch mehr Daten von Verbraucher*innen zu kommen, die dringend auf eine positive Bewertung der Schufa angewiesen sind.

Es ist von Bedeutung das diese Petition so zahlreich als überhaupt möglich unterzeichnet werden wird. Deshalb ist es ratsam die Petition zu verbreiten. Das Internet liefert dazu mobil und stationär die technischen Möglichkeiten dafür.

Jimmy Bulanik

Nützliche Links im Internet:

Campact

aktion.campact.de/datenschutz/schufa-deal/teilnehmen

Geraint Anderson in „The City Boy Song“

www.youtube.com/watch?v=P1-NSWnOUXc

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Grafikquellen          :

Oben     — Hauptverwaltung der SCHUFA Holding AG in Wiesbaden-Schierstein

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Unten     —       Vaste essaim dense du criquet migrateur, Madagascar (auteur Michel Lecoq)

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Autoritärer Kapitalismus

Erstellt von Redaktion am 3. Februar 2022

Autoritärer Kapitalismus und Rekonstruktion der Verwertungsbedingungen

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

  1. Prolog

Die „Corona-Krise“ verschärft sich mit der Zeit, statt sich abzumildern. Der bürgerliche Staat agiert immer autoritärer und seine Worte nehmen immer mehr die Befehlsform an, statt daß sie sich demokratisch abschwächen. Nach dem bürgerlichen Staat sollte der „Corona-Notstand“ vom 13. und 17. März 2020 nur eine kleine Unterbrechung und mild sein, doch mit der Zeit radikalisiert sich der „Corona-Notstand“ immer mehr, statt wieder von selbst zu verschwinden.

  1. Notstand und Verlust der US-Hegemonie

Die parlamentarische Hülle des bürgerlichen Klassenstaates wird in der „Corona-Krise“ beiseitegeschoben. Das parlamentarische System spielt nur noch eine Nebenrolle, modifiziert nicht mehr den politischen Prozeß, sondern hat nur noch eine Legitimationsfunktion. Die Exekutive monopolisiert derzeit die politische Macht und verweigert sich der Gewaltenteilung. Der „Corona-Notstand“ macht es möglich, daß der bürgerliche Staat, der ideelle Gesamtkapitalist, ohne große Gegenwehr aus der Arbeiterklasse, ohne große Gegenwehr der proletarischen Massenorganisationen, sich durchsetzen kann. Die proletarischen Massenorganisationen wagen nicht, sich dem „Corona-Notstand“ entgegenzustellen und werden damit objektiv im Sinne des Notstandsstaates als Frühwarnsysteme und innere Schiene der Repression tendenziell in den bürgerlichen Staat eingebaut, vor allem drohen die DGB-Gewerkschaften zu Arbeitsfronten zu mutieren, wenn sie sich nicht aus der Umklammerung des Notstandsstaates befreien. Der Bourgeoisie gefällt es, zu Befehlen und zu sehen, wie die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum die Befehle gehorsam ausführen. Es ist auch für die Bourgeoisie überraschend, wie schnell und widerstandslos sich die Gewerkschaften und andere proletarische Massenorganisationen gleichgeschaltet werden können, bzw. konkret: sich selbst gleichschalten und sich ihrem Schicksal ergeben. Höchstens wird Widerstand imitiert. Die Gewerkschaftsbürokratie akzeptiert hohe Reallohnverluste und schließt Tarifverträge mit dem Kapital ab, die weit unter der Inflationsrate liegen, d.h. die Gewerkschaftsbürokratie setzt den Verzicht, den das Kapital über seinen Notstandsstaat fordert, in der Klasse um. Dies ist nur möglich, wenn die Gewerkschaftsbasis, wie die Klasse insgesamt, demoralisiert ist und diese Kapitulation vor dem Notstandsstaat treibt die Demoralisierung auf ein noch höheres Niveau. Die DGB-Gewerkschaftsbürokratien organisieren für den bürgerlichen Staat in Notstandsform den Verzicht der Arbeiterklasse für das Kapital und akzeptieren und organisieren zunehmend Massenentlassungen. Es wird kein Widerstand organisiert und dort wo sich Widerstand dennoch beginnt zu bilden, wird dieser Widerstand aufgeweicht und wenn dies nicht gelingt, aktiv oder passiv zerschlagen.

Es ist der Demoralisation und Passivität in der Arbeiterklasse geschuldet, daß der „Corona-Notstand“ sich ausbreiten konnte. Das neoliberale Akkumulationsmodell konnte sich nach dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten durchsetzen und den organisierten Reformismus zerstören. Mit der Zerstörung des organisierten Reformismus wurde auch ein bestimmtes politisches Niveau der Arbeiterklasse zerstört und die Arbeiterklasse als Arbeiterklasse begann sich politisch und sozial zu zersetzen. Der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes, des neoliberalen Akkumulationsmodells, von 2007/2008 bis 2020 bringt naturwüchsig den multipolaren Weltmarkt zum Durchbruch. Der multipolare Weltmarkt tritt das Erbe des neoliberalen Weltmarktes an und übernimmt auch die in sich politisch und sozial zersetzte Arbeiterklasse. Ist das proletarische Widerstandniveau schon im neoliberalen Kapitalismus gering, ist es im Umbruch zum multipolaren Kapitalismus noch geringer und ermöglichst damit einen kapitalistischen Epochenwechsel. Auch ein kapitalistischer Epochenwechsel ist in letzter Instanz ein Produkt des Klassenkampfes.

Die „neue Normalität“ ist die Normalität des Notstandes. Mit dem „Corona-Notstand“ wird die neoliberale Normalität zerstört und eine neue Normalität geschaffen; die Normalität des Notstands als ein Moment der neuen Normalität des multipolaren Kapitalismus. Das Kapital setzt nun neue Normen und es findet damit eine neue Normung der Arbeiterklasse statt, welche auf die neuen multipolaren Verwertungsbedingungen des Kapitals ausgerichtet ist. Eine Rückkehr zu den Normen des Neoliberalismus bzw. zum neoliberalen Kapitalismus, ist nicht mehr möglich. Im multipolaren Kapitalismus nimmt der bürgerliche Staat eine deutlich akzentuiertere Rolle ein, als im Neoliberalismus. Der „starke Staat“ ist deutlich zu sehen. Während im Neoliberalismus der „Staat“ nur ein Akteur unter vielen ist, ist er im multipolaren Kapitalismus ein zentraler Akteur, an dem niemand vorbeikommt. Der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist ist damit deutlicher im multipolaren Kapitalismus zu sehen, als im neoliberalen Kapitalismus.

Während der neoliberale Kapitalismus primär über das Wertgesetz reguliert wurde und der bürgerliche Staat normalerweise nur verdeckt intervenierte, in der Wirtschaftspolitik zumeist über die Geldpolitik und nur ausnahmsweise zeigte der bürgerliche Staat seine ganze Macht, nur dann, wenn die Bourgeoisie glaubte, von der Arbeiterklasse herausgefordert zu werden, wird hingegen der multipolare Kapitalismus doppelt reguliert, unmittelbar vom Wertgesetz und mittelbar vom bürgerlichen Staat, der selbst mittelbar ein Produkt des Wertgesetzes und damit des Klassenkampfes ist. Der „Corona-Notstand“ zeigt deutlich, daß der bürgerliche Staat nicht abgedankt ist und sehr schnell seine volle Schlagkraft entfalten kann. Noch immer liegt die Macht beim bürgerlichen Staat, beim ideellen Gesamtkapitalisten, und nicht bei der „Zivilgesellschaft“ oder den internationalen Organisationen. Der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes ab 2007/2008 bis 2019 erforderte Schritt für Schritt den Ausbau der direkten Intervention des bürgerlichen Staates in die Ökonomie. Ab dem Jahr 2020 mit der „Corona-Krise“ erfolgte der qualitative Sprung der Staatsintervention des bürgerlichen Staates in die Ökonomie und erreicht das Niveau einer Kriegswirtschaft mit sehr detaillierten Interventionen in verschiedene Sektoren der Ökonomie. Der ideelle Gesamtkapitalist sichert in der „Corona-Krise“ die allgemeinen Verwertungsbedingungen des Kapitals und tritt der Arbeiterklasse offen gegenüber. Die unilateralen Antworten des Kapitals auf die „Corona-Krise“ zerstört die multilateralen Ansätze der internationalen Organisationen des Kapitals. Der „starke Staat“ ist der unilateral handelnde bürgerliche Staat, der nicht international kooperiert, sondern vor allem national handelt und erst dann eine internationale Kooperation anstrebt. In der „Corona-Krise“ fühlt sich jedes nationale Gesamtkapital durch ein anderes nationales Gesamtkapital bedroht, geht in Verteidigungsposition und führt den Ausnahmezustand ein. Die Grenzen in einer bürgerlichen Nation bzw. zwischen den bürgerlichen Nationen, erhalten schlagartig ihre alte Bedeutung wieder, indem sie zeitweise ganz geschlossen und danach nur langsam und zeitweilig wieder geöffnet werden. Offene Grenzen im Sinne des neoliberalen Kapitalismus waren damit beseitigt. Die Weltwirtschaft wird durch die unkoordinierten Grenzschließungen schwer getroffen. Auch innerhalb der EU wurden die Grenzen schlagartig geschlossen und die neoliberale Akkumulationsweise mit ihrem rollenden Lager ist schwer beschädigt. An erster Stelle steht nun die „nationale Sicherheit“ und nicht mehr der „freie Markt“. Der „freie Markt“ muß sich der „nationalen Sicherheit“ unterordnen.

Die „nationale Sicherheit“ ist seit der SARS-Corona-Pandemie nun die zentrale Doktrin des Kapitals und reflektiert damit den Zusammenbruch des US-Imperialismus als Hegemonialmacht innerhalb der imperialistischen Kette. Bisher garantierte der US-Imperialismus den Weltmarkt und somit auch den Weltmarkt in neoliberaler Form. Der US-Imperialismus war „Weltpolizist“ und damit auch ein Garant der „nationalen Sicherheit“ weltweit, der US-Imperialismus garantierte nicht nur seine eigene „nationale Sicherheit“, sondern auch gleichzeitig die „nationale Sicherheit“ einer beliebigen anderen Metropole oder auch die „nationale Sicherheit“ eines peripheren Kapitalismus. Seit dem Ende des zweiten imperialistischen Weltkrieges fungierte der US-Imperialismus als Klammer, die den Weltkapitalismus seine Form gab. Dies ist mit dem Anbruch des multipolaren Weltmarktes vorbei. Nun gibt es keinen Weltpolizisten mehr. Nun ist jeder nationale Kapitalismus auf sich allein gestellt und muß für seine „nationale Sicherheit“ selbst sorgen. Die „Corona-Krise“ ist der Offenbarungseid für den US-Imperialismus als Hegemonialmacht. Wäre der US-Imperialismus noch Hegemonialmacht, wäre der Weltmarktzusammenhang nicht so zerfallen, wie er in der „Corona-Krise“ zerfiel. Die „Corona-Krise“ macht den Hegemonialverlust des US-Imperialismus nur offensichtlich, er war jedoch schon vor der „Corona-Krise“ existent. Wie jeder andere Imperialismus auch, hat auch der US-Imperialismus sein Gleichgewicht verloren und ist tief gespalten. Eine kohärente Politik kann der US-Imperialismus derzeit nicht formulieren und wenn er dazu nicht in der Lage ist, können es die anderen Metropolen noch weniger. Die andauernde Große Krise seit 2007/2008 stürzte den US-Imperialismus vom Thron des Hegemons, seit dieser Zeit ist der US-Imperialismus weitgehend paralysiert und unberechenbar, was schon seit längerem zu Absatzbewegungen der transatlantischen Verbündeten führt.

Die Widersprüche im US-Kapital selbst zeigen sich deutlich im Putschversuch des 06. Januar 2021, als Unterstützter des Präsidenten Trump das Parlament stürmen wollten, um auf diesem Wege die Ernennung Präsent Bidens zu verhindern. Innerhalb der US-Bourgeoisie ist es umstritten, ob Trump oder Biden die Wahl gewonnen haben. Das US-Militär war und ist ebenfalls von tiefen Widersprüchen durchzogen und kann ebenfalls nur prekär seine innere Einheit wahren, denn die tiefe Krise des US-Imperialismus reproduziert sich notwendig auch im US-Militär. Es besteht also ein tendenzielles politisches Vakuum im US-Imperialismus, welches vor allem offen bei parlamentarisch-demokratischen Wahlen aufbricht. Der Marsch auf das Kapitol am 06. Januar 2021 war deshalb erfolgreich. Erst nach langem Zögern griff dann das US-Militär in den politischen Prozeß ein und beendete den Massenputschversuch. Erst mußten sich die Verhältnisse im US-Militär selbst klären, bevor das US-Militär den Massenputschversuch ein Ende bereiten konnte, bevor die Präsidentschaftswahl geklärt werden konnte. Zuerst muß sich das Kräfteverhältnis im US-Militär selbst klären, bevor das US-Militär die Kräfteverhältnisse innerhalb der USA klären kann. Eine solche Lage kennzeichnet eher Staaten der kapitalistischen Peripherie bzw. der „Dritten Welt“, aber solche Szenen dürfen sich nicht in einer „Hegemonialmacht“ abspielen. Dieser Putschversuch am 06. Januar 2021 zeigt deutlich an, daß an diesem Tag die Hegemonialposition des US-Imperialismus endgültig verloren ging. Der Ausgang der US-Wahlen kann nicht verifiziert werden. Jedoch hat das US-Militär anstelle des US-amerikanischen Volkes gewählt und hat sich für Joseph Biden als Präsident entschieden. Das US-Militär hält sich einen Präsidenten. Nicht der US-amerikanische Präsident kontrolliert das US-Militär und den US-Staat, sondern das US-Militär, bzw. der militärisch-industrielle Komplex, kontrolliert den US-Präsidenten. Nach dem 06. Januar 2021 hat das US-Militär indirekt die Macht übernommen. Jedoch ist das US-Militär, der militärisch-industrielle Komplex, tief und mehrdimensional in sich gespalten, so daß der militärisch-industrielle Komplex nicht einheitlich agieren kann, was dem zivilen Staat ermöglicht, tendenziell das US-Militär etwas zurückzudrängen, nicht aber, die Lage grundsätzlich zu ändern, d.h. die Oberhoheit des zivilen Staatsapparates über den repressiven Staatsapparat wiederherzustellen. Das US-Militär bzw. der industriell-militärische Komplex subsumieren tendenziell die zivilen Staatsapparate des bürgerlichen Staates unter ihre Rationalität.

Gleichzeitig nimmt die Intensität des Klassenkampfes aufgrund der inflationären Tendenzen zu. Im Herbst 2021 gibt es so viele Streiks und Demonstrationen in den USA wie seit langem nicht mehr, eine große proletarische Revolte deutet sich an, eine revolutionäre Führung ist jedoch nicht in Sicht, so daß diese Revolten auch in das Fahrwasser einer der konkurrierenden Kapitalfraktionen kanalisiert werden können und die proletarische Revolte dann zu einer kleinbürgerlichen Revolte degeneriert, welche von einer Kapitalfraktion offen geführt wird. Es besteht immer die Gefahr, daß die nationalliberale Kapitalfraktion, personifiziert in dem vormaligen US-Präsidenten Donald Trump, wesentlichen Einfluß auf die proletarischen Revolten nehmen kann, wenn sich keine proletarisch-autonome Führung aus den gegenwärtigen Klassenkämpfen herauskristallisiert. Da in den USA der organisierte Reformismus schwach ausgebildet ist, ist es für die Bourgeoisie noch leichter, die proletarischen Revolten auf ihre Mühlen zu kanalisieren. Der organisierte Reformismus als Vermittler in einem prekären Klassenkompromiß wird nicht gebraucht und dies erspart dem US-Kapital Kosten. Die Leistungen des organisierten Reformismus, die Sabotage des Klassenkampfes von innen her, sind für das Kapital nicht umsonst. Der Preis für diese „Dienstleistung“ ist ein tendenziell höheres Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse. Gelingt es dem Kapital nicht, ein ansteigendes Niveau des Klassenkampfes unter seine direkte Kontrolle zu bekommen, muß es den organisierten Reformismus mit dieser Aufgabe betrauen, welcher von innen her die Konjunktur des Klassenkampfes zersetzt. Die Aktionen des organisierten Reformismus sind dann nötig, wenn sich der Klassenkampf des Proletariats konzentriert und sich dem Zugriff der Bourgeoisie entzieht. Die ersten Schritte zu einer proletarischen Autonomie ist die Geburtsstunde des organisierten Reformismus, welcher immer eine kleinbürgerliche Bewegungsform aufweist und versucht, zwischen den beiden antagonistischen Klassen zu vermitteln und damit immer objektiv, weil strukturell bürgerlich, bleibt, denn nur auf Basis der kapitalistischen Produktionsverhältnisse kann der organisierte Reformismus überhaupt bestehen. Eine proletarische Revolution entzieht dem organisierten Reformismus den materiellen Boden. Bisher konnte der US-Imperialismus es vermeiden, den organisierten Reformismus einzuschalten und der US-Arbeiterklasse ist es bis jetzt nicht gelungen, eine relative Autonomie vom Kapital zu erkämpfen. Nur dann, wenn der organisierte Reformismus benötigt wird, um den Klassenkampf der Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten, wird sich das Kapital untereinander weitgehend einigen und zusammenstehen, denn dann ist die Arbeiterklasse in der Offensive. Solange die Arbeiterklasse jedoch in der Defensive ist, kann sich das Kapital eine große fraktionelle Entzweiung leisten. Das gegenwärtige Niveau des Klassenkampfes in den USA beunruhigt noch nicht das US-Kapital besonders, denn das US-Kapital glaubt auch ohne die Einschaltung des organisierten Reformismus in die aktuelle Klassenkampfkonjunktur mit der Arbeiterklasse fertig zu werden und treibt seinen interfraktionellen Widerspruch weiter, versucht die Arbeiterklasse für die jeweiligen bornierten Fraktionsinteressen der herrschenden Klasse zu gewinnen. Dies zeigt an, dass der US-Imperialismus derzeit sein Gleichgewicht verloren hat, denn vorher hatte es der US-Imperialismus nicht nötig, die Arbeiterklasse für seine Ziele zu instrumentalisieren. Die vielfältigen inneren und äußeren Probleme des US-Imperialismus zwingen ihn ebenfalls notwendig zur Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse- im multipolaren Weltmarkt und damit zu einer Politik der Repression nach Innen und zu einer Politik der Aggression nach Außen. Die inneren Probleme werden versucht nach Außen, auf die internationalen Beziehungen, abzuleiten, was dort die Situation ebenfalls eskalieren läßt, denn alle anderen Metropolen stehen ebenfalls unter großem inneren und äußeren Druck.

  1. Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft und Arbeiterklasse

Das Vakuum im US-Imperialismus verweist auf das Vakuum im Weltkapitalismus, auf die Vakanz des Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette. Es entbrennt ein immer schärferer Kampf um den neuen Hegemon, der die imperialistische Kette und damit auch die Peripherie des Kapitalismus wieder neu ordnet. Der Rückgriff des Kapitals auf die „nationale Sicherheit“ ist notwendig, denn die „internationale Sicherheit“, bzw. die allgemeine Sicherheit des Weltmarktes, die der Hegemon gewähren konnte, ist nicht mehr vorhanden. Jedes nationale Gesamtkapital ist auf sich alleine gestellt, seine Verwertungsprobleme und damit seine inneren und äußeren Probleme alleine zu lösen, gegen die Arbeiterklasse und gegen die internationale Weltmarktkonkurrenz. Es gibt keine Hegemonialmacht mehr, welche die multilateralen Verhandlungen und Lösungen organisieren könnte. Die „nationale Sicherheit“ drängt Schritt für Schritt auch die „transatlantische Sicherheit“ in den Hintergrund, denn mit dem Verlust der US-Hegemonie verliert auch der NATO-Pakt sein Gleichgewicht. Derzeit sieht jeder kapitalistischer Nationalstaat sich von einem anderen bedroht, ebenfalls von der Massenunzufriedenheit in Arbeiterklasse und Kleinbürgertum. Das Kapital flüchtet dann in die „Nation“. Die „Nation“ ist der „starke Staat“, der innerlich geeinte Staat, die „formierte Gesellschaft“, welche nur noch „Freund“ und „Feind“ kennt. Ein neutrales Verhältnis wird nicht akzeptiert. Die „Nation“ wird im „starken Staat“ repräsentiert und der „starke Staat“ schützt die „formierte Gesellschaft“ vor den „inneren und äußeren Feinden“, während gleichzeitig die „formierte Gesellschaft“ den „starken Staat“ vor seinen „inneren und äußeren Feinden“ schützt. Die „Nation“ steht im Kriegszustand mit ihren „inneren und äußeren Feinden“ und dann gibt es keinen Platz für eine Opposition, sondern alle müssen im Sinne der Verteidigung der „Nation“ zusammenstehen und damit muß die „formierte Gesellschaft,“ wie der „starke Staat“ gleichzeitig die „nationale Sicherheit“ gegen die „inneren und äußeren Feinde“ verteidigen. Die „nationale Sicherheit“ ist das einigende Band der „Nation“. Jede Handlung, jedes Verhalten, wird unter dem Blickwinkel der „nationalen Sicherheit“ betrachtet und damit in den Kategorien von „Freund“ und „Feind“. Es setzt eine innere Militarisierung ein. Denn „Freund und Feind“ im Sinne der „nationalen Sicherheit“ verlangt Befehl und Gehorsam um rasch reagieren zu können. Der Gehorsam gegenüber dem Befehl, die Loyalität gegenüber dem bürgerlichen Staat, werden zentrale Kriterien für das Niveau der gesellschaftlich notwendigen Reproduktion. In die konkreten Klassenbeziehungen fließen immer mehr autoritäre Verhaltensmuster hinein und dringen in alle gesellschaftlichen Poren ein. Konkret zeigt sich dies beispielsweise an der Vorenthaltung von Teiles des Weihnachtsgeldes für die Lohnarbeiter, welche im EDEKA-Konzern und bei „Primemark“ um einen neuen Tarifvertrag und gestreikt haben, denn sie waren nach Auffassung des Kapitalkommandos „illoyal“. Das gesellschaftliche Kapitalkommando, materialisiert im bürgerlichen Staat und das individuelle Kapitalkommando fassen.im autoritären Kapitalismus immer deutlicher den Streik als „feindliche Aktion“ auf und damit den Streikenden und die Gewerkschaft und mit dieser auch die Institution des Betriebsrates als „Feind,“ d.h. wenn die Gewerkschaft sich konkret als Gewerkschaft betätigt, wird sie tendenziell zum „Feind.“ Der Bewegungsradius der Gewerkschaften wird eingeengt und der Druck wächst, sie sogar auch formal zu Arbeitsfronten umzufunktionieren.

Eine „formierte Gesellschaft“, d.h. eine Volksgemeinschaft, wird vom Kapital autoritär hierarchisch geführt und akzeptiert in letzter Instanz keine autonomen, unabhängigen Gewerkschaften und damit keine ausgreifende relative Tarifautonomie. Die „Staatssicherheit“ wird in den Klassenalltag vorverlegt und die betriebliche „Loyalität“ fällt mit der staatlichen „Loyalität“ tendenziell zusammen. Dies gilt verschärft noch für die Erwerbslosen der industriellen Reservearmee, welche im Hartz IV-System konzentriert ist. Die erste Bedingung im Hartz IV-System ist „loyales“ Verhalten dem bürgerlichen Staat gegenüber, sonst wird unter Vorwänden der Antrag auf Arbeitslosengeld II abgelehnt oder wenn Hartz IV bezogen wird, unter Vorwänden vermittels Sanktionen abgesenkt. Die „Loyalität“ wird nicht formal eingefordert, sondern informell vorausgesetzt. In der Regel verstecken sich Kapital und bürgerlicher Staat hinter einer Nebelwand aus bürokratischen Vorwänden; nur dann, wenn sie eindeutig auf Abschreckung zielen, wird die Loyalitätsforderung auch formal eingefordert, normaler weise geschieht dies auf indirektem Wege. Wer als „illoyal“ eingestuft wird, als „politisch unzuverlässig,“ bekommt bürokratische Probleme aller Art, es wird versucht, unter Vorwänden Druck auszuüben bzw. ein „extremistisches Verhalten“ zu sanktionieren, ohne den Sachverhalt direkt anzusprechen. Auf diese Weise soll „abweichendes Verhalten“ von der „Staatssicherheit“ einer Korrektur unterzogen werden. Fachqualifikationen allein reichen nicht, bestimmte konkrete Arbeiten im Ausbeutungsprozeß zu verrichten, die erste Bedingung ist immer die „politische Zuverlässigkeit“. Das Privatleben wird tendenziell immer wichtiger in der Betrachtung des Arbeitslebens für das Kapital. Die Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung greift über die Mauern der Fabriken und Betriebe hinaus auf das Privatleben der Lohnarbeiter und wird dabei tatkräftig durch den bürgerlichen Staat unterstützt. Gemeinsam bauen das gesamtgesellschaftliche Kommando des bürgerlichen Staates und das individuelle Kapitalkommando ein System von KI-gestützten Datenbanken auf, welches das Verhalten der individuellen Lohnarbeiter mit der Zielrichtung der Prognose künftiger Handlungen ermitteln sollen. Es ist eine vertiefte Form der gesamtgesellschaftlichen Rasterfahndung und dies ist das Ziel der „Digitalisierung“ bzw. des Kapitalprojekts „Industrie 4.0“. Die restlose Erfassung der Arbeiterklasse zum Zwecke der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und damit zur Neuzusammensetzung des Kapitals insgesamt ist das Ziel der Digitalisierung und damit die Grundlage für die kapitalistische wertgesetzrationale Selbststeuerung des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses in der Mehrwertproduktion, wie auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene des ideellen Gesamtkapitalisten. Die KI-gestützte umgerüstete Mehrwertproduktion soll die Arbeit intensivieren und damit die Arbeiterklasse disziplinieren, denn eine KI-gestützte Überausbeutung trifft auf den Widerstand der Arbeiterklasse, deren politischer Widerstand gebrochen werden muß, sollen sich die Tendenzen zur Steigerung der Produktivkraft der Arbeit, welche die materielle Basis für die zeitweilige Transzendenz der Großen Krise, für die temporäre Überwindung der durchschnittlichen Kapitalbewegung im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, realisieren. Der hohe Grad der organischen Zusammensetzung des Kapitals ist sehr stör- und sabotageanfällig und kann nur dann in einer Steigerung der Produktivkraft der Arbeit umgesetzt werden, wenn die Ware Arbeitskraft restlos diszipliniert wird und ist. Die relative Handlungsautonomie in der Produktionssphäre wird immer geringer und diese materielle Bewegung reproduziert sich in der Totalität der bürgerlichen Gesellschaft. Die Klasse verteidigt ihre konkreten Handlungsoptionen in der Produktionssphäre. Dort prallt die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse durch das Kapital auf den proletarischen Eigensinn, dann wird der Klassenkampf sehr konkret. Notfalls wird die Einordnung in den betrieblichen und gesellschaftlichen Ausbeutungszusammenhang vom individuellen und von kollektiven Kapitalkommando unmittelbar erzwungen. Aufgrund der Bedrohung der Akkumulation durch die Große Krise mit ihren Entwertungstendenzen und der graduell verstärkten Weltmarktkonkurrenz verläßt sich das Kapital nicht alleine auf den stummen Zwang des Wertgesetzes, sondern läßt das Wertgesetz proaktiv durch die Politik des bürgerlichen Staates wirken. Eine stumme Militarisierung macht sich in den Betrieben und in der gesamten bürgerlichen Gesellschaft breit. Es wird auf allen Ebenen von der Arbeiterklasse Folgebereitschaft erwartet. Wer den Befehlen des Kapitals nicht sofort folge leistet, wird vom bürgerlichen Staat als „Extremist“ gestempelt und somit konkret als „Feind“ behandelt. Der bürgerliche Staat hebt selbst seine Verfassungsgrundsätze auf, wenn er in den „Corona-Notstand“ geht.

Die individuellen und kollektiven Grundrechte, von der Arbeiterklasse erkämpft, gelten im „Corona-Notstand“ nicht mehr, werden erheblich eingeschränkt oder ganz aufgehoben. Diese individuellen und kollektiven Grundrechte sind Abwehrrechte der Arbeiterklasse gegenüber dem Kapital und seinem bürgerlichen Staat und stellen die zentralen Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus dar. Zwischen den individuellen- und kollektiven Grundrechten gibt es keine chinesische Mauer. In den individuellen Grundrechten liegen die kollektiven Grundrechte, in den kollektiven Grundrechten liegen die individuellen Grundrechte. Ohne individuelle Grundrechte keine relative Tarifautonomie, ohne relative Tarifautonomie gibt es keine individuellen Grundrechte. In der relativen Tarifautonomie verwirklichen sich die individuellen Grundrechte und die relative Tarifautonomie verwirklicht sich in den individuellen Grundrechten. Man kann die individuellen und kollektiven Grundrechte nicht gegeneinander ausspielen. Die Arbeiterklasse verteidigt die individuellen und kollektiven Grundrechte gegenüber dem Kapital, aber nicht die Verfassung, denn die Verfassung ist ein Produkt der Herrschaft des Kapitals, schränkt insgesamt eben die individuellen und kollektiven Rechte der Arbeiterklasse im Kapitalismus ein. Im Kapitalismus bleiben die individuellen und kollektiven Rechte der Arbeiterklasse immer nur unterentwickelt, denn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verhindern ihre reale Verwirklichung. Erst im Sozialismus ist die freie Entfaltung der individuellen und kollektiven Grundrechte garantiert. Die Arbeiterklasse kämpft im Kapitalismus um ihre individuellen und kollektiven Rechte und läßt sie sich nicht von Kapital einfach nehmen. Und wenn die individuellen und kollektiven Grundrechte im Kapitalismus mit vorpolitischen Revolten verteidigt werden, aber sie werden gegen das Kapital verteidigt, denn diese individuellen und kollektiven Grundrechte im Kapitalismus erlauben die soziale und politische Organisation der Arbeiterklasse zur Verteidigung des gesellschaftlichen Reproduktionsniveaus derselben. Werden die individuellen und kollektiven Grundrechte der Arbeiterklasse im Kapitalismus zerstört, wird auch die soziale und politische Organisation der Arbeiterklasse zerstört. Die zentrale „Freiheit,“ die sich die Arbeiterklasse im Kapitalismus erkämpft, ist die Freiheit der proletarischen Organisierung in proletarischen Massenorganisationen, nur dieses ermöglicht ein höheres Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse. Wer die proletarische Organisierung in proletarischen Massenorganisationen verhindert oder behindert, senkt mittelfristig das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse. Der „Corona-Notstand“ ist der Großangriff des Kapitals auf die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus, der Großangriff auf das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse und öffnet damit einer Deflationspolitik die Tore. Eine Deflationspolitik kann nur dann realisiert werden, wenn die Arbeiterklasse desorganisiert wird.

Schon der gegenwärtige relativ mild ausgeprägte „Corona-Notstand“ desorganisiert die Arbeiterklasse, lähmt die innere demokratische Willensbildung innerhalb der proletarischen Massenorganisationen, ermächtigt tendenziell einen deutlicheren Durchgriff der Gewerkschaftsbürokratie gegen die Gewerkschaftsbasis, als ohne die Existenz des „Corona-Notsandes“. Der „Corona-Notstand“ spielt der Gewerkschaftsbürokratie in die Hände. Auch im Betriebsrat bilden sich parallele Strukturen heraus, welche den Betriebsrat tendenziell näher zur Gewerkschaftsbürokratie bringt und damit in letzter Instanz zum individuellen und kollektiven Kapitalkommando. Die „Kontaktbeschränkungen“ des „Corona-Notstandsstaates“ führen zur Herausbildung von informellen Parallelstrukturen, welche sich der demokratischen Kontrolle entziehen, die digitale Fernkommunikation kann jederzeit abgehört werden und ist damit nicht vertraulich, kann jederzeit an jedem beliebigen Punkt gestört werden. Nur eine Präsenzveranstaltung gewährleistet eine demokratische Kontrolle. Ohne demokratische Kontrolle kommt es zu einer unsichtbaren Hierarchisierung in den proletarischen Massenorganisationen, welche der Politik der Arbeiterbürokratie in die Hände spielt. Durch die „Kontaktbeschränkungen“ verlagert sich die Entscheidungsfindung auf bestimmte parallele Strukturen, welche präventiv jede oppositionelle Tendenz ausschließen. So kommt es dann zu den Tarifabschlüssen, welche nicht die real existierende inflationäre Tendenz beachten und so zu Reallohnverlusten führen. Die inflationäre Tendenz liegt bei ca. sechs Prozent, während die verschiedenen Tarifverträge, welche 2021 teils mit langen Laufzeiten, abgeschlossen wurden, liegen bei ungefähr drei bis maximal vier Prozent. Diese Klassenzusammenarbeit zwischen der Arbeiterbürokratie, dem Kapital und dem bürgerlichen Staat im korporatistischen Block des Modell Deutschland gegen die Arbeiterklasse wird durch den „Corona-Notstand“ noch verschärft. Die Gewerkschaftsbürokratie schlägt ganz bewußt eine Politik der Reallohnsenkung ein, um so das deutsche Kapital in der Großen Krise, konkret in der Phase der „Corona-Krise,“ auf Kosten der Arbeiterklasse zu entlasten, denn die Gewerkschaftsbürokratie entscheidet sich vorsätzlich für die deflationäre Lohnpolitik in inflationärer Form der Reallohnsenkung, denn sie weiß um die inflationären Tendenzen und akzeptiert bewußt einen Reallohnverlust. Damit sind die untertarifierten Tarifverträge keine subjektiven Fehler, sondern sind konstitutive Momente des Modell Deutschland, d.h. der Hegemonie der Weltmarktsektoren über die Binnenmarksektoren des Kapitals. Im Modell Deutschland liegt das Lohnniveau in den Weltmarktsektoren mit seinen Kernbelegschaften deutlich höher als in den Binnenmarktsektoren des Kapitals und wenn nötig, gibt es auch in den Weltmarktsektoren des deutschen Kapitals Reallohnverluste, um auf diese Weise den Weltmarktanteil des deutschen Kapitals zu verteidigen.

In der „Corona-Krise“ sieht sich das deutsche Kapital von der Weltmarktkonkurrenz herausgefordert und setzt deshalb in der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokratie inflationäre Reallohnverluste durch. Die Desorganisation der Arbeiterklasse vermittels des „Corona-Notstandes“ erleichtert deutlich eine Politik des inflationären Reallohnverlusts. Über die „Kontaktbeschränkungen“ werden oppositionelle Tendenzen in den Gewerkschaften, in den gewerkschaftlichen Gremien und im Betriebsrat in engen Grenze gehalten. Ohne den „Corona-Notstand“ würde ein tendenzieller Widerstand die Reallohnverluste zwar nicht verhindern, aber modifizieren. Die deutlichsten Reallohnverluste müssen jedoch die Randbelegschaften und die industrielle Reservearmee tragen. Diese sind geringer als die Kernbelegschaften gewerkschaftlich organisiert und ihre materiellen Interessen werden schon in „normalen Zeiten“ von der Gewerkschaftsbürokratie meistens ignoriert und erst Recht in „Corona-Krise“ und „Corona-Notstand“. Die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften als zentrale Eroberung des Proletariats im Kapitalismus wird immer weiter ausgehöhlt. Der „Corona-Notstand“ mit seinen „Kontaktverboten“ führt zur weiteren Zersetzung der relativen Tarifautonomie und damit zur Zersetzung der kollektiven Grundrechte. Damit werden die Gewerkschaften immer mehr zu Transmissionsriemen des Notstandsstaates im Sinne einer Arbeitsfront und bauen sich als solche in den bürgerlichen Staat ein. Als Arbeitsfront dann ist es die historische Aufgabe, die Programme des Kapitals in die Arbeiterklasse zu übersetzten und als Betriebspolizei zu agieren. Der Zugriff des Kapitals auf die Arbeiterklasse wird auf diese Weise verdoppelt. Eine systematische Gegenwehr der Arbeiterklasse fehlt derzeit und so kann sich das Kapitalinteresse derzeit im „Corona-Notstand“ unmodifiziert durchsetzen. Die „Kontaktverbote“ sind vor allem auf der institutionellen Ebene der proletarischen Massenorganisationen eine scharfe Waffe der Bourgeoisie, auch wenn es auf dem ersten Blick nicht so aussieht.

Mit „Kontaktbeschränkungen“ bzw. „Kontaktverboten“ und „Kontaktnachverfolgung“ desorganisiert der Notstandsstaat die Arbeiterklasse. Alltägliche Kontakte sind deutlich erschwert und damit auch die direkte Meinungsbildung. Diese soll nur noch digital erfolgen und ist damit vom Kapital und bürgerlichen Staat kontrollier- und manipulierbar. Die Einheit der Arbeiterklasse ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Verteidigung eines bestimmten Niveaus der gesellschaftlich notwendigen Reproduktion der Arbeiterklasse und diese politische Einheit der Arbeiterklasse ist das Ergebnis der permanenten Diskussion in der Arbeiterklasse selbst. „Kontaktverbote“, „Kontaktbeschränkungen“ und „Kontaktnachverfolgung“ jedoch verhindern die permanente Diskussion in der Arbeiterklasse und behindern die politische Vereinheitlichung des Proletariats. Ist das Proletariat nicht vereinheitlicht, kann das Kapital leichter das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse absenken bzw. die Arbeiterklasse nach den neuen Erfordernissen des multipolaren Weltmarktes neu zusammensetzen. Die Repression des bürgerlichen Staates vermittels „Kontaktverbote“, „Kontaktbeschränkungen“ und „Kontaktnachverfolgung“ schafft für das Kapital gute Voraussetzungen für die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Ohne die direkte Repression des bürgerlichen Staates ist die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse nicht zu leisten.

  1. Die Revolte des alten Kleinbürgertums

Die Paralyse der Arbeiterklasse und ihrer Massenorganisationen treibt das Kleinbürgertum in die Arme des Kapitals. Das Kleinbürgertum steht strukturell und somit objektiv dem Kapital tendenziell näher als der Arbeiterklasse und stellt die soziale und politische Massenbasis für den Kapitalismus dar. Jedoch kann die Arbeiterklasse durch eine konsequente antikapitalistische Politik das Kleinbürgertum von der Bourgeoisie entfremden und dem Kleinbürgertum ein Bündnis unter seiner Hegemonie anbieten. Auf sich alleine gestellt, ist das Kleinbürgertum unfähig, ein eigenes Klassenbewußtsein zu entwickeln, denn es steht zwischen den beiden antagonistischen Klassen und ist selbst keine antagonistische Klasse, ist kein unmittelbarer Produzent von Mehrwert, sondern nur an der gesellschaftlichen Verteilung des Mehrwerts beteiligt. Die materielle Grundlage zur Gewinnung des Kleinbürgertums durch die Arbeiterklasse ist die proletarische Einheitsfront. Ohne eine politische Einheit der Arbeiterklasse kann das Kleinbürgertum nicht für die Sache des Proletariats gewonnen werden und das Kleinbürgertum gruppiert sich um die Bourgeoisie, geht dann unter der Führung der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse vor. Nur mit der Einheitsfront kann sich die Arbeiterklasse gegen die „Corona-Deflationspolitik“ und den „Corona-Notstand“ verteidigen und das Kleinbürgertum für sich gewinnen.

Besonders das alte Kleinbürgertum ist von der „Corona-Krise“ betroffen und muß die Kosten der Krise bezahlen. Vor allem in der Kulturindustrie/Touristik/Gastronomie ist das alte Kleinbürgertum vertreten und blockierte oder erschwerte damit eine Durchkapitalisierung und damit Durchstaatlichung dieser Sektoren. Die „Corona-Krise“ zerstört diese volkswirtschaftlichen Sektoren, die Hochburgen des alten Kleinbürgertums sind und in der neoliberalen Epoche des Kapitalismus erheblich expandierten. Diese kleinbürgerliche Struktur dieser Sektoren erschwerte die Herausbildung der Durchschnittsprofitrate und war damit noch nicht genügend durchkapitalisiert. Mit der „Corona-Krise“ und dem „Corona-Notstand“ wird das kleinbürgerliche Biotop der Kulturindustrie-Touristik und Gastronomie niedergerissen und tiefer in die Akkumulation des Kapitals eingebunden. Es setzt in diesen Sektoren ein Prozeß der Proletarisierung ein. Das alte Kleinbürgertum wird von seinen Produktionsmitteln getrennt und in die Lohnarbeiterklasse geworfen. Der massenhafte Ruin des alten Kleinbürgertums führt zu den Massenprotesten gegen den „Corona-Notstand.“ Anders als das alte Kleinbürgertum ist die Arbeiterklasse und das neue (lohnabhängige) Kleinbürgertum besser gegen Krisen abgesichert. Die Sozialversicherung und hier besonders die Kurzarbeit, bieten einen relativen Schutz vor der absoluten Verelendung, was zu einer geringen Protestneigung aus der Tiefe der Lohnarbeiterklasse führt. Die Angst vor dem sozialen Ruin und der absoluten Verelendung treibt das alte Kleinbürgertum mit seinen „Anti-Corona-Protesten“ an und sammelt um sich auch das verunsicherte neue Kleinbürgertum. Diese kleinbürgerlichen Massenproteste sind elitär und im gescheiterten Neoliberalismus verfangen. Doch ein Zurück in den neoliberalen Kapitalismus ist nicht mehr möglich. Der neoliberale Weltmarkt ist zusammengebrochen und der multipolare Weltmarkt ist im Aufstieg begriffen. Damit müssen notwendig die neoliberalen Sektoren Kulturindustrie-Touristik-Gastronomie abgewickelt werden. Die kleinbürgerlichen Massenproteste gegen die „Corona-Krise“ und den „Corona-Notstand“ sind ein neoliberaler Massenprotest, weisen nicht über den Kapitalismus hinaus, bleiben immer gefangen in überholte neoliberale ideologische Muster und scheitern am multipolaren Weltmarkt. Erst dann, wenn die Massenproteste eine egalitäre Ausrichtung erhalten würden, könnten sich die Massenproteste weiter vermassen, erst dann würde sich die Arbeiterklasse und die Masse des neuen Kleinbürgertums diesen Massenprotesten anschließen. Eine egalitäre Ausrichtung der Massenproteste gegen die „Corona-Krise“ und den „Corona-Notstand“ würde den kleinbürgerlichen Charakter dieser Massenproteste sprengen und diese Massenproteste in einen proletarischen Massenprotest verwandeln, der bisherige kleinbürgerliche Klassencharakter der Massenproteste würde sich in einen proletarischen Klassencharakter transformieren und erst dann wird der Massenprotest gegen „Corona-Deflationspolitik“ und „Corona-Notstand“ für das Kapital gefährlich. Die Forderung nach Rückkehr der „alten Normalität“ der Ausbeutung scheitert an der „neuen Normalität“ der Ausbeutung. Erst der Kampf für das Ende der Ausbeutung, für das Ende des Kapitalismus, eröffnet progressive Formen des Massenprotests gegen „Corona-Deflationspolitik“ und „Corona-Notstand“. In letzter Instanz sind die kleinbürgerlichen „Anti-Corona-Proteste gegen die Arbeiterklasse gerichtet, denn das alte Kleinbürgertum möchte für sich einen „sozialen Schutzschirm“ auf Kosten der sozialen Sicherung der Arbeiterklasse errichten, denn es wagt nicht, sich dem Kapital entgegenzustellen, welches höhere Staatsausgaben zum sozialen Schutz über das bisherige Niveau hinaus ablehnt. Für das Kapital geht es nur um das „Teilen innerhalb der Klasse“ oder um „Teile und herrsche“, um die verschärfte Spaltung zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum und gleichzeitig um die verschärfte Spaltung im Kleinbürgertum selbst, zwischen altem und neuem Kleinbürgertum. Eine elitäre Revolte des Kleinbürgertums richtet sich objektiv immer gegen die egalitäre Arbeiterklasse zum Nutzen des Kapitals.

Die „Anti-Corona-Proteste“ sind eine Revolte des neoliberalen Kleinbürgertums und richten sich in letzter Instanz gegen den neuen multipolaren Kapitalismus und scheitern an diesem. Die materielle Massenbasis für diese „Anti-Corona-Proteste“ stellt das alte Kleinbürgertum dar, welches auch die Schichten des neuen Kleinbürgertums um sich sammeln kann. Das Kleinbürgertum spaltet sich in eine neoliberale Tendenz und in eine nationalliberale Tendenz auf. Während sich die neoliberale Tendenz auf den vergangenen neoliberalen Kapitalismus bezieht, bezieht sich die nationalliberale Tendenz auf den multipolaren Kapitalismus und damit auf den „starken Staat“. Der Neoliberalismus bezieht sich auf die individuelle Freiheit des Kapitals, hingegen der Nationalliberalismus sich auf die „Ordnung“ beruft, die individuelle Freiheit ist hier deutlich durch die Gewährleistung der „Ordnung“ begrenzt und hat sich dieser unterzuordnen. Unter Garantie der „Ordnung“ ist im Nationalliberalismus eine aktive Rolle des „Staates“ zu verstehen. Der bürgerliche Staat agiert offen als bürgerlicher Staat, versteckt seine Klassennatur nicht mehr und erscheint an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse immer deutlicher als „Obrigkeitsstaat“ und „schützt“ paternalistisch seine Untertanen vor gewissen kapitalistischen Gefahren. Die Lohnarbeiterklasse „erfreut“ sich einer gewissen niedrigen sozialen Sicherung im Austausch für die Loyalität gegenüber dem bürgerlichen Staat. Wer eine höhere soziale Sicherung will, ist dann illoyal gegenüber dem bürgerlichen Staat und wird von diesem als „Feind“ gestempelt. Jedoch fällt das alte Kleinbürgertum tendenziell weitgehend aus dem Schutz der geringen sozialen Sicherheit durch den bürgerlichen Staat im multipolaren Kapitalismus heraus. Vor allem das alte Kleinbürgertum ist vom Kapital auserkoren, die Kosten der „Corona-Krise“ zu begleichen und wird einer Proletarisierung zugeführt. Die Ausdehnung des alten Kleinbürgertums im neoliberalen Akkumulationsmodell stellt eine Schranke für das Kapital im multipolaren Akkumulationsmodell dar und will überwunden werden. Das Kapital benötigt ein neues Quantum an der Ware Arbeitskraft in der Mehrwertproduktion und auch für die Realisation des Mehrwerts durch die Senkung der Zirkulationskosten, das alte Kleinbürgertum wird dezimiert und findet sich dann in der Lohnarbeiterklasse wieder, entweder direkt oder indirekt durch die Vermittlung der industriellen Reservearmee. Auch wechselt das alte Kleinbürgertum als Lohnarbeiter in den militärisch-industriellen Komplex. Die Neuzusammensetzung des Kapitals ist immer eine Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und auch des Kleinbürgertums; die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse bedingt die Neuzusammensetzung des Kleinbürgertums. In der „Corona-Krise“ wird die Arbeiterklasse durch die Dezimierung des alten Kleinbürgertums und seine Überführung in die Lohnarbeiterklasse neuzusammengesetzt. Die „Anti-Corona-Proteste“ des alten Kleinbürgertums sind eine Reaktion auf die Dezimierung des alten Kleinbürgertums und der Proletarisierung in der „Corona-Krise“ und fordern die „Freiheit“ sich selbst auszubeuten ein. Hingegen das neue Kleinbürgertum orientiert sich nationalliberal an den „starken Staat“, der ein soziales Mindestniveau auch in der „Corona-Krise“ aufrechterhält und hat unter dieser Prämisse keinen unmittelbaren Grund für eine Rebellion gegen das Kapital. Das neue Kleinbürgertum wurde schon zum Lohnarbeiter proletarisiert, hat schon alles verloren, was das alte Kleinbürgertum in der „Corona-Krise“ verliert. Während das alte Kleinbürgertum die „individuelle Freiheit“ im Markt unmittelbar benötigt, sucht das neue Kleinbürgertum seine soziale „Sicherheit“ im „starken Staat“. Im „starken Staat“ sucht das neue Kleinbürgertum halt gegen die „Corona-Deflationspolitik“, hofft auf Gnade und wirft sich dem „starken Staat“ zu Füssen und verteidigt den „starken Staat“ gegen die Arbeiterklasse. Der „starke Staat“ des Nationalliberalismus als ideologischer Ausdruck des multipolaren Akkumulationsmodells ist ebenso elitär wie der Neoliberalismus und garantiert nur ein soziales Mindestniveau an sozialer Sicherheit bei politischer Loyalität der Bourgeoisie gegenüber, gibt aber dieses als soziale Wohltat aus, während der Neoliberalismus auch bei politischer Loyalität die absolute Verelendung nicht ausschließt. So ist das Kleinbürgertum zerrissen, der eine Teil des Kleinbürgertums, geführt vom alten Kleinbürgertum sucht Hilfe bei der neoliberalen Fraktion des Kapitals, während der andere Teil des Kleinbürgertums um Hilfe bei der nationalliberalen Fraktion des Kapitals bittet. Im Kleinbürgertum reproduziert sich politisch der Fraktionskampf innerhalb des Kapitals selbst, der Kampf um die Hegemonie innerhalb der herrschenden Klasse zwischen der transatlantischen und neoliberalen Fraktion auf der einen Seite und der nationalliberalen Fraktion des Kapitals auf der anderen Seite, aber gemeinsam immer übergreifend gegen die Arbeiterklasse. Das Ende des transatlantischen, neoliberalen Weltmarktes und der Aufgang des multipolaren Weltmarktes bedeuten den Untergang des neoliberalen Programms und den Aufgang des nationalliberalen Programms des Kapitals. Weder das neoliberale, noch das nationalliberale Programm der Bourgeoisie ist für die Arbeiterklasse akzeptabel, denn nicht die konkreten historischen Formen des Kapitalismus sind das Problem, sondern der Kapitalismus selbst, beide Formen des Kapitalismus, neoliberal oder nationalliberal sind reaktionär. Die Revolte des Kleinbürgertums gegen „Corona-Deflationspolitik“ und „Corona-Notstand“ ist ebenso reaktionär, wie die Verteidigung der „Corona-Deflationspolitik“ und des „Corona-Notstandes“ durch den anderen Teil des Kleinbürgertums. Das Kleinbürgertum kann nur durch die Arbeiterklasse geeint werden und dazu ist die Einheitsfront in der Arbeiterklasse notwendig; nur über eine Politik der egalitären Forderungen, nur eine Politik der sozialen Gleichheit, kann zuerst die Arbeiterklasse und dann das Kleinbürgertum gegen das Kapital vereinen.

  1. Der Übergang vom „linken Neoliberalismus“ in den „linken Nationalliberalismus

Die „Corona-Krise“ als konkrete Etappe der Großen Krise seit dem Zusammenbruch der Wall Street in den Jahren 2007/2008, geschuldet der durchschnittlichen Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, vermittelt sich politisch über eine Strategie der Spannung und erscheint als „Naturkatastrophe.“ Der „Corona-Krise“ liegt eine Schock-Politik materiell zu Grunde. Ein sozioökonomischer Schock, vermittelt über eine Politik der Strategie der Spannung, wird induziert, damit sich das Kapital in einer Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse neuformieren kann. Das alte neoliberale und notwendig asymmetrische Klassengleichgewicht zwischen den beiden antagonistischen Klassen wird von der Bourgeoisie aufgekündigt, damit sich das Kapital im multipolaren Weltmarkt neu strukturiert. Der gesellschaftliche Schock ist die konkrete Aufkündigung des neoliberalen Klassengleichgewichts durch das Kapital. Dieser gesellschaftliche Schock wird politisch über eine Strategie der Spannung vermittelt und legitimiert den Notstandsstaat. Eine Pandemie kann auch mit zivilen Mitteln bewältigt werden, doch die Bourgeoisie strebt nicht so sehr nach einer zivilen Bewältigung der SARS-Corona-Pandemie, sondern nach einer Neujustierung des Kapitals auf dem multipolaren Weltmarkt und greift deshalb auf paramilitärische und militärische Muster der Krisenbewältigung zurück, welche sich im „Corona-Notstand“ materialisieren. Über eine Strategie der Spannung wird die Massenloyalität für den „Corona-Notstand“ organisiert. Dann erscheint der bürgerliche Staat in Notstandsform als „Retter“ und „Verteidiger.“ aller Staatsbürger bzw. Einwohner des Staates und damit ist auch die drastische Einschränkung der individuellen und kollektiven Rechte der Arbeiterklasse legitim. Die Bourgeoisie setzt dann ihre neuen Normen vermittels des Notstandes durch und eine neue gesellschaftliche Normalität entsteht. Auch wenn die SARS-Corona-Pandemie überwunden sein wird, gibt es kein Zurück mehr zu den neoliberalen Normen und die multipolaren Normen als „neue Normalität“ gelten weiter und damit auch der „Obrigkeitsstaat“.

Die Mehrheit des Kleinbürgertums geht ideologisch in den Nationalliberalismus über und so transformiert sich auch der „linke Neoliberalismus“, der einen „humanen neoliberalen Kapitalismus“ über seine Identitätspolitik propagiert in den „linken Nationalliberalismus, der dann einen „humanen nationalliberalen Kapitalismus“ das Wort redet und erscheint in der Form eines „linken Nationalismus“. Das Programm des „Nationalliberalismus“ stellt die „Nation“ in die Mitte und der „Staat“ erscheint dann als materieller Ausdruck der „Nation“. Der „linke Nationalismus“ bleibt immer auf den Kapitalismus bezogen und ebenso auf den bürgerlichen Klassenstaat, nicht auf die Arbeiterklasse und ihre proletarischen Massenorganisationen, welche potentiell internationalistisch positioniert sind, duldet keine Arbeiterautonomie, keine relative Tarifautonomie der Gewerkschaften, sondern fordert die Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Nation und damit unter das Kapital. Auch der „linke Nationalliberalismus“ bzw. der „Linke Nationalismus“ bietet der Arbeiterklasse nur ein Mindestniveau der kollektiven sozialen Sicherheit an, unterscheidet sich vom restlichen Nationalliberalismus nur quantitativ, will die kollektive soziale Sicherung als Mindestsicherung nur quantitativ ausbauen, nicht aber qualitativ, als Lebensstandardsicherung. Eben dies soll mit dem „linken Nationalismus“ gerade verhindert werden, d.h. der „linke Nationalismus“ ist eine Waffe gegen den organisierten Reformismus, der ebenfalls den Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse verteidigt, aber ein verzerrter Ausdruck der Arbeiterklasse selbst ist, eine kleinbürgerliche Bewegungsform ausweist, weil die Arbeiterbürokratie gezwungen ist, zwischen dem Kapital und der Arbeiterklasse zu vermitteln. Der Reformismus ist eine bürgerliche Agentur, die sich auf die Arbeiterklasse stützt, beruht auf den Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Hingegen ist der „linke Nationalliberalismus“ bzw. der „linke Nationalismus“ ein nationales Programm der Bourgeoisie und stützt sich nicht auf die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus, stützt sich nicht auf die Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil, trachtet danach, die Eroberungen der Arbeiterklasse zu zerstören und das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abzusenken, was auch bedeutet, die kollektive soziale Sicherung der Arbeiterklasse von einer Lebensstandardsicherung hin zu einer Mindestsicherung zu transformieren. So greift der „linke Nationalliberalismus“ bzw. der „linke Nationalismus“ ebenso wie der „linke Neoliberalismus“ auf die „Identitätspolitik“ zurück. Mit der „Corona-Krise“ und dem „Corona-Notstand“ wird auch die Achse der „Identitätspolitik“ objektiv im Sinne des „linken Nationalliberalismus“ bzw. „linken Nationalismus“ verschoben. „Identitätspolitik“ im Sinne des Notstandsstaates, im Sinne eines nationalliberalen und multipolar ausgerichteten Kapitalismus, der sich auf einen „starken Staat“ bezieht. Im multipolaren Kapitalismus wird sich die kleinbürgerliche Strömung des „linken Neoliberalismus“ erheblich reduzieren, während die kleinbürgerliche Strömung des „linken Nationalliberalismus“ sich ausdehnt. Der „linke“ Nationalliberalismus ist nicht völkisch konditioniert, wie der klassische Nationalliberalismus, sondern greift auch auf alle Minderheiten aus und sieht in dem „starken Staat“ mit seiner „nationalen Sicherheitspolitik“ ein Solidaritätsband der Gesellschaft. Die Tendenz zur inneren Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft, die Tendenz zur (hierarchisch) formierten Gesellschaft-Volksgemeinschaft, wird als nationale und gesellschaftliche Solidarität gewertet.

Der autoritäre Nationalliberalismus bestimmt die „Identität“ neu. Im Nationalliberalismus ist die „Identität“ immer autoritär bestimmt. Eine „Identität“ ist nur dann vom bürgerlichen Staat eine „Identität“, wenn sie sich in den autoritären Kapitalismus mit seinem autoritären Staat, einfügt und damit in erster Linie „politisch zuverlässig“ ist. Der Untertan des nationalliberalen Kapitalismus im multipolaren Weltmarkt ist seinen Ausbeutern treu ergeben und führt die Befehle des individuellen, wie des gesellschaftlichen Kapitalkommandos widerspruchslos aus. Die „Identität“ erster Ordnung im multipolaren Kapitalismus ist die „Identität“ des Untertan. Wer diese aufgezwungene „Identität“ ablehnt, erhält vom bürgerlichen Staat die „Identität“ des „Feindes“ verliehen. In der „Ausnahmesituation“ entscheidet der bürgerliche Staat zwischen „Freund“ und „Feind“, entscheidet der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) über die „Freund-Feind-Erkennung.“ „Identitäten“ werden im Kapitalismus nicht aus dem Markt frei herausgesucht, sondern die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, modifiziert durch den bürgerlichen Staat, produzieren „Zwangsidentitäten,“ bzw. produzieren die Klassenspaltung und damit das Handeln der einzelnen Klassensubjekte durch Charaktermasken. Erst mit der Aufhebung des Kapitalismus können diese „Zwangsidentitäten“ zerbrochen werden und erst dann beginnt eine freie Identitätenwahl.

Die „Freund-Feind“ Erkennung ist zentral für den multipolaren Kapitalismus. Eine Opposition als gleichberechtigten „Partner“ wird leicht von der herrschenden Klasse als „Feind“ kategorisiert. Opposition im multipolaren Kapitalismus darf sich nur auf Modifikationen des autoritären Kapitalismus beschränken, ansonsten droht die „innere Feinderklärung“. Vor allem stehen egalitäre Positionen unter Bann und Tabu. Wer Themenkomplexe unter einem egalitären Blickwinkel betrachtet und dies offen positioniert, wird von der Bourgeoisie zum „Feind“ erklärt. Widerstand gegen die „Corona-Deflationspolitik wird von der Bourgeoisie als Angriff auf die „nationale Sicherheit“ gewertet. Die „nationale Sicherheit“ ist das zentrale Dogma des nationalliberalen multipolaren Kapitalismus. Der bürgerliche Staat betrachtet jede Handlung seiner „Untertanen“ unter dem Blickwinkel der „nationalen Sicherheit“. Wer nach Meinung des bürgerlichen Staates die „nationale Sicherheit“ gefährdet, ist ein „Feind“, ein „Staatsfeind“ und muß zumindest politisch, wenn nötig auch physisch, liquidiert werden. Die Arbeiterklasse steht unter „Generalverdacht.“ Widerstand gegen die „Corona-Deflationspolitik“ wird immer mehr vom bürgerlichen Staat als Angriff auf die „nationale Sicherheit“ gewertet, wer nicht zugunsten des Kapitals verzichten will, schädigt die nationalliberale Volksgemeinschaft, schädigt die „Nation“, „gefährdet uns alle“ und steht mit dem „äußeren Feind“ in Verbindung, agiert als „fünfte Kolonne“ des „äußeren Feindes“, ist mithin ein Verräter an seiner „Nation“, „seinem Volk“ etc. Es droht eine Sonderbehandlung durch den nationalliberalen bürgerlichen Staat. Dies gilt für aktiven oder passiven Widerstand gegen die „Corona-Deflationspolitik“, aber auch für das Nichtvermögen als Ausbeutungsmasse zu dienen. Das Versprechen des sozialen Schutzes auf der Höhe eines Mindestniveaus gilt nur dann, wenn die „politische Zuverlässigkeit“ garantiert ist und auch die Ausbeutungsfähigkeit. Wer nicht mehr als Ausbeutungsmasse für das Kapital fungieren kann, den hilft auch die „politische Zuverlässigkeit“ nicht mehr weiter. Die nicht mehr Ausbeutungsfähigen und die „politisch Unzuverlässigen“ stehen außerhalb der nationalliberalen Volksgemeinschaft, welche immer eine „Leistungsgemeinschaft“ ist. Diese beiden sozialen und politischen Kategorien werden von der Bourgeoisie durch den bürgerlichen Staat zum Feind erklärt, denn sie sind für die Kapitalakkumulation überflüssig.

  1. „Triage“ und Euthanasie

Es geht wieder tendenziell in Richtung Euthanasie für die Ware Arbeitskraft, welche nicht potentiell in den Ausbeutungsprozess eingesetzt werden kann. Dies trifft vor allem auf Behinderte und dauerhaft physisch oder psychisch Erkrankte, wie auch Pensionäre zu. Ende Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht über die „Triage“ entscheiden, d.h. das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil Grundprinzipien auf, wie eine Triage realisiert werden kann und erteilt dem Parlament damit einen Arbeitsauftrag, auf Basis dieses Grundsatzurteils die Gesetzgebung entsprechend zu ändern und zu überarbeiten. „Triage“ heißt, daß an Hand von bestimmten Kriterien eine Hierarchie in der medizinischen Behandlung fixiert wird, d.h. eine Behandlungshierarchie von Patienten. Die Triage kommt dann zum Tragen, wenn die medizinischen Behandlungskapazitäten ausgeschöpft sind und rationiert werden müssen. An Hand der Behandlungshierarchie wird dann entschieden, wer überhaupt medizinisch behandelt wird und wer nicht und auch über die Intensität der medizinischen Behandlung. Mit der „Triage“ wird die medizinische Behandlung rationiert und es findet eine Selektion statt. Der Begriff „Triage“ kommt aus dem Militärwesen und führt dort zur Selektion von leicht Verwundeten und Schwerverwundeten. Kommt es im Laufe eines Gefechts zu einer Überlastung der medizinischen Kapazitäten, erhalten nur die Soldaten eine medizinische Versorgung, wenn sie leicht verwundeten werden und wieder später dem Militärdienst zugeführt werden können. Die Schwerverwundeten werden dem Schicksal überantwortet und sterben, auch wenn sie medizinisch hätten gerettet werden können. „Triage“ bezeichnet die militärische Selektion von lebenswerten Leben und nicht-lebenswerten Leben, während der Begriff „Euthanasie“ (Gnadentod) die zivile Komponente ist und ebenfalls zwischen lebenswerten Leben und nicht-lebenswerten Leben unterscheidet, ebenfalls auf Grundlage einer Überlastung der medizinischen Versorgung. Auch hier werden hauptsächlich nur die Patienten versorgt, denen eine gute Überlebenschance oder Heilungschance zugebilligt werden. Die anderen Patienten werden ihrem Schicksal überlassen. Euthanasie und „Triage“ beruhen auf Selektion zwischen Patienten, die nicht weiterverwendet im Sinne der kapitalistischen Ausbeutung und Patienten, die dementsprechend weiterverwendet werden können. Weiterverwendet für die militärische Front oder weiterverwendet für die Ausbeutungsfront. Es werden die Kosten für die medizinische Behandlung ins Verhältnis gesetzt zum potentiellen Ausbeutungsgrad der Ware Arbeitskraft. Dieses Prinzip wird vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Die Frage nach der Finanzierung des Gesundheitswesens wird nicht aufgeworfen. Euthanasie und „Triage“ sind Resultate eines unterfinanzierten Gesundheitswesens und die Unterfinanzierung des Gesundheitswesens ist eine politische Frage, eine Frage der Verwendung des gesellschaftlichen Reichtums und damit eine Frage des Klassenkampfes. Eine Unterfinanzierung des Gesundheitswesens fällt nicht vom Himmel und hat eine lange Geschichte. Das Kapital versucht das Gesundheitswesen nur gering auszubauen, denn die Kosten für die Gesundheitsversorgung sind immer ein Abzug vom gesellschaftlichen Profit des Kapitals. Damit ist eine Überlastung des Gesundheitswesens vorprogrammiert. Eine Überlastung des Gesundheitswesens ist bei geringer Finanzierung desselben unvermeidlich und keine „Katastrophe“, sondern politisch vom Kapital akzeptiert und somit politisch gewollt. Während der „Corona-Krise“ wurden im Jahr 2020 sogar 20 Krankenhäuser geschlossen. Im Jahr 2021 wird eine Schließung von ca. 34 weiteren Krankenhäusern vorbereitet. Bis jetzt wird kein Widerstand von der Gewerkschaftsbürokratie oder der „Zivilgesellschaft“ organisiert. Es wird bewußt eine Politik der „Triage“ und der Euthanasie herbeigeführt, wenn in der „Corona-Pandemie“ Krankenhäuser geschlossen werden. Ist das Gesundheitswesen hingegen gut finanziert und ausgebaut, bedarf es keiner „Triage“ oder Euthanasie-Entscheidungen. Das Kapital und sein Bundesverfassungsgericht schreiben mit dieser Entscheidung zur „Triage“ und damit auch zur Euthanasie, die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems fest. Menschenopfer für die Verwertung des deutschen Kapitals auf dem multipolaren Weltmarkt.

Eine „Triage“-Diskussion in Deutschland ist völlig absurd. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt und führt eine „Triage“- Diskussion. Deutschland hat wohl die finanziellen Mittel sein Gesundheitssystem gut zu finanzieren; doch das deutsche Kapital stellt sich dagegen und will nur ein Gesundheitssystem auf dem Niveau nahe der Peripherie des Kapitalismus finanzieren. Dann ist freilich eine „Triage“ und Euthanasie unvermeidlich. Das Bundesverfassungsgericht müßte nicht das Parlament auffordern, ein „Triage-Gesetz“ vorzulegen, sondern im Gegenteil das Parlament auffordern, ein Gesetz zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung zu verabschieden, denn bis jetzt und trotz der SARS-Corona-Pandemie seit dem Jahr 2020, ist das Gesundheitssystem unterfinanziert. Sogar in der Logik der BRD-Verfassung ist eine Unterfinanzierung des Gesundheitssystems grundgesetzwidrig und somit entscheidet das Bundesverfassungsgericht eindeutig verfassungsfeindlich gegen über der Verfassung, die das Bundesverfassungsgericht schützten sollte. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur „Triage“ ist offensichtlich, daß die Politik der deutschen Bourgeoisie auf einen Euthanasie-Kurs eingeschwenkt ist. Jetzt wird das Gesundheitssystem auf die Euthanasie hin ausgerichtet. Das deutsche Kapital verweigert einen Reserveaufbau im Gesundheitssystem und paßt über eine Politik der Euthanasie die Gesundheits-/Krankheitsentwicklung dem unterfinanzierten Gesundheitssystem an, statt das Gesundheitssystem an die Entwicklung der Gesundheits-/Krankheitsentwicklung anzupassen. Dieses Bundesverfassungsgericht maßt sich an, Grundlinien für eine „gerechte, soziale und demokratische Triage“ aufzustellen. Eine „Triage“ ist jedoch niemals gerecht, sozial oder demokratisch, sondern immer ungerecht, asozial und antidemokratisch. Eine „Triage“ mit humanen Antlitz“ ist ein logischer Widerspruch in sich; „Triage“ ist immer gelebter Anti-Humanismus. In den Termini der Frankfurter Schule: Es gibt nichts Richtiges im Falschen. Eine „Triage“ kann nicht „gerecht“ gestaltet werden, denn sie ist selbst Unrecht. Unrecht kann nicht gerecht gestaltet werden, ein eckiger Kreis kann nicht existieren. Der real existierende und politisch gewollte Mangel im Gesundheitssystem kann nicht „gerecht“ verteilt werden, denn der Mangel ist selbst „ungerecht“. Damit kann die „Triage“ auch nicht „behindertengerecht“ gestaltet werden. Behinderte sind für die Kapitalverwertung im besten Fall nur eingeschränkt als Ausbeutungsmasse nutzbar und somit vom Standpunkt der Kapitalverwertung überflüssig. Dies fließt unbewußt und halbbewußt in jede „Triage-Entscheidung“ ein, auch wenn das Bundesverfassungsgericht verbindlich festlegt, daß dies keine Rolle spielen und auch nicht die geschätzte Lebenserwartung berücksichtigt werden darf, sondern nur die aktuelle Krankheitslage. Dann wird die Nützlichkeitserwägung eben in der Schätzung der aktuellen Krankheitslage versteckt. Denn ein Behinderter hat in der Regel deutlich mehr Vorerkrankungen als ein nicht behinderter Patient und fällt schon deshalb der Triage zum Opfer. Je schwerer die Behinderung, desto schwerwiegender die Vorerkrankungen, desto schwerwiegender die konkrete Krankheitslage, desto wahrscheinlicher das Urteil zur Euthanasie.

Das Gesundheitssystem ist durchkapitalisiert und das System der Fallpauschalen ist das dunkle Herz des durchkapitalisierten Gesundheitssystems. Eine Entscheidung über eine Triage und Euthanasie fällt im Rahmen des durchkapitalisierten Gesundheitssystems, ist immer abstrakt eine kapitalistische Nützlichkeitsentscheidung aufgrund der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und konkret vermittelt durch ein neoliberal organisiertes Gesundheitssystem. Die formale „Triage-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts stellt nur den Durchbruch der längst alltäglichen „Triage“ und Euthanasie im Gesundheitssystem und in dem sozialen Sicherungssystem dar. Auf diese Weise wird schon jetzt die stumm exekutierte alltägliche „Triage“ und Euthanasie legitimiert und kann nun offen ausgeweitet werden. Eine „Triage-Entscheidung“ findet immer in einem kapitalistischen Kontinuum statt und auch im Krankenhaus, der weißen Fabrik, wird dies Entscheidung von den Unteroffizieren des Kapitals oder des bürgerlichen Staates getroffen, unter dem Befehl des individuellen und kollektiven Kapitalkommandos auf Basis des neoliberalisierten Gesundheitssystems, auf Basis einer Fallpauschalenkalkulation. Es herrschte schon vor der Corona-Pandemie im Gesundheitssystem eine Tendenz zur „wilden Euthanasie,“ die unzähligen bekannt gewordenen Patientenmorde, bzw. Patientenmassenorde in letztlich unbekannter Zahl durch Krankenpfleger zeigt die konkrete verzweifelte Mangelsituation im Gesundheits-und Pflegewesen auf und ist primär für diese Taten verantwortlich zu machen. Das neoliberal strukturierte Gesundheitswesen fördert und erzwingt objektiv Tendenzen zur Euthanasie. Die Selektion zwischen lebenswerten und damit ausbeutungsfähigen Leben und nichtlebenswerten Leben, weil ausbeutungsunfähig, gab es schon verdeckt vor der „Corona-Krise“. Doch mit der „Corona-Krise“ weitet sich die Selektion aus und wird immer offener praktiziert. Die Verschiebung von Vorsorge-Untersuchungen und geplanten Operation ist seit Beginn der „Corona-Krise“ die Form, in der sich die „Triage“ und „Euthanasie“ vollzieht. Real wird Leben gegen Leben aufgerechnet und dies wird auch vom Bundesverfassungsgericht gutgeheißen. Die „Corona-Solidarität“ führt direkt in die „Triage“ und Euthanasie, denn sie ist keine Solidarität der Arbeiterklasse, sondern eine „Solidarität der Volksgemeinschaft“ und damit eine „Solidarität mit dem Kapital gegen die Arbeiterklasse“. In der „Corona-Krise“ werden nicht alle geschützt, sondern es wird selektiert und immer offener nach Selektion zwischen „lebenswerten Leben“ und „nicht-lebenswerten Leben“ unterschieden. Eine „Minderheit“ wird der „Mehrheit“ geopfert.

Proletarische Solidarität stellt die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Frage, ist eine Frage des Klassenkampfes der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie, stellt konkret das Gesundheitssystem praktisch in Frage, wehrt jede Forderung nach „Triage“ und Euthanasie ab, setzt auf egalitäre Forderungen und akzeptiert nicht die gegenwärtigen kapitalistischen Zustände, sondern bricht mit ihnen. Stattdessen loben gar Behindertenverbände das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nur, weil das Bundesverfassungsgericht eine „gerechte Triage“ in Aussicht gestellt hat, statt konkret auf die Umsetzung der „gerechten Triage“ zu achten, denn dann würde man sehen, daß die „gerechte Triage“ konkret eine „ungerechte Triage“ ist und auf Kosten der Behinderten geht. Dies bleibt gültig, auch dann, wenn die „Corona-Krise“ überwunden ist, denn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und vor allem die reale Praxis von „Triage“ und Euthanasie endet nicht mit der „Corona-Krise“, denn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich nicht ausschließlich auf die „Corona-Krise,“ sondern gilt darüber hinaus. Damit wird das unterfinanzierte Gesundheitssystem faktisch festgeschrieben und erhält indirekt einen Verfassungsrang. Das lebensgefährliche Gesundheitssystem wird festgeschrieben.

Die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems kann sogar noch ausgebaut werden, denn eine „gerechte Triage“ und eine „gerechte“ Euthanasie läßt sich auch bei einer Verstärkung der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems aufrechterhalten, wird sogar immer notwendiger. Nach unten in der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems gibt mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein Halten mehr, denn „Triage“ und damit die Euthanasie wurden vom Bundesverfassungsgericht gebilligt. Das Kapital kann nun drastische Kürzungen im Gesundheitssystem vornehmen. Es gibt keinen großen Protest auf dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts, weder von Behindertenverbänden, noch von Patientenorganisationen, noch von den Gewerkschaften, Kirchen, Ärzteorganisationen. Im Gegenteil. Von dieser „Zivilgesellschaft“ wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die „Triage“ gar gelobt. Guten Gewissens überstellt die „Zivilgesellschaft“ die Behinderten etc. den Henkern. Das Gesundheitssystem selektiert dann zwischen potentiell ausbeutungsfähiger Ware Arbeitskraft-lebenswerten Leben- und potentiell nicht-ausbeutungsfähiger Ware Arbeitskraft-lebensunwerten Leben und reserviert das Gesundheitssystem nur für die potentiell ausbeutungsfähige Ware Arbeitskraft- für das lebenswerte Leben. Die Ware Arbeitskraft wird im kapitalistischen Produktionsprozeß vernutzt und im kapitalistischen Gesundheitssystem überholt und repariert, um wieder dem vollen Einsatz im kapitalistischen Ausbeutungsprozeß zugeführt zu werden, solange, bis die Ware Arbeitskraft gänzlich vernutzt ist und nicht mehr ausbeutungsfähig ist. Dann wird die Ware Arbeitskraft zu lebensunwerten Leben und wird aus dem kapitalistischen Ausbeutungsprozeß und dann damit gleichzeitig aus dem kapitalistischen Gesundheitssystem ausgestoßen, der „Triage“ und/oder der Euthanasie zugeführt. In dieser „Triage“ und Euthanasie ist die Gewerkschaftsbürokratie eingebunden, die Kirchen, die Behindertenverbände, die Patientenverbände, die Standesorganisationen der Ärzte etc. Statt eine „Triage“ und Euthanasie zu verhindern und für eine hohe Finanzierung des Gesundheitssystems einzutreten, haben diese Organisationen die „Triage“ und Euthanasie mit zu verantworten, sie haben die Seite gewechselt und passen sich der Bourgeoisie an. Wo die „Zivilgesellschaft“ laut das Wort ergreifen müßte, auf der Straße, in den Medien etc. schwieg sie. Leise wird Kritik geäußert, doch nur nicht laut und radikal, was notwendig wäre bei der radikalen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die „Zivilgesellschaft“ wird nicht offen mit dem bürgerlichen Staat gleichgeschaltet, sie schaltet sich selbst gleich.

Die „Corona-Krise“ mit ihrer „Corona-Notstandspolitik“ führt somit nicht zum Ausbau des Gesundheitssystems, sondern im Gegenteil, zur weiteren Demontage des Gesundheitssystems, zu einer weiteren kapitalistischen Rationierung und Rationalisierung im Gesundheitswesen. Der „Corona-Notstand“ dient nicht dem Gesundheitsschutz, sondern im Gegenteil der Reduktion des Gesundheitsschutzes der arbeitenden Massen. Ohne „Corona-Krise“ und „Corona-Notstand“ wäre dies so nicht ohne weiteres möglich gewesen, denn es hätte sich im parlamentarisch-demokratischen System und außerparlamentarisch Widerstand gebildet. Die Neuformierung des Gesundheitswesens ist ein Moment in der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. In der „Corona-Krise“ verteidigt natürlich der bürgerliche Staat nicht die Arbeiterklasse gegen das Kapital, sondern das Kapital gegen die Arbeiterklasse. Der bürgerliche Staat ist objektiv nur in der Lage, der herrschenden Klasse zu dienen und kann von den beherrschten Klassen lediglich modifiziert, aber niemals umfunktioniert werden. Und ein Notstand, hier der „Corona-Notstand, schließt sogar die Modifizierung der Politik des bürgerlichen Staates durch die Arbeiterklasse oder des Kleinbürgertums aus. Wer, wie der „linke“ Nationalliberalismus, Hilfe vom bürgerlichen Staat, Hilfe vom bürgerlichen Staat in Notstandsform, erwartet, wird bitte enttäuscht werden. Eine Hilfe vom bürgerlichen Staat wird es nicht geben; es hilft nur die Selbsthilfe der Arbeiterklasse und genau dies ist das Ziel des Notstandsstaates, die Verhinderung der proletarischen Selbsthilfe, die Verhinderung proletarischer Solidarität. Über die Solidarität der Volksgemeinschaft- der Solidarität der formierten Gesellschaft- soll die proletarische Solidarität bekämpft werden. Die „Corona-Solidarität der formierten Gesellschaft-der Volksgemeinschaft ist ein präventiver Angriff auf die Solidarität des Proletariats, eine Waffe des Kapitals im Klassenkampf gegen die Arbeiterklasse. Während die Solidarität der Arbeiterklasse eine Solidarität im Kampf ist, eine Solidarität des Klassenkampfes, eine Solidarität in der Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, eine Solidarität der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums aus den Händen des Kapitals in die Hände der Arbeiterklasse, eine egalitäre Solidarität, ist die Solidarität der formierten Gesellschaft-Volksgemeinschaft auch eine Solidarität im Klassenkampf, aber eine Solidarität im Sinne der Ausbeutung, im Sinne der Bourgeoisie, eine elitäre Solidarität der herrschenden Klasse, welche der Arbeiterklasse den materiellen Verzicht auferlegt, es geht konkret um die Umverteilung zu Lasten der Arbeiterklasse und zu Gunsten des Profits. Die Solidarität der formierten Gesellschaft- der Volksgemeinschaft- materialisiert sich in der „nationalen Solidarität“, der Einzelne oder die Organisationen der Arbeiterklasse sollen zu Gunsten der Nation verzichten. Am höchsten ist die „nationale Solidarität“ in der „nationalen Sicherheit“ konzentriert. Die Solidarität der Arbeiterklasse ist internationalistisch; der Klassenkampf gegen das Kapital kann nur international erfolgreich geführt werden, während hingegen die Solidarität des Kapitals- die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft- national ist und so versucht, den internationalen Klassenkampf von Seiten der Arbeiterklasse zu marginalisieren.

  1. Proletarische Solidarität versus Solidarität der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft

Die „Corona-Solidarität“ in der „Corona-Krise“ ist somit tendenziell auch eine Antwort auf die proletarischen Revolten und ihre damit materialisierte Solidarität des Jahres 2019. Im Herbst 2019 kommt es zu einem neuen Krisenschub der Großen Krise. Im fiktiven Kapital steht der Repromarkt kurz vor dem Zusammenbruch und kann nur notdürftig stabilisiert werden. Das Wertgesetz läßt sich nicht mit einer expansiven Geldpolitik kontrollieren. Im Wertgesetz selbst findet der Klassenkampf seinen materiellen Grund, denn im Wertgesetz selbst liegt der materielle Urgrund der sozialen Klassen, des bürgerlichen Staates (der selbst eine besondere Form des Wertgesetzes ist) und damit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit ihrer krisenhaften Akkumulationsbewegung. Der unbewußte Klassenkampf materialisiert sich im Wertgesetz, daß Wertgesetz ist bewußtloser Klassenkampf. Diese Revolten des Jahres 2019 vertieften die Große Krise, die auch eine Große Krise des niedergehenden neoliberalen Akkumulationsmodells war und trieben damit den neoliberalen Kapitalismus in seine offene Auflösung, materialisiert in der „Corona-Krise“. In der „Corona-Krise“ überwindet das Kapital die neoliberale Akkumulationsweise und transformiert sich in die multipolare Akkumulationsweise, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden. Insofern ist die „Corona-Krise“ die bewußtlose Antwort des Kapitals auf den Niedergang des neoliberalen Kapitalismus, welcher sich vor allem darin ausdrückt, daß proletarische Revolten überhaupt möglich sind. Die proletarischen Revolten gegen die neoliberale Akkumulationsweise zeigen dem Kapital auf, daß die ideologische und politische Hegemonie des Neoliberalismus nicht mehr ausreicht, die kapitalistische Produktionsweise überhaupt zu stabilisieren, kündigen damit eine finale Krise des Neoliberalismus an und damit die Notwendigkeit der Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse auf Weltmarktebene. So sind die proletarischen Revolten des Jahres 2019 die Sturmvögel für den finalen Bruch, der dann Anfang des Jahres 2020 in der „Corona-Krise“ erfolgte. Die nun notwendige Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse auf Weltmarktebene setzt sich nur national zersplittert durch und faßt sich ideologisch selbst als formierte Gesellschaft-Volksgemeinschaft,- richtet sich damit zentral gegen die proletarische Solidarität der Revolten. So steht die Solidarität des Proletariats antagonistisch der Solidarität der Bourgeoisie gegenüber. Wenn die Bourgeoisie die Solidarität beschwört, beschwört sie die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft, beschwört sie die Solidarität mit der herrschenden Klasse und damit konkret gegen die Solidarität der Arbeiterklasse. Diese „Solidarität“ der Bourgeoisie materialisiert sich in der „nationalen Sicherheit“. Und mit der „nationalen Sicherheit“ wird die praktische Solidarität der Arbeiterklasse bekämpft. Wenn die Bourgeoisie nach der Solidarität ruft-ruft sie konkret nach der „nationalen Sicherheit“ und damit nach der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft. Im Namen der „nationalen Sicherheit“, im Namen einer „Corona-Solidarität,“ werden die proletarischen Revolten zerschlagen. In der „Corona-Krise“ läßt das Kapital verlauten, daß alle in einem Boot sitzen und die nun folgende Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse akzeptiert werden muß. Widerstand dagegen ist unsolidarisch und gefährdet die „Corona-Politik“ und darf deshalb nicht organisiert werden und der bürgerliche Notstandsstaat wacht darüber, daß kein proletarischer Widerstand gegen die Umstrukturierung des Kapitals geleistet wird. Der Verzicht der Arbeiterklasse auf ihr bisheriges gesellschaftlichen Reproduktionsniveau ist notwendig und wird notfalls repressiv erzwungen.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse schließt auch die Euthanasie mit ein. Nicht nur für die Ware Arbeitskraft, welche nicht mehr als Ausbeutungsmasse für die Akkumulation von Kapital zu gebrauchen ist, sondern auch für die Ware Arbeitskraft, welche „politisch unzuverlässig“ ist. Wer vom Kapital als „krank“ eingestuft ist, ist ein Feind“ der „Betriebsgesundheit“ bzw. der „Volksgesundheit“ und muß entschieden bekämpft werden. Auch die „politisch Unzuverlässigen“ sind im Sinne des Kapitals in letzter Konsequenz „krank“ und damit überflüssig und gefährlich für den Ausbeutungsprozeß, denn sie können auch die „gesunde Betriebsgemeinschaft“ bzw. „gesunde Volksgemeinschaft“ infizieren. Dann muß auch den „politisch Unzuverlässigen“ tendenziell der Zugang zum Gesundheitssystem verweigert oder zumindest erschwert werden. Es steht dem Kapital bei einem unterfinanzierten Gesundheitssystem frei, zu entscheiden, wer zuerst und wer zuletzt medizinisch behandelt werden soll. Der stumme Zwang der materiellen Verhältnisse, der stumme Zwang des organisierten Mangels im Gesundheitssystem, erzwingt dann eine Selektion in ausbeutungsfähig/ausbeutungswillig und in nicht ausbeutungsfähig/nicht ausbeutungswillig und nur die erste Kategorie erhält eine entsprechende medizinische Behandlung. Der „Feind“ der Ausbeutung hat keine Gnade verdient, ihm bleibt nur der „Gnadentod“.

  1. Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und innere Militarisierung

Die KI-gestützten Datennetze des Kapitals haben die Aufgabe die Poren des Arbeitstages zu verdichten, die Ware Arbeitskraft an den multipolaren Weltmarkt auszurichten und den proletarischen Eigensinn der Arbeiterklasse niederzukämpfen. Nichts anderes versteht das Kapital unter dem Kürzel „Industrie 4.0“ oder unter dem Kürzel „Digitalisierung“. Es geht um die restlose Erfassung der Arbeiterklasse in der Produktions- und Distributionssphäre, in der bürgerlichen Polis und in der Privatsphäre. Mit diesem Herrschaftswissen wird die Mehrwertproduktion neu ausgerichtet. Es findet eine alltägliche Rasterfahndung nach „subversiven Elementen“ statt, indem vermittels Rasterfahndungsmethoden das alltägliche Verhalten der Arbeiterklasse ermittelt wird, Arbeitsverausgabung und private Reproduktion, dieses miteinander ins Verhältnis gesetzt wird, um auf jene Weise potentielle „subversive Elemente“ zu identifizieren, vor allem potentielle subversive politische Strukturen, welche bisher noch nicht identifiziert werden konnten. Es geht auch darum, das „vorpolitische Feld“ zu überwachen, denn hier können sich proletarische oder kleinbürgerliche Revolten schnell bilden und von „vorpolitischen Aktionen“ in „politische Aktionen“ wachsen. Die KI-gestützten Datennetze sollen jede potentielle „vorpolitische Aktion“ oder das überwachsen von der „vorpolitischen Aktion“ in die „politische Aktion“ frühzeitig erkennen, so daß präventiv Maßnahmen realisiert werden können, um das Aufbegehren schon im Ansatz zu unterdrücken. Jede kleinste Regung der Arbeiterklasse wird verfolgt, wird aufgezeichnet, damit rechtzeitig repressiv interveniert werden kann. In dem Kampf um den Einsatz von KI-gestützten Datennetzen materialisiert sich der Klassenkampf. Die Arbeiterklasse verteidigt ihre relative Handlungsautonomie im kapitalistischen Produktionsprozeß. Alle Versuche, die Arbeiterklasse restlos zu erfassen (das Projekt „Industrie 4.0 des Kapitals) schlugen bis zur „Corona-Krise“ fehl. Erst die „Corona-Krise“ ermöglicht es dem Kapital, weiter zu gehen, d.h. erst der „Corona-Notstand“ schafft dem Kapital eine tendenzielle Freiheit, das Projekt „Industrie 4.0“ weiterzutreiben, während gleichzeitig die Arbeiterklasse versucht, sich dem verstärkten Zugriff des Kapitals zu entziehen, indem sie die Lücken der neuen Ausbeutungsorganisation ermittelt. Indirekt wird eine gesamtgesellschaftliche staatlich-private „Sicherheitsüberprüfung“ für die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum anvisiert. Dafür sind die KI-gestützten Datennetze die materielle Grundlage. Permanent wird eine indirekte, für die Arbeiterklasse unsichtbare, Rasterfahndung nach „Staats- und Gesellschaftsfeinden“ exekutiert. Wer an der permanenten „Sicherheitsüberprüfung“ scheitert, wird zum Ziel der Repression des individuellen und kollektiven Kapitalkommandos und findet schnell sein Berufsverbot. Vermittels der KI-gestützten Datennetzte wird ein Passierscheinsystem entwickelt, in welchem sich die Arbeiterklasse verwickeln soll.

Es bedarf des Notstandes, um den proletarischen Widerstand gegen die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse zurückzudrängen. Doch ob der „Corona-Notstand“ erfolgreich bei der Neustrukturierung der Mehrwertproduktion ist, bleibt offen und ist auch für das Kapital nicht ohne Risiko. Die Massenproteste des alten Kleinbürgertums gegen den „Corona-Notstand“ machen dem Kapital ordentlich zu schaffen. Ungefähr zwanzig Prozent der Bevölkerung unterstützt die kleinbürgerlichen Anti-Corona-Proteste. Dies entspricht ungefähr den Stimmenanteil der SPD als stärkste Partei der Ampel-Koalition. Die permanente psychologische Kriegsführung des bürgerlichen Staates gegen die Massenproteste des alten Kleinbürgertums zeigen auf, wie schwer es dem bürgerlichen Staat, auch in der Form des gemäßigten Notstandes, fällt, den Kapitalismus neu zu organisieren. Offen muß die Bourgeoisie mit neuen Berufsverboten drohen, vor allem im bürgerlichen Staat selbst, wenn der Widerstand gegen „Corona-Notstand“ und „Corona-Deflationspolitik“ nicht weicht. Der „gemäßigte“ „Corona-Notstand“ kann jederzeit verschärft werden und gar zum Kriegsrecht werden, wenn sich die Bourgeoisie nicht mit einem „gemäßigten Notstand durchsetzen kann. Wenn der Druck im Kessel der inneren Probleme ansteigt, versucht das Kapital diesen Druck dadurch zu mindern, daß der Druck in die internationale politische Arena abgeleitet wird. Die inneren Spannungen vermischen sich mit den äußeren Spannungen und die internationale Kriegsgefahr steigt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen zum „Wellenbrecher Lockdown“ aus dem Jahr 2021 ausdrücklich den „Corona-Notstand“ gebilligt und ordnet sich damit der Staatsräson unter. Nichts anderes war zu erwarten. In letzter Instanz entscheidet die Staatsräson über die Verfassung. Die Verfassung der BRD kann somit nicht mit dem Bundesverfassungsgericht verteidigt werden, die Verfassung der BRD kann nicht verfassungsgemäß verteidigt werden, sondern nur praktisch anti-verfassungsgemäß und damit überhaupt nicht. Die Arbeiterklasse verteidigt ihre materiellen Interessen, ihre gemachten Eroberungen im Kapitalismus, aber niemals die bürgerliche Verfassung. In der revolutionären Verteidigung der proletarischen Eroberungen im Kapitalismus überschreitet die Arbeiterklasse in der direkten Aktion den Rahmen der bürgerlichen Verfassung und errichtet die Doppelmacht als ersten Schritt zur Diktatur des Proletariats. Verfassungsfragen sind Machtfragen, Verfassungsfragen sind eine Frage des Klassenkampfes. Verfassungen werden in letzter Instanz durch den Klassenkampf ausgelegt, nicht aber juristisch durch ein Verfassungsgericht. Der Klassenkampf des Proletariats zielt auf einen Sturz des kapitalistischen Systems, steht für die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, steht für die notfalls gewaltsame Überwindung der herrschenden Verfassungsordnung. In der herrschenden Verfassungsordnung materialisiert sich der Klassenfeind, der sich immer in letzter Instanz in der Staatsräson findet. Der „Corona-Notstand“ schützt die „Corona-Deflationspolitik“ und beide können nicht mit bürgerlichen Mitteln, sondern nur mit proletarischen Methoden beseitigt werden, denn der „Corona-Notstand“ ist konzentrierte „Corona-Deflationspolitik.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht den „Corona-Notstand“ als verfassungsgemäß legitimiert hat, da eine kritische Situation vorliegt und der „Staat“ gezwungen ist, Notstandsmaßnahmen zur „Verteidigung des Lebens“ zu ergreifen, greift notwendig die angebliche kritische Situation immer weiter aus. Wieso es „kritische Situationen“ überhaupt gibt, wird nicht beleuchtet und das Bundesverfassungsgericht macht auch keine Anstalten, die Vermeidung von „kritischen Situationen“ auf die Tagesordnung zu setzten. Das Kapital produziert durch Nichtstun „kritische Situationen“ und wird damit belohnt, daß Notstandsmaßnahen ergriffen werden müssen. Die „kritische Situation“ fällt nicht vom Himmel, sondern hat eine Geschichte. Da die Geschichte der „kritischen Situation“ dem Bundesverfassungsgericht egal ist, folgt daraus notwendig auch das Urteil zur „Triage“ bzw. zur Euthanasie im allgemeinen. Die Politik der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems, welche objektiv eine „Triage“ bzw. Euthanasie herausfordert, bzw. provoziert, spielt für das Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine Rolle. Es spielt nur die „kritische Situation“ eine Rolle, hier die „Überforderung“ des Gesundheitssystems durch die SARS-Corona-Pandemie. Die Politik der „kritischen Situation“, die Politik der systematischen „Überforderung“ durch Unterfinanzierung des Gesundheitssystems, wird vom Bundesverfassungsgericht nicht in Frage gestellt, somit gebilligt und damit in letzter Konsequenz auch die Deflationspolitik im allgemeinen und die Folgen der Deflationspolitik, denn Deflationspolitik ist immer eine Politik zur Produktion des Mangels, der Vergrößerung des kapitalistischen Mangels und trifft auf den proletarischen Widerstand, was dann den Notstand des Kapitals gegen die Arbeiterklasse im Sinne des Bundesverfassungsgerichts legitimiert. Auch wenn die politische Entscheidung getroffen werden sollte, daß die SARS-Corona-Pandemie überwunden ist (die SARS-Corona-Pandemie kann real weiterbestehen, auch wenn die politischen Beschlüsse das Gegenteil aussagen), bleibt der Notstand oder zumindest die Tendenz zum Notstand bestehen, wenn weiterhin eine Deflationspolitik verfolgt wird und damit eine Politik der Produktion von „kritischen Situationen.“ Dann löst nur eine „kritische Situation“ die andere ab in der Begründung des Notstands, dann ist das Ende des „Corona-Notstandes“ nur der Anfang eines anderen Notstandes. Die materielle Basis des Notstandes ist die Deflationspolitik in der sich die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse vollzieht und nicht die SARS-Corona-Pandemie oder eine andere kritische Situation. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts legitimieren die Bourgeoisie zur Straffung des Kapitalkommandos auf kollektiver Ebene, wie auf individueller Ebene des Kapitalkommandos. Es geht um das Durchregieren auf allen Ebenen, auch ohne eine SARS-Corona-Pandemie. Das Kapital hat sich seit dem März 2020 daran gewöhnt, zu kommandieren und die Arbeiterklasse daran, den Befehlen des Kapitals Folge zu leisten. Alles wegen einer angeblich „kritischen Situation“. In den vielen Einzelkapitalien gibt es ebenso viele „kritische Situationen“ oder Ausnahmesituationen. Also sieht sich jedes individuelle Kapitalkommando im Recht, die Tarifverträge, das Betriebsverfassungsgesetz, das Arbeitsrecht etc. faktisch durch sein Handeln außer Kraft zu setzten. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts über die Verwaltung des vom Kapital geschaffenen Mangels machen alltäglich Schule. Die Selbstgleichschaltung der Gewerkschaften durch die Gewerkschaftsbürokratie im „Corona-Notstand“ hat Folgen. Dies Zeichen der Schwäche reizt das Kapital zum Angriff. Auch auf der Ebene des individuellen Einzelkapitals sind die Urteile des Bundesverfassungsgerichts eine Carte Blanche für das individuelle Kapitalkommando und nicht nur auf die SARS-Corona-Pandemie beschränkt.

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind ebenso ein Moment der inneren Militarisierung, welche die Grundlage für eine aggressive Außenpolitik ist, d.h. die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist eine direkte Kriegsvorbereitung. Der Begriff „Triage“ in Friedenszeiten macht keinen Sinn. Wenn man aber auch von einer internationalen „kritischen Situation“ ausgeht, macht der Begriff „Triage“ einen Sinn und hier besonders für die „Zivilverteidigung“. Das Bundesverfassungsgericht macht formal den Weg frei für eine Militarisierung des Gesundheitswesens im Sinne einer „Zivilverteidigung“ und bereitet ideologisch die Gesellschaft auf einen imperialistischen Großkrieg vor, d.h. in letzter Instanz auf den Dritten Weltkrieg. Beide Urteile des Bundesverfassungsgerichts, einmal über die Rechtmäßigkeit des „Wellenbrecher Lockdowns“ und einmal über die „Triage,“ zielen auch auf die internationale Ebene und gleichzeitig auf die nationale Ebene in der Frage der Kriegsvorbereitung. Die beratenden Krisenstäbe der Bundesregierung werden schon vom deutschen Militär kommandiert. Der derzeitige „Corona-Notstand“ bezieht sich nur unwesentlich auf die SARS-Corona-Pandemie, bezieht sich eher auf den neuen Krisenschub der Großen Krise mit ihren internationalen und nationalen Spannungen, die „Triage“ bezieht sich nur unwesentlich auf die SARS-Corona-Pandemie, viel mehr aber auf einen Dritten Weltkrieg, die „Corona-Deflationspolitik“ bezieht sich weniger auf die SARS-Corona-Pandemie, sondern mehr auf den neuen Krisenschub der Großen Krise, wie auch auf drastische Einschränkungen einer tendenziell verdeckt inflationären Kriegswirtschaft, d.h. die Deflationspolitik bereitet auch potentiell den Boden für eine (tendenziell inflationäre) Kriegswirtschaft.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse ist ein Produkt des Klassenkampfes zwischen den beiden antagonistischen Klassen und vollzieht sich auf internationaler Ebene. Der Klassenkampf reproduziert sich in jedem bürgerlichen Staat in konkret spezifischer Weise, immer unter der Klassenherrschaft des Kapitals, solange der Kapitalismus nicht gestürzt ist, prägt somit den konkreten bürgerlichen Nationalstaat ohne diesen überwinden zu können. Die verschiedenen bürgerlichen Nationalstaaten versuchen die nationalen Spannungen in die internationale Arena abzuleiten und so reproduzieren sich die ansteigenden Widersprüche des Kapitalismus in konkret-spezifischer bürgerlicher Form und übersetzten sich besonders in internationalen Spannungen. Seit März 2020 steigen die internationalen Spannungen immer weiter an. Wirtschaftskriege und damit auch plötzliche Grenzschließungen sind an der Tagesordnung. Es zerfallen die internationalen Organisationen und die bisherigen Bündnissysteme werden brüchig. Der Krieg als Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln wird immer deutlicher eingesetzt, nicht nur gegen die koloniale und halbkoloniale Peripherie, sondern immer deutlicher in der imperialistischen Kette selbst. Nur dann machen Notstand und Triage einen Sinn.

  1. Die Nebelschwaden der SARS-Corona-Pandemie/der „Klimakatastrophe“ und die internationale Kriegsgefahr

Die internationalen Spannungen sind ein Produkt des Zusammenbruchs des neoliberalen Weltmarktes mit seiner neoliberalen Weltordnung, wie des Aufgangs des multipolaren Weltmarktes mit seiner multipolaren Weltordnung. Jetzt treffen die imperialistischen Gegensätze und Widersprüche hart aufeinander. Es gibt keine Puffer in der kapitalistischen Peripherie mehr, wo die innerimperialistischen Widersprüche militärisch ausgetragen werden. Der Zusammenbruch der US-Hegemonie als Folge des Zusammenbruchs des US-gestützten neoliberalen Weltmarktes läßt die innerimperialistischen Widersprüche eskalieren. Nun gibt es keinen Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette mehr, keinen Schiedsrichter, sondern nur noch der allseitige Kampf jeder gegen jeden, alle gegen alle. Dadurch können neue internationale Bündnissystem entstehen, die jedoch nur dann stabil werden, wenn im Laufe eines Dritten Weltkrieges oder nach einer Kette von imperialistischen Kriegen ein neuer Hegemon ausgekämpft wurde.

In diesem Licht müssen auch die Konflikte um die Ukraine-Frage gesehen werden. Auch die Ukraine-Frage steht für die Auflösung der US-gestützten neoliberalen Weltordnung. Der US-Imperialismus provoziert mit der Ukraine eine umgekehrte Kuba-Krise, wenn er versucht, die Ukraine als antirussischen Brückenkopf zu benutzten. Dann wird der Bürgerkrieg wieder aufflammen und zum Sturz des halb-faschistischen Systems in der Ukraine führen. Rußland droht nun auch mit Militärstützpunkten auf Kuba und in Venezuela. Das wäre für den US-Imperialismus nicht hinnehmbar. Der deutsche Imperialismus versucht im Schatten des US-Imperialismus seinen Einfluß nach Osten auszudehnen und schiebt den US-Imperialismus vor.

Währenddessen wird unter der objektiven Deckung eines Massenprotestes und einer proletarischen Revolte in Kasachstan gegen drastische Erhöhungen von Flüssiggas an den Tankstellen ein Massenputsch von NATO Gladio B-Einheiten durchgeführt und das heißt, daß auch Teile des kasachischen Kapitals und des Staatsapparates darin involviert sind. Auf diese Weise zerschlagen die Gladio-B Einheiten objektiv die proletarische Revolte in Kasachstan. Dies ist möglich, weil der proletarischen Revolte eine revolutionäre Führung fehlte, welche gleichzeitig gegen die Gladio- B Einheiten und gegen den kasachischen Staatsapparat vorgehen kann. Dieser Massenputsch scheitert am Einschreiten des russischen Imperialismus, treibt aber die imperialistischen Machtkämpfe, auch um die Ukraine, auf ein noch höheres Niveau. Der russische Imperialismus weiß um den Putsch und wartet ab, greift dann ein und bindet so Kasachstan enger an sich, während die Pendelpolitik Kasachstans zwischen Rußland und China auf der einen Seite und den USA, EU und NATO auf der anderen Seite scheitert. Damit geht der russische Imperialismus gestärkt in die Verhandlungen mit dem US-Imperialismus um das Schicksal der Ukraine. Immer enger wird die ökonomische, politische und militärische Zusammenarbeit zwischen Rußland und China, wie es am Beispiel Kasachstan zu sehen ist und dies kann auch schnell in ein russisch-chinesisches Militärbündnis enden. Rußland und China haben ein eigenes SWIFT entwickelt und können einen Auschluß aus den internationalen Zahlungssystem damit kontern. Zudem ist Rußland notfalls zu einem Präventivkrieg gegen die Ukraine, aber auch gegen die baltischen NATO-Staaten, einschließlich Finnland bereit, sollte es keine Verhandlungslösung mit den USA über die Ukraine-Frage geben. Eine ökonomische Antwort im Sinne eines Wirtschaftskrieges würde Rußland nicht viel ausmachen und auch die westeuropäischen NATO- und EU-Staaten treffen, die abhängig vom russischen Öl und Erdgas sind. Doch das wichtigste ist, daß ein Wirtschaftskrieg als Antwort ein Zeichen der Schwäche für die NATO darstellt. Schon in Afghanistan zeigte sich in der Niederlage der USA und der NATO, daß beide sich überschätzt hatten und wurden zum Gespött. Eine Niederlage der USA und der NATO in der Ukraine-Frage würde dann auch die Sinnhaftigkeit des NATO-Paktes selbst aufwerfen. Ohne sich selbst zu Schaden, kann der NATO-Pakt nicht in der Ukraine militärisch intervenieren. Der Wirtschaftskrieg gegen Rußland in der Krim-Frage zeigte auch nur die Schwäche von NATO und EU auf und scheiterte, verursachte ebenfalls bei den EU-Staaten, vor allem auch Deutschland, schwere Schäden. Ein Wirtschaftskrieg gegen Rußland dient nur zur Gesichtswahrung, ist aber schon von vorherein zum Scheitern verurteilt. Dadurch kann man die Niederlage propagandistisch in einen Sieg ummünzen, was aber an der realen Niederlage und der Änderung des Kräfteverhältnisses keinen Jota ändert. Der NATO-Pakt unter Führung des US-Imperialismus realisiert eine Politik der internationalen Spannung und versucht den russischen Imperialismus zu einem Einmarsch in die Ukraine zu provozieren, um so den deutschen Imperialismus weiterhin getrennt vom russischen Imperialismus halten zu können, während der russische Imperialismus es vorzieht, verdeckt in einer neuerlichen Eskalation des Bürgerkrieges in der Ukraine einzugreifen.

Unter dem Nebelschleier der SARS-Corona-Pandemie entsteht der multipolare Weltmarkt mit seiner multipolaren Weltordnung, wird die Welt unter den imperialistischen Mächten neu verteilt, wird die imperialistische Weltmarktkonkurrenz mit aller Härte ausgetragen. Die Entscheidungen der Bourgeoisie und ihres bürgerlichen Staates beziehen sich nur unwesentlich auf die SARS-Corona-Pandemie, sondern wesentlich auf den Klassenkampf im multipolaren Weltmarkt und damit auch auf die multipolare (imperialistische) Weltmarktkonkurrenz. Dies wird formal durch die beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts des BRD-Imperialismus noch einmal bestätigt und zeigt damit das nationale und internationale Spannungsniveau deutlich auf.

Der Nebelschleier der SARS-Corona-Pandemie verdunkelt die realen Zusammenhänge und dient als Ablenkung von den realen Problemen. Statt über die realen gesellschaftlichen Prozesse im Kapitalismus zu diskutieren, wird über die SARS-Corona-Pandemie oder den „Klimawandel“ diskutiert, als ob diese unabhängig und über den gesellschaftlichen Prozessen stehen und verschleiern damit die gesellschaftlichen Verhältnisse, sowie die gesellschaftlichen Spannungen. Die Welt steht tendenziell eher am Abgrund eines Dritten Weltkrieges als an der „Klimakatastrophe“ oder einem „Corona-Massensterben“. Diese realen gesellschaftlichen Probleme und Gefahren werden nur verdeckt und mystifiziert über die Ideologien der „SARS-Corona-Pandemie“ oder der „Klimakatastrophe“ angesprochen, als „Menschheitsprobleme“, nicht aber als Probleme kapitalistischer Gesellschaften. Statt die „SARS-Corona-Pandemie“ oder die „Klimakatastrophe“ auf die konkrete Form des Kapitalismus zurückzuführen, werden sie in den Bereichen der hohen moralischen Höhen diskutiert, anstatt die „Klimakatastrophe“ und die SARS-Corona-Pandemie in den realen Niederungen des konkreten Kapitalismus einer praktischen Lösung zuzuführen, werden sie zur „Menschheitsaufgaben“ mystifiziert. Die realen Probleme, welche aus dem Kapitalismus erwachsen, können gegenwärtig nur mystifiziert und damit verzerrt vermittels der ideologischen Komplexe „SARS-Corona-Pandemie“ und „Klimakatastrophe“ angesprochen werden. Die Bourgeoise akzeptiert keine anderen Probleme.

  1. Der Proletarische Weg

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung und international organisiert

-Arbeiterkontrolle über die Produktion

-Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner faschistischen Organisationen

Iwan Nikolajew Hamburg im Februar 2022 Maulwurf/RS

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Oben       —    1919 cartoon depicting well dressed wealthy man sitting on park bench, making dismissive gesture to war veteran in uniform who is missing a leg and uses a crutch. Caption: Profiteer: THE WAR IS OVER, MY BOY. FORGET IT!

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 1. Februar 2022

Ich bestelle Führung, Herr Scholz!

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Silke Mertins

Warum führt der Bundeskanzler nicht? Warum setzt Habeck bei Söder auf Osmose? Und warum überzeugt Baerbock auf eine überraschende Weise?

Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet, ich „faile“ total, wenn es darum geht, Fehler einzugestehen. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Es fällt mir schwer, sie überhaupt zu erkennen. Jüngst ploppten beispielsweise drei Mails mit dem Betreff „Ihre Rechnung von Apple“ auf. Die E-Mail-Adresse der Minderjährigen war darin zu finden und die Angabe einer Spiele-App für summa summarum 89,92 Euro. Ich kreischte kurz auf und öffnete die Tür der Gefahrenzone.

Das war ein großer Fehler. Erstens: Betreten der Privatsphäre ohne Erlaubnis. Zweitens: Die Minderjährige war das nicht und weiß gar nicht, wovon ich eigentlich rede. Da muss sich jemand bei Apple geirrt haben. Drittens: Dass ich sie überhaupt beschuldige – begleitet von einem wirklich sehr glaubwürdigen Gesichtsausdruck –, ist sehr verletzend und verdirbt uns als Familie jetzt den ganzen Abend.

Dass sie jetzt noch mit mir Schach („du bist sooo schlecht“) oder Rummy („ich bin einfach schlauer als du“) spielt, kann ich voll vergessen. Viertens: Ich würde nicht einmal zugeben, dass ich mit meinen ungerechtfertigten Anschuldigungen einen Fehler gemacht habe. Ich würde überhaupt niiiieee etwas zugeben. Tür zu, sie muss erst mal die Freundin anrufen.

Die Minderjährige wirkte so überzeugend wie der scheidende grüne Geschäftsführer Michael Kellner, wenn er von den Wahlerfolgen seiner Partei spricht. Oder wie die neue grüne Co-Parteivorsitzende Ricarda Lang, wenn sie erklärt, dass die staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen der Corona-Boni überhaupt kein Aufreger sind. Wurden doch zurückgezahlt! Man kann übrigens laut Duden tatsächlich – wie Lang es tat – „Bonusse“ sagen, so ein aufmerksamer Kollege. Ein Fehler meinerseits.

Ampel Sondierungen und FridaysForFuture protestieren 2021-10-15 169.jpg

Und hier noch ein Fehler, ein sehr großer sogar: Olaf Scholz. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“, hat er gesagt. Viele wundern sich nun, warum er nicht führt. Will er nicht? Kann er nicht? Überfordert ihn die Rolle der Kanzlerin? Die einfache Antwort: Ich habe leider vergessen zu bestellen! Es ist alles meine Schuld, ich gebe es zu. Deutschland taumelt durch die Corona- und Ukrainekrise, nur weil die Bestellung fehlt. Ich hole dies nun schnell nach: Einmal Führung bitte, Herr Scholz!

Um Scholz ist es so still und leise, dass ich eine Weile schon dachte, Superklimawirtschaftsminister Robert Habeck hätte jetzt einfach ungefragt die Führung übernommen mit seinen neuen Vizekanzlerschuhen. Er fuhr sogar zu Markus Söder, um ihm im gemeinsamen Gespräch zu erklären, wie er sich künftig die Entscheidungen des bayerischen Ministerpräsidenten vorstellt.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Unten     —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Fed. – Auf Messers Schneide

Erstellt von Redaktion am 31. Januar 2022

Eine Monetäre Minenfeldbesichtigung

Grund für die großräumige Evakuierung in Augsburg: eine 1,8 Tonnen schwere Luftmine, ähnlich der hier abgebildeten aus Koblenz

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Ein Überblick über die wichtigsten Schwachstellen des aufgeblähten spätkapitalistischen Finanzsystems am Vorabend der Zinswende der Fed.

Angesichts rasch zunehmender Inflation geht die große Liquiditätsparty bald zu Ende – und die exklusiven Dauergäste gönnen sich noch einen letzten, großen Schluck aus der Pulle.1 In der ersten Woche dieses Jahres ist auf den amerikanischen Anleihemarkt ein neuer historischer Rekord aufgestellt worden, als US-Konzerne Unternehmensanleihen im Wert von mehr als 60 Milliarden Dollar begeben haben, um noch schnell von den niedrigen Zinsen zu profitieren, bevor die Fed den Leitzins anhebt und somit auch die Kreditkosten auf den Anleihemärkten in die Höhe schießen lässt. Die Kreditaufnahme in den Vereinigten Staaten erreichte zu Jahresanfang rund 60 Prozent der globalen Begebungen von Unternehmensanleihen, die mit 101 Milliarden knapp hinter den Höchstwerten von 2021 lagen, als – auf dem Höhepunkt der großen Geldflut der Notenbanken – Konzerne Kredite im Wert von 118 Milliarden in der ersten Jahreswoche aufnahmen.

Die für den März prognostizierte Leitzinsanhebung der Fed wirf ohnehin ihre Schatten auf den Anleihemärkten voraus: Die durchschnittliche Rendite für US-Unternehmensanleihen ist 2022 von 2,36 auf 2,55 Prozent angestiegen, während sie im dritten Quartal 2021 noch bei weniger als zwei Prozentpunkten lang. Die Kreditaufnahme wird somit bereits teurer für US-Konzerne, was vor allem die sogenannten Zombie-Firmen in Schwierigkeiten bringen dürfte, die selbst in der Nullzinsperiode der Fed nicht aus der Schuldenfalle herauskommen konnten. Als Zombies werden in der US-Wirtschaftspresse jene Konzerne oder Unternehmen bezeichnet, deren Einnahmen im vergangenen Geschäftsjahr nicht mehr ausreichten, um ihre Schulden zu bedienen.

Unternehmensanleihen: Die Rückkehr der lebenden Toten

Ende 2021 zog die Nachrichtenagentur Bloomberg Bilanz2 bezüglich dieser lebenden Toten des Spätkapitalismus, deren Anzahl dank der Nullzinspolitik und der staatlichen Konjunkturprogramme tatsächlich vermindert werden konnte. Von den 3000 Aktienkonzernen mit der größten Marktkapitalisierung in den USA galten Anfang des vergangenen Jahres 756 Unternehmen als Zombies, während des gegen Jahresende noch 656 waren, was einem Rückgang von rund 13 Prozent entspricht. Doch das bedeutet zugleich, dass mehr als 20 Prozent der wichtigsten US-Konzerne am Ende einer langen Periode umfassender Konjunkturmaßnahmen und extrem expansiver Geldpolitik überschuldet sind und unter ihrer Schuldenlast zusammenzubrechen drohen. Selbst ein massives konjunkturelles Strohfeuer konnte daran nichts Substanzielles ändern.

Die Verringerung der Anzahl überschuldeter Konzerne, die von der Öffnung der Geldschleusen profitieren konnten, ging mit einem bislang unbekannten Phänomen einher: Die durch die Pandemie getriggerte Rezession führte erstmals dazu, dass Unternehmenspleiten in einem Konjunkturabschwung abnahmen.3 Während des Krisenschubs 2008, als die Immobilienblasen in den USA und der EU platzten, stieg in den Zentrumsländern die Anzahl der Insolvenzen um bis zu 50 Prozent gegenüber dem Vorkrisenzeitraum; während der Pandemie, als der lockdownbedingte Wirtschaftsabsturz 2020 durch massive Konjunkturmaßnahmen aufgefangen wurde, gingen die Unternehmenspleiten in den führenden 13 Industrieländern um bis zu 20 Prozent zurück. Eine Fülle von kreditfinanzierten staatlichen Stützungsmaßnahmen – in der BRD etwa die Aussetzung der Insolvenzregeln und das Kurzarbeitergeld – verhinderte die übliche Pleitewelle.

Diese lebenden Toten, die letztendlich durch die Gelddruckerei der Notenbanken ihr Scheinleben aufrechterhalten konnten, werden nach der Zinswende aber zurückkommen. Die übliche kapitalistische „Bereinigung“ der Märkte ist durch die gigantischen Konjunkturmaßnahmen, die alles bisher dagewesene in den Schatten stellten,4 faktisch nur vertagt worden, da viele überschuldete Unternehmen und Konzerne, die derzeit in aller Hektik nochmal günstige Kredite aufnahmen, bald in die Zange genommen werden von steigenden Kreditkosten und einer abflauenden Konjunktur. Die Weltbank etwa geht in ihren Prognosen davon aus, dass die globale Konjunktur aufgrund der steigenden Inflation und anstehenden monetären Straffung der Fed von 5,5 Prozent 2021 auf 4,1 Prozent in diesem Jahr erlahmen wird.5

Dabei ist auch der Schuldenberg, den die private Wirtschaft der USA im neoliberalen Zeitalter akkumulierte, seit Jahrzehnten schneller gewachsen als die Wirtschaftsleistung.6 Die Verbindlichkeiten der privaten US-Unternehmen jenseits des Finanzsektors sind in den vergangen fünf Dekaden um das Dreißigfache angeschwollen und belaufen sich inzwischen auf 11,2 Billionen Dollar. Der langfristige Trend spiegelt somit die Gesamtentwicklung des kapitalistischen Weltsystems, das bekanntlich „auf Pump“ läuft, da der globale Schuldenberg ebenfalls schneller wächst als die Weltwirtschaftsleistung.7 Lag die Verschuldung der US-Wirtschaft in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bei rund 30 Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts (BIP), so sind es nun rund 50 Prozent.8

Massenhafte Unternehmenspleiten könnten aber auch den Finanzsektor destabilisieren, der unter Kreditausfällen zu leiden hätte. Es besteht somit in Krisensituationen eine enge Wechselwirkung zwischen der „realen Wirtschaft“ und der Finanzsphäre, bei der steigende Zinsen zu Zahlungsausfällen führen, die wiederum Finanzinstitute in Bedrängnis bringen können. Eine ähnliche Konstellation trat nach dem Platzen der Immobilienblasen 2008 ein,9 als hypotekenbasierende Spekulationspapiere massenweise entwerteten, Banken in Schieflage oder in den Bankrott gerieten und die Finanzmärkte in Schockstarre traten. Hier war es faktisch der heiß gelaufene Immobiliensektor, der als reale Konjunkturlokomotive fungierte – bis dessen Kollaps auf die Finanzsphäre überzugreifen drohte.

Blaseninflation – die „Everything Bubble“

Dabei verarbeitet die Finanzsphäre, insbesondere der Aktienmarkt, die kommende Zinswende der Fed schon seit einiger Zeit. Da an den Börsen bekanntlich die Zukunft – genauer, die kommenden Profiterwartungen – gehandelt werden, manifestiert sich die Zinswende der Fed in den Kurseinbrüchen der vergangenen Wochen. Die Wichtigsten Aktienindizes befanden folglich sich zwischen Jahresanfang und Ende Januar auf Talfahrt, weil die prognostizierten Zinserhöhungen „eingepreist“ werden. Die Hoffnung der Geldpolitik besteht hierbei darin, dass diese sich bald auf einem niedrigeren Niveau stabilisieren, ohne in einen sich selbst verstärkenden Crash überzugehen.

In der dritten Januarwoche10 haben alle wichtigen Aktienindizes binnen weniger Wochen deutliche Verluste hinnehmen müssen: Der Nasdaq lag 14 Prozent unterhalb des Höchstwertes vom November 2021, beim Dow Jones waren es gut sieben Prozent gegenüber historischen Höchststand vom 4. Januar 2022, beim breit aufgestellten S&P 500 waren es im gleichen Zeitraum 8,3 Prozent. Mit den jüngsten Andeutungen der US-Notenbank, notfalls die geldpolitische Wende schneller und radikaler einzuleiten, als bislang angenommen, scheint ein Ende der „Korrekturen“ an den Aktienmärkten vorerst nicht in Sicht zu sein.11 Inzwischen ist sogar fraglich, ob die Fed bei einem manifesten Crash der Börsen reagieren würde, da nun von einem „Hammer“ die Rede ist, mit dem die ausartende Inflation unter Kontrolle gebracht werden solle.12

Der US-Notenbank stehen drei Wege bei der monetären Inflationsbekämpfung offen, die als „quantitative tightening“,13 als quantitative Verengung oder Straffung des Geldangebots bezeichnet wird (im Gegensatz zu dem bekannten quantitativen Lockerung): Die Leitzinserhöhung, der derzeit bei null bis 0,25 Prozent steht, die Verringerung der Notenbankbilanz, die auf die Kleinigkeit von neun Billionen US-Dollar angeschwollen ist, und die vollständige Einstellung der Aufkaufprogramme für Staatsanleihen und Wertpapiere, die schon seit Ende 2021 bereits in ihrem Umfang reduziert werden.

Diese Maßnahmen zur „monetären Straffung“ würden den Märkten, die im Zuge der Pandemiebekämpfung mit Liquidität der Fed überschwemmt wurden, „hunderte von Milliarden Dollar“ entziehen, um die Inflation zu stoppen. Das Grundprinzip der jüngsten Hausse an den Märkten ist einfach. Die Öffnung der Geldschleusen durch die Notenbanken führte zu einer Inflation der Wertpapierpreise, weshalb die nun zu Ende gehende Finanzmarktrally als eine Liquiditätsblase14 bezeichnet werden kann. Die „exzessive Liquidität“ der Fed hat nicht nur die Aktienmärkte mit den absurd überbewerteten Technologiewerten und „Meme-Aktien“ wie Gamestop aufgebläht,15 sondern nahezu alle „Anlageklassen“ erfasst, wie es ein Analyst formulierte.16 Entscheidend seien hierbei die Liquiditätsspritzen der Fed gewesen, also die Gelddruckerei vermittels des Aufkaufs von Staatspapieren und – im kleineren Umfang – Unternehmensanleihen und Hypothekenpapieren.

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Aufgrund dieser historisch beispiellosen Gelddruckerei der Fed und der gigantischen Konjunkturmaßnahmen der Krisenpolitik, die alle Stabilisierungsprogramme nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 übertrafen,17 sprechen Beobachter inzwischen von einer „Everything Bubble“:18 Die große Geldflut der Notenbanken ist in fast alle Bereiche der Finanzsphäre vorgedrungen, um die entsprechende Inflation der Finanzmarktpreise hervorzurufen, die nun – in Wechselwirkung mit Pandemie und Klimakrise19 – immer stärker die „reale Wirtschaft“ in Gestalt der sich beschleunigenden Teuerung erfasst. Mehrere Spekulationsblasen platzen derzeit, hieß es in Einschätzungen der Bank of America.20 Neben Tech-Aktien sind vor allem Kryptowährungen betroffen, die massive Verluste hinnehmen müssen.21

Weiteres Krisenpotenzial schlummert auf dem US-Immobilienmarkt, der bekanntlich den Krisenschub von 2007/08 auslöste.22 Die Immobilienpreise in den Vereinigten Staaten sind im vergangenen Jahr im Durchschnitt um 20 Prozent angestiegen, wodurch sogar der Preisauftrieb in der Aufstiegsphase der 2007 geplatzten Immobilienblase überflügelt worden ist (Historisch betrachtet sind die Immobilienpreise in den USA seit 1987 im Schnitt um 4,1 Prozent per anno angestiegen).23 Der heiß gelaufene Immobilienmarkt – befeuert durch historisch niedrige Hypothekenzinsen – litt sogar unter Rohstoffmangel, es fehlte etwa an Bauholz. Inzwischen sind die Hypothekenzinsen wieder kräftig am Steigen, was dem Bauboom ein jähes Ende setzen dürfte:24 Der durchschnittliche Zins einer 30-jährigen Hypothek stieg in Antizipation der Zinswende der Fed von 3,08 Prozent im November auf 3,54 Prozent, wobei einige Prognosen davon ausgehen, dass er mittelfristig auf mehr als vier Prozentpunkte steigen wird.

US-Staatsanleihen: das poröse Rückgrat des Weltfinanzsystems

Der beste Indikator für ein jähes Ende der obig skizzierten „everything rally“ ist der Anstieg der inflationsbereinigten Rendite der US-Staatsanleihen.25 Die kommende „Straffung“ der Geldpolitik lässt bereits die Renditen der „Treasuries“ ansteigen, da diese sich umgekehrt zur Kursentwicklung dieser auf den Anleihemärkten gehandelten US-Staatspapiere verhalten. Bei steigenden Anleihekursen, zuletzt im Gefolge der 2020 aufgelegten Aufkaufprogramme der Fed, fällt die Rendite der Treasuries, bei fallenden Anleihekursen steig deren Rendite. Anleihen werden hierdurch attraktiver, was zu einer Absetzbewegung des Finanzkapitals aus riskanten und spekulativen Anlageformen – Aktien, Krypto, Derivate unterschiedlichster Art, etc. – führt (und die Turbulenzen auf den betroffenen Märkten verstärkt).

Die Reduzierung der allmonatlichen, ursprünglich 120 Milliarden Dollar umfassenden „Quantitativen Lockerung“ der Fed, die bis März gänzlich eingestellt werden soll, lässt somit nicht nur die die Aktien-, sondern auch die Anleihekurse einbrechen. Neben der reduzierten Nachfrage der US-Notenbank, die zum größten Eigentümer der US-Staatsschulden avancierte, ziehen sich auch private „Investoren“ aus dem Markt zurück, da die Profitrate für das Finanzkapital nicht attraktiv ist.26 Die Rendite der 10-jährigen US-Anleihe liegt derzeit bei rund 1,80 Prozent, was einen steilen Anstieg gegenüber den 1.40 Prozent darstellt, die noch Ende 2021 galten. Bei zweijährigen Anleinen liegt die Rendite sogar bei 1.06 Prozent, sodass hier ein Niveau erreicht wurde, wie es seit Februar 2020 – am Vorabend der großen Turbulenzen auf den Anleihenmärkten im März 2020 – nicht verzeichnet worden war, warnte die Financial Times (FT).

Doch die realen, inflationsbereinigten Renditen liegen aufgrund der anhaltenden Teuerung immer noch im negativen Bereich.27 Bei 10-jährigen „Treasuries“ ist es – trotz des besagten jüngsten Renditeanstiegs – ein Wertverlust von rund 0,7 Prozent, wobei dieser im vergangenen Jahr zeitweise sogar mehr als ein Prozent betrug. Im Klartext: Wer US-Staatsanleihen hält, der verliert derzeit faktisch Geld. Die Fed hofft aber, durch Zinsanhebungen und monetäre Straffung Anleihen wieder mittelfristig Attraktiv zu machen, indem die Inflation eingedämmt wird und die Anleiherenditen steigen – um den Preis höherer Finanzierungskosten für die gesamte US-Ökonomie und des daraus resultierenden Konjunktur- und Rezessionsrisikos.

Und genau dieser einstmals als risikofrei geltende Markt bereitet der Fed seit dem Frühjahr 2020 Sorgen. Der Anleihemarkt für US-Staatsschulden bildet mit seinem Volumen von rund 20 Billionen US-Dollar so etwas wie das Rückgrat des spätkapitalistischen Weltfinanzsystems, es sei kaum möglich, die Wichtigkeit dieses „tiefsten, essenziellen Anleihenmarktes auf den Planeten“ zu überschätzen, so die FT,28 der als ein „Fundament des globalen Finanzsystems“ fungiere und als Benchmark für Anleihen auf der ganzen Welt. Und genau dieses Rückgrat ist porös. Das Fundament der globalen kapitalistischen Finanzsphäre geriet im März 2020 in Bewegung.

Nach dem Ausbruch der Pandemie stand dieser gigantische Markt zur vor seiner Kernschmelze, wie es die FT formulierte, da plötzlich sehr viele institutionelle Investoren bemüht waren, in der ersten Pandemiepanik an Bargeld zu kommen und ihre „sicheren“ Treasuries abzustoßen. Für die Marktteilnehmer wurde es somit immer schwerer, überhaupt US-Anleihen zu verkaufen, zeitweise brach der Handel zusammen, da keine Priese ermittel werden konnten. Die „Bildschirme der Broker blieben leer und konnten keine Preisinformationen anzeigen“, so die FT. Es kursierten bereits Gerüchte über kollabierende Hedgefonds, über das „zuvor unvorstellbare Szenario einer gescheiterten Auktion von US-Staatsschulden“. Im Klartext: Den USA drohte eine akute Schuldenkrise, da die Begebung neuer Anleihen zu scheitern drohte und es ein Überangebot an Treasuries gab, die nicht mehr auf dem Markt abgesetzt werden konnten.

Die Verwerfungen 2020 waren viel heftiger als alles, was beim Krisenschub von 200/2008 ablief. Solch ein Tumult sollte auf den Anleihemärkten nicht möglich sein, zitierte die FT einen Analysten. Wenn das Finanzsystem ein Haus wäre, dann seien die Anleihen dessen Fundament, „ein sicherer, solider Grundstein, auf dem alles andere fußt“. Wenn dieser aber „Risse“ aufzeige, dann kann dies „die gesamte Struktur erschüttern“. Es war diese drohende Kernschmelze des „Fundaments“ des Weltfinanzsystems, die entscheidend zu der historisch beispiellosen Gelddruckerei der Fed in der Pandemie beitrug. Die US-Notenbank reagierte sofort auf die Verwerfungen auf den „sicheren“ Anleihemärkten.

Zuerst hat die Fed in Reaktion darauf im März 2020 angekündigt, kurzfristige Staatsanleihen im Umfang von 700 Milliarden Dollar aufzukaufen. Als das noch nicht reichte, um den Markt zu beruhigen, kündigte die Fed an, unbegrenzt Anleihen aufzukaufen. Die Maßnahmen wurden dann in das bis zum heutigen Tag laufende, kürzlich in seinem Umfang reduzierte Aufkaufprogramm überführt, das im März 2022 – exakt zwei Jahre nach der drohenden Kernschmelze des Anleihemarktes – auslaufen soll. Zugleich will die Notenbank ihre auf knapp neun Billionen Dollar abgeschwollene Bilanz reduzieren. Diese Anleihen sollen aber nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion nicht aktiv auf denn labilen Anleihemarkt verkauft, sondern bis zu ihrer Fälligkeit gehalten werden, um so deren Bestand langsam, graduell zu reduzieren.

Auf Messers Schneide

Dennoch ist die Idee einer gründlichen Reduzierung der Bilanz der Fed – die faktisch zu einer Sondermülldeponie des Weltfinanzsystems verkommen ist – auf das Vorkrisenniveau von 2007, als diese weniger als eine Billion Dollar betrug, illusionär. Die Fed balanciert derzeit auf Messers Schneide. Die ausartende Inflation im Nacken, muss sie eben die Gelddruckerei beenden, die das Weltfinanzsystem bei Pandemiebeginn stabilisierte – in der Spekulation darauf, dass sich das Szenario vom März 2020 nicht wiederholt, da inzwischen kein monetärer Spielraum für eine abermalige Öffnung der Geldschleusen gegeben ist. Doch die Hoffnung, dass es sich bei der Pandemie um ein singuläres Ereignis handelte, ist ebenfalls illusionär.

Die Pandemie war nicht Ursache, sondern lediglich das auslösende Moment – der „Trigger“ sozusagen – des Krisenschubs von 2020, der ein überschuldetes, labiles Weltfinanzsystem traf, dass ohne Gelddruckerei und Verschuldung sein zombiehaftes Scheinleben29 nicht fortsetzen kann. Die Turbulenzen des US-Finanzsystems im Herbst 2019,30 also vor Ausbruch Pandemie, machen dies deutlich. Damals führte die von der Fed eingeleitete Reduzierung der eigenen Bilanz zu einem raschen Anstieg der Zinsen im Interbankenhandel, da Banken ohne die Liquiditätsspritzen der Fed nicht mehr gewillt waren, sich untereinander Geld zu leihen – es drohte ein „Einfrieren“ der Märkte, wie es den Krisenschub nach dem Platzen der Immobilienblasen 2008 kennzeichnete. Was tat die Notenbank? Sie gab die Versuche der quantitativen Straffung auf, sie pumpte abermals Milliarden in die Märkte, um diese zu stabilisieren – und somit die 2017 vorsichtig eingeleitete Reduzierung ihrer Bilanz zu revidieren.31

Die 40-jährige Ära der neoliberalen Finanzialisierung des Kapitalismus scheint somit sich ihrem Ende zuzuneigen. Aufgrund eines fehlenden neuen Akkumulationsregimes, bei dem in der Warenproduktion massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, prolongiert der Spätkapitalismus seit dem Durchmarsch des Neoliberalismus sein Scheinleben durch einen beständig wachsenden globalen Schuldenberg und – seit 2008 – durch blanke Gelddruckerei, die nicht mehr abgestellt werden kann, ohne dass die Stabilität des Systems akut gefährdet würde.

Doch nun macht die Inflation diesen globalen Schuldenturmbau32 zunehmend unmöglich, die Politik in den Zentren sieht sich derselben Krisenfalle ausgesetzt, wie sie die Peripherie immer wieder seit den 80ern verheerte.33 Die politischen Funktionseliten müssten eigentlich zugleich die Zinsen senken und anheben, sie müssten Sparpolitik und Konjunkturpolitik in einem betreiben, um die eskalierenden Widersprüche noch zu überbrücken. Mittelfristig bleibt selbst Washington nur die Wahl zwischen verschiedenen Wegen in den nächsten Krisenschub, zwischen Deflation oder Inflation. Die innere Schranke des Kapitals, das an seiner eigenen Produktivität erstickt und seiner Substanz, der Lohnarbeit, verlustig geht, wird nun auch in den Zentren manifest.

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1 https://www.ft.com/content/d72dbda9-0164-4e89-8898-b162538ce605

2 https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-12-28/zombie-company-scorecard-declines-despite-inflation-covid-bites

3 https://www.ft.com/content/90859d59-6a76-4a39-9aa4-e600b9da8aa4

4 https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

5 https://www.livemint.com/news/world/world-bank-global-gdp-to-drop-to-4-1-amid-surge-in-covid-variants-inflation-11641977603662.html

6 https://www.ft.com/content/dff0ebdf-1d64-4e9a-9261-6957455d856d

7 https://blogs.imf.org/2021/12/15/global-debt-reaches-a-record-226-trillion/

8 https://www.rbcwealthmanagement.com/en-us/insights/is-the-us-corporate-debt-mountain-something-to-worry-about

9 https://www.heise.de/tp/features/Vergleich-der-Krisen-2020-vs-2008-4934054.html

10 https://www.marketwatch.com/story/is-the-market-crashing-no-heres-whats-happening-to-stocks-bonds-as-the-fed-aims-to-end-the-days-of-easy-money-analysts-say-11642892638

11 https://www.msn.com/en-us/money/markets/dow-futures-sink-more-than-300-points-after-fed-meeting/ar-AATbDJm

12 https://www.ft.com/content/c556a131-951d-4283-9e10-36becf77579f

13 https://en.wikipedia.org/wiki/Quantitative_tightening

14 https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

15 https://lowerclassmag.com/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

16 https://www.marketwatch.com/story/is-the-market-crashing-no-heres-whats-happening-to-stocks-bonds-as-the-fed-aims-to-end-the-days-of-easy-money-analysts-say-11642892638

17 https://www.heise.de/tp/features/Vergleich-der-Krisen-2020-vs-2008-4934054.html

18 https://fortune.com/2021/12/09/next-recession-heres-everything-bubble-markets-2021-2022-covid-murray-sabrin/

19 http://www.konicz.info/?p=4389

20 https://finance.yahoo.com/news/risk-bubbles-deflating-everywhere-market-143000498.html

21 https://arstechnica.com/tech-policy/2022/01/bitcoin-drops-to-six-month-low-as-investors-dump-speculative-assets/

22 http://www.konicz.info/?p=125

23 https://news.yahoo.com/housing-market-finally-crash-2022-140022100.html

24 https://www.yahoo.com/news/rapid-rise-mortgage-rates-startles-110040609.html

25 https://www.ft.com/content/1a45649a-6de6-4e9b-985a-f51f0a81241e

26 https://www.ft.com/content/fb684de4-fa00-4791-a062-fdcd737a08d2

27 https://www.ft.com/content/9af75cb4-9743-41af-896f-f25d7588d323

28 https://www.ft.com/content/ea6f3104-eeec-466a-a082-76ae78d430fd

29 https://www.heise.de/tp/features/Die-Krise-kurz-erklaert-3392493.html?seite=all

30 https://ig.ft.com/repo-rate/

31 https://www.ft.com/content/9af75cb4-9743-41af-896f-f25d7588d323

32 https://blogs.imf.org/2021/12/15/global-debt-reaches-a-record-226-trillion/

33 https://jungle.world/artikel/2022/03/schwellenlaender-der-krisenfalle

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Grafikquellen      :

Oben       —    Grund für die großräumige Evakuierung in Augsburg: eine 1,8 Tonnen schwere Luftmine, ähnlich der hier abgebildeten aus Koblenz

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Unten        —         Frankfurt am Main: Gebäudekomplex der Europäischen Zentralbank, von Nordwesten gesehen (Dezember 2014)

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Die SPD im Ukraine-Konflikt

Erstellt von Redaktion am 30. Januar 2022

„Das ist ein bisschen heuchlerisch“

2021-12-07 Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 20. Wahlperiode des Bundestages von Sandro Halank–110.jpg

Haben Deutsche nicht immer schon jeden Troll gewählt, der gerade des Weges kam?

Das Interview mit Piotr Buras  führte Jan Pfaff

Wie schaut man in Polen auf die Haltung der deutschen Politik gegenüber Russland? „Scholz wird seiner Aufgabe nicht gerecht“, sagt Piotr Buras.

taz am Wochenende: Herr Buras, wie blickt man in Warschau auf die Spannungen mit Russland?

Piotr Buras: Sehr besorgt. Die Ukraine ist unser Nachbar. Ein Einmarsch Russlands würde einen Krieg an der Grenze Polens bedeuten. Damit ist unsere Sicherheit unmittelbar betroffen. Aber es geht noch um mehr – um die Sicherheitsarchitektur Europas und die Glaubwürdigkeit der Nato. Beide stehen auf dem Prüfstand. Zumindest für Polen ist das die schwierigste sicherheitspolitische Krise seit 1989/90. Für Europa waren die Balkankriege und der Kosovo auch sehr gefährlich. Aber ich glaube, nicht einmal diese Kriege wurden mit so viel Sorge beobachtet.

Wie unterscheidet sich die jetzige Situation mit dem russischen Aufmarsch an der ukrainischen Grenze von 2014, als Russland die Krim annektierte und in der Ostukraine begann, Separatisten mit Soldaten und Waffen zu unterstützen?

Wladimir Putin hat jetzt im Dezember klipp und klar gesagt, worum es ihm geht – eben nicht mehr nur um territoriale Gewinne in der Ukraine. Sondern ums große Ganze, um die Regeln und Grundsätze, auf denen die europäische Sicherheitsarchitektur aufgebaut ist. Er will diese Regeln umschreiben und seine eigenen schaffen. Russland soll bestimmen können, was seine Nachbarn zu tun und zu lassen haben. Das macht es so gefährlich.

Wie schätzt man vor diesem Hintergrund in Warschau die außenpolitische Debatte in Deutschland ein?

Das Image Deutschlands als Sicherheitspartner Polens war schon in den vergangenen Jahren nicht so gut. Viele sind nicht überrascht, dass Deutschland in dieser Krise nicht entschlossen handelt. Verblüfft ist man aber schon über die chaotische Kommunikation in Berlin. Die Bundesregierung hat sehr lange nicht mit einer Stimme gesprochen. Man hat viele Meinungen gehört, aber keine klare Linie gesehen.

Sie vermissen Führung?

Ja, und zwar sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch in Europa. Olaf Scholz hat die Russlandpolitik zur Chefsache erklärt. Er ist dieser Aufgabe aber überhaupt nicht gerecht geworden. Deutschland erhebt keinen Führungsanspruch mehr in der Russlandpolitik. Egal, wie man zur Politik Angela Merkels stand – es war unumstritten, dass sie die federführende Person in der EU-Russlandpolitik war. Sie hat sich aktiv um den Konsens in der EU gekümmert. Diese Lücke versucht nun Emmanuel Macron zu füllen. Das Problem ist nicht, dass die deutsche Politik so viel schlechter als die Politik anderer europäischer Länder ist. Da sind sicher einige unschlüssig. Das Problem ist, dass Deutschland eine viel größere Verantwortung zukommt. Ich glaube, es wird in Deutschland oft nicht wirklich begriffen, wie groß diese Verantwortung ist und welche Erwartungen aus ihr erwachsen.

Deutsche Politiker verweisen oft auf die deutsche Vergangenheit. Deshalb müsse man sich gerade gegenüber Russland zurückhalten.

Das war jahrzehntelang ein wichtiges Argument, ist aber doch längst überholt. Wir haben europaweit Meinungsumfragen gemacht und ein Ergebnis war ganz klar, dass die meisten Europäer Deutschland die Führungsrolle zutrauen. Das ist vielleicht auch eine Konsequenz der Merkel-Ära. Sie hat das Vertrauen in Deutschland massiv gestärkt. Der ehemalige polnische Außenminister Radosław Sikorski hat einmal gesagt: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Das gilt für viele in Europa. In der deutschen Außenpolitik ist die Vergangenheit oft nur noch eine Ausrede. Gerade auch in dem aktuellen Konflikt mit Russland.

Wie meinen Sie das?

Es geht um die Verteidigung der Ukraine, deren Menschen unter den Nazis mindestens genauso gelitten haben wie die Russen. Aber es geht vor allem auch um die Verteidigung von Prinzipien, die aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs heraus entwickelt wurden – wie etwa das Recht auf Selbstbestimmung und die Unversehrtheit der Grenzen. Verantwortung gegenüber der deutschen Vergangenheit bedeutet da, diese Prinzipien zu verteidigen.

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Die Vereinigung ihrer Wertschöpfer fast aller Schrödianer!

Die SPD tritt sehr zögerlich auf. Einige in der Partei plädieren mit Verweis auf Willy Brandts Entspannungspolitik dafür, gegenüber Russland keinen zu harten Kurs zu fahren.

Willy Brandt ist natürlich eine anerkannte Persönlichkeit, aber die SPD-Ostpolitik hat in Polen eher einen schlechten Ruf – es wird ihr unterstellt, sich vor allem auf Russland zu konzentrieren. Aus meiner Sicht war die Entspannungspolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren die richtige Strategie. Nur ging es damals darum, den Status quo anzuerkennen. Und dann über persönliche Kontakte und Verhandlungen zu Verbesserungen etwa bei den Menschenrechten zu kommen. Heute will Wladimir Putin den Status quo überwinden. Er will das Recht des Stärkeren durchsetzen. Insofern ist es eine völlig andere Situation. Sich da auf eine Strategie zu berufen, der ganz andere Ausgangsbedingungen zugrunde lagen, ist keine gute Idee.

In der SPD findet man auch die größten Befürworter der Ostseepipeline Nord Stream 2. Polen hat sie von Beginn an scharf abgelehnt.

Quelle       :         TAZ-online       >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —         Unterzeichnung des Koalitionsvertrags für die 20. Bundestagswahlperiode (Deutschland) am 7. Dezember 2021

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Eine Anregung zum Denken

Erstellt von Redaktion am 27. Januar 2022

Ukraine – worüber es lohnt nachzudenken

Ich weiß nichts davon!. jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Kai Ehlers

Der Lärm um die Ukraine wird immer schriller. Und dennoch: Den Krieg wird es so, wie er gerade von vielen Seiten mit immer neuen Spekulationen beschworen wird, nicht geben. Weder droht Russland mit Krieg, noch ist Russland an einem Einmarsch in die Ukraine interessiert. Eine annektierte Ukraine würde Russland ökonomisch und politisch in kritischem Maße belasten. Russland will nur verhindern, dass die Ukraine voll und ganz zum NATO-Land wird.

Auch Joe Biden tönt nur, um sich dann gleich wieder zu relativieren. Selbst Anna Lena Baerbock, die sich so gern militant gibt, baut sich zwar drohend gegen Russland auf, hat aber doch keinen wirklichen Angriffswillen hinter sich. Es geht erkennbar nicht um offenen Krieg mit Russland, sondern um dessen Einschnürung, wenn möglich Totrüstung – wobei die gesamte westliche Propagandatruppe zugleich deutlich erkennen lässt, dass nicht einer von ihnen bereit ist für die Ukraine ins Feuer zu gehen und seinen kriegshetzerischen Worten militärische Taten folgen zu lassen.

Halten wir einfach fest: Russland als Herzland Eurasiens, verbunden zudem mit China und dies umso enger, je mehr der Chor aus USA, NATO, EU im Ton ihres Bedrohungsmarathons aufdreht, wäre in einem Krieg mit konventionellen Waffen nicht zu bezwingen, nachdem es schon in der Vergangenheit durch Eroberungskriege nicht einzunehmen, nicht zu besetzen oder zu unterwerfen war. Man erinnere sich an die gescheiterten Versuche Napoleons im 19. Jahrhundert, der deutschen Wehrmacht im Ersten Weltkrieg, Hitlers im zweiten und der nicht gelungenen weichen Übernahme durch die USA nach dem Ende der Sowjetunion. Heute hätte der Einsatz von Atomwaffen zudem auch für den, der sie zuerst einsetzt, tödliche Folgen.

Es wiederholt sich auch nicht einfach der „Kalte Krieg“ zwischen zwei Blöcken. Was wir gegenwärtig erleben, sind vielmehr die hysterischen Versuche des „Westens“ seine bisherige globale Dominanz unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges und schon gar eines Atomkrieges gegenüber der Verschiebung der unübersehbar heranwachsenden Neugliederung der globalen Kräftekonstellationen aufrechtzuerhalten.

Was wir gegenwärtig erleben, ist genau betrachtet ein Geschrei, das umso lauter ist, je weniger die westlichen Akteure in der Lage sind, das Angedrohte auch tatsächlich umzusetzen. Nehmen wir als Beispiel nur das Gezänk um „Nordstream 2“: Will Anna Lena Baerbock der deutschen Bevölkerung angesichts der deutschen Abhängigkeit von Gasimporten aus Russland wirklich zumuten, den „Preis“ dafür zu zahlen, dass Russland kein Gas mehr liefert? Das würde sie politisch vermutlich nicht überleben. Oder nehmen wir die Forderung, Russland aus dem internationalen Zahlungsverkehr SWIFT auszuschließen: Wie will der „Westen“ den daraus resultierenden Verlust seiner finanziellen Dominanz ohne Eskalation der jetzt schon grassierenden Finanzkrise überstehen? Welche „Preise“ möchte Frau Baerbock der deutschen und der mit ihr verbundenen europäischen Bevölkerung darüber hinaus noch zumuten, ohne dass es zu Tumulten in der an Wohlstand, zumindest an erschwingliche Grundversorgung gewöhnten Bevölkerung kommt?

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Ganz zu schweigen davon schließlich, dass ein Einsatz von Waffen gegen Russland, sei es konventioneller oder atomarer, zu einer Verwüstung Europas, konkret Deutschlands führen würde. Selbst ein US-Präsident kann einen solchen Waffeneinsatz nicht wollen, denn in einem mit Hyperschallraketen ausgetragenen Waffengang würden auch die USA nicht unberührt bleiben. Das wissen alle Akteure. So what? Wieso der ganze Lärm?

Man wird es erleben, dass die lautesten Schreihälse sich mit einem Winseln zum „Dialog“ setzen werden, weil es den einfachen Ausweg aus der heutigen Transformationskrise, den g r o ß e n Eroberungskrieg, der den Gegner vernichten könnte, nicht mehr gibt, ohne die eigene Vernichtung damit einzuleiten. Was es gibt, ist eine Zunahme lokaler Brände und des Auftauens eingefrorener Konflikte in den diversen Grenzbereichen und sich überschneidenden Einflusszonen der Blöcke. Damit kann man sich gegenseitig in Schach halten. Darin ist der Westen Russland gegenüber im Vorteil, weil Russland aus der Erbmasse der Sowjetunion von solchen Konfliktzonen umgeben ist. Ukraine ist einer dieser Konflikte, der vom Westen hochgespielt wird, für dessen Löschung aber keine der beteiligten Mächte eine militärische Beistandsgarantie abzugeben bereit ist.

Klar gesagt: Es geht nicht um die Ukraine, schon gar nicht um die Verbesserung der Lebensbedingungen der ukrainischen Bevölkerung. Eher sieht es so aus, als ob der seit dem Maidan-Umsturz schwelende lokale Konflikt als Stellvertreterkrieg weiter befeuert, bestenfalls durch neue „Minsker“-Verhandlungen eingefroren wird. Sehr wohl aber geht es um den Versuch, Russland, wie seinerzeit die Sowjetunion, in einen Rüstungswettlauf zu zwingen, um es auf diese Weise ökonomisch niederzuringen.

Dies alles lässt Erinnerungen hochkommen, die man schon lange überwunden geglaubt hat: George Orwell beschrieb in seinem Buch „1984“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Einsatz der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki eine Zukunft, die von drei großen Machtblöcken – Eurasien, Ozeanien und Ostasien – gebildet werde. An ihren Grenzen, wo sich die Einflusszonen überlappen, lassen sie beständig Kriege führen, die aber nichts Wesentliches an der Grundkonstellation zwischen ihnen ändern. Die Kriege werden von Spezialtruppen geführt, während die Bevölkerungen innerhalb der großen Machtblöcke unter der Parole „Krieg ist Frieden“ durch volle technische Kontrolle, einschließlich mentaler und gesundheitlicher Überwachung in einem dauerhaften Ausnahmezustand ruhig gehalten wird. Wer diese Art des Friedens in Frage stellt, wird ausgegliedert oder ganz vernichtet.

Einige Sätze aus Orwells Vision, genauer aus dem Kapitel III „Krieg ist Frieden“, mögen diese Art des Friedens verdeutlichen, die uns heute nachdenklich machen kann: „In der einen oder anderen Kombination“ schreibt er, „befinden sich diese drei Superstaaten ständig im Krieg, und das seit fünfundzwanzig Jahren. Krieg ist jedoch nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf wie in den Anfangsjahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist eine Kriegführung mit begrenzten Zielen zwischen Opponenten, die nicht in der Lage sind, einander zu vernichten, die keinen materiellen Kriegsgrund haben und nicht durch einen echten ideologischen Unterschied gespalten sind. (…) Das Problem bestand darin, wie man die Räder der Industrie am Laufen halten konnte, ohne den realen Wohlstand der Welt zu vergrößern. (…) Denn wenn alle Menschen gleichermaßen in Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise aufgrund ihrer Armut verdummt ist, sich bilden und damit lernen, selbstständig zu denken; und wenn dies einmal geschehen wäre, würden sie früher oder später erkennen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und sie würden sie hinwegfegen. Auf lange Sicht war eine hierarchische Gesellschaft nur auf der Grundlage von Armut und Unwissenheit möglich. Eine Rückführung in die agrarische Vergangenheit, wie sie sich einige Denker zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erträumt hatten, war keine praktikable Lösung. (…) Es war auch keine befriedigende Lösung, die Massen durch die Drosselung der Warenproduktion in Armut zu halten. Das Problem bestand darin, wie man die Räder der Industrie am Laufen halten konnte, ohne den realen Wohlstand der Welt zu vergrößern. Waren mussten produziert, durften aber nicht verteilt werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dies zu erreichen, die kontinuierliche Kriegführung. Der wesentliche Akt des Krieges ist die Zerstörung, nicht unbedingt von Menschenleben, sondern von den Produkten menschlicher Arbeit. (…) Der Krieg leistet nicht nur, wie man sehen wird, die notwendig Zerstörung, sondern erreicht dies in einer psychologisch akzeptablen Weise. (…) Es spielt keine Rolle, ob der Krieg tatsächlich stattfindet, und da kein entscheidender Sieg möglich ist, spielt es auch keine Rolle, ob der Krieg gut oder schlecht verläuft. Es ist lediglich erforderlich, dass ein Kriegszustand existiert. (…) Der Krieg wird heute von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Untertanen geführt, und das Ziel des Krieges besteht nicht darin Gebietseroberungen zu erzielen oder zu verhindern, sondern die Gesellschaftsstruktur intakt zuhalten. (…) ein wirklich dauerhafter Frieden wäre das Gleiche wie ein permanenter Krieg. Dies ist (…) die innere Bedeutung der Parteiparole: KRIEG IST FRIEDEN.“

Selbstverständlich ist dieses Bild nicht eins-zu-eins auf heute zu übertragen. Noch bestehen kulturelle Unterschiede zwischen Euramerika, Russland und China. Mit dem weltweiten Einzug des digitalen Kapitalismus schrumpfen sie erst tendenziell auf folkloristische Besonderheiten. Noch sind die Ressourcen, die für die industrielle Entwicklung gebraucht werden, nicht gleichmäßig verteilt. Um die Gasversorgung wird noch gestritten. Die Entwicklung neuer Energiequellen, einschließlich des weiteren Ausbaus von Atomkraftwerken zeichnet sich jedoch ab. Noch ist die technische Kontrolle der Bevölkerung nicht perfekt und nicht global vereinheitlicht. Noch ist die Einordnung in ein Regime der Volksgesundheit nicht zu einem täglichen Ritual vor dem „Auge“ des „Großen Bruders“ geworden, wie es von Orwell geschildert wird.

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Aber Grundelemente einer Entwicklung, wie Orwell sie beschreibt, tauchen aus dem Nebel der aktuellen Kriegspropaganda auf, zumindest wie sie von westlicher Seite betrieben wird, nämlich Versuche, die Bevölkerung in die Akzeptanz einer beständigen Ausnahmesituation zu treiben, in der Krieg als Garant des Friedens erscheint.

Was haben wir dem entgegenzusetzen? Das ist die Frage. Die Antwort ist, darf man das sagen? im Grunde ganz einfach: genau das zu tun, was von den kriegstreiberischen Kräften nicht gewollt wird: Selber denken, selber Wege der Kooperation suchen, selber Brücken bauen, im Kleinen wie im Großen. Gibt es einen anderen Weg? Wohl kaum.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

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Oben       —   Finale in 2 Tagen. Und ich weiß nichts da drauf. Ich werde scheitern!!!!!!

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Stadtgespräch aus Berlin

Erstellt von Redaktion am 27. Januar 2022

Studie über teure Autos: Auto statt Altersvorsorge

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Von Anja Krüger

Die gesellschaftlichen Kosten für einen Pkw sind enorm. Warum wird die Mobilität von Menschen ohne Auto eigentlich nicht entsprechend subventioniert?

Wer 50 Jahre lang einen bescheidenen Opel Corsa besitzt, fährt damit satte 600.000 Euro an Kosten ein – wovon rund 40 Prozent die Gesellschaft trägt. Autofahren ist immens teuer, und zwar nicht nur für die, die einen Pkw besitzen. „Alle die, die kein Auto haben, finanzieren die mit, die eines haben“, sagt der Mobilitätsforscher Stefan Gössling vom Freiburger Institut T3 Transportation Think. Er hat das Institut gemeinsam mit dem Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF) gegründet.

Gössling, der auch an der schwedischen Universität Lund lehrt, hat untersucht, wie viel Geld Bür­ge­r:in­nen aufbringen müssen, wenn sie über 50 Jahre lang ein Auto fahren. Er hat die Kosten für die vergangenen und die kommenden 25 Jahre berechnet. Dazu hat er 23 private und 10 gesellschaftliche Ausgabenpositionen für drei Automodelle analysiert. Dazu gehören Wertminderung, Betriebsausgaben oder Zeitkosten für im Stau verbrachte Tage. Gesellschaftliche Ausgaben entstehen etwa beim Bau der Infrastruktur oder der Bewältigung von Umwelt- und Gesundheitsfolgen.

Bei den drei Modellen handelt es sich um den Opel Corsa, den VW Golf und den Mercedes GLC. Die Auswahl fiel auf sie, weil sie nach den Daten des Kraftfahrtbundesamts die jeweils populärsten aus den Klassen Klein- und Kompaktwagen sowie SUV sind. Dabei ging Gössling von 15.000 gefahrenen Kilometern im Jahr aus.

Der Wissenschaftler hat die Kosten auf 50 Jahre berechnet, weil das in etwa der Zeitraum ist, in dem Menschen ein Auto besitzen – während der Berufstätigkeit, aber auch darüber hinaus. In dieser Zeit fließt richtig viel Geld in die Karre. Wer sein ganzes Autoleben einen Kleinwagen wie einen Opel Corsa fährt, muss rund 353.000 Euro aufbringen, beim VW Golf sind es 403.000 Euro und beim Mercedes GLC stolze 679.000 Euro – also ein kleines bis großes Einfamilienhäuschen oder eine mehr oder weniger veritable Eigentumswohnung.

Auto als Wertverpuffer

Dabei werden sich Gutverdienende und Vermögende neben dem Auto durchaus noch eine Immobilie leisten können. Menschen mit wenig Geld aber nicht. Der Anteil am Einkommen, den sie für das Fahrzeug aufwenden müssen, ist wesentlich höher. Dieses Geld steht nicht nur nicht für den Konsum zur Verfügung, sondern auch nicht für Altersvorsorge oder Vermögensaufbau. Während Immobilien ihren Wert im Laufe der Zeit steigern, verpufft das in ein Auto gestecktes Geld einfach. Hinzu kommt: Wer wenig Geld hat, kauft eher einen Gebrauchtwagen – der ist im Unterhalt wegen der größeren Reparaturanfälligkeit im Betrieb weitaus teurer als ein fabrikneues Fahrzeug. Das zeigt: Eine Politik, die mangels alternativer Mobilitätsangebote den Besitz eines Autos erforderlich macht, und eine Gesellschaft, die den Besitz eines Autos zur Norm erklärt, vertiefen die soziale Spaltung.

Eine Reihe von Studien sind bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass Au­to­hal­te­r:in­nen die Kosten für ihr Fahrzeug drastisch unterschätzen. Ausgaben für regelmäßige Reparaturen, Reifenwechsel oder den TÜV fallen ihnen kaum auf. Auch Gössling ist davon überzeugt, dass vielen Au­to­be­sit­ze­r:in­nen das finanzielle Ausmaß nicht klar ist. „Viele sehen diese Kosten als unvermeidbar an“, sagt er. Wie Miete oder Ausgaben für Lebensmittel werden sie nicht in Frage gestellt, sondern hingenommen – bis auf den Spritpreis, der als alleiniger Maßstab gilt. Er ist oft Anlass dafür, dass sich Autofahrende abgezockt fühlen – obwohl davon keine Rede sein kann.

„Wenn man Autofahrer fragt, ob sie für alle Kosten aufkommen, die sie verursachen, nicken sie mit dem Kopf“, sagt Gössling. „Ihnen ist nicht klar, wie stark das Auto subventioniert wird.“ Denn obwohl die von Au­to­fah­re­r:in­nen aufgebrachten Ausgaben – auch aufgrund Steuern und Abgaben – hoch sind, werden damit die für die Gesellschaft anfallenden Kosten keineswegs gedeckt. Wer einen Opel Corsa fährt, wird der Studie zufolge von der Allgemeinheit mit jährlich 4.674 Euro subventioniert, bei einem VW Golf sind es 4.755 Euro, bei einem Mercedes GLC 5.273 Euro – wohlgemerkt jedes Jahr. Denn ohne gebaute und in Stand gesetzte Straßen könnten die Fahrzeuge nicht fahren, auch Platz fürs Parken muss geschaffen werden. „Wer mit dem Auto zum Supermarkt fährt und dort auf dem Parkplatz parkt, hat schon eine Subvention bekommen“, sagt Gössling. Denn die Fuß­gän­ge­r:in­nen und Radfahrer:innen, die dort ebenfalls einkaufen, finanzieren den Parkplatz mit. Immens sind die finanziellen Folgen für die Gesundheit. „Der größte Kostenfaktor ist die Belastung durch Feinstaub und Stickoxide“, sagt der Wissenschaftler.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     — Porsche 911 (997). Ansicht: rechte Seite

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KOLUMNE * ERNSTHAFT?

Erstellt von Redaktion am 23. Januar 2022

Ein milder Merz als Pausenmelodie

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Ernsthaft: Überdauert er den März – dann folgt im Klimawandel der Herbst !

Von Ulrike Winkelmann

Am Wochenende wählt die CDU beim digitalen Parteitag ihren neuen Chef. Noch ist unklar, von welcher Seite Friedrich Merz die Regierung angreifen will.

Möglicherweise ist es schon Samstagnachmittag oder später, wenn Sie diese Kolumne lesen. Dann wird die CDU auf einem digitalen Parteitag Friedrich Merz zum Parteivorsitzenden gewählt haben – es sei denn, zwischen Redak­tionsschluss und Samstagmittag passiert noch etwas wirklich Unerwartetes.

Mit dieser nachrichtlichen Unwägbarkeit jedoch kommt so ein Kolumnenplatz wie dieser ganz gut zurecht. Schließlich sind die Christ­demokratInnen und ihr neuer Chef insgesamt zu einer Unwägbarkeit geworden. Wer sind diese Leute und wo wollen sie hin? Der bereits von der Basis, aber noch nicht vom Parteitag gewählte Merz gab zuletzt Rätsel auf. Warum ließ er sich von CSU-Chef Markus Söder ­fotografisch so vorführen? Wortlaut gab es kaum zu den Bildern, welche zu Jahresbeginn von den beiden Unionsvorsitzenden verbreitet wurden – auf allen aber war Merz nur ein aufmerksam blickender Assistent für Groß­politiker Söder.

Man hört bisher wenig von der neuen Oppositionspartei CDU, vielleicht abgesehen von Norbert Röttgen being Norbert Röttgen – als Außenpolitiker sowieso irgendwie auch Regierungsstimme. Es ist einfach noch nicht klar, von welcher Seite die CDU die neue Koalition angreifen will. Ein CDU-Umweltpolitiker ließ im taz-Interview verblüffenderweise erkennen, dass ihm Robert Habecks Klimapläne nicht reichten. Die anderen warten offenbar noch auf Inspiration vom antretenden Vorsitzenden. Schließlich ist dies das Prinzip der Partei seit Gründung: sich hinter einer Führungsperson zu sammeln, die dann KanzlerIn wird, weil der CDU die Macht eben zusteht.

Ulrike Winkelmann - Zukunft des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks (34715387826).jpg

Nur dass es dieses Mal anders war. Immerhin scheint die Niederlage bei der Bundestagswahl bei Friedrich Merz etwas ausgelöst zu haben, das ihn anschlussfähiger macht als die großmäulige 80er-Jahre-Figur, die er zuvor abgab. Völlig offen zeigte Merz Mitte Dezember (wie gesagt, viele Selbstzeugnisse jüngeren Datums haben wir nicht) im ARD-Interview, dass er noch keinen Nerv auf Attacke hatte. Was ihn an der Ampel am meisten aufrege? „Bis jetzt nichts“, sagte Merz und ergänzte geheimnisvoll, aber doch wohlwollend: „Ich begleite sie kritisch und durchaus mit der Absicht, dass wir dort eine gute Bundesregierung sehen.“

Die FDP, die aus seiner Sicht doch eigentlich vom Pfad des Guten abgewichen sein müsste, bekam extra Zuspruch: „Ermutigend“ sei es, dass viele junge Leute FDP gewählt hätten.

Quelle      :          TAZ-online       >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Defens, Defens – zum Angriff rennt / Secretary of Defense Ash Carter is speaks with German Defense Minister Ursula von der Leyen and Atlantik-B. Chairman Friedrich Merz as he arrives at the Allianz Forum in Berlin, Germany, as part of a European trip June 22, 2015. Secretary Carter is traveling in Europe to hold bilateral and multilateral meetings with European defense ministers and to participate in his first NATO ministerial as Secretary of Defense. (Photo by Master Sgt. Adrian Cadiz/Released)

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Unten       —       Ulrike Winkelmann. Foto: SeeSaw /Sophia Lukasch www.seewsaw-foto.com Veranstaltung „Öffentlich-rechtliche Medien im (digitalen) Wandel“ der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

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Schweiz-EU – Spiel auf Zeit?

Erstellt von Redaktion am 22. Januar 2022

Neuartiges Kräftemessen zwischen Schweiz und EU

 

Secretary Pompeo Meets With Swiss Foreign Minister Cassis - 47984529101.jpg

Quelle      :        INFOsperber CH.

Markus Mugglin /

   Acht Monate nach Verhandlungsabbruch mit der EU ist klar, dass die Schweiz auf Zeit spielt. Doch zu welchem Preis?

«Agenda der Schweiz», «Schnittmenge» und «gemeinsame Agenda» sind die neusten Wortschöpfungen von Aussenminister und Bundespräsident Ignazio Cassis zum Verhältnis der Schweiz zur EU (in der SRF-Arena vom 07.01.2022). Für eine Periode von rund 240 Tagen ein wahrlich magerer Plan B, den der Bundesrat der Öffentlichkeit bisher präsentiert hat. Sich möglichst viel Zeit lassen wird zur einzigen Konstante der schweizerischen Europapolitik.

Weiterhin hinauszögern

Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass es so weitergehen soll wie seit mehr als einem Jahrzehnt. Es begann Ende Mai 2021 mit dem Verhandlungsabbruch ohne Plan B. Im August folgte die Ankündigung einer Drei-Phasen-Strategie. Zuerst Entspannung, dann zwei Jahre interne Diskussionen und erst nach 2023, also nach den nächsten Wahlen, über die «Flughöhe» der Beziehungen zur EU entscheiden.

Zwischenzeitlich versuchte EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic die Verzögerungstaktik zu stören. Bis Mitte Januar am WEF in Davos sollte eine «Roadmap» für neue Verhandlungen vorliegen. Doch Omicron bremste das WEF aus und damit das «Roadmap»-Treffen, das nun frühestens im Februar stattfindet.

Auch nachher soll es nicht schnell gehen. Der vom Bundesrat neu ernannte «Mister Europa», der bisherige Staatssekretär Mario Gattiker, gab vor Antritt seines Mandats für die Suche nach innenpolitischen Kompromissen und Anpassungen an europäisches Recht zu verstehen, dass es für eine Lösung mit der EU längere Zeit dauern dürfte. Auch die Kantone drängen nicht. Laut dem St. Galler Regierungspräsidenten Marc Mächler brauchen sie 12 bis 18 Monate bis zur Klärung ihrer Vorstellungen, die sie dem Bundesrat nahebringen wollen. Zeit lassen wollen sich auch die Sozialdemokraten. Erst ab 2023 streben sie Verhandlungen über die Zukunft des bilateralen Weges an. Vorher möchten sie mit einem «Stabilisierungs»-Abkommen den Schaden begrenzen.

Rechtsübernahme, wenn es profitabel ist

Dass man sich Zeit lassen will, lässt sich auch an der inhaltlichen Stossrichtung ablesen, die sich innenpolitisch abzeichnet. Es ist ein Abrücken von jahrelang vertretenen Verhandlungspositionen. «Eine Neuauflage mit einem umfassenden Ansatz im Sinne eines institutionellen Abkommens» (Interview in NZZa.S. vom 19.12.2021) soll ausgeschlossen sein, hat Aussenminister Cassis kurz vor Weihnachten Härte markiert. Eine schnelle Einigung ist so nicht zu erwarten.

Eine dynamische Rechtsübernahme und einen Mechanismus für die Streitbeilegung soll es nur von Fall zu Fall geben, gab Cassis vor seinem Treffen mit EU-Kommissionsvizepräsidenten Sefcovic in einem Interview mit der NZZ (09.11.2021) bekannt. Auch ein Recht auf Ausnahmen der Rechtsübernahme enthält seine Wunschliste. Und eine volle Dynamisierung bei der Personenfreizügigkeit will er ausschliessen.

Bei den bürgerlichen Parteien «Die Mitte» und FDP kommen die Wünsche des Bundesrates gut an. «Die Mitte» hat sich in ihrer soeben durchgeführten Europa-Fraktionsklausur dazu bekannt, die Rechtsübernahme und Streitbeilegung auf noch zu bestimmende Sektorabkommen zu beschränken. Beim Personenfreizügigkeitsabkommen soll sie aber ausgenommen sein, also bei der Unionsbürgerrichtlinie und beim Lohnschutz. Folglich soll der Europäische Gerichthofe EuGH hier keine Rolle spielen dürfen.

Der Präsident der FDP, Thierry Burkart, hatte sich bereits vor dem Treffen in Brüssel für eine Dynamisierung in einzelnen Sektoren ausgesprochen (Interview in NZZ vom 2.11.2021). Auch er will die Unionsbürgerrichtlinie ausnehmen. Er nähme dafür Gegenmassnahmen der EU in Kauf.

Die Schweiz will die Rechtsübernahme und Streitbeilegungsregeln von Fall zu Fall als Konzession verstanden wissen. Doch es ist offensichtlich: Sie wünscht sich diese, wenn sie davon profitieren kann. Nicht aber, wenn es sie etwas kosten würde. Beim Abbau der technischen Handelshemmnisse will sie die Dynamisierung, um den Medtechunternehmen den Binnenmarktzugang wieder zu öffnen und der Maschinenindustrie den diskriminierungsfreien Zugang auch über die baldige Revision der EU-Maschinenrichtlinie zu erhalten. Bei der Personenfreizügigkeit beharrt die Schweiz auf Selbstbestimmung.

Selbst Österreich markiert Distanz

Es ist ein Minimal-Abkommen, das der Schweiz vorschwebt. Wie schon früher dürfte die EU auch jetzt skeptisch auf Einzelfall-Lösungen reagieren, weshalb ein schneller Abschluss wenig wahrscheinlich erscheint. Mehr als nur skeptisch hat sich ausgerechnet Österreich geäussert. Nach Verhandlungsabbruch hatte es sich noch als alleiniger Fürsprecher der Schweiz in der EU inszeniert. Beim Antrittsbesuch von Bundespräsident Cassis in Wien hat nun aber die EU-Ministerin Karoline Edtstadler dem Schweizer Vorschlag eine Absage erteilt. Die Aufschnürung der bestehenden Marktzugangsabkommen lehnte sie ab: «Wir sind für eine gesamtheitliche Lösung», wird sie in der NZZ (14.01.2022) zitiert. Auch brauche es nicht nur einen Mechanismus zur Streitbeilegung, sondern auch eine Änderung der Praxis bei den staatlichen Beihilfen, fügte sie hinzu.

Der französische Botschafter in der Schweiz, Frédéric Journès, äusserte sich vor Jahresende grundsätzlich, was die Schweiz zu erwarten habe. In «Le Temps» (28.12.2021) erinnerte er daran, dass der europäische Binnenmarkt das gemeinsame Gut aller Mitgliedstaaten sei. Die EU will ihn auch als gemeinsames Gut schützen. In den Brexit-Verhandlungen liess sie sich denn auch nicht auseinanderdividieren. Geduldet werde auch nicht mehr, dass Unternehmen von ausserhalb der EU dank tieferer Steuern auf dem Binnenmarkt Wettbewerbsvorteile ausspielen könnten, erklärte der Botschafter. Für die Schweiz tut sich so eine weitere höchst sensible «Baustelle» auf.

Ursula von der Leyen nimmt an der UN-Klimakonferenz 2021 teil (9).jpg

Zwei durch  ihre Masken kastrierte, einstige Maulhelden-Innen der EU ?

Abbruch kostet – wieviel ist noch unklar

Der Verhandlungsabbruch bedeutet nicht, dass nichts mehr geht. Das Luftverkehrsabkommen wurde seit Ende Mai schon zweimal aktualisiert, die Zusammenarbeit im Bahnverkehr im Rahmen des Landverkehrsabkommens immerhin verlängert. Beim grenzüberschreitenden Alpenraumprogramm bleibt die Schweiz in der neuen Periode 2021 – 2027 voll dabei, ebenfalls bei den Verhandlungen über neue Initiativen der Europäischen Weltraumorganisation. Die EU hat der Schweiz zugesichert, dass sie von den geplanten Zollabgaben auf klimaschädlichen Importen ausgenommen werde.

Der Verhandlungsabbruch hat aber einen Preis. Die Medizinalbranche trifft es besonders. Für den Zugang zum EU-Markt genügen Zertifizierungen aus der Schweiz nicht mehr. Schon bald könnte es mit der Maschinenindustrie die zweitwichtigste Exportbranche treffen. Forschende bleiben von Programmen ausgeschlossen. Die Erasmus-Privilegien für Junge sind nicht mehr gewährleistet, die Filmschaffenden von Kreativ-Programmen ausgeschlossen. Neue Abkommen gibt es nicht, solange die Weiterentwicklung des bilateralen Weges ungewiss ist. In der Stromversorgung steigen die Risiken, weil die EU ihre Energiewende weg von fossilen Brenn- und Treibstoffen ohne die Strombedürfnisse der Schweiz plant.

Selbst EU-Gegnern und erst recht den Stromunternehmen ist bange um die Versorgungssicherheit. Vor Verhandlungsabbruch habe sich die Netzgesellschaft Swissgrid noch an vielen europäischen Projekten beteiligen können, seither würden sich viele vorher noch offene Türen schliessen, äusserte sich vor ein paar Tagen Konzernchef Yves Zumwald besorgt (Coopération, 10.01.2022). Die Unsicherheit wird ihren Preis haben.

Die EU wandelt sich – mit Folgen für die Schweiz

Zweifellos ist auch die EU an guten Beziehungen zur Schweiz interessiert. Doch längerfristig klare Regeln gewichtet sie höher als kurzfristig spürbare Nachteile. Der Streit über die Anerkennung der Standards in der Medizinaltechnik steht dafür exemplarisch.

Es handelt sich um das in internationalem Vergleich umfassendste Abkommen über gegenseitige Produktbescheinigungen. Ob es mit den WTO-Regeln vereinbar ist, wird bezweifelt. (Europarechtlerin Christa Tobler in Tages-Anzeiger, 10.06.2021). Dass es trotzdem zustande kam und nicht angefochten wurde, liegt wohl daran, dass die Schweiz zur Zeit der Aushandlung noch als EU-Beitritts-Kandidatin galt.

Warum soll eine Nicht-EU-Kandidatin ein solch unübliches Privileg erhalten? Zur Diskussion steht deshalb mehr als ein Einzelfall. Der Schutz des Binnenmarktes wird im Lichte der neuen Handelspolitik der EU zum Thema. Maximaler Freihandel und Hyperglobalisierung sind nicht mehr oberste Maxime. Die EU reagiert auf die veränderten globalen Verhältnisse mit dem Kampf der Giganten USA – China, auf den Brexit und die wirtschaftlichen Erfahrungen in der Pandemie. Sie strebt wirtschaftspolitisch nach «strategischer Autonomie».

Die Zeit der «wirtschaftlichen Naivität» sei vorbei, nannte es der französische Botschafter in der Schweiz. Es sind mehr als nur Worte. Allein in den letzten Wochen stehen dafür mehrere Initiativen. Die EU-Kommission will die Minimalbesteuerung für Konzerne möglichst schnell umsetzen. Das wird auch in der EU ansässige Unternehmen mit Hauptsitz in der Schweiz betreffen. Auch die Abschaffung der Steuervorteile sogenannt substanzloser Konstrukte wie Briefkastenfirmen wurde angekündigt, die ebenfalls über die EU-Grenzen hinaus Wirkung zeigen soll. Mehr statt weniger Europäisierung der Schweizer Wirtschaftspolitik ist angesagt.

Pokern mit zu zahlendem Preis

Trotzdem soll die verhandlungspolitische «Schnittmenge» zwischen der Schweiz und der EU kleiner werden als sie war. Die Schweiz zeigt sich weniger kompromissbereit als vor der Publikation des Institutionellen Abkommenstextes im November 2018. Die EU ist stärker bedacht auf den Schutz ihres grossen Binnenmarktes als vor dem Brexit und den Handelskonflikten zwischen den USA und China. Wer einen diskriminierungsfreien Zutritt wünscht, soll sich an die Regeln dieses Marktes halten. Der Status quo mit der Schweiz steht nicht mehr zur Wahl.

Die entgegengesetzten Trends in der Schweiz und in der EU kündigen ein Kräftemessen neuer Art an, das sich länger hinziehen dürfte. Ungewissheiten werden dauern und Folgen spürbar. «Natürlich müssen wir einen Preis bezahlen», gab Aussenminister Ignazio Cassis schon mal in der NZZ zu verstehen. Wie hoch wird er sein? Wieviel wird der Bundesrat als verkraftbar einschätzen? Er scheint es testen zu wollen.

Ob es in ein paar Jahren erneut heisst, was Finanzminister Ueli Maurer soeben zur Übernahme der neuen globalen Mindeststeuer für Konzerne sagte: «Wir können uns ein Nein nicht leisten.» Ob das Kräftemessen dereinst wieder so enden wird?

Schweizer Medien vereint gegen vermeintliche «Nadelstiche»

Landauf, landab empören sich Medien über «Nadelstiche» aus Brüssel. Zum sprachlichen Eintopf tragen die NZZ (13.09.2021) und der Tages-Anzeiger (17.12.2021) bei, die Aargauer Zeitung (13.10.2021) und Blick Online (10.01.2021), Watson (21.07.2021) und die Handelszeitung (6.06.2021), um nur ein paar Beispiele aus jüngerer Zeit zu erwähnen. In grossen Lettern wird Empörung zelebriert und noch häufiger in Leads und Artikeln – gemäss Duden – über «versteckte Bosheiten gegen jemanden» bzw. gegen die Schweiz geklagt. Landesverteidigung ist angesagt: Macht die Schweiz ihre Interessen geltend, verteidigt sie ihre Souveränität, verteidigt die EU ihre Binnenmarktregeln, wird sie der «Nadelstiche» beschuldigt.

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Oben      —   U.S. Secretary of State Michael R. Pompeo meets with Swiss Foreign Minister Ignazio Cassis at Castle Grande in Bellinzona, Switzerland, on June 2, 2019. [State Department Photo by Ron Przysucha/ Public Domain]

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Ein Pro & Contra

Erstellt von Redaktion am 20. Januar 2022

Deutsche Waffen für die Ukraine?

Waffen für die Kriegs – Affen ?

Ja- Dominik Johnson    – Nein – Anna Lehmann

Putin rasselt mit den Säbeln. Noch setzen westliche Diplomaten auf gutes Zureden. Sollte die Bundesregierung die Ukraine militärisch unterstützen?

Ja – Deutschland soll Waffen schicken

Jeder souveräne Staat hat das Recht, sich gegen einen bewaffneten Angriff zu wehren. Die Charta der Vereinten Nationen bestätigt „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“. Einem Land im Falle eines Angriffs die Möglichkeit zur Verteidigung zu nehmen ist mindestens unterlassene Hilfeleistung, wenn nicht Beihilfe zum Völkerrechtsbruch. Das ist so, als würden Passanten tatenlos zusehen, wie Nazis Ausländer jagen.

Wer ungerührt zuguckt, obwohl er etwas tun könnte, macht sich strafbar. Wer darüber hinaus die Opfer auffordert, mit ihren anstürmenden Angreifern ins Gespräch einzutreten, macht sich lächerlich. In diese Lage gerät Deutschland mit seinem Beharren darauf, es dürfe keine Waffenlieferungen in die Ukraine geben. Russland hat 2014 die Krim besetzt, es führt ­einen verdeckten Krieg in der Ost­ukraine, es stapelt Soldaten an der Grenze, es negiert öffentlich das Existenzrecht einer souveränen Ukraine – aber Berlin gönnt Kiew nicht einmal Defensivwaffen.

Nicht etwa aus grundsätzlichen Erwägungen – Deutschland ist der viertgrößte Waffenexporteur der Welt, zu seinen Kunden gehören Diktatoren und Länder in Krisengebieten. Nein, man argumentiert mit „historischen Gründen“. Angesichts des Naziterrors in der ehemaligen Sowjetunion, etwa in der Ukraine, ist das nicht einmal historisch überzeugend – würde Deutschland auch Israel fallen lassen gegen Länder, die sein Existenzrecht nicht anerkennen?

Wie gut, dass es andere gibt, die der Ukraine helfen und die richtige Lektion aus der Geschichte ziehen – nämlich die, dass einem schwächeren Land gegen ein stärkeres Beistand gebührt. Jedes Opfer deutscher Angriffskriege im 20. Jahrhundert weiß das. Nur Deutschland hat es vergessen. Die gern angeführte Sorge um eine weitere Eskalation ist scheinheilig. Hätte Russland ein Interesse an Frieden, könnte es einfach friedlich bleiben.

Wenn eine militärische Großmacht aber ganz offen Krieg gegen den Nachbarn vorbereitet, ist das Gleichgewicht der Kräfte das einzige Mittel, den Frieden zu retten. Die Ukraine muss militärisch stärker werden, damit sich für Russland ein Angriff nicht lohnt. Erst dann kann der von Deutschland herbeigesehnte Friedensprozess in Gang kommen – auf der Grundlage gegenseitigen Respekts. Dominic Johnson

Nein – auf keinen Fall Rüstungsexporte ins Krisengebiet

Quelle          :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Ein in Deutschland entwickelter Leopard AS1 Gun Tank des 1st Armored Regiment (1ARMD) nimmt an einer simulierten Schlacht während der Talisman Saber 2005 Übung auf der Shoalwater Bay Training Area, Queensland, Australien Kameramann: PH2 BRANDON A. TEEPLES, United States Navy Date Shot: en:June 25en:2005

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Progressive Kompromisse

Erstellt von Redaktion am 19. Januar 2022

Dem Ingeniör ist nichts zu schwör.

Elon Musk beim Tesla ASM und Battery Day.jpg

Er hat immerhin etwas geschafft – Man ziehe einen Vergleich zu den Nichtsnutzen aus der Politik welche alle Möglichkeiten hatten mehr zu machen, aber nichts können, da sie nie etwas Sinnvolles gelernt haben !

Ein Schlagloch von Mathias Greffrath

Wenn Großes auf dem Plan steht, heißt es handeln, auch wenn die bevorzugten Partner gerade nicht bereitstehen. Musk hat nichts gegen Gewerk­schaften, nur erhöht er lieber die Löhne, als sich an Arbeitszeit Verordnungen zu halten.

Glaubst Du, dass ich verrückt bin?“ Mit dieser Frage beginnt Ashley Vances Biografie von Elon Musk. Das Buch lag schon lange auf der Fensterbank, nun habe ich sie endlich gelesen – angeregt durch einen Artikel im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen über den realitätsenthobenen „reichen Twitterer Elon Musk“, der demnächst im Berliner Vorort Grünheide eine halbe Million Elektroautos pro Jahr produzieren will, mit kaum verhaltener Sympathie für die angestammten Grünheider, die sich vor den Veränderungen fürchten.

Es wurde ein beunruhigendes Wochenende daraus, mit einem gut gequirlten Cocktail von Emotionen: zwischen Faszination, Perry-Rhodan-mäßigem Weltraumschwindel, und, komisch, Lust auf Zukunft.

Kurzes Resumée meines Musk-Schnellkurses anhand von ein paar Stunden Lektüre und zwei langen Interviews, die Musk um Weihnachten herum dem AI-Wissenschaftler Lex Fridman und dem christlich-konservativen Comedy-Kanal Babylon Bee gegeben hat (beide auf Youtube und extrem ansehenswert): ein entspannter, belesener Mann in den besten Jahren mit einem realistischen Blick auf Menschen und Geschichte, ohne Allüren und Pathos. Kein Bewohner von Steuerparadiesen, nicht ganz einfache Kindheit. Religion? „Der Gott Spinozas“, aber „Jesus würde ich nicht im Weg stehen“. Eher zögernd und reflektierend entwickelt er im Gespräch sein kohärentes und synergetisches Programm: von Tesla und Solarziegeln über Roboter, die nicht nur Arbeit abschaffen, sondern die auch die vielen einsamen Menschen begleiten könnten, hin zu Gehirnchips, die Lähmungen kompensieren und irgendwann unser Bewusstsein erweitern, und schließlich das weltumspannende Satelliteninternet und die Starship-Rakete für den Flug zu Mond und Mars und dessen Besiedelung.

Ein Wackelbild. Je nachdem wie man hinschaut, redete da ein Unternehmer mit einem genialen Blick für Synergien, Abkürzungen und Marketing, oder ein Technomissionar, der die Voraussetzungen für eine transterrestrische Zivilisation schaffen will – für den Fall, dass es auf der Erde irgendwann einmal alles schief geht, aber auch um vielleicht dem Geheimnis des Weltalls ein wenig näherzukommen.

Was ihm Kraft gibt weiterzumachen, angesichts all der technischen Schwierigkeiten, die den Ausgang ungewiss sein lassen, fragt ihn der Physiker vom MIT. „Kraftquelle?“, überlegt Musk. „Diese Dinge müssen getan werden, basta.“

Giga Berlin im Bau in Grünheide, am linken Rand des Berliner Rings, mit dem Industriepark Freienbrink im Hintergrund

Das alles wirkt ein wenig wie Kino oder Erzählungen über die heroischen Aufbruchs­in­ge­nieu­re der Sowjetunion. Aber es ist nicht Kino. Die Gigafactories stehen, in Buffalo, in Schanghai, in Texas und in Grünheide. Tesla hat den Automobilmarkt elektrifiziert. Die sozialen Bewegungen hätten geholfen, sagt Musk, „aber bewegt haben die anderen sich erst, als ich ihnen Marktanteile weggenommen habe“. Die Solarziegel werden fabriziert, die ersten 4.000 Kommunikationssatelliten für ein leitungsloses Internet fliegen, SpaceX hat die Nasa ersetzt. Sektencharakter, Mondflugromantik, soziale Bewegung, etwas von allem.

Bei aller Faszination: Natürlich hat Musk dunkle Seiten. Nicht weil er elitär oder gierig oder machthungrig ist; es sind die Alleinherrscherallüren aller produktiven Zerstörer, aller Gründer von Imperien, industriell, technisch oder politisch. Man kann davor erschrecken, aber „Regierungen sind nicht schnell genug“. Und schnell müssen wir wohl sein. Musk, so scheint es, hat wohl auch nichts grundsätzlich gegen Gewerkschaften, nur, wenn sie die Produktivität oder das Tempo bremsen, erhöht er lieber die Löhne, als sich an die Arbeitszeitverordnung zu halten. Das kann noch lustig werden mit der IG Metall in Grünheide – oder produktiv.

Seine tiefste Leseerfahrungen seien Nietzsche und Schopenhauer gewesen. Das sei etwas viel für Vierzehnjährige, das würde er nicht empfehlen, es habe ihn für eine Weile depressiv gemacht, bis er mit Douglas Adams’„Anhalter durch die Galaxis“ einen Ausweg fand. Kurze Erinnerung: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn und die klugen Tiere mussten sterben.“ Greta und Musk – vielleicht kann man sie zusammendenken, nur dass einer mit Paypal zu viel Geld gekommen ist und als Kind Raketen gebaut hat.

Quelle       :         TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben       —       Ich habe auch ein schönes Foto von Elon bekommen. Das etwas kryptische Muster auf dem Hemd ist ein Abschnitt der Kante der laschenlosen Elektrodenrolle, eine komplizierte Verschachtelung elektrischer Kontakte in der Mitte des Herstellungsprozesses.

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Russland und die Ukraine

Erstellt von Redaktion am 19. Januar 2022

Neoimperialistisches „Great Game“ in der Krise

Der Russische Präsident ist zu einem Staatsbesuch in China eingetroffen. 02.jpg

Die Chinesische Mauer im Rücken bringt wenig entzücken ?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Russland steht geopolitisch mit dem Rücken zur Wand – und gerade dies macht das derzeitige geopolitische Vabanquespiel um die Ukraine so gefährlich.

Vielleicht ist das landläufige Klischee, wonach die europäischen Großmächte unbewusst, quasi schlafwandelnd in den Ersten Weltkrieg als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts stolperten, nicht ganz verkehrt. Dieser Eindruck kann zumindest angesichts der aktuellen Spannungen zwischen dem Westen und Russland in der Ukraine-Krise entstehen. Osteuropa befindet sich am Rande eines Krieges, ein militärischer Großkonflikt zwischen der Ukraine und Russland rückt in den Bereich des Möglichen, während die westlichen Politeliten weiter ihr geopolitisches Vabanquespiel mit dem Kreml zocken und in der Öffentlichkeit das Thema zumeist ideologisch verzerrt wahrgenommen wird.

Mit dem vorläufigen Scheitern der Ukraine-Gespräche zwischen den USA und Russland, die Anfang Januar in Genf und Brüssel unter Ausschluss der EU geführt wurden,1 forderte der russische Außenminister die Vereinigten Staaten und die Nato auf, rasch eine schriftliche Stellungnahme zu den Sicherheitsforderungen des Kremls zu geben, in der jede einzelne Forderung Russlands beantwortet würde.2 Zugleich ließ Lawrow die Tür offen für weitere Gespräche, zu denen Moskau bereit sein solle.3 Es großer Teil dessen, was „in diesen Tagen gesagt“ werde, stehe möglicherweise mit einem „künstlichen Anfachen der Flammen“ im Zusammenhang, so Lawrow unter Anwendung der üblichen Verhandlungstaktik von Zuckerbrot und Peitsche.

Washington drohte wiederum Moskau, man sei auf „jede Eventualität“ vorbereitet – dies gelte auch für den Fall einer „militärischen Eskalation“ durch Russland. Man habe den Kreml auf „die Kosten und Folgen militärischer Aktionen oder einer Destabilisierung der Ukraine hingewiesen“, so der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, der mit harten Wirtschafts- und Finanzsanktionen sowie Waffenlieferungen an Kiew drohte. Im Klartext: Die USA werden nicht direkt militärisch intervenieren,4 sollte Moskau die Invasion der Ukraine starten. Kiew ist militärisch – abgesehen von Waffenlieferungen – weitgehend auf sich selbst gestellt.

Die zentrale Konfliktlinie, die zur gegenwärtigen geopolitischen Konfrontation geführt hat, besteht in der etwaigen Ostexpansion der Nato im postsowjetischen Raum. Die Ukraine bildet das geopolitische Objekt der Begierden. Seit dem westlich unterstützten Umsturz von 2014, als die damalige prorussische Regierung Janukowitsch von nationalistischen Kräften gestürzt wurde,5 ist Kiew bemüht, trotz Bürgerkrieg, eingefrorener Konflikte und ungeklärter Territorialfragen in die Nato und EU aufgenommen zu werden, um hierdurch die Westintegration des postsowjetischen Landes irreversibel zu machen.

Russlands wichtigste Forderung besteht folglich darin, dem Vorrücken des westlichen Militärbündnisses an seiner Südflanke einen Riegel vorzuschieben. Die Nato soll vor allem darauf verzichten, weitere postsowjetische Länder – konkret sind es die Ukraine und Georgien – aufzunehmen. Laut Einschätzung der New York Times (NYT) geht es dem Kreml um ein Sicherheitsabkommen, wie es zu Zeiten des Kalten Krieges üblich war – was aber seitens der Nato „sofort abgelehnt“ wurde.6 Der Kreml will faktisch die Nato dazu bringen, einen Puffer neutraler Staaten zwischen der Russischen Föderation und dem Westen zu akzeptieren. Während des Kalten Krieges übten neutrale Länder wie Österreich oder Finnland eine solch deeskalierende Funktion aus. Österreich, aus dem sowjetische Truppen 1955 unter der Zusage einer dauerhaften Neutralität abzogen,7 ist bis zum heutigen Tag formell neutral. Finnlands Außenminister erteilte Spekulationen über einen etwaigen Nato-Beitritt seines Landes am 14. Januar öffentlich eine Absage.8

Russland sieht sich in dem Punkt der Nato-Osterweiterung ohnehin vom Westen getäuscht und hintergangen, der im 21. Jahrhundert die baltischen Staaten und etliche ehemalige Länder des Warschauer Paktes in seine Militärallianz aufnahm. Moskau verweist dabei auf mündliche Zusagen der USA gegenüber der damaligen sowjetischen Führung aus den frühen 90er-Jahren, wonach die Nato auf jegliche Ostexpansion verzichte würde. Westliche Diplomaten sprechen hingegen von einem Missverständnis, dem der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow unterlag, so die NYT.

Deutsche Projektionen „Zaristischer Ambitionen“

Die aktuellen geopolitischen Spannungen wurden in den westlichen Medien mit der üblichen tendenziösen Berichterstattung begleitet, die klar antirussische Züge aufweist. Während westliche Politiker den Kreml auffordern, seine „zaristischen Ambitionen“ fallen zu lassen,9 sprechen US-Diplomaten inzwischen offen von „Kriegstrommeln“, die in Europa aufgrund der „schrillen Rhetorik“ gerührt würden.10

Und wenn es um schrille Töne geht, dann macht deutschen Leitmedien niemand etwas vor: Ganz in orwellscher Tradition bezeichnete die Tagesschau die Moskauer Forderungen nach Sicherheitsgarantien, die nur aufgrund der drohenden Nato-Expansion im postsowjetischen Raum gestellt werden, als „imperiale Ansprüche“.11 Beim Frontbesuch im Baltikum sprach sich die neue Verteidigungsministerin Christine Lambrecht für eine glaubhafte Abschreckung aus,12 während Außenministerin Baerbock13 und Kanzler Scholz14 sich darin überboten, Warnungen an Moskau zu richten, da Aggressionen gegen unsere Ukraine schwere Folgen nach sich zögen.

Schon fordern „Experten“ in der Zeit,15 dass Deutschland als „größte europäische Wirtschaftsmacht“, als „Schlüsselland“ der EU und Nato, dem Treiben Moskaus nicht tatenlos zuschauen dürfe, schon fordern Politiker der SPD und FDP Lieferungen militärischer Ausrüstung an die Ukraine.16 In der FAZ ist man indes bemüht, der deutschen Öffentlichkeit die „nicht immer rationale Angst vor der Eskalation“ gegenüber Moskau zu nehmen,17 sowie unter Verwendung der üblichen Projektionen deutschen Größenwahns die Gefahr einer russischen Hegemonie in dem durch Berlin dominierten Europa zu halluzinieren – um der Aufrüstung der EU das Wort zu reden.18

Dabei enthalten die derzeitigen westlichen Medienangriffe gegen den Kreml durchaus einen gewissen Anteil verzerrter Wahrheit. Russland ist eine repressive und postdemokratische Macht, die imperiale Ambitionen hegt. Putin trauert der Sowjetunion als einem imperialen Gebilde nach, nicht aufgrund ihres staatssozialistischen Charakters. Die Machtpolitik des Kremls ist erzreaktionär. Russland finanziert und unterstützt die Neue Rechte in Europa,19 während zugleich linke Kräfte vom Kreml bekämpft werden. Putin half etwa 2015 Schäuble dabei, die links-sozialdemokratische Regierung in Griechenland in die Knie zu zwingen, die sich damals dem deutschen Spardiktat in der Eurozone widersetzte.20 Die Aufstände in Belarus21 und Kasachstan sind nur aufgrund russischer Interventionen gescheitert.

Armenien, ein formeller Bündnispartner Russlands, wurde vom Kreml 2020 zum Abschuss durch Aserbaidschan und die Türkei freigegeben,22 weil dort im Rahmen einer bürgerlich-demokratischen „Revolution“ die alten moskauhörigen Machteliten abgelöst wurden. Derzeit nötigt Moskau das am Boden liegende Kaukasusland dazu, aus einer Position der Schwäche heraus mit der Türkei – die immer noch den türkischen Völkermord an den Armeniern leugnet – „Verhandlungen“ zu führen, in denen Jerewan weitere Zugeständnisse an Ankara und Baku abgerungen werden sollen.23 Das Vorgehen Russlands gegenüber der basisdemokratischen Selbstverwaltung im nordsyrischen Rojava unterscheidet sich durch nichts von demjenigen der Trump-Administration: Putin gab der Türkei 2018 aus geopolitischem Kalkül den Freifahrtschein für die Eroberung und ethnische Säuberung des kurdischen Kantons Afrin.24 Ähnlich agierte die Trump-Administration im westlichen Rojava 2019.25

Die „imperialen Ambitionen“ des erzreaktionären Russlands sind ein Faktum. Doch genauso verhält es sich mit der imperialistischen Politik des Westens. Wenn russische Staatsmedien davon berichten, dass „Schweigen und Missinformation“ westlicher Medienkonzerne „imperialen Interessen“ westlicher Mächte dienen,26 dann haben sie ausnahmsweise damit genauso recht, wie ihre westliche Konkurrenz bezüglich der Charakterisierung russischer Medien als weitgehend „staatlich kontrolliert“27

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Nicht nur die endlose Reihe von Kriegen und Interventionen der USA zeugt von deren imperialistischer Politik, auch die BRD ist bemüht, dahingehend den imperialen Vorbildern in nichts nachzustehen. Um beim Beispiel Rojava zu bleiben: Während Russland und die USA der türkischen Soldateska den Weg zu ihren Eroberungskriegen ebneten, finanzierte Berlin anschließend die ethnische Säuberung dieser Gebiete.28 Die zerstrittenen imperialistischen Staaten konnten somit in einem Punkt faktisch reibungslos kooperieren: Als es darum ging, dem emanzipatorischen Anlauf in Rojava die Luft zum Atmen zu nehmen. Und wie man zerstörerische Wirtschaftskriege führt, hat Deutschland 2015 am Bespiel Griechenlands vorgeführt, dem durch Schäuble Unterwerfungsbedingungen oktroyiert wurden, die „früher nur durch Waffengewalt durchgesetzt werden konnten“, wie es damals in der europäischen Presse hieß.29

Postsowjetische Dominos

Es ließe sich gar argumentieren, dass die „Feindpropaganda“ der jeweiligen Seite des Öfteren auch Interessantes produziert, in dem die soziale Realität der Gegenseite adäquat wiedergegeben wird. „Russia Today“ etwa fabriziert nicht nur Desinformationen, es finden sich dort auch Beiträge über die katastrophale Lage der Obdachlosen in Los Angeles, die einfach keiner ideologischen Verzerrung bedürfen, um ihre propagandistische Funktion zu erfüllen.30

Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Westen und Russland, der immer deutlicher zutage tritt: Der imperiale Anspruch des Kremls kollidiert immer stärker mit einer Realität, in der sich Moskau in der geopolitischen Defensive befindet. Im Kaukasus, in Belarus und zuletzt in Kasachstan scheint das spezifische postsowjetische Herrschaftsgefüge, dessen prominentester Vertreter Wladimir Putin ist, immer deutlichere Risse aufzuzeigen. Es ist offensichtlich, dass die Einflusssphäre des Kremls im postsowjetischen Raum, der den Planungen des Kreml zufolge zu einem dritten geopolitischen Machtzentrum zwischen der EU und China ausgebaut werden sollte, von einem raschen Erosionsprozess erfasst wurde.

Und gerade in diesem Zusammenhang spielte die Ukraine eine zentrale Rolle.31 Zur Erinnerung: Ende 2013 musste die damalige ukrainische Regierung unter Viktor Janukowitsch aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Misere32 sich für die Einbindung des Landes in ein Bündnissystem entscheiden: Entweder in ein östliches,33 gemeinsam mit Russland, oder Richtung Westen, in die EU. Janukowitsch, der seine politische Basis in der ostukrainischen Oligarchie hatte, entschied sich für die russische Zollunion. Daraufhin intervenierte der Westen in der Ukraine, indem er den gewaltsamen Umsturz der gewählten Regierung Janukowitsch förderte, der in seiner militanten Spitze von westukrainischen Rechtsextremisten34 durchgesetzt wurde. Es folgte der derzeit „eingefrorene“ Bürgerkrieg35 im Osten des Landes,36 die Annexion der Krim durch Russland, sowie die bis zum heutigen Tag andauernde Alimentierung des Landes durch den IWF.37

Der Westen, der nun Krokodilstränen über die Verletzung der Souveränität der westorientierten Ukraine vergießt, trat bei seinem imperialistischen „Great Game“38 deren Souveränität selber mit den Füßen, solange es galt, die Ostorientierung der Regierung Janukowitsch zu sabotieren und das Land aus dem geopolitischen Orbit Russlands39 zu lösen. Und eben dies war auch die zentrale Zielsetzung der westlichen Intervention, bei der es trotz aller Differenzen zwischen EU und USA substanzielle Interessensübereinstimmungen gab: Es galt, einen konkurrierenden Machtblock östlich der EU zu verhindern, der die Machtprojektionen des Westens im postsowjetischen Raum langfristig blockiert hätte – und vor allem auch der östlichen Peripherie der EU eine alternative Bündnisoption eröffnet hätte. Dass es dem Westen bei seiner Intervention nicht um die Schwarzerdeböden der Ukraine oder um deren anachronistische Schwerindustrie ging, macht ein Blick auf das Schicksal der Ukraine nach dem Umsturz deutlich, da das Land vor allem als Exporteur von Arbeitskräften in die EU fungiert.40

Russlands ambitionierte Planungen für eine umfassende Zollunion im postsowjetischen Raum konnten – um den Preis eines Umsturzes und Bürgerkrieges – vom Westen torpediert werden. Denn was der Westen dem Kremlchef tatsächlich nicht verzeihen kann, ist sein einziges historisches Verdienst: die Stabilisierung der Russischen Föderation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die nicht zu einer Peripherie zugerichtet werden, sondern sich als eigenständiger imperialistischer Machtfaktor, als eine Konkurrenz zum Westen, etablieren konnte. Die Intervention in der Ukraine hatte gerade den Zweck, die Stabilisierung eines postsowjetischen Bündnissystems nach Vorbild der EU zu verhindern.

Doch die Ukraine ist kein Einzelfall. In einer ähnlich aussichtslosen sozioökonomische Lage, wie die Ukraine des Jahres 2013, befand sich das in ökonomischer Stagnation verfangene Belarus41 des Autokraten Lukaschenko 2020: Getrieben von Massenprotesten – diesmal ganz ohne westliche Intervention oder Finanzierung – und einem drohenden Regierungssturz, musste sich der zuvor auf Unabhängigkeit setzende Lukaschenko zwischen der Integration in die belarussisch-russische Union, oder dem schlichten Machtverlust entscheiden. Lukaschenko, dessen Land hauptsächlich von der Weiterverarbeitung russischen Erdöls in den Staatsraffinieren lebt, entschied sich fürs Erste.42 Die sozioökonomische Instabilität des pleitebedrohten osteuropäischen Landes legte somit den Boden für die breite Protestbewegung in Belarus, auf die der Westen nur im Nachhinein Einfluss zu nehmen versuchte.

Ähnlich verhält es sich im Fall der jüngsten, blutigen Unruhen in Kasachstan, wo die desolate soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit den wichtigsten Faktor bildete, der zur jüngsten Explosion führte.43 Die Spekulationen über Machtkämpfe innerhalb der Oligarchie des zentralasiatischen Landes,44 über etwaige Einflussnahme des Westens oder oder andere Mächte in diesem russischen „Hinterhof“, verdecken gerade die sozioökonomische Instabilität des kasachischen Staates, dessen Machtgefüge durch die russische Intervention aufrechterhalten werden musste. Ohne die kurzfristige Intervention45 des Kreml hätten die Zerfallserscheinungen im Staatsapparat, wo nach wenigen Tagen etliche Polizei- und Militäreinheiten den Dienst verweigerten oder sich den Aufständischen anschlossen,46 nicht gestoppt werden können.

Neoimperialismus und Krise

Putin ist somit derzeit vorwiegend damit beschäftigt, die autoritären, im Verlauf des Zerfalls der Sowjetunion entstandenen Machtstrukturen in seinem geopolitischen Hinterhof zu stabilisieren, deren herausragender Vertreter er selber ist:47 Es handelt sich zumeist um oligarchische Systeme oder schlichte Kleptokratien, die aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen sind und sich weite Teile der ökonomischen Konkursmaße der Sowjetunion angeeignet haben – entweder in formell privatwirtschaftlicher Form (ukrainische Oligarchie), oder in Form einer Staatsoligarchie (Russland). Nahezu alle postsowjetischen Regimes leben vom Export von Rohstoffen, Vorprodukten oder Energieträgern. Die in den 80er-Jahren gescheiterte Modernisierung der staatssozialistischen Sowjetunion konnte auch von deren Zerfallsprodukten nicht mehr nachgeholt werden. Dies gilt weitgehend auch für Russland, dessen einziger global wettbewerbsfähiger Industriezweig die Militärindustrie ist. Alle Modernisierungsbemühungen des Kreml48 sind bislang im Großen und Ganzen gescheitert.

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Macher und Versager auf einen Block !

Dabei spiegelt sich in dieser postsowjetischen Misere nur der globale Krisenprozess des spätkapitalistischen Weltsystems,49 das aufgrund eines fehlenden Akkumulationsregimes, das massenhaft Lohnarbeit verwerten würde, nicht nur in der Semiperipherie, sondern auch in den Zentren nur noch auf Pump läuft50 – diese aber haben noch ihre ökonomischen Großräume samt dem Euro und Dollar, die bis vor Kurzem eine Verschuldung über die Geldpresse ermöglichten.51 Mit ihrer Intervention in der Ukraine 2013/14 stellten EU und USA sicher, dass dem postsowjetischen Raum kein ähnliches Kriseninstrument zur Verfügung stehen wird. Das „Great Game“ um Eurasien gleicht somit faktisch einem Krisenimperialismus, einem Kampf gegen den krisenbedingten sozioökonomischen Abstieg, wobei die Zentren bemüht sind, ihre dominante Stellung auf Kosten der Peripherie zu halten. Es ist eine Art Kampf auf der Titanic. Deswegen nehmen die geopolitischen Auseinandersetzungen oft die Form von innenpolitischen Unruhen, Aufständen, etc. an, die erst durch die krisenhafte Destabilisierung der betreffenden Gesellschaften ermöglicht werden.

Sobald keine ausreichenden Rohstoffvorkommen zum Export vorhanden sind, setzen im postsowjetischen Raum eben jene sozioökonomischen Krisenprozesse ein, die Belarus und der Ukraine ihre politische Instabilität verschafften. Es ließe sich gar argumentieren, dass die durchweg autoritären postsowjetischen Regimes in der Einflusssphäre Russlands gar nicht mehr zu einer demokratisch-kapitalistischen Modernisierung fähig sind, da solche demokratischen Transformationen tatsächlich dem Westen die Chance zur Intervention verschaffen würden. Historisch betrachtet, setzte die große autoritäre Formierung in Belarus, Kasachstan und Russland im vollen Umfang erst nach der Orangen Revolution 2004 in der Ukraine ein, als westliche Denkfabriken und NGOs die relativen Freiräume dort ausnutzen konnten, um die prowestliche Regierung Juschtschenko durchzusetzen.

Der russische Traum von der Etablierung eines eigenständigen ökonomischen Großblocks zwischen der EU und China – der resistenter gegenüber Krisenerschütterungen wäre – ist nun ausgeträumt, stattdessen muss Russland um seinen Status als Großmacht kämpfen, da der Westen sich anschickt, seinen Einfluss dort dauerhaft zu etablieren, wo bislang nur deutsche Panzerverbände kurzfristig vorstoßen konnten. Putin steht gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand. Während es an allen Ecken und Enden im russischen „Hinterhof“ brennt (Belarus, Ukraine, Kasachstan, Südkaukasus), will der Westen sich in einer Region etablieren, die jahrhundertelang Teil Russlands war. Keine russische Regierung könnte es sich innenpolitisch erlauben, dies hinzunehmen. Die gegenwärtige Situation ist gerade deswegen so gefährlich, weil Putin keine Rückzugsoptionen hat, es ist ausgeschlossen, dass der Kreml die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine akzeptiert.

Die derzeit auf Touren kommende, antirussische Propaganda, die aus Putin einen allmächtigen Weltbösewicht macht, muss praktisch vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Russland ist eine reaktionäre, dem Westen sozioökonomisch unterlegene, imperialistische Großmacht, die vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Systemkrise um ihr Überleben kämpft, um nicht doch noch von den westlichen Neo-Imperialisten zur Peripherie zugerichtet zu werden. Diese gefährliche Situation sollte – unabhängig vom Charakter des russischen Regimes – auch progressive und emanzipatorische Kräfte dazu veranlassen, mit aller Kraft gegen die akut gegebene Kriegsgefahr, insbesondere gegen den deutschen Drang nach Osten, zu opponieren. Wenn etwa die sozialdemokratische Parteizeitung „Vorwärts“ inzwischen „rote Linien“ gegenüber der „russischen Aggression“ fordert, dann sollte daran erinnert werden, dass die SPD 1914 die Arbeiterschaft unter Verweis auf die reaktionäre Zarenherrschaft in die Schützengräben des ersten Weltkrieges marschieren ließ.

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1 https://www.ft.com/content/4fec318e-1e53-4f9a-999a-443a432dd6cd

2 https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/russland-macht-druck-usa-und-nato-sollen-sicherheitsgarantien-geben/ar-AASLLLl

3 https://www.upi.com/Top_News/World-News/2022/01/14/Sergey-Lavrov-talks-United-States-NATO-Ukraine/5071642169056/

4 https://www.yahoo.com/news/putin-calls-americas-bluff-ukraine-105209502.html

5 http://www.konicz.info/?p=2691

6 https://www.nytimes.com/2021/12/17/world/europe/russia-nato-security-deal.html

7 https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Neutralit%C3%A4t

8 https://www.yahoo.com/news/finland-not-negotiating-nato-membership-151423214.html

9 https://news.yahoo.com/drop-tsarist-ambition-invade-ukraine-134828966.html

10 https://news.yahoo.com/us-envoy-europe-says-drumbeat-163727688.html

11 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-nato-sicherheitsgarantien-101.html

12 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/lambrecht-reise-litauen-105.html

13 https://www.n-tv.de/politik/Baerbock-und-Blinken-senden-Warnung-an-Russland-article23039275.html

14 https://www.rnd.de/politik/erster-eu-gipfel-mit-olaf-scholz-warnung-an-russland-aus-deutschland-6U3Q7DW6X5BNRHIGM7DX7W4NSQ.html

15 https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/deutsche-russlandpolitik-korrektur-forderung-sicherheitspolitik

16 https://www.welt.de/politik/ausland/article236262940/Ukraine-Krise-SPD-und-FDP-halten-Lieferung-von-Schutzausruestung-fuer-denkbar.html

17 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/haltung-zeigen-lagodinsky-zu-russland-und-zur-ukraine-17728542.html

18 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/putin-will-nicht-nur-die-ukraine-hegemonie-ueber-ganz-europa-17732093.html

19 https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-front-national-erhaelt-kredit-aus-russland-100.html

20 https://www.heise.de/tp/features/Kleine-Geschenke-unter-Partnern-3375406.html?seite=all

21 https://www.heise.de/tp/features/Belarus-in-der-Sackgasse-4876428.html

22 https://www.heise.de/tp/features/Der-Lohn-des-Angriffskrieges-4954642.html

23 https://armenianweekly.com/2022/01/12/pitfalls-of-armenias-unnecessary-negotiations-with-turkey/

24 http://www.konicz.info/?p=3496

25 https://www.heise.de/tp/features/Trump-auf-Putins-Spuren-4547469.html

26 https://sputniknews.com/20220106/silence-and-misinformation-indicts-corporate-media-of-serving-imperial-interests-1092047685.html

27 https://www.eurotopics.net/de/176694/russland-medien-unter-staatlicher-kontrolle

28 https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Merkels-zivilisatorischer-Tabubruch-4645780.html

29 https://www.heise.de/tp/features/Willkommen-in-der-Postdemokratie-3374458.html?seite=all

30 https://rtd.rt.com/films/skid-row-homelessness-disaster-los-angeles/

31 http://www.konicz.info/?p=1907

32 https://www.heise.de/tp/features/Die-Ukraine-als-Griechenland-des-Ostens-3364295.html

33 https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-am-Abgrund-3364077.html

34 http://www.konicz.info/?p=2691

35 https://www.heise.de/tp/features/Geopolitisches-Deja-vu-3364059.html

36 https://www.heise.de/tp/features/Ukrainisches-Todesroulette-3366644.html

37 https://www.gtai.de/gtai-de/trade/ukraine/wirtschaftsumfeld1/iwf-genehmigt-beistandsprogramm-fuer-ukraine-260408

38 https://www.heise.de/tp/features/Ukrainisches-Great-Game-3364163.html

39 https://www.heise.de/tp/features/Geopolitisches-Deja-vu-3364059.html

40 https://www.heise.de/tp/features/Der-Westen-beginnt-im-Osten-der-EU-3796444.html

41 https://www.heise.de/tp/features/Belarus-in-der-Sackgasse-4876428.html

42 https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-belarus-lukaschenko-putin-oel-und-gaslieferungen-1.5457527

43 https://www.nzz.ch/international/kasachstan-soziale-ungleichheit-foerdert-unmut-und-protest-ld.1664103?reduced=true

44 https://www.tagesschau.de/ausland/asien/kasachstan-machtkampf-101.html

45 https://www.nytimes.com/2022/01/13/world/europe/kazakhstan-russia-troops-withdrawal.html

46 https://twitter.com/jardemalie/status/1478721255247384583

47 https://www.nytimes.com/2022/01/13/world/europe/putin-ukraine-kazakhstan.html

48 https://www.heise.de/tp/features/Die-Moskauer-Gelehrtenrepublik-3385215.html

49 https://tanzaufdemvulkan.wordpress.com/zeitschrift-digital/okonomische-krisenanalyse/thomas-konicz-die-krise-kurz-erklart/

50 https://blogs.imf.org/2021/12/15/global-debt-reaches-a-record-226-trillion/

51 https://www.untergrund-blättle.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

http://www.konicz.info/?p=4707

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Grafikquellen      :

Oben       —     Offizielle Zeremonie zur Begrüßung des Präsidenten russlands. Mit dem Präsidenten der Volksrepublik China Xi Jinping.

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Unten      —       Zeremonie der Eröffnung von Benzin Nord Stream. Unter anderem Angela Merkel und Dmitri Medwedew

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Demokratie in Gefahr ?

Erstellt von Redaktion am 17. Januar 2022

Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York City.

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Die Demokratie sollten die verteidigen – welche damit ihr Auskommen haben und ansonsten nur große Sprüche kloppen.

Von Stefan Liebich

Ein Jahr ist Biden im Amt und muss sich vor den Midterms sorgen. Die versprochene Sozialpolitik lässt auf sich warten, der Unmut wächst.

Joe Biden, der 46. Präsident der USA, begann seine Amtszeit mit einer Überraschung. „Trickle-down Economics hat noch nie funktioniert. Es ist an der Zeit, die Wirtschaft wachsen zu lassen, und zwar für die unteren und mittleren Einkommensschichten.“ In seinen Jahrzehnten in der US-Politik fiel der Demokrat aus Delaware wirklich nicht als Progressiver auf. Im Gegenteil. Nun fordert er, „dass die amerikanischen Unternehmen und das reichste 1 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner anfangen, ihren gerechten Anteil zu zahlen“.

Unter dem Beifall seiner Parteifreundinnen und -freunde begrub er in einer Rede vor dem US-Kongress die Idee des „Trickle-down“, also des Durchsickerns des Wohlstands der Reichsten zur normalen Bevölkerung. Die Theorie besagt, dass das ganz von allein passierte, wenn der Staat sich raushält und die Steuern für große Einkommen und Vermögen senkt. Ronald Reagan spitzte das vor vierzig Jahren auf die Formel zu, die Regierung sei „nicht die Lösung unserer Probleme, die Regierung ist das Problem“. Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass seit den 1940er Jahren ein ganz anderer Konsens herrschte. Auf Präsident Franklin D. Roosevelts New Deal aufbauend, erweiterten sowohl Demokraten als auch Republikaner schrittweise die Sozialversicherungs- und Krankenversicherungssysteme und erhöhten den Mindestlohn. Mit Reagan war damit Schluss. Seine Politik der Deregulierung und Privatisierung fand auch in Europa Nachahmer.

Bidens Kehrtwende erklärt sich auch aus dem Zustand des Landes. Wenige Tage bevor er das Präsidentschaftsamt antrat, forderte sein Vorgänger eine Menschenmenge in Washington auf, zum Kapitol zu ziehen: „Wenn ihr nicht wie wild kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben.“ Ein präzedenzloser Angriff auf die Demokratie.

Kurz nach dem Schock schien es, als würde sich die Republikanische Partei besinnen. Die Fraktionsvorsitzenden in Senat und Repräsentantenhaus wandten sich von ihrem Noch-Präsidenten ab, stimmten dann aber doch gegen dessen Amtsenthebung und gegen die Untersuchung der Ereignisse. Die New York Times bezeichnete die Republikaner vor wenigen Tagen als „autoritäre Bewegung“. Der Abgeordnete Jamie Raskin ging weiter und nannte sie eine „religiöse und politische Sekte, die von einem einzigen Mann kontrolliert wird“.

In diesem Jahr wird in den USA wieder gewählt. Möglicherweise siegt die autoritäre, republikanische Sekte. Bei Politik, Medien und der transatlantischen Thinktank-Welt hier in Deutschland herrscht merkwürdige Zurückhaltung. Bereits nach der Wahl 2016 überwog die Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm kommen. Kam es doch. Als Trump 2020 kundtat, dass er eine Abwahl nicht anerkennen würde, weil sie ja nur durch Betrug zustande kommen könne, forderte ich dazu auf, dass Deutschland seine Neutralität zwischen den beiden Kandidaten aufgeben müsse. Aber nicht mal die Grünen unterstützten das. Von der Bundesregierung ganz zu schweigen.

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Natürlich fällt es schwer, undemokratische Entwicklungen ausgerechnet bei denen zu kritisieren, die als Teil der Alliierten Deutschland von der Nazi-Diktatur befreit haben. Aber angesichts dessen, was dort geschieht, dürfen wir nicht länger neutral bleiben! Wer die Ergebnisse demokratischer Wahlen nicht respektiert, darf nicht behandelt werden wie eine normale Oppositionspartei. Der Kampf um die Demokratie in den USA geht auch uns etwas an. Wir müssen aus der Zuschauerrolle herauskommen.

Die Demokratie ist bedroht. Sie muss verteidigt werden. Aber viele Menschen in den USA und anderswo fühlen sich dabei nicht angesprochen. Sie haben andere Sorgen. Es ist nämlich nichts durchgesickert. Das Aufstiegsversprechen wurde gebrochen. Die Mittelschicht schrumpft seit Jahrzehnten. Zugleich wachsen die Vermögen der Reichsten immer schneller. Menschen, die sich vergessen fühlen, sind anfällig für jene, die Wut und Hass anfeuern.

Wer das „Soziale“ vergisst, der wird auch die „Marktwirtschaft“ nicht retten. Wenn hingegen das Versprechen, es werde unseren Kindern besser gehen als uns selbst, wieder erfüllt wird, dann wird sie auch verteidigt.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Wachstum und Dystopie

Erstellt von Redaktion am 17. Januar 2022

Die  Dystopie in einen totalitären Staat mit seiner Macht

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

von Stefan Meretz

Der Kapitalismus ist ein Erfolgsmodell. Dumm ist nur, dass Bestandteil dieses Erfolgs ist, die natürlichen Lebensgrundlagen – uns darin eingeschlossen – zu zerstören. Dabei geht es nicht nur um die Klimakatastrophe, die der Kapitalismus erfolgreich produzierend in die Welt gesetzt hat. Viel weniger Aufmerksamkeit bekommen andere Verherungen, etwa die geozeitlich gesehen sechste Welle des Artensterbens, die Meeresversauerung und Überfischung, das Aufbrauchen der Süßwasservorräte, die Zerstörung der Böden und Wälder, die Vergiftung der Biosphäre usw. Alle Indikatoren deuten darauf hin, dass es der Kapitalismus schaffen wird, die globale Menschheit in den Kollaps zu produzieren. It’s not a bug, it’s a feature.

Der Kern des destruktiven Erfolgs ist der intrinsische Wachstumszwang des Kapitalismus. Als Treiber dafür können zwei Elemente ausgemacht werden, Geld und Eigentum. Beide sind nicht voneinander zu trennen, ich will sie hier dennoch nacheinander durchgehen.

Das Geld steht für die Spaltung von als Waren produzierten Gütern in zwei Aspekte: jenen, der die Bedürfnisse befriedigt, der Gebrauchswert, und jenen, der die gesellschaftliche Verteilung organisiert, der Wert oder eben das Geld. Verkürzt gesagt stehen damit Bedürfnisse und Geld in zwei getrennten Lagern. Wir fragen nicht, was wir für unsere Bedürfnisse brauchen, sondern was wir bezahlen können. Gleichzeitig ist beides aneinander gekoppelt: Wir bekommen die Sache für unsere Bedürfnisse nur, wenn wir sie auch bezahlen können. Soweit zur Konsumseite.

Schauen wir nun auf die Produktionsseite, können wir den Wachstumszwang verstehen. Dazu dient folgende modellhafte Skizze. Nehmen wir ein individuelles oder kollektives Kapitalgebilde, ein Unternehmen oder eine Branche, kurz: ein Kapital. Das Kapital investiert in Produktionsvoraussetzungen und Arbeitskraft, um Waren zu produzieren und zu verkaufen. Aus dem Verkauf der Waren werden die (Kredite für die) Produktionsvoraussetzungen bezahlt. Die Arbeitskraft bekommt einen Teil der verbleibenden Gewinne als Lohn. Der Rest wird vom Kapital als Profit angeeignet.

Nun kommt’s: Von dem Lohn können die Arbeitenden die von ihnen hergestellten Waren nicht komplett zurückkaufen. Sie können nur die Waren kaufen, die – mehr oder weniger, das hängt auch von sozialen Kämpfen ab – ausreichen, um ihre Arbeitskraft zu erhalten. Wer kauft den Rest? Der kann nur von weiteren entlohnten Arbeitenden gekauft werden. Dazu muss die Produktion ausgedehnt werden. Die Investition dafür wird aus dem vorherigen Profit bezahlt. Damit steht jetzt zwar mehr Kaufkraft zur Verfügung, doch gleichzeitig wird auch wieder mehr produziert – wo kommt die Kaufkraft dafür her? Dazu muss wieder mehr produziert werden, damit die neuen Beschäftigten von ihrem Lohn etc. pp. Das bedeutet, schon die Spaltung in Gebrauchswert und Wert, in Bedürfnisse und Geld, erzeugt einen inneren Expansionsdrang.

Kurzer Seitenblick: Im Sozialismus läuft es im Prinzip genauso, nur dass der Mehrwert nicht von einem Kapital angeeignet wird, sondern vom Staat. Definitorisch ist das dann zwar keine Ausbeutung, doch für die Arbeitenden bleibt es das Gleiche: Sie können nicht alle von ihnen produzierten Waren zurückkaufen, was genauso zu Wachstum nötigt. Allerdings ist der Antrieb, die Produktion auch tatsächlich auszuweiten, hier viel geringer. Denn es fehlt das zweite Element, das wir im Kapitalismus finden.

Es ist das Privateigentum, es macht den Wachstumsdrang vollends zum Wachstumszwang. Wie das? Eigentum erlaubt den Ausschluss von Anderen von der Verfügung über eine Sache. Es ist die rechtliche Basis kapitalistischer Exklusionslogik. Es trennt alle von allen, so auch die Produzent*innen voneinander. Sie produzieren jeweils für sich und konkurrieren auf dem Markt um die begrenzte Kaufkraft – siehe oben. Die Konkurrenz zwingt sie zur Innovation, zur Verbilligung der bestehenden Produktion oder zur Schaffung neuer Produkte. Beides braucht Investitionen, und wer größer ist, kann mehr Geld (oder Kredit) einsetzen. Skaleneffekte – größere Mengen zu produzieren verbilligt die Stückkosten – tragen ihr übriges dazu bei. Wer es nicht schafft, den eigenen Marktanteil durch Innovation zu halten oder zu vergrößern, wird von der Konkurrenz verdrängt, die dem gleichen Zwang unterliegt. Nur wer wächst, überlebt. Q.e.d.

Die Exklusionslogik hat auch eine sachliche Seite, die Externalisierung. Um die Produktion zu verbilligen, wird alles rausgeworfen, was sie potenziell verteuert: Menschen- und Umweltschutz. Und es muss potenziell alles einverleibt werden, was verwertbar ist: Erdkruste, Biosphäre, Menschen. Die Ironie ist, dass die kapitalistische Warenproduktion damit genau jene Produktionsfaktoren zerrüttet, die sie eigentlich braucht.

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Sind Wetterkapriolen und Corona – die Zeichen von Unfähigen Regierungen?

Weil jedoch die Grundlagen der Produktion geschützt werden müssen, es die einzelnen Unternehmen jedoch nicht hinbekommen, ist der Staat notwendig. Auflagen und Einschränkungen sind für das Kapital kein Problem, solange sie für alle gleichermaßen gelten. Das Kapital flehte im 19. Jahrhundert den Staat an, die überbordenden Arbeitszeiten rechtlich zu begrenzen, weil sonst die kollektive Arbeitskraft ruiniert werde. Aufgrund der Konkurrenz brachten sie das selbst nicht zu Stande. Damals ging es um die Konkurrenz innerhalb eines Nationalstaats, heute geht es um die globale Ebene. Hier verhindert die Konkurrenz der Nationalstaaten untereinander den globalen Rettungseingriff.

Das bringt manche auf die Idee, dass ein Weltstaat den Kapitalismus bändigen könnte. Sie übersehen jedoch, dass staatliche Eingriffe meist erst im Nachhinein erfolgen. Das kann halbwegs funktionieren, solange die Auswirkungen der Externalisierung örtlich und zeitlich begrenzt sind. Bei den oben beschriebenen multiplen Katastrophen handelt es sich jedoch sowohl um globale wie um lange nachlaufende Prozesse. Auch punktuelle weltstaatliche Eingriffe wären „strukturell zu klein“ und kämen „strukturell zu spät“. Das gilt erst recht für die wesentlich dürftigeren „internationalen Abkommen“, mit denen wir es heute zu haben.

Solange Geld und Eigentum im Spiel bleiben, ist daran prinzipiell nichts zu ändern. Das bedeutet nicht, dass die Wirkungen von Geld und Eigentum nicht abschwächbar wären. Commons und solidarische Ökonomien machen das. Sie versuchen gegen die hinter unserem Rücken wirkende ökonomische Wachstums- und Destruktionsmechanik mehr Solidarität und Mitweltschutz durchzusetzen. Besser als nichts. Nötig wäre jedoch die Aufhebung von Geld, Eigentum, Markt, Staat – des Kapitalismus.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Grafikquellen          :

Oben     —     NS-Kundgebung in Berlin

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Unten      —       Houseboat Row on South Roosevelt Boulevard after Hurricane Georges September 1998. From the Dale McDonald Collection. Hurricane Georges in Key West, Florida, September 1998.

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Der Tägliche Klassenkampf

Erstellt von Redaktion am 16. Januar 2022

Klassenkampf oder prozessierender Widerspruch?

Politik ist das moderne Mobbing ! Die Großen tanzen ihren Zahlern auf die Köpfe.

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Wo lassen sich die entscheidenden Widersprüche verorten, die den Kapitalismus in immer neue Krisenschübe treiben?

Derzeit scheint es fast so, als ob bei künftigen Tarifverhandlungen – neben Gewerkschaftlern und Kapitalfunktionären – noch eine dritte Partei mit am Verhandlungstisch säße. Die zunehmende Inflation1 werde bei den diesjährigen Tarifgesprächen, bei denen die Gehälter von rund 10 Millionen Lohnabhängigen verhandelt werden, „eine zentrale Rolle“ spielen, hieß es bei ersten Ausblicken auf die Tarifrunden dieses Jahres.2 Angesichts der sich beschleunigenden Teuerungsrate stünden die Gewerkschaften unter Druck, substanzielle Lohnerhöhungen zu verhandeln, da ansonsten Reallohnverluste drohten. Der Vorsitzende der IG-Metall, Jörg Hofmann, sprach in diesem Zusammenhang etwa von einer „ordentlichen Erhöhung“, die im Herbst 2022 anstünde.3

Schon werden die ersten Warnungen vor einer Lohn-Preis-Spirale laut, die den Preisauftrieb beschleunigen würde. Der Focus4 erinnerte etwa an die Stagflationsperiode der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts, als der Ölpreisschock die Teuerung in der BRD 1973 und 1974 auf 7,1 und 6,9 Prozent steigen ließ, was die Gewerkschaften mit verstärktem Klassenkampf, mit hohen Tarifabschlüssen von rund 13 Prozent 1974 beantworteten. Daraufhin habe die Bundesbank die Leitzinsen erhöht, um die sich beschleunigende Inflation in den Griff zu kriegen, was die Bonner Republik in die Rezession rutschen ließ. Ähnlich agierten die Gewerkschaften in vielen weiteren westlichen Staaten in der damaligen Stagflationsperiode: Die zunehmenden Gewerkschaftskämpfe der 70er-Jahre sind gerade Ausdruck des zunehmenden Verteilungskampfes zwischen der organisierten Arbeiterschaft und dem Kapital. Und sie haben tatsächlich zur Ausbildung der Lohn-Preis-Spirale geführt, die in den angelsächsischen Ländern die neoliberale Gegenoffensive samt der Zerschlagung der Gewerkschaften in den 80ern unter Thatcher und Reagan ermöglichte.

Von einer solchen Lohn-Preis-Spirale kann aber derzeit keine Rede sein. Dies ist bislang auch in der Bundesrepublik eindeutig nicht der Fall: Die Reallöhne stagnierten sogar binnen der letzten 12 Monate, meldete das Statistische Bundesamt5 jüngst für das dritte Quartal 2021, sodass dieser Faktor bei der bisherigen Teuerung6 keine Rolle spielte. Selbst in den USA, wo es tatsächlich in den vergangenen Monaten Lohnsteigerungen gab, da die massiven, durch Gelddruckerei finanzierten Konjunkturpakte die aktive Arbeiterschaft im Pandemieverlauf um rund vier Millionen absinken ließ, blieben diese Preissteigerungen der Ware Arbeitskraft im „normalen Rahmen“, wie es selbst der IWF formulierte. Der Druck, die Löhne anzuheben, bleibe auch in den meisten anderen Industrieländern „gedämpft“, konstatierte die Financial Times.7

Die üblichen Warnungen wirtschaftsnaher oder rechter Medien vor zu großen Lohnsteigerungen scheinen somit unbegründet – oder zumindest verfrüht. En passant wird hier aber auch deutlich, dass der Klassenkampf, der Klassenkonflikt zwischen Proletariat und Bourgeoise, den die traditionelle Linke als zentral für das Verständnis des Kapitalismus ansieht, nicht die Ursache der gegenwärtigen Krisenerscheinungen bildet. Es ist ja gerade nicht der „Klassenkampf“, der die Inflation anheizt, die offensichtlich von anderen Faktoren, von anderen Widersprüchen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses befeuert wird. Eher könnte gerade das Gegenteil der Fall sein, wie die Tagesschau bei ihrer Warnung vor einer Lohn-Preis-Spirale bemerkte,8 da die gegenwärtige Teuerung dazu führen könne, dass künftige Tarifrunden „umkämpfter“ wären.

Ähnlich verhielt es sich bei der mit hoher Inflation, häufigen Rezessionen und zunehmender Arbeitslosigkeit einhergehenden Stagflationsperiode der 70er, mit der die Phase der fordistischen Nachkriegsprosperität im Westen endete. Die Phase der relativen Tarifpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit in der „Wirtschaftswunderzeit“ der 50er und 60er, als die Erschließung neuer Märkte Raum für Lohnerhöhungen bot, wich dem härteren, durch Inflation zusätzlich befeuerten Verteilungskampf der tendenziell schrumpfenden Profite in der Krisenperiode der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Die sinkende Profitrate am Ende des fordistischen Booms führte in die Stagflationsperiode mit ihren an Intensität gewinnenden Klassenkämpfen9 – und nicht umgekehrt, wie es gerne von neoliberaler Ideologie postuliert wird. Es liegt somit der Gedanke nahe, dass der Klassenkampf in seiner Intensität eine abhängige Größe ist – und von einem weiteren, fundamentalen Selbstwiderspruch des Kapitals abhängig ist.

Krise als historischer Prozess

Karl Marx hat diesen Selbstwiderspruch des Kapitals, der das Weltsystem instabil und selbstzerstörerisch macht, in seinen theoretischen Arbeiten klar benannt, wobei er aber nie das konkrete Verhältnis zwischen dem äußeren, vor allem im 19. Jahrhundert überall augenscheinlichen Klassenkampf, und dem inneren, krisentreibenden Widerspruch des Kapitals erhellte. Was also treibt das Kapital in immer neue Krisen? In dem Maschinenfragment10 der „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“11 wurde das Kapital als der „prozessierende Widerspruch“ bezeichnet, der sich tendenziell seiner Substanz, der wertbildenden Arbeit in der Warenproduktion, entledigt:

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„Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung – question de vie et de mort – für die notwendige.“

Arbeit, verwertet in der Warenproduktion, bildet die Substanz des Kapitals – doch zugleich ist das Kapital bemüht, Arbeit durch Rationalisierung und Automatisierung in der Warenproduktion zu minimieren. Dieser Prozess läuft marktvermittelt ab: blind, gesamtgesellschaftlich unkontrolliert, angetrieben von der Dynamik höchstmöglicher Profitgenerierung (Siehe hierzu: „Zurück zur Stagflation“)12. Die auf Profitmaximierung abzielenden Handlungen der Marktsubjekte, der sich an betriebswirtschaftlicher Logik orientierenden Kapitalisten, bringen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine blind prozessierende Verwertungsdynamik hervor, die ihnen selber als ein anonymer, durch Märkte vermittelter Sachzwang gegenübertritt.

Entscheidend bei der Entfaltung des inneren Widerspruches des Kapitals ist somit seine Innovationsfähigkeit, ergo die Instrumentalisierung technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Warenproduktion zwecks Profitmaximierung. Durch Produktivitätssteigerungen können einzelne Kapitalisten in einem Industriezweig Konkurrenzvorteile (Extraprofite) erzielen, Konkurrenten vom Markt verdrängen, bis diese neuen Produktionstechniken allgemein übernommen und verallgemeinert werden. Hiernach beginnt das Spielchen von vorne – wieder finden Innovationen bei einzelnen Unternehmen statt, die später nachgeahmt werden und zu allgemeinen Produktivitätssteigerungen führen. Hieraus resultiert eine beständig steigende Produktivität, und die Abnahme der notwendigen Arbeitskräfte in einem gegebenen Industriezweig. Je länger ein solcher Industriezweig (zum Beispiel Textilindustrie oder Schwerindustrie) besteht, desto stärker wandelt sich seine Reproduktionsstruktur von einer arbeitsintensiven zu einer kapitalintensiven Produktion.

Kapital tendiert somit dahin, durch anonyme Marktkonkurrenz sich seiner eigenen Substanz zu entledigen. Das geniale Moment der marxschen Begriffsbildung des prozessierenden Widerspruchs besteht aber darin, dass hier sowohl diese Tendenz zur Entsubstanzialisierung, wie auch der Modus, in dem diese in Raum und Zeit überbrückt werden kann, benannt werden: das „prozessieren“, oder schlicht die Expansion.

Das Kapital muss expandieren, oder es kollabiert an sich selbst. Sein innerer Widerspruch kann nur im „Prozessieren“, in einer permanenten Expansionsbewegung aufrechterhalten werden, die in drei Dimensionen vonstatten geht. Zum einen ist, historisch betrachtet, hierbei die „periphere“ oder „äußere Expansion“ des kapitalistischen Weltsystems zu nennen, die – von Europa ausgehend – seit der frühen Neuzeit in der blutigen, massenmörderischen Eingliederung peripherer Regionen in den Weltmarkt zwecks Kapitalexport und Rohstoffimport durch imperiale Mächte bestand. Daneben bestehen noch Möglichkeiten der „inneren Expansion“, bei der neue Gesellschaftsfelder der Kapitalverwertung erschlossen werden – dieser historische Prozess, in dem alle Gesellschaftsbereiche der Verwertungslogik unterworfen werden, wurde erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend abgeschlossen.

Entscheiden bei der Perpetuierung des prozessierenden Widerspruchs des Kapitals ist aber qualitative oder „technologische Expansion“, da der technische Fortschritt – der in den bestehenden Industriezweigen zu Rationalisierung führt – auch zur Herausbildung neuer Wirtschaftszweige beiträgt, die wiederum Arbeitskräfte verwerten und Felder zur Kapitalverwertung eröffnen. Über einen bestimmten Zeitraum hinweg besitzen bestimmte Industriesektoren die Rolle eines Leitsektors, bevor diese durch andere, neue Industriezweige abgelöst wurden: So erfährt das kapitalistische Weltsystem seit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert einen industriellen Strukturwandel, bei dem die Textilbranche, die Schwerindustrie, die Chemiebranche, die Elektroindustrie der Fahrzeugbau, usw, als Leitsektoren dienten, die massenhaft Arbeit verwerteten.

Doch genau dies funktioniert nicht mehr, nachdem die Arbeit aufgrund der Rationalisierungsschübe der mikroelektronischen Revolution sich innerhalb der Warenproduktion verflüchtigt. Seit Anbeginn der Industrialisierung hatten wir es also mit Metazyklen zu tun, die eben durch den besagten „prozessierenden Widerspruch“ angetrieben wurden: Sobald durch fortschreitende technische Entwicklung die Massenbeschäftigung in einem älteren Sektor nachließ, entstanden durch denselben wissenschaftlich-technischen Fortschritt neue Industriezweige, die die »überschüssige« Arbeitskraft aufnahmen. Die Periode der Stagflation (Siehe „Back to Stagflation)13, der das neoliberale Zeitalter mit seinem verstärken „Klassenkampf von oben“ und der Finanzialisierung des Kapitalismus folgte, war gerade Ausdruck dieses historischen Krisenprozesses, der das spätkapitalistische Weltsystem immer höhere Schuldenberge anhäufen lässt. Die kapitalistische Systemkrise muss somit als eine – neoliberale, durch Globalisierung und Finanzialisierung geprägte – Geschichtsperiode bestimmt werden, in der die Verschuldung des Weltsystems schneller ansteigt als dessen Wirtschaftsleistung, das System faktisch auf Pump existiert – und die durch Phasen manifester Krisenausbrüche gekennzeichnet ist, in denen an Umfang zunehmende Spekulations- und Schuldenblasen platzen und von der Krisenpolitik unter immer höheren Kosten eingedämmt werden müssen. Das Kapital stellt seine eigene, innere Schranke dar, die sich immer deutlicher ausformt und das System in der Tendenz in den sozialen und ökologischen Kollaps treibt.

Diese Krisenperiode ist erst unter Reflexion des erläuterten marxschen Begriffs des „prozessierenden Widerspruchs“ voll verständlich: Schwere Systemkrisen treten nämlich dann ein, wenn diese mehrdimensionale Expansionsbewegung nicht mehr ohne Weiteres möglich ist, wenn die Masse verwerteter Arbeit in den alten Industriezweigen abnimmt, ohne dass neue Industriezweige diese überflüssige Arbeit aufnehmen können. Sobald der Kapitalverwertung keine neuen Felder der Expansion zur Verfügung stehen, verlagert sie sich in die Sphäre der Finanzsphäre, was zu Blasenbildung und Verschuldungsprozessen führt. Dies war etwa in den „Roaring Twenties“ des 20. Jahrhunderts der Fall, die dem Krach von 1929 und der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre vorangingen.

Der Krisentheoretiker Robert Kurz bezeichnete in diesem Zusammenhang die kapitalistische Entwicklung von 1929 bis 1945 als Durchsetzungskrise, die dem Fordismus samt der Massenmotorisierung, dem Weg ebnete. Das „neue“ fordistische Akkumulationsregime (Massenmotorisierung), das dem Kapitalismus in den 1950ern und 1960ern sein „Goldenes Zeitalter“ (Hobsbawn) verschaffte, erfuhr gerade in der totalen Mobilisierung während des Zweiten Weltkrieges seinen Durchbruch. Die kapitalistische „Nachkriegsprosperität“ fußte auf den Leichenbergen des Zweiten Weltkriegs, nach dessen Ende es de facto keine Demobilisierung gab: Die massenhafte Kriegsproduktion von Panzern, Flugzeugen, etc., ging in die Massenproduktion von Autos über.

Klassenkampf von oben als Krisenreaktion

Mit dem Auslaufen des langen fordistischen Nachkriegsbooms ging auch die Ära der Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit zu Ende. Der verstärkte Klassenkampf von Oben, der – nach dem blutigen Vorspiel 1973 in Chile – spätestens mit der neoliberalen Wende in den USA und Großbritannien einsetzte, war gerade Folge der Krise, konkret des mit der Stagflation einsetzenden Falls der Profitrate in den meisten kapitalistischen Kernländern. Hier setzten die neoliberalen „Reformen“ der „Reaganomics“ von US-Präsident Ronald Reagan (1981–1988) und des „Thatcherism“ der englischen Regierungschefin Margaret Thatcher (1979–1990) an. Die Profitraten in den USA konnten sich tatsächlich merklich erholen, wobei dies auf Kosten der amerikanischen Arbeiterklasse geschah. So stagnieren seit der Reagan-Ära die realen, inflationsbereinigten Löhne der US-Bevölkerung. Heute verdienen die Lohnabhängigen der USA faktisch weniger als 1973.

Um es in marxschen Begriffen zu formulieren: Durch den verstärkten Klassenkampf von oben, das Absenken der Kosten für die „Ware Arbeitskraft“ konnte der Anteil der notwendigen Arbeitszeit am variablen Kapital verkürzt, derjenige der Mehrarbeit erhöht werden. Die sinkende Profitrate wurde durch die Erhöhung der Mehrwertrate saniert. Das Brechen gewerkschaftlicher Gegenmacht in beiden Ländern bildete die Voraussetzung der partiellen Sanierung der Profitraten in der Warenproduktion, wobei eine Nachfragekrise (stagnierende Massennachfrage bei zunehmender Produktivität der Arbeit) durch die Finanzialisierung des Kapitalismus und letztendlich Schuldenmacherei vertagt wurde.

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Sind nicht Heute die Gewerkschaftsfunktionäre und Politiker-Innen die größten Handlanger der Ausbeuter – da sie dieses nicht nur zulassen sondern auch aktiv unterstützen ? Ganz Gleichgültig ob in der Regierung oder Opposition.

Der verstärke Klassenkampf samt Neoliberalismus seit den 80ern bildete somit eine Reaktion auf die Zuspitzung des inneren, prozessierenden Widerspruchs des Kapitals. Eben diese Krisenfolgen treten allen Akteuren innerhalb der Wirtschaft und Politik als zunehmende, objektivierte Widersprüche oder „Sachzwänge“ gegenüber. Die Subjekte reagieren systemimmanent mit einer Intensivierung der Konkurrenz darauf: Politiker und Staaten, die im Rahmen der Standortkonkurrenz Sozialabbau durchsetzen, Konzerne, die immer brutalere Formen der Ausbeutung finden – aber auch Lohnabhängige, die verstärkt zu Mobbing übergehen. Eine mörderische Konkurrenz findet also auf allen Ebenen statt. Die Folgen reichen vom Burnout bishin zum Amoklauf.

Der marktvermittelte stumme Zwang der immer „härter“ werdenden Verhältnisse nötigt die Charaktermasken ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion dazu, diesen bei Strafe des eigenen Untergangs zu exekutieren. Derjenige Kapitalist, der es im zunehmenden Konkurrenzkampf auf den „enger“ werdenden Märkten nicht vermag, die Ausbeutung seines Menschenmaterials zu steigern, wird in der Krisenkonkurrenz untergehen. Dasselbe gilt für die kapitalistischen Volkswirtschaften als nationale „Standorte“, die sich ebenfalls in einem krisenbedingten Wettlauf nach unten befinden.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen scheint nun auch eine klare Einschätzung des Klassenkampfs möglich. Hierbei handelt es sich somit um einen Verteilungskampf innerhalb des Reproduktionsprozesses des Kapitals, dessen Intensität von dessen konkreter, historischer Widerspruchsentfaltung bestimmt wird. In Perioden starker ökonomischer Expansion wie in der Nachkriegskonjunktur bis in die 1970er können Formen der „Sozialpartnerschaft“ zwischen den Funktionseliten des Kapitals und den Gewerkschaften als Vertretern der Lohnabhängigen (des „variablen Kapitals“, wie es bei Marx heißt) aufkommen . Solange die Märkte stark expandieren, können hohe Profite mit Löhnen vereinbart werden, die Lohnabhängige zu Konsumenten machen – immer unter Vorraussetzung einer positiven Anerkennung der sog. Gesetze der Wirtschaft. Dies ändert sich relativ schnell in Krisenperioden, wenn es für jeden Kapitalisten vornehmlich darum geht, den irrationalen Selbstzweck der Kapitalakkumulation notfalls auch auf Kosten der eigenen Lohnabhängigen zu perpetuieren – und diese dann massenhaft „Freisetzen“, da sie ökonomisch nicht mehr verwertbar sind. Dann wird den Menschen eben der Klassenkampf als Kampf um Anerkennung als arbeitendes Menschenmaterial zum Verhängnis. Schlussendlich bedeutet Klassenkampf Unterwerfung unter die Imperative des Kapitals, die keineswegs infrage gestellt werden. Dass die Arbeiter sich auch gern stolz mit „ihrer Industrie“ und mit „ihrem Wirtschaftsstandort“ identifizieren, verwundert nicht.

Das bedeutet aber auch: Dem Klassenkampf als Verteilungskampf wohnt somit keine objektive transformatorische Potenz inne. Es ist ein Kampf um Anteile an einer krisenbedingt abschmelzenden, realen Wertproduktion – ohne aber diese irrationale Form gesellschaftlicher Reproduktion infrage zu stellen. Der Klassenkampf (schlussendlich auch der historische Klassenkampf vergangener Zeiten) bewegt sich also in den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung (Wert, Arbeit, Kapital, Staat) und sucht Emanzipation und Anerkennung in diesen Kategorien, statt gegen diese.

Der sich verschärfende Klassenkampf ist somit ein Verteilungskampf. Die Militanz, mit der dieser krisenbedingt eskalierende „Klassenkrieg“ propagiert wird, verdeckt seine mangelnde Radikalität, da hier die Krisenursachen und die fetischistische Form gesellschaftlicher Reproduktion im Kapitalismus nicht reflektiert werden. Um es mal plastisch auszudrücken: Das Fundament, auf dem die Klassenakteure agieren, die Verausgabung von Arbeit in der Warenproduktion, zerfällt zunehmend (Daran ändert auch der derzeitige pandemiebedingte Arbeitskräftemangel nicht viel, der überdies durch die gigantischen Konjunkturmaßnahmen und das Gelddruckprogramm der Fed bedingt ist).

Erst bei Reflexion auf den besagten „prozessierenden Widerspruch“, auf die sich zuspitzende innere Schranke des Kapitals, könnte dazu führen, die „soziale Frage“ jenseits des Klassenkampfes zu stellen. Es gilt, das „gute Leben“ gegen die verrückte kapitalistische Verwertungsbewegung zu erkämpfen, die stets die Basis und den Rahmen des Klassenkampf bildete. Der Klassenkampf kam nie auf die Idee, einen sinnvollen Umgang mit den Ressourcen zu fordern. Gerade bei Lohnkämpfen wird deutlich, dass es nur darum geht, die Arbeit besser zu entlohnen und den kapitalistisch produzieren Dreck besser zu verteilen. Nutznießer solcher Kämpfe können ohnehin nur jene sein, denen noch in den Zentren des Weltsystems das „Glück“ beschieden ist, vom Kapital ausgebeutet zu werden. Jene für das Kapital Überflüssigen, wie etwa Flüchtlinge, Slumbewohner usw. werden vom Klassenkampf überhaupt nicht erfasst. Die Herausbildung eines notwendigen transformatorischen Bewusstseins und einer korrespondierenden emanzipatorischen Bewegung darf sich allerdings nicht nur auf die „soziale Frage“ allein beschränken, sondern alle krisenbedingt zunehmenden Widersprüche und Kampflinien in den Fokus nehmen (zumal sie sich ohnehin überschneiden), wie den Kampf gegen Faschismus, religiösen Fanatismus, Rassismus, Sexismus, die Klimakrise, die zunehmende Kriegsgefahr oder autoritäre und antidemokratische Tendenzen im Staatsapparat – diese Kämpfe müssten als Momente eines überlebensnotwendigen Transformationskampfes begriffen und propagiert werden: eines Kampfes um die Ausformung einer postkapitalistischen Gesellschaft, der den drohenden sozioökologischen Kollaps verhindern würde.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

1 http://www.konicz.info/?p=4389

2 https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/tarifverhandlungen-inflation-corona-100.html

3 https://www.wiwo.de/unternehmen/industrie/aus-angst-vor-der-inflation-ig-metall-chef-fordert-eine-ordentliche-erhoehung-statt-reallohnverluste/27638184.html

4 https://www.focus.de/die-welt-2022/die-welt-2022-die-hohe-inflation-ist-kein-argument-fuer-hoehere-loehne_id_24617175.html

5 https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Realloehne-Nettoverdienste/_inhalt.html

6 http://www.konicz.info/?p=4389

7 https://www.ft.com/content/4e9907d0-06ea-469e-8f32-e07dcd69f1a8

8 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/tarifvertrag-gewerkschaften-bezahlung-inflation-101.html

9 https://www.heise.de/tp/features/Der-Zerfall-des-deutschen-Europa-3370918.html

10 https://thenewobjectivity.com/pdf/marx.pdf

11 http://dhcm.inkrit.org/wp-content/data/mew42.pdf

12 https://zcomm.org/znetarticle/back-to-stagflation/

13 https://zcomm.org/znetarticle/back-to-stagflation/

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben       —       Illustration von Industrial Workers of the World (IWW): „Die Pyramide des kapitalistischen Systems“

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Gedanken zu Negativzinsen

Erstellt von Redaktion am 11. Januar 2022

Der Traum vom ewigen Wirtschaftswachstum

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Wirklich traumhaft muss es erscheinen, wenn die eigene Immobilie innerhalb weniger Jahre ihren Wert verdoppelt oder doch erheblich steigert, ohne dass wir einen Finger rühren, also leistungslos. Fragt man sich nach dem Grund dieses wundersamen Wertzuwachses, verschlägte es einem schier den Atem ob der uns weitgehend unbekannten und auch kaum nachvollziehbaren finanziellen Machenschaften. Dabei geht es im Ergebnis um eine radikale Umverteilung, die Reiche immer noch unvorstellbar reicher macht, während der Großteil der Bevölkerung nicht nur leer ausgeht, sondern ohnmächtig real ärmer wird. Und wer hätte wohl gedacht, dass dahinter die erstaunlich antidemokratischen Manipulationen der Notenbanken stehen? Dabei stellt die EZB ausdrücklich fest: „Unser vorrangiges Ziel besteht darin, Preisstabilität zu gewährleisten, also den Wert des Euro zu wahren“. Tatsächlich finanziert sie jedoch praktisch zum Nullzins eigentlich zahlungsunfähige Staaten, Banken und Unternehmen. So entsteht Wirtschaftswachstum stupend durch Schuldenmachen. Im liberalen Kapitalismus geht es gnadenlos um Wachstum um jeden Preis, eben auch durch Verschuldung, denn jede zu erwartende oder reale Inflation mindert die Schulden proportional. Pecunia non olet (Geld stinkt nicht) ist seit dem römischen Kaiser Vespasian die Bezeichnung für eine Geldbeschaffung aus unsauberen Quellen. Sparen war eigentlich einmal eine Tugend, die aber heute von den Banken nicht mehr honoriert wird, denn sparen kostet jetzt richtig Geld. Dadurch flieht das Geld in Immobilien und Aktien, während Otto Normalverbraucher mit dem Ofenrohr ins Gebirge schaut. Und die Politik schaut tatenlos zu, wie die Notenbanken einen gesunden Wettbewerb aushebeln und unsere hochgelobte Marktwirtschaft verhunageln.

Für die Mehrheit unserer Bevölkerung wird ein solcher Traum aber zu einem Albtraum, denn zu der perversen Umverteilung kommt jetzt auch noch eine brutale Enteignung durch die Inflation. Diese trifft gnadenlos wieder merklich nur die Schwächeren in unserer Gesellschaft, die aber durch ihre Arbeit und Steuern ganz erheblich zum Wohl unseres Volkes beitragen, gegenüber den Machenschaften der Notenbanken aber machtlos sind. Hier versagt unsere Demokratie, denn das Volk ist der Souverän. Partikularinteressen am Parlament vorbei dürfen nicht sein. Wenn die Teuerungsraten die Lohn- oder Rentenzuwächse übersteigen, muss det Staat handeln. Ohne wenn und aber. Hier geht es auch um die Würde des Menschen, die keinesfalls einer ruchlosen Geldpolitik der Finanzmärkte geopfert werden darf.

Dabei liegt die Lösung auf der Hand. Die EZB soll wirklich das tun, was sie selbst als vorrangige Aufgabe sieht, sich konsequent der Kontrolle unseres Parlaments unterwerfen und ihre Einnahmen aus Negativzinsen direkt und schnörkellos an unsere Sozialsysteme überweisen. Hier ist natürlich unsere Ampelregierung gefordert. Ampel sofort auf Rot für die aktuelle Praxis der EZB ohne demokratische Legitimation, Ampel kurzzeitig auf Gelb für eine demokratiesichere Regelungsfindung und dann dauerhaft auf Grün bei einer sozialgerechten Aktivität der Notenbank. Der Wachstumswahn einer sich nur am Kapital aufgeilenden Finanzwirtschaft darf nicht zum Albtraum für das Wohl und Wehe unseres Volkes werden.

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben       —     Gerechtigkeitsbrunnen in der Gerechtigkeitsgasse Berns – Justitia zu Füßen sind ein Papst, Kaiser, Sultan und Schultheiß

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Eine verlogene Erklärung

Erstellt von Redaktion am 6. Januar 2022

Niemand hat die Absicht, atomare Waffen einzusetzen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Andreas Zumach /   

Die fünf offiziellen Atomwaffenmächte sprechen sich für eine atomwaffenfreie Welt aus. Die Erklärung ist verlogen.

«Wir wollen mit allen Staaten zusammenarbeiten, um das endgültige Ziel einer Welt ohne Atomwaffen zu erreichen, und bekennen uns zu unserer Verpflichtung aus dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NPT), Verhandlungen über ein Ende des atomaren Rüstungswettlaufs und ein Abkommen zur vollständigen Abrüstung zu führen.» Das behaupten die fünf offiziellen Atomwaffenstaaten und ständigen Vetomächte des Uno-Sicherheitsrates – die USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien (P5) – in einer gemeinsamen Erklärung, die am Montag  in New York veröffentlicht wurde.

(Am Dienstag hätte dort die 10. NPT-Überprüfungskonferenz beginnen sollen. Diese wurde aufgrund der Corona-Pandemie jedoch kurzfristig abgesagt und auf verschoben. Die Medien wurden über die Entscheidung überhaupt nicht oder zumindest nicht rechtzeitig informiert. Korrektur vom Mittwoch, 5. Januar.)

Irreführend und unwahr

Wie auch immer: Die zitierte Behauptung ist ebenso irreführend und unwahr wie das Bekenntnis der fünf Atomwaffenmächte zur «Stärkung von Stabilität und Vorhersehbarkeit». Und die an sich völlig richtige Feststellung, dass «ein Nuklearkrieg nicht gewinnbar ist und niemals geführt werden darf», erinnert aus dem Mund der P5 an Walter Ulbrichts Satz «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen».

Denn tatsächlich verweigern und boykottieren die P5 bislang jegliche multilaterale Verhandlung zu atomarer Abrüstung. Stattdessen betreiben sie mit grossem Aufwand und unter Verschleuderung gigantischer Geldsummen die von allen Seiten stets als «Modernisisierung» verharmloste Aufrüstung ihrer atomaren Arsenale. Dabei werden immer mehr Waffensysteme entwickelt, die zerstörungsstärker, zielgenauer, schneller und flexibler einsetzbar sind als ihre Vorgänger – und damit gefährlicher und unberechenbarer für den Gegner. Das gilt für die geplanten Nachfolgesysteme der US-Atombomben in der Eifel, für deren Einsatz auch die neue Bundesregierung neue Kampfflugzeuge anschaffen will, ebenso wie für die von Russland entwickelte Hyperschallrakete Zirkion, die mit einer Geschwindigkeit von 10.000 Stundenkilometern dem anvisierten Gegner jede Vorwarnzeit und Abwehrchance nimmt.

Andreas Zumach (Journalist).jpg

Destabilisierend

Derartige Waffen senken die Schwelle zum Einsatz und bewirken das Gegenteil der von den P5 angeblich angestrebten «Stabilität und Vorhersehbarkeit». Noch führen die USA und Russland den atomaren Aufrüstungswettlauf an. Doch China zieht inzwischen gewaltig nach. Die Erklärung der P5 dürfte kaum ausreichen, den wachsenden Unmut der 186 Vertragsstaaten des NPT, die auf atomare Waffen verzichtet haben, zu beruhigen. Daher wäre ein erneutes Scheitern der New Yorker Überprüfungskonferenz wie schon 2015 keine Überraschung. Zumal auch der Beschluss zur Durchführung einer Uno-Konferenz über eine massenvernichtungsfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten, mit dem die NPT-Konferenz 2010 gerettet werde konnte, wegen des Widerstandes von Israel und der USA bis heute nicht umgesetzt wurde.

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Grafikquellen        :

Oben      —    Explosion von Upshot-Knothole Badger 1953 auf der Nevada Test Site

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 6. Januar 2022

Die neue Lust an protestantischer Disziplin

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche führt Ulrich Gutmair

Drei rote Fäden haben sich durch das zu Ende gehende Jahr gezogen. Sie heißen Corona, Herrschaft des Mobs und rechter Populismus.

Auf einem der roten Fäden, die sich durch dieses nun zur Neige gehende Jahr gezogen haben, hängt ein Schildchen mit der Aufschrift „Corona“. Einer der Irrtümer bezüglich dieser Pandemie, der sich übers Jahr 2021 hinweg beharrlich hielt, war die Vorstellung, man müsse nur noch ein bisschen „durchhalten“, dann sei bald alles wieder wie früher. Erst langsam scheint sich die Erkenntnis Bahn zu brechen, dass wir uns mit dieser Krise noch ein, zwei, und – wenn’s dumm geht – noch drei oder vier Jahre werden auseinandersetzen müssen. „Long Covid“ hat auch eine soziale Bedeutung.

Ein weiterer Irrtum, von dem in letzter Zeit aber nur noch wenig zu hören war, trug den Namen „Zero Covid“. Damit war ein kommunistischer Super-Lockdown gemeint, für den das Kapital bezahlen sollte. Dummerweise dachte dieses in warmen Kreuzberger Stuben gefeierte Konzept nicht mit, dass das Einfrieren des gesellschaftlichen Lebens auf der ganzen Welt gleichzeitig stattfinden müsste, um zu funktionieren. Alternativ hätte man natürlich auch ein paar Jahre lang die Grenzen hermetisch abriegeln können, um im schönen Deutschland die Früchte von „Zero Covid“ genießen zu können.

Währenddessen entwickelte sich mit fortschreitender Pandemie in manchen Menschen ein unerbittlicher Stolz, der jenen eigen ist, die von sich wissen, dass sie – im Gegensatz zu den unmoralischen und dummen anderen – alles richtig machen. Keine Maßnahme war hart genug, um von ihnen nicht noch als zu lasch und unzureichend empfunden zu werden. Die leiseste Kritik am Pandemiemanagement der Regierung wurde mit dem Entsenden rhetorischer Kanonenboote beantwortet.

Die protestantische Lust an rigoroser Disziplinierung von sich und anderen braucht ein Publikum, und so feierte man mittels Selfie mit entblößtem Arm und Pflaster die eigene moralische Korrektheit. Das modische Äquivalent der neuen Geißelkultur sind ganz in Schwarz gekleidete Hipster, die ihre FFP2-Masken auch bei frischer Brise nachts um zwei tragen, wenn sie ihre Hunde ausführen.

COVID-19-Pandemie-Collage.jpg

Progressive Mob­be­r*in­nen

Es zieht sich noch ein roter Faden durch das Jahr, der mit „Herrschaft des Mobs“ charakterisiert werden könnte. Denn wer heute gut gelaunt polemisiert, hat schnell eine Meute am Hals, die all jene, welche die meist billig zu habende Meinung des Mobs nicht teilen, als Rechte und Reaktionäre outet und an den Pranger stellt. Unter den progressiven Mob­be­r*in­nen tummeln sich gern auch mal Leute, die man nie auf einer Demo sah und denen Arbeit an emanzipatorischer Praxis sowie das mühsame Formulieren von Kritik eher lästig zu sein scheint.

Ein dritter roter Jahresfaden führt uns last but not least zum Phänomen des rechten Populismus, dessen Siegeszug ins Stocken zu kommen scheint. In Chile gewann eben ein junger Linker die Wahl, der sich die Abwicklung des neoliberalen Projekts auf die Fahne geschrieben hat. Gleichzeitig war zu hören, dass sich die Briten mit ihrer populistischen Brexit-Politik wirtschaftlich tief ins eigene Fleisch geschnitten haben.

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Grafikquellen          :

Oben     —    Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Unten     —   Dies ist eine Collage, die ich basierend auf der Collage gemacht habe, die im spanischen Wikipedia-Artikel der Pandemie Pandemia de COVID-19 vorhanden ist, die Collage enthüllt mit einer Reihe von Bildern, wie die Pandemie die Welt beeinflusst hat. Von links nach rechts und von oben nach unten: Bestattung von Opfern von COVID-19 im Iran; Student in Mexiko, der eine Gesichtsmaske trägt, während er von zu Hause aus Online-Unterricht nimmt; Krankenschwester in Italien, die zeigt, dass ihr Gesicht aufgrund langer Stunden mit medizinischen Geräten als Helfer für Menschen, die mit COVID-19 infiziert sind, verletzt ist; Krankenschwester, die einen Patienten mit COVID-19 auf einer Intensivstation an Bord der USNS Comfort, einem US-Hospitalschiff, behandelt.

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Ökonomische Monokultur

Erstellt von Redaktion am 4. Januar 2022

Wirtschaftsjournalismus ist stark von der Neoklassik geprägt.

Von Valentin Sagvosdkin

Wirtschaftspolitische Empfehlungen spiegeln immer bestimmte ökonomische Theorien wider. Für die demokratische Meinungsbildung ist das fatal – aber es regt sich Widerstand.

Medien berichten häufig über Wirtschaftspolitik. Dabei dominiert eine Strömung, die bei Öko­no­m:in­nen „Neoklassik“ heißt und meist Positionen nahelegt, die auch als „neoliberal“ bezeichnet werden. Es häufen sich Studien, die dieses neoliberale Grundmuster im Wirtschaftsjournalismus belegen.

So untersuchte der Würzburger Professor für Wirtschaftsjournalismus, Kim Otto, gemeinsam mit Kolleg:innen, wie deutsche Leitmedien über Arbeitsmarktpolitik berichten. Sie durchforsteten über 100.000 Artikel aus dem Zeitraum von 1997 bis 2017. Ergebnis: Es dominierten neoklassische Ansichten, vor allem während der Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder, also von 1998 bis 2005. Typische neoklassische Positionen sind etwa, dass die Steuern für Unternehmen zu senken seien und der Arbeitsmarkt „flexibel“ sein müsse. Was das heißt, haben Millionen Beschäftige und Arbeitssuchende zu spüren bekommen: mehr Zeitarbeit, mehr Werkverträge, Hartz IV.

Zu wirtschaftlichen Fragen wird die Expertise (meist männlicher) „Top-Ökonomen“ oder „Experten“ von ausgewählten Forschungsinstituten herangezogen. Sie werden zwar oftmals mit Namen und Institution zitiert – der theoretische Hintergrund ihrer Einschätzung wird aber kaum eingeordnet. Die typisch neoliberale Erzählung geht so: Der Staat ist in Wirtschaftsfragen eher inkompetent. Er sollte dem Markt zwar einen gewissen Rahmen setzen, aber im Sinne der „schwäbischen Hausfrau“ möglichst keine Schulden machen, da diese auf Kosten zukünftiger Generationen gehen würden. Mindestlöhne sollten möglichst niedrig sein, um die Unternehmen nicht zu belasten und Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Klimaschutz funktioniert am besten, indem die Natur mit einem Preisschild versehen wird und wir auf technische Innovationen und Wachstum setzen. Kurz: „Der Markt“ regelt.

Beim Gebäudeeinsturz in Sabhar (bengalischসাভারSābhārenglischSavar) etwa 25 km nordwestlich der Hauptstadt Dhaka in Bangladesch am 24. April 2013 wurden 1135 Menschen getötet und 2438 verletzt.[1][2] Der Unfall ist der schwerste Fabrikunfall in der Geschichte des Landes.[3]

Öko­no­m:in­nen anderer Strömungen sehen das jedoch anders: So können die Ausgaben des Staates als Investitionen für die Zukunft betrachtet werden. Mindestlöhne gefährden keine Arbeitsplätze – schließlich werden die Löhne wieder ausgegeben und kommen den Unternehmen dann als Einnahmen zugute. Klimaschutz erfordert ein Umdenken: Statt von einem angeblich einheitlichen Markt zu reden, sollten besser nachhaltige Konzepte von zukunftsfähigen Unternehmungen gefördert werden. Viele Öko­no­m:in­nen gehen inzwischen davon aus, dass eine rechtzeitige Begrenzung der Erderhitzung unmöglich ist, wenn die Wirtschaft weiterhin auf Wachstum ausgerichtet ist. Sie haben neue Ansätze entwickelt, die Natur und Wohlstand nicht nur durch die ökonomische Brille des Geldes betrachten. Wirtschaftspolitische Empfehlungen spiegeln also immer bestimmte ökonomische Theorien wider. Im Gewand der ökonomischen Expertise werden wirtschaftspolitische Positionen transportiert, die alles andere als neutral sind. Die Dominanz einer spezifischen Sichtweise ist nicht nur für die demokratische Meinungsbildung fatal. Sie verschärft auch Fehlentwicklungen.

So wurde in der Finanzkrise 2007 medial noch Beruhigungsrhetorik erzeugt, während der Crash schon in vollem Gange war. Neoklassische Ökonomen hatten die Krise schlicht nicht kommen sehen. Mehr noch: Auch im Nachhinein wurde die Krise ganz im Sinne der neoklassischen Auffassung als plötzliches Ereignis von „außerhalb“ erklärt. In der Berichterstattung wurden blumige Umschreibungen wie „Tsunami“, „Erdbeben“ oder „Herzattacke“ verwendet, die nahelegen, dass die Krise Zufall gewesen sei, was zukünftige Regulierungen unnötig mache. Aktuell sieht es nicht besser aus: So zeigt eine Studie von Hendrik Theine und Andrea Grishold von der Wirtschaftsuniversität Wien, dass das Thema Vermögensteuer in deutschen Leitmedien kaum diskutiert wird. Wenn es überhaupt einmal behandelt wird, dürfen sich vor allem jene Ökonomen äußern, die derartige Reformen ablehnen – und dabei vermeintlich neutrale wissenschaftliche Argumente ins Feld führen.

Quelle     :      TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

Grafikquellen          :

Oben      —     Graffiti „Destroy Capitalism!“ auf einer Fabrikmauer

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Neue Politik, neue Chance?

Erstellt von Redaktion am 4. Januar 2022

Was wir ab sofort wirklich brauchen

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Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Frei nach Heinrich Heine könnte man hoffnungsvoll reimen: Neues Jahr, neue Politik – neue Politik, neue Chance. Wäre da nicht die Bequemlichkeit alter Gewohnheiten, von denen man sich nur ungern trennt und die ja so geeignet sind, das Volk bei Laune zu halten.

Nun zeigt uns aber ein Viruswinzling in allen möglichen Varianten, dass unsere wohlstandswütige Politik nicht nur in einer Sackgasse feststeckt, sondern uns vor allem in eine brutale Spaltung unserer Welt in arm und reich geführt hat. Und unsere vielbeschworene Demokratie wird erschreckend brüchig durch viel schmutziges Geld, mit dem sie sich immer wieder bestechen läßt. Was der homo sapiens mit seinem Verstand nicht schafft, wird jetzt von einem Virus erzwungen.

Wir müssen wieder ehrlicher und respektvoller mit der Erde, unseren Mitmenschen und der Natur umgehen. Es ist einfach obszön, wenn das reichste Prozent mehr Vermögen als der gesamte Rest der Weltbevölkerung besitzt. Ein Grund für diese brutale, soziale Ungerechtigkeit ist die schamlose Politik der Superreichen und Konzerne, sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft durch Steuertricks und Steuervermeidung zu entziehen. Unsere Politiker schauen dabei nicht nur tatenlos zu, sondern übertünchen diese weltweit praktizierte Form der Ausbeutung jetzt auch noch mit dem hübschen aber völlig intransparenten Begriff der ‚regelbasierten Ordnung‘.

Diese ist aber längst als Tarnbegriff für die Durchsetzung westlicher Macht in Wirtschaft und Politik entzaubert. Mit der Charta der Vereinten Nationen haben wir bereits ein geregeltes Völkerrecht, das aber dem räuberischen Kapital wohl zu hinderlich ist. Hier muss die Politik unverzüglich im Sinne des Gemeinwohls der Weltvölker tätig werden, wenn Demokratie überhaupt noch einen Sinn haben und überleben will.

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Prof. J. K. Galbraith

Der andere große Problemkreis ist die nicht mehr zu übersehende, schamlose Ausbeute der Menschen durch das Kapital. Der US-Ökonom John Kenneth Galbraith hat diesen neoliberalen Wirtschaftswahn als „Kürzung der Sozialtransfers für Arme und Senkung der Steuern für Reiche“ charakterisiert, und genau dagegen muss eine die Zukunft gestalten wollende Politik angehen.

Mehr Geld für Bildung, eine menschenwürdige Arbeitslosen- und Alterssicherung, klassenlose Gesundheitssysteme, gerechter Lohn für ehrliche Arbeit und eben nicht zulassen, dass der Vorstandsvorsitzende eines der fünf größten Modekonzerne in nur vier Tagen so viel verdient wie eine Näherin in Bangladesch in ihrem ganzen Leben. Solche Relationen sind einfach nicht hinnehmbar, da unanständig. Appelle und Willenserklärungen der Industrie, die immer wieder umgangen werden, helfen da nicht. Hier muss die Politik klare Vorgaben mit Sanktionen machen, wenn sie glaubwürdig vor dem Wählervolk bestehen will.

Aber schlussendlich sind auch wir gefordert, unsere Lebensweise und unser Konsumverhalten so zu gestalten, dass dadurch unsere Mitmenschen und die Natur keinen Schaden nehmen. Mehr Demut, Respekt, Bescheidenheit und Achtsamkeit sind für den Fortbestand unserer Welt wichtiger als blinder, geldgeiler Fortschrittswahn und ein perverser Aufenthalt in einem Weltraum-Hotel.

Urheberrecht
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Oben       —     Protest von Fridays For Future und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Die Außenpolitik der Ampel

Erstellt von Redaktion am 3. Januar 2022

Unsensibel gegenüber Afrika

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Von Dominic Johnson

Die Notwendigkeit von Veränderung im Umgang mit Afrika ist offensichtlich. Aber der Regierungswechsel in Deutschland bringt keinen Politikwechsel.

Welche Afrikapolitik erbt Deutschlands Ampelkoalition von Angela Merkel? Die unzähligen Gipfelreden der vergangenen Jahre finden sich auf Seite 156 des Koalitionsvertrags nahtlos fortgesetzt: es geht um Partnerschaft, Zusammenarbeit, Reformen, Europa. Das spricht für Kontinuität und zugleich für Bedeutungslosigkeit: Afrika ist nicht wichtig genug für Kontroversen.

Aber es ist wichtig genug für Geschäfte. 2021 war der größte Käufer deutscher Rüstungsgüter ein afrikanisches Land: Ägypten, das mit Rüstungsexportgenehmigungen in Höhe von 4,339 Milliarden Euro fast die Hälfte der Gesamtsumme des Jahres ausmacht. Ein Großteil der Genehmigungen erfolgte in den letzten Tagen der alten Bundesregierung – ohne Öffentlichkeit.

Ägypten ist nicht nur eine Diktatur mit einem brutalen, allmächtigen Militär, sondern auch Partei im Konflikt um den Nil zwischen zwei Schwergewichten Afrikas. Für Ägypten ist der Staudamm, den Äthiopien am Oberlauf des Blauen Nils gebaut hat, eine existenzielle Bedrohung seiner Wasserversorgung – für Äthiopien eine existenzielle Notwendigkeit seiner Energieversorgung.

Aus Ägypten sind kriegerische Töne gegen Äthiopien laut geworden, Äthiopien versinkt im Bürgerkrieg und im zwischen beiden Ländern liegenden Sudan wehrt sich eine mutige Demokratiebewegung gegen einen von Ägypten gestützten Militärapparat. Und was macht Deutschland? Verkauft Fregatten und Luftverteidigungssysteme an Ägypten. Das afrikanische Land, das sich 2021 am meisten über Deutschland aufregte, war derweil Marokko.

Deutsche Waffen für Algerien

Es befindet sich an der Schwelle zum Krieg gegen Algerien, in den Merkel-Jahren ein weiterer Großabnehmer deutscher Rüstungsgüter. Von Algerien aus und mit Algeriens Segen kämpft die Westsahara-„Befreiungsarmee“ Polisario, die 2020 den jahrzehntelangen Waffenstillstand mit Marokko aufkündigte. Marokko legte seine Beziehungen zu Deutschland auf Eis und ist heute ein militärischer Verbündeter Israels.

All das ergibt eine aus deutscher Sicht originelle Konfliktkonstellation. Aber sieht dies in Deutschland jemand? Von Berlin aus ist Nordafrika nicht Afrika, sondern Naher Osten. Man nimmt Afrika nicht als Ganzes wahr, man sieht keine Machtverhältnisse, keine Geopolitik, möglichst keine Akteure mit Eigeninteressen. Man verharrt in Entwicklungspolitik und humanitärer Hilfe, einem Afrika als unpolitischer Empfänger von Gaben und Reformprojekten.

Dass die zuständigen Ministerien jetzt allesamt die Partei wechseln – das Auswärtige Amt von der SPD zu den Grünen, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit von der CSU zur SPD –, dürfte daran wenig ändern. Die Apparate und Vereinbarungen bleiben. Immerhin enden jetzt Kuriositäten wie die Existenz eines persönlichen Afrikabeauftragten der Bundeskanzlerin, Günter Nooke, mit Sitz im BMZ.

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Berlin betrachtet Nordafrika als Nahen Osten

Ob Nookes Steckenpferde – etwa die Rehabilitation des deutschen Kolonialismus oder das Begehr, Kongos Energiequellen zum Export nach Deutschland statt zur Versorgung Afrikas zu nutzen – erhalten bleiben, dürfte einiges über das zukünftige Bild Deutschlands in Afrika aussagen. Mehr Sensibilität für Afrikas Wahrnehmung der eigenen Geschichte und für Afrikas Prioritäten bei der Verbesserung der eigenen Lebensumstände wären gute Fortschritte.

Dies gilt auch in der Migrations- und Flüchtlingspolitik, für viele afrikanische Staaten der wichtigste Bereich politischer Interaktion mit Deutschland. Interessengeleitete Außenpolitik ist hier längst Realität. Legale Möglichkeiten zur Einreise aus Afrika nach Europa gibt es nur noch für eine schmale Elite. Die Ausgrenzung von Milliarden Menschen wird schon gar nicht mehr hinterfragt, ebenso wenig ein Afrikabild, in dem jeder Afrikaner ein potenzieller Flüchtling oder Migrant ist.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —   Afar-Hamed Ela

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Unten      —      Günter Nooke (Afrikabeauftragter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Deutschland)

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FDP sahnt kräftig ab

Erstellt von Redaktion am 29. Dezember 2021

Großspenden 2021 an die Parteien

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Von Pascal Beucker

Im Bundestagswahljahr wurde an keine Partei so viel Geld gespendet wie an die Lindner-Truppe. Aber auch die Grünen können sich nicht beklagen.

Die FDP ist die große Profiteurin des Bundestagswahljahrs 2021. Mit rund 4,4 Millionen Euro hat sie mit Abstand die meisten Großspenden eingenommen. Einem Wahlergebnis von 11,5 Prozent stehen Spendeneinahmen von 32,8 Prozent gegenüber. Damit ist es der geschäftstüchtigen Lindner-Truppe zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte gelungen, in der Gunst des Kapitals an der Union vorbeizuziehen.

Das geht aus einer aktuellen Aufstellung des Bundestages hervor. Danach beglückten Wirtschaftsunternehmen, Arbeitgeberverbände und vermögende Gön­ne­r:in­nen die deutschen Parteien in diesem Wahljahr mit insgesamt rund 13,5 Millionen Euro – weit mehr als noch bei der Bundestagswahl vor vier Jahren. Damals spendeten sie rund 7 Millionen Euro.

Hinter der FDP auf Platz 2 haben es sensationell die Grünen geschafft, die rund 3,4 Millionen Euro einnehmen konnten, womit sie bei den Großspenden mit einem Anteil von 25,5 Prozent ebenfalls besser abschnitten als an der Wahlurne. 2017 kamen sie noch auf verhältnismäßig spärliche 483.000 Euro. Zusammen verfügen FDP und Grüne jetzt beim Spendenkassieren über eine komfortable absolute Mehrheit.

Obwohl auch die CDU im Vergleich zu 2017 um mehr als eine halbe Million Euro zulegen konnte, landete sie mit rund 3,4 Millionen Euro nur auf Platz 3, gefolgt von der CSU mit rund 871.390 Euro. Zusammen kommen die Schwesterparteien damit auf 31,6 Prozent der gesamten Großspendeneinnahmen.

Ganz weit abgeschlagen dahinter rangiert die neue Kanzlerpartei SPD mit 225.001 Euro, vor vier Jahren waren es noch 410.000 Euro. Was auch schon nicht viel war. Die Linkspartei erhielt dieses Jahr eine Großspende in Höhe von 55.000 Euro. Die AfD ist – zumindest offiziell – leer ausgegangen.

Das Parteiengesetz verpflichtet die Parteien, Spenden über 50.000 Euro „unverzüglich“ unter Angabe des Spen­de­r:in­nen­na­mens der Bundestagspräsidentin zu melden. Sie werden dann zeitnah in einer Bundestagsdrucksache veröffentlicht. Zwar liegen die Zuwendungen insgesamt noch wesentlich höher. Das lässt sich aber erst durch die Veröffentlichung der Rechenschaftsberichte der Parteien etwa eineinhalb Jahre später nachvollziehen. Da müssen alle Spen­de­r:in­nen ab 10.000 Euro öffentlich gemacht werden. Die zeitnah veröffentlichten Großspenden zeigen jedoch bereits eine starke Tendenz auf.

Lohnende Investition in die Klassenkampf-von-oben-Partei

Interessant ist nicht nur, wieviel eine Partei bekommen hat, sondern vor allem, von wem. So reüssierte die FDP in großem Stil bei Finanzdienstleistern, Kapital- und Beteiligungsgesellschaften, Immobilienunternehmen und der Start-Up-Szene wie auch bei Billigläden wie TEDI oder Woolworth. Insgesamt konnte sie 33 Großspenden vereinnahmen. Der schillerndste Spender dürfte der Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer sein, der 200.000 Euro springen ließ.

Veronica Ferres und Carsten Maschmeyer Berlinale 2010.jpg

Mit 750.000 Euro kam die höchste Spende an die FDP von dem Medienmanager Georg Jakob Kofler. Gegenüber dem Handelsblatt begründete Kofler sein finanzielles Engagement damit, dass es ihm darum gehe, „eine Regierungsbeteiligung der Grünen zu verhindern“. Das hat nicht so ganz geklappt.

Aber mit dem vollständigen Verzicht der Ampelkoalition auf Steuererhöhungen für Wohlhabende und deren Unternehmen sowie der Ernennung von FDP-Chef Christian Lindner zum Bundesfinanzminister dürfte Kofler auch zufrieden sein. In jenen Kreisen, die viel haben, gilt die Klassenkampf-von-oben-Partei nicht zu Unrecht als Garant dafür, noch mehr zu bekommen und wenig geben zu müssen.

25 Großspenden gingen an die CDU. Das meiste Geld kam mit 500.000 Euro von dem Kölner Unternehmer Christoph Alexander Kahl, dem Besitzer von Jamestown Immobilien. Die Droege Group AG, ein Beratungs- und Investmentunternehmen, zahlte 300.000 Euro. Auch fehlt nicht der BMW-Clan: Wie in den Vorjahren erfreuten Stefan Quandt und Susanne Klatten die CDU mit zusammen 100.002 Euro. Anders als in der Vergangenheit hielt sich die Automobilindustrie ansonsten bemerkenswert zurück.

Großspenden nach dem Gießkannenprinzip

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Grafikquellen          :

Oben       —       Christian Lindner, Politiker (FDP), Wahlkampfveranstaltung in München (September 2021). Titel des Werks: „Christian Lindner im Wahlkampf 2021“

Unten      —       German actress Veronica Ferres and her partner Carsten Maschmeyer.

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Afrika, Kontinent als Beute

Erstellt von Redaktion am 28. Dezember 2021

Marokko: Ein Armenhaus von der EU produziert

Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Klaus Hecker

Marokko konnte seine Unabhängigkeit lange behaupten, verlor seine Souveränität aber 1912 im Vertrag von Fès.

Das Land, aus dem Klaus Hecker in seinem Podcast „Afrika, ein Kontinent als Beute“ berichtet, wurde von den Kolonialmächten Spanien und Frankreich aufgeteilt. Es entstanden die Protektorate Spanisch-Marokko und Französisch-Marokko.Der Erste Weltkrieg liess kurzzeitig den Nordwesten Afrikas aus dem Blickfeld verschwinden. Doch schon Anfang 1919 warb Abd al-Karim (1882 bis 1963), Anführer im Aufstand der Rifkabylen gegen die spanischen und französischen Kolonialtruppen in der Rif-Region Spanisch-Marokkos, für die Bildung eines antikolonialen Stammesbündnisses. Man wollte den Rückzug der Spanier nach Ceuta und Melilla (nordafrikanische Küste) durchsetzen. Der Rifkrieg begann 1921 mit einem militärischen Sieg der Rifkabylen in der Schlacht von Annual.

Massenvernichtung als Antwort

Spanien wechselte die Strategie. Chemische Waffen kamen zum Einsatz, unter anderem beschafft in Deutschland. Dennoch zog sich der Konflikt hin. 1923 proklamierte Abd al-Karim als Präsident der Rif-Republik in Nordmarokko die Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft. Ein Politikum, dass sich die Kolonialmächte nicht bieten lassen konnten.

Frankreich und Spanien bekämpften die Rifkabylen gemeinsam. Die geopolitischen Interessen der „zivilisierten“ Europäer wurden massgeblich mit der Massenvernichtungswaffe Senfgas durchgesetzt. Abd al-Karim ergab sich den Franzosen 1926.

Datei:Mangin enters Marrakesh (September 1912).jpg

Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die arabisch-nationalistische Unabhängigkeitsbewegung an Einfluss. 1956 erlangte Marokko die volle Unabhängigkeit und wurde Königreich. Heute befinden sich zwar nur noch die Enklaven Ceuta und Melilla in spanischem Besitz, aber geblieben ist die (vor allem) ökonomische Abhängigkeit. Und die wird vonseiten der Europäischen Union (EU) gehegt und gepflegt.

Freihandelsabkommen und neue Märkte

In der Altstadt von Essaouira herrscht reges Treiben. Unzählige kleine Marktstände locken mit Waren aller Art. Darunter zahlreiche landwirtschaftliche Produkte. Doch obgleich Marokko über eine beachtliche Landwirtschaft verfügt, werden auch Gemüsesorten und Früchte aus der Europäischen Union feilgeboten. Das ist zwar nicht weiter überraschend in einer globalisierten Welt, dennoch ist die flüchtige Beobachtung ein erster Fingerzeig.

Die EU hat den Mittelmeerraum bereits Mitte der 1990er-Jahre zum Gebiet von strategischer Bedeutung erhoben. Auf der sogenannten euro-mediterranen Konferenz der Aussenminister der EU und der Partnerländer, darunter Marokko, wurde 1995 in Barcelona die euro-mediterrane Partnerschaft begründet. Im März 2000 trat das sogenannte Europa-Mittelmeer-Abkommen in Kraft.

Wesentliche Elemente zur Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen der EU und den Nachbarländern im südlichen Mittelmeerraum sind Kooperationen, Handelsabkommen und langfristig eine Demokratisierung der gesamten Region. 2019 schloss die EU ein nicht unumstrittenes Freihandelsabkommen mit Marokko (1). Auf die Besonderheit und die Details des innerafrikanischen Konflikts mit der in der Westsahara aktiven Polisario wird an dieser Stelle verzichtet (2). Im Podcast bleibt der Freihandel im Fokus, der oberflächlich betrachtet dem wirtschaftlichen Fortkommen von Marokko nutzt, aber das Land schleichend in ein Armenhaus verwandelt.

Fussnoten:

(1) Verfassungsblock (2.12.2020): Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung – Zum notwendigen Kurswechsel der EU gegenüber Marokko und der Westsahara. Auf https://verfassungsblog.de/selbstbestimmung-statt-fremdbestimmung (abgerufen am 10.11.2021).

(2) Die Frente Polisario ist eine militärische und politische Organisation, die im Verlauf des Westsaharakonfliktes 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) ausrief. Die Polisario steht im Konflikt mit Marokko; das Königreich erhebt Anspruch auf das gesamte Territorium. Das durch die Regierung der DARS verwaltete Gebiet ist durch einen von Marokko errichteten 2700 Kilometer langen, verminten Sandwall vom marokkanisch verwalteten Teil der Westsahara getrennt.

Grafikquellen          :

Oben     —    Casablanca

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Die Erbschaftsteuer :

Erstellt von Redaktion am 23. Dezember 2021

Wie von Oligarchen bestellt

Man sollte annehmen, dass das Grundgesetz über den Interessen einiger weniger Schwerreicher steht. Doch weit gefehlt: Bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer ist seit mehr als 15 Jahren eine verfassungswidrige Regelung in Kraft – trotz zweimaliger Reformversuche. Umso dringlicher aber ist es, dass die kommende Regierung endlich eine verfassungskonforme Lösung herbeiführt und damit zugleich für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft sorgt.

Personen, die viel erben, zählen in der Geburtenlotterie zu den klaren Gewinnern. Ihr Erbe erhalten sie in der Regel, ohne dafür etwas geleistet zu haben. Eine Besteuerung von Erben und Schenkungen kann daher die unterschiedlichen Chancen von Menschen in Deutschland angleichen. Hohe Erbschaften sollten folglich auch höher besteuert werden als kleinere.

Doch in der Realität zeigt sich ein gänzlich anderes Bild. Die größten Vermögen werden oftmals niedriger besteuert als kleinere, obwohl das gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz unseres Grundgesetzes verstößt. Denn weitreichende Ausnahmen sorgen dafür, dass hochprofitable und milliardenschwere Familienunternehmen nahezu steuerfrei weitergegeben werden können – ganz im Gegensatz zu privaten Erbschaften, auf die – je nach Verwandtschaftsgrad – bis zu 50 Prozent Erbschaftsteuer entfallen. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 wurden die 127 größten Schenkungen mit einem Volumen von insgesamt zwölf Mrd. Euro mit weniger als einem Prozent besteuert.

Diese hochgradig ungerechte Belastung bei der Erbschaftsteuer ist keinesfalls ein Zufall, sondern vielmehr politisch gewollt und historisch gewachsen.

Historisch gewachsene Ungleichheit

Die preußische Erbschaftsteuer aus dem Jahr 1873 und das darauf aufbauende Reichserbschaftsteuergesetz von 1906 sahen noch keine Abgaben für Ehegatten und Kinder vor. Erst die Erzbergersche Steuerreform aus dem Jahr 1919 änderte dies: Sie setzte Steuersätze von bis zu 90 Prozent bei großen Vermögen und vermögenden Erben fest. Und auch wenn die Steuersätze und Freibeträge in den darauffolgenden Jahrzehnten mehrmals angepasst wurden, unterlagen auch Betriebsvermögen damals der üblichen Besteuerung.

Das änderte sich erst vor knapp dreißig Jahren, als Bundestag und Bundesrat im Februar 1992 das „Gesetz zur Entlastung der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze“ verabschiedeten. Das Gesetz entlastete die Betriebsvermögen über einen Trick: Diese wurden fortan nicht mehr zum jeweils aktuellen, sondern stattdessen zum historischen Wert versteuert. Mit dem „Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Europäischen Binnenmarkt“ kam dann ein gutes Jahr später noch ein Freibetrag in Höhe von 500 000 DM für Betriebsvermögen hinzu. Vier Jahre darauf, 1997, führte das Jahressteuergesetz dann weitere Vergünstigungen ein, so dass nach und nach die rechtliche Ausgangslage dafür geschaffen wurde, dass vererbte Betriebsvermögen in den Folgejahren kaum oder gar nicht mehr besteuert wurden.

Bewusste Verfassungsbrüche

Erst am 7. November 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das Erbschaftsteuergesetz in dieser Form gleichheits- und damit verfassungswidrig war. Und zwar vor allem aufgrund der vom jeweils aktuellen Wert abweichenden Bewertung der Betriebsvermögen.

Daraufhin reformierten Bundestag und Bundesrat zwei Jahre später, 2008, das Erbschaftsteuergesetz. Nun sollte Betriebsvermögen wieder nach dem aktuellen Wert bemessen werden, allerdings wurde der Freibetrag durch einen unbegrenzten „Verschonungsabschlag“ ersetzt. Dieser sorgte nun dafür, dass Betriebsvermögen komplett steuerfrei blieben, wenn die Summe der ausgezahlten Löhne in den folgenden sieben Jahren weitgehend konstant gehalten wurde.

Wie nicht anders zu erwarten war, entkräftete diese Reform keineswegs die verfassungsrechtlichen Einwände. Im September 2012 stellte der Bundesfinanzhof fest, dass die „Steuervergünstigungen nicht durch ausreichende Sach- und Gemeinwohlgründe gerechtfertigt sind und einen verfassungswidrigen Begünstigungsüberhang aufweisen“. Er berief sich dabei unter anderem auf den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen. Dieser kommt zu dem Schluss, dass es weder empirische Belege dafür gebe, dass die Erbschaftsteuer den Fortbestand von Unternehmen gefährdet, noch dafür, dass die Begünstigungen Arbeitsplätze sichern.[1] Darauf folgte weitere zwei Jahre nichts, erst am 17. Dezember 2014 schloss sich das Bundesverfassungsgericht dieser Argumentation des Bundesfinanzhofes an und erklärte die Ausnahmen für Betriebsvermögen für verfassungswidrig.

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Gerhard Schick

Ende 2016 reformierte die damalige große Koalition daraufhin ein weiteres Mal die Erbschaftsteuer und führte zwar eine Obergrenze von 90 Mio. Euro für steuerliche Begünstigungen ein, schuf aber zugleich mehrere Ausnahmen und Erleichterungen – darunter eine Ausnahme von dieser Obergrenze für Erben oder Beschenkte, die die Steuer nicht aus ihrem verfügbaren Vermögen bezahlen können.

Diese Privilegien für Superreiche sind so offensichtlich verfassungswidrig, dass man von bewussten Verletzungen unseres Grundgesetzes sprechen muss. Denn sie erlauben es den Reichen und Superreichen in diesem Land, immense Vermögen weiterzugeben: So erbten Minderjährige allein in den Jahren 2011 bis 2014 rund 37 Mrd. Euro. Ein Großteil davon – insgesamt 29,4 Mrd. Euro – erhielten dabei 90 Kinder im Alter von unter 14 Jahren. Dies entspricht im Schnitt 327 Mio. Euro pro Kind.[2] Eine groteske Summe, die unbedingt einer gerechten Erbschaftsteuer unterliegen sollte.

Diese Einschätzung unterstrich einmal mehr auch der Bundesfinanzhof, als er am 24. November 2017 die Regelungen bei der Erbschaftsteuer erneut für verfassungswidrig erklärte. Dieses Mal verwies er insbesondere auf eine Entscheidung der Finanzämter, den Besitz von Wohnimmobilien ab einem Bestand von 300 Wohnungen pauschal als Betriebsvermögen zu klassifizieren und damit so gut wie nicht zu besteuern und legte dieser Vorgehensweise enge Grenzen auf.

Quelle         :           Blätter-online           >>>>>          weiterlesen

Grafikquellen          :

Oben      —     Graffiti „Destroy Capitalism!“ auf einer Fabrikmauer

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Unten    —       Foto: Stephan Röhl

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Orbáns Pfauentanz

Erstellt von Redaktion am 18. Dezember 2021

Ungarn hetzt und kooperiert mit der EU

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VON  –  ZSUZSANNA SZELÉNYI

Während sich internationale Regierende auf der COP26 trafen, feuerte der nicht an der Konferenz teilnehmende Viktor Orbán eine weitere Breitseite gegen die EU ab. Er bezeichnete die grünen Vorschläge der EU als „utopische Fantasie“, die die Energiekosten in die Höhe treiben werde. Für den EU-Gipfel kommende Woche prophezeite er ein diplomatisches Gerangel.

Ein Polexit oder ein Huxit würde einen dramatischen Bedeutungsverlust der EU in der Welt markieren

Orbáns feindselige Stimmungslage mag aus der Einsicht resultieren, dass Europas Führungskräfte angesichts seiner illiberalen Politik langsam die Geduld verlieren. Die Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, nachdem die Regierung Anfang des Jahres ein homophobes „Pädophilengesetz“ verabschiedet hat.

Zugleich forderte die Kommission strengere Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, bevor sie Ungarns Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds genehmigt. Auch an anderen Stellen fährt die EU eine härtere Gangart. So verhängte der EuGH gegen Polen unlängst eine Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag, weil die Regierung in Warschau ein EU-Urteil ignoriert, das zum Schutz der polnischen Richter die Neubesetzung der Disziplinarkammer verlangte.

Es scheint heute riskanter als noch vor einigen Jahren zu sein, die EU offen zu provozieren. Als Reaktion auf die strenger werdende EU haben einige prominente Köpfe in der ungarischen Regierung angeregt, über einen Austritt des Landes nachzudenken. Einige von Orbáns Kabinettsministern haben die Idee in den Raum gestellt, die Mitgliedschaft in ein paar Jahren zu überdenken, wenn das Wirtschaftswachstum in Ungarn weniger von EU-Geldern abhängig ist. Hier zeichnet sich ein alarmierendes Muster ab:

UngarInnen mehrheitlich gegen Huxit

Ob gewollt oder als Folge von Fehlentscheidungen: Ungarn steuert immer stärker auf einen EU-Austritt zu. Erst vor sechs Monaten verließ Orbáns Fidesz-Partei das Europäische Parlament, bevor sie nach wiederholten Verstößen gegen europäisches Recht aus dem Mitte-rechts-Block der EVP gedrängt werden konnte. Doch jenseits der Rhetorik – will Orbán tatsächlich die EU verlassen? Vordergründig deutet wenig darauf hin, dass er ernsthaft einen „Huxit“ anstrebt.

85 Prozent der ungarischen Bevölkerung befürworten die EU-Mitgliedschaft, unter ihnen 77 Prozent der Fidesz-Wähler. Wahrscheinlicher ist, dass er sich auf die Parlamentswahlen im Frühjahr nächstes Jahr vorbereitet, bei denen die Fidesz durchaus eine Niederlage erleiden könnte. Orbán versucht, das Erfolgsrezept von 2018 zu wiederholen, als die Fidesz ihre dritte Amtszeit in Folge mit einer radikalen Antimigrationspolitik und EU-feindlichen Haltung gewann.

Könnte sich dies auf lange Sicht ändern? Orbán heizt seine Anhänger unerbittlich mit EU-feindlicher Propaganda an. Man darf nicht unterschätzen, welch gewaltige Infrastruktur die Regierungspartei für ihre Kampagnen aufgebaut hat und wie geschickt sie die öffentliche Meinung zu manipulieren versteht. Wenn Orbán die Wahlen im nächsten Frühjahr gewinnt, könnte dieses Bollwerk die EU-freundliche Mehrheit aushöhlen.

Auch wenn einige europäische Regierungen über einen Austritt Orbáns mehr als glücklich wären, so würde ein Polexit oder Huxit doch einen dramatischen Bedeutungsverlust der EU in der Welt markieren. Nach dem Schock und den Turbulenzen des Brexits würde das niemand wollen. Orbán ist ein geschickter Taktiker. Während er einerseits die EU provoziert, zeigt er sich andererseits in für die Gemeinschaft wichtigen Bereichen kooperativ.

Bis zur Pandemie verfolgte Orbán eine disziplinierte Finanzpolitik, bei der er mit Deutschland und den sparsamen Ländern eine partnerschaftliche Beziehung pflegte. Nach dem Brexit blieb er kooperativ und blieb selbst in außenpolitischen Fragen und wichtigen Entscheidungen, wie den Sanktionen gegen Russland, auf gleicher Linie mit der EU. Nur bei weniger wichtigen Belangen schaltete er erneut auf Gegenwind.

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —       Regierungsfeindliche Demonstranten, die sich durch Bajcsy-Zsilinszky út in Budapest versammeln.

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KOLUMNE FINANZCASINO

Erstellt von Redaktion am 17. Dezember 2021

FDP-Finanzprojekte und ihre Profiteure – – Die gelben Tricks

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Es kann nicht oft genug gesagt werden: Menschen welche etwas gelernt haben, verkaufen sich eher nicht an die Parteien – Clans. Es gibt keinen Gott – das Volk wählt sich seine Götter selber!

Von Ulrike Herrmann

Die Liberalen haben für die Vermögenden Milliarden herausgeschlagen. Gefährlich ist ein Projekt, das harmlos klingt: die Abschreibung auf Neubauten.

Der Ampelvertrag wird gern als „Gelbe Seiten“ verspottet, weil sich nur die FDP durchgesetzt habe. Das ist übertrieben. Trotzdem ist beachtlich, was die Liberalen herausgeschlagen haben. Im Finanzbereich stechen drei Projekte heraus, die technisch klingen, aber nicht harmlos sind: die „Superabschreibung“, die 3-prozentige Abschreibung auf Immobilien und die Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rente.

Um bei der Rente anzufangen: Nächstes Jahr werden dort einmalig 10 Milliarden Euro eingezahlt und „global“ auf den Finanzmärkten angelegt. Die FDP ist nämlich überzeugt, dass Aktien mehr bringen als normale Renten und dass die weite Welt lukrativer ist als Deutschland.

Das Konzept hat viele Schwächen, aber vor allem werden Betriebs- und Volkswirtschaft verwechselt. Die FDP tut so, als wäre der Gesamtstaat das Gleiche wie ein Einzelanleger. Wenn ein Investor Aktien kaufen will, ist das kein Problem. Er findet bestimmt jemanden, der Aktien besitzt und loswerden möchte.

Wenn aber der Staat auftritt und Milliarden in die Finanzmärkte pumpt, dann reichen die Aktien bald nicht mehr. Denn die Unternehmen geben ja keine neuen Papiere aus, nur weil die Regierung Aktien kaufen will. Also werden die Papiere knapp, was die Kurse treibt – so dass der Staat eine Finanzblase erzeugt.

Dies ist keine abstrakte Überlegung, sondern tägliche Beobachtung. Viele Länder, vorweg die USA, setzen bereits auf Pensionsfonds, die riesige Kapitalmengen auf den Finanzmärkten anlegen. Das Ergebnis sind ständig steigende Ak­tien­kurse, die mit den Erträgen der Unternehmen nichts mehr zu tun haben.

Die FDP tut so, als würden kleine Angestellte profitieren, wenn Rentenkassen auf den Finanzmärkten anlegen. Nach dem Motto: Endlich besitzen Arbeiter ein paar Aktien! In Wahrheit profitieren vor allem Vermögende. Die meisten Papiere ballen sich in wenigen Händen, und wenn die Kurse steigen, weil der Staat auf den Finanzmarkt drängt, gewinnen jene, die die Aktien bereits besitzen – die Wohlhabenden.

Zum Glück will die Ampel nur 10 Milliarden Euro in diesen Irrweg pumpen. SPD und Grüne sprechen gern von „Spielgeld“ für die Liberalen. Aber eigentlich sind auch 10 Milliarden zu viel.

Während die „Aktienrente“ tückisch undurchsichtig ist, sind die Profiteure beim nächsten FDP-Projekt eindeutig: die Immobilienbesitzer. Der Ampelvertrag sieht vor, dass die lineare Abschreibung bei neugebauten Mietwohnungen von 2 auf 3 Prozent ansteigt. Das klingt wenig, ist aber ein gigantisches Steuergeschenk. Man nehme an, ein neues Mietshaus ist 4 Millionen Euro teuer – dann lassen sich jährlich 120.000 Euro mit den Mieteinnahmen verrechnen.

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Nun ließe sich argumentieren, dass ein Haus an Wert verliert, wenn nicht Fenster, Dächer, Heizungen und Fassaden regelmäßig erneuert werden. Nur: Diesen „Erhaltungsaufwand“ dürfen Vermieter sowieso von der Steuer absetzen. Faktisch wird also doppelt abgeschrieben. Man macht einen Wertverlust geltend, den es gar nicht gibt, weil man ja Reparaturen durchgeführt hat – ebenfalls steuerbefreit.

Leider steht im Koalitionsvertrag nirgends, was geplante Maßnahmen kosten

Preisschilder fehlen

Aber es kommt noch besser: Wird das Haus nach mehr als zehn Jahren verkauft, bleibt der Erlös komplett steuerfrei. Diese Schlupflöcher werden noch vergrößert, indem künftig bei Neubauten sogar mit 3 Prozent abgeschrieben werden darf. Man wüsste gern, wie teuer dieses üppige Steuergeschenk wird. Aber leider steht im Koalitionsvertrag nirgends, was geplante Maßnahmen kosten. Die Preisschilder fehlen.

Tückisch ist auch: Wenn die erhöhte Abschreibung erst einmal im Gesetz steht, wird sie ewig gelten. Keine Regierung wird sie wieder kippen können. Denn der Bundesrat muss fast allen Steuergesetzen zustimmen – und dort haben FDP und Union faktisch eine Vetomacht. Die erhöhte Abschreibung wäre also fatal, wenn sie nicht zeitlich begrenzt wird.

Quelle      :         TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle       :

Oben           —       Casino im Resort World Sentosa (Singapur)

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Unten   —      Ulrike Herrmann (taz, Berlin) und Markus Pühringer (Grüne) beim Querdenken #18 („Der Sieg des Kapitals“) in Linz

 

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Covid-Patent-Profit tötet

Erstellt von Redaktion am 15. Dezember 2021

Covid-Patent-Profit tötet: Bringt Dr. med. Lauterbach die Wende?

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Schaut mir in die Augen: „Können solche Augen töten, solch eine  Nase näseln, oder solche Zähne beißen?“

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Hannes Sies

„Impfstoff für alle“ forderte Attac am 12.12.2021 bei Biontech in Mainz sowie vor Lauterbachs Gesundheitsministerium und auch bei der EU-Kommission in Berlin wurde für die Freigabe der Patente auf Covid-Impfstoffe und -Medikamente demonstriert.

Covid-Patente kosten Menschenleben, die WTO könnte den Patentschutz der Pharmafirmen außer Kraft setzen. Aber die WTO wird blockiert von Deutschland (unter dem Duo Merkel/Scholz), Norwegen und Kanada -diese drei Staaten wollen Global Justice Now, Ärzte ohne Grenzen und andere daher verklagen. Denn die WTO-Blockade von Merkel, Scholz &Co verhindert eine massive Ausweitung und Verbilligung der Impfstoff-Produktion. Es träfe keinen Armen: Pharmaprofite explodieren durch die Corona-Pandemie. BigPharm lässt durch seine PR lautstark verkünden, dies habe man sich verdient, man habe viel in die Entwicklung investiert, man brauche den Profit-Tsunami für weitere Forschung. Aber ist das auch wahr? Nein, natürlich nicht. Warum wir von Lauterbach leider wenig erwarten können und wie die Bertelsmann-Stiftung im Gesundheits-Desaster mit drin hängt wird anschließend erörtert.

Wir alle zahlen für BigPharm-Covid-Fettlebe

BigPharm schwimmt im Geld. Die Zeche an die Konzerne zahlen wir alle über unsere ausgeplünderten Gesundheitsetats -vor allem aber weltweit arme Länder, denen Impfstoff fehlt. Die Menschen in Afrika, Asien, Lateinamerika zahlen mit ihrem Leben für die Pharma-Profite, die von zynischer und mutmaßlich korrupter Politik gesichert werden. Merkels Gerede von globaler Solidarität entpuppt sich als pure Heuchelei -allein schon durch diese durch die Blockade der WTO-Patent-Freigabe. Sogar die USA sind mittlerweile unter Biden nicht mehr gegen die Aussetzung der Pharma-Patente, mit denen BigPharm-Konzerne Milliarden scheffeln -ohne dass die Monopolisten viel dafür getan hätten.

Der Lobby-Club von BigPharm nennt sich euphemistisch „Verband der forschenden Pharma-Unternehmen“, um sich Erfolge wissenschaftlicher Forschung dreist als Leistung zuzuschreiben. Tatsächlich stehen bei diesen Konzernen Profitgier, Lobbymacht und PR-Kampagnen in eigener Sache ganz oben. Forschungsergebnisse werden meist für wenig Geld von staatlichen Universitäten und Instituten oder kleineren Firmen weggekauft -ob immer mit ganz sauberen Methoden, sei mal dahingestellt.

Gegen die sofortige Patent-Freigabe von Covid-Impfstoff behaupten die BigPharm-PR-Leute dreist, dass man die Profite brauche, um Forschungskosten wieder wettzumachen. Und dass BigPharm bei der nächsten Pandemie nicht mehr Forschen würde, wenn man ihnen „ihr geistiges Eigentum wegnehmen“ würde. Sind das glaubhafte Argumente? Pure Propaganda? Oder zynisch-verlogene Erpressung? Unser Medien-Mainstream lobhudelt meist kritiklos BigPharm und wird mit lukrativen Werbeprofiten aus deren prall gefüllten PR-Kassen belohnt.

Patentschutz für Forschung -oder für Profit?

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratscher, beteuert, Patentschutz sei wichtig für die Risikoabdeckung forschender Firmen. Aber in der Corona-Pandemie betont Fratscher auch, dass alle involvierten Pharma-Firmen bereits mehr als genug Profit mit Covid-Impfstoff gemacht haben, um beim nächsten Virus Forschung fortzusetzen („Alle haben sich dumm und dusselig verdient“, Wissenschaftssendung Nano, 3sat 3.12.2021). Eine WTO-Patent-Freistellung sei das Gebot der Stunde und der Humanität.

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Aber haben BigPharm-Konzerne, die jetzt Milliarden mit Covid abkassieren, überhaupt ein Forschungs-Risiko vorfinanziert? Die ungarische mRNA-Forscherin Katalin Kariko entwickelte an einer staatlichen Universität in den USA über Jahrzehnte die Grundlagen. Es floss über eine Milliarde Dollar Steuergeld in die mRNA-Forschung, BigPharm war derweil mit PR und Steuervermeidung beschäftigt. Die Universität von Dr.Kariko verhökerte die Rechte an das Unternehmen Sellscript, das sie für je 75 Millionen weiterverkaufte an Biontec und Moderna.

Biontec: „dumm und dusselig verdient“

15-20 Milliarden hat Biontec bislang verdient, aber im Vorfeld floss „noch reichlich Fördergeld“ (Nano), 12 Millionen von Merkel, 50 Millionen von der EU, 2020 nochmal 375 Millionen von unserem Gesundheitsminister Spahn. Sicher, dieses Geld war gut angelegt, jedenfalls besser als die Schrott-Masken-Deals der korrupten CDU/CSU-Maskenmafia, die zur Wahlniederlage Laschets vermutlich beitrugen. Andere bedienten sich noch ungenierter an Steuergeldern: BigPharm-Konzerne wie Sanofi, Glaxo, AstraSeneca, Johnson&Johnson, Moderna griffen in der Covid-Hype je ca. 1-2 Milliarden Staatsknete ab (Nano), Moderna entwickelte seinen Impfstoff sowieso in Kooperation mit dem staatlichen NIH der USA, lässt dies jetzt jedoch von seiner Rechtsabteilung bestreiten und reklamiert die Patentrechte für sich allein.

Pharma-PR-Propaganda trompetet angebliche Segnungen heraus, allein dafür verpulvert BigPharm Milliarden, die Realität sieht anders aus: Weltweit warten Millionen Menschen auf die lebensrettende Impfung, selbst medizinisches Personal muss in vielen armen Ländern ungeschützt arbeiten. Konzerne scheffeln weitgehend unverdient Profit, zynisch erpresst mit der Gefahr der Pandemie.

Gesundheit neoliberal: Lauterbach und Bertelsmann

Und Dr.med.Karl Lauterbach, der als Covid-Kassandra meist leider Recht behielt und nun Gesundheitsminister ist? Können wir von ihm einen radikalen Kurswechsel gegen BigPharm erwarten? Wenn wir uns kurz an die letzte SPD-Regierung (1998-2004) erinnern: wahrscheinlich nicht. Im rotgrünen Regierungsteam Schröder/Fischer half Lauterbach bekanntlich der SPD-Gesundheitsministerin Ulla „Lebensqualität“ Schmidt das unselige System der Fallpauschalen durchzudrücken.

Dieser neoliberale Umbau unseres zuvor guten Gesundheitswesens brachte weniger Lebensqualität durch mehr „Effizienz“ auf Kosten von Patienten und Pflegepersonal. Vorbereitet wurde dies durch eine Bertelsmann-Propaganda-Kampagne, die eine nicht existierende „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ behauptet hatte. Man wollte an den Kranken das einsparen, was Rotgrün per Geldregen an Superreiche und Konzerne aus unserem Staatshaushalt mit beiden Händen austeilte: Streichung der Erbschaftssteuer, Senkung der Spitzen- und Unternehmenssteuersätze usw. Dafür hatte Bertelsmann in RTL, „Stern“ und „Spiegel“ seinen Medienkanzler Gerhard Schröder an die Macht gebracht.

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Der neoliberale Konzern-Think Tank „Bertelsmann-Stiftung“ werkelte auch in seiner Tarnorganisation „Centrum für Krankenhaus-Management“ kräftig am Privatisierungskurs mit (während Bertelsmanns „Centrum für Hochschulentwicklung“ Bildung privatisierte usw.). Konzerne wurden reicher, Patienten blieben kränker und aus Pflegepersonen wurde das letzte an Profit heraus gequetscht. Lauterbach müsste sich erst von diesen falschen Ideologien lösen, die seine Karriere in der SPD offensichtlich erst möglich machten. Dann könnte eine Entprivatisierung und Rekonstruktion unseres Gesundheitswesens beginnen und Kanzler Scholz würde von Lauterbach zu einer Aufgabe der WTO-Blockade gegen Patent-Aussetzungen motiviert werden.

Covid-Schurkenstaaten stoppen

Die WTO, die mit heute schon vorhandenen Rechtsmitteln die grausamen Patente aussetzen könnte, ist blockiert von der Regierung Merkel/Scholz in Deutschland sowie Norwegen und Kanada. Warum sind gerade diese drei Länder die Covid-Schurkenstaaten? Weil dort BigPharm besonders viel Lobbymacht hat? Weil diese Regierungen auf dem letzten Bilderberg-Geheimtreffen die kurzen Streichhölzer gezogen haben?

In unserer westlichen Unkultur plutokratischer Intransparenz können wir das nicht genau wissen. Aber wir müssen Druck auf die Regierungen ausüben und deren Wähler informieren. Gegen die Milliarden PR-Etats der Konzerne wird das schwer, vor allem, weil der Mainstream der Medien oft nicht weniger korrupt ist als Parteien und Regierungen und sich in Kriegs-Propaganda für Rüstungsprofite ergeht, Kriegsgegner wie Julian Assange im Londoner Kerker Belmarsh verrotten lässt, Uranmunition verharmlost, die Atomkonzerne belobhudelt, gegen Arbeiterrechte und Gewerkschaften hetzt. Doch wir werden uns nicht mundtot machen lassen.

Wie frei sind die „Freien Medien“, auf denen das „Narrativ“ vom Freien Westen zentral basiert, wirklich? Am Ende nur gerade eben so frei, dass sie die Illusion der Medienfreiheit bei einer Mehrheit aufrecht erhalten können. Schon allein regimekritische Begriffe wie Deep State und Mainstream-Medien werden gerne in die stigmatisierte Schublade „Verschwörungstheorie“ gesteckt. Gerade der Fall Assange ist zu einem Lackmustest der Medienfreiheit geworden, dessen Ergebnis bislang wenig überzeugend ausfällt (siehe die folgende Quellenliste).

Quellen

https://publikumskonferenz.de/blog/2021/09/11/die-ard-dokureihe-deutschland-9-11-milde-mainstream-propaganda/

https://publikumskonferenz.de/blog/2021/08/15/zug-faellt-heute-aus-wie-die-ard-gegen-streiks-hetzt/

Atom-PR-Doku „Uran und Mensch“

Uranmunition: Die Grünen gehen in Deckung, die Linke kämpft

https://www.heise.de/tp/features/Das-Medien-Imperium-schlaegt-zurueck-4524106.html

https://www.heise.de/tp/features/Deep-State-hinter-Trump-4519775.html

Urheberecht
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Grafikquellen      :

Oben          —     Karl Lauterbach in der WDR-Sendung „Maischberger“ am 2019-04-10

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Ufo im märkischen Sand

Erstellt von Redaktion am 7. Dezember 2021

Tesla Gigafactory bei Berlin

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Von Susanne Messmer

Bald könnten in der Tesla Gigafactory in Grünheide die ersten Autos vom Band rollen. Wie gefällt das den Leuten vor Ort? Ein Besuch.

Diesmal setzt sich Arne Christiani sogar auf einen Stuhl für das Gespräch mit der Presse. Der Bürgermeister der verschlafenen Gemeinde Grünheide südöstliche von Berlin wirkt ruhig, geordnet, konzentriert. Er springt nicht mehr bei jeder Gelegenheit ans Telefon, rennt beim Sprechen nicht mehr auf und ab. Die Tage, in denen Grünheide in Aufruhr war, in denen die Bür­ge­r*in­nen für oder gegen die Ansiedlung des amerikanischen Elektroautoherstellers Tesla auf die Straße gingen, sie scheinen endgültig vorbei.

Es ist ein grauer Tag Ende November, auch tagsüber muss man Licht anschalten im Rathaus. Die Erörterung von ungefähr 800 Einwendungen aus drei Beteiligungsverfahren ist gerade zu Ende gegangen – und Arne Christiani ist sichtbaƒr gelöst. „Die Genehmigung wird kommen“, glaubt er und grinst. „Noch im Dezember werden bei Tesla die ersten Autos vom Band rollen.“

Tatsächlich hat das Unternehmen begonnen, eine Belegschaft aufzubauen und laut Medienberichten erste Testkarossen zu produzieren. Tesla rechnet damit, so ein Pressesprecher gegenüber der taz, dass im Laufe des Jahres 2022 bis zu 12.000 Mit­ar­bei­te­r*in­nen in Grünheide angestellt sein werden. 500.000 Elektroautos für den europäischen Markt sollen dann jährlich hier produziert werden. Das heißt: Wenn die Fabrik in den nächsten Jahren weiter ausgebaut würde, könnten es sogar noch mehr werden.

Alle Sorgen sind null und nichtig

Das klingt viel, aber nicht zu viel in den Ohren von Arne Christiani. Für ihn sind die Kühe gut versorgt, die sich in den ersten Monaten nach der Entscheidung von Tesla für seine Gemeinde noch eher auf dem Eis befanden. Tesla kann kommen, alle Sorgen sind null und nichtig.

Jede Menge Autos und Lieferverkehr, die sich zu jedem Schichtwechsel durch die Straßen der verschlafenen Gemeinde quälen werden? Christiani sagt: Vor einer Woche hat Tesla eine eigene provisorische Autobahnabfahrt eröffnet. Am Bahnhof Fangschleuse, zwei Kilometer südlich vom Ortskern, fährt der Regionalexpress seit einem Jahr im Halbstundentakt. „Wir werden hier gar nicht viel von Tesla merken.“

Tesla baut auf Basis von inzwischen 19 Einzelgenehmigungen, also ohne endgültiges Go und auf eigenes Risiko in einem Wasserschutzgebiet, das hat viele Naturschützer auf den Plan gerufen. Herr Christiani ist zufrieden, denn Tesla hat den Wasserverbrauch um mehr als 30 Prozent gesenkt.

Und was ist mit dem Neubau, der Grünheide völlig umkrempeln könnte, den Wohnungen, Kitas und Schulen, den Firmen, die sich dank Tesla ansiedeln werden? Grünheide ist umgeben von Seen und Wäldern, viel davon steht unter Naturschutz. Im Moment hat die Gemeinde 9.000 Einwohner, mehr als 13.000 können es nicht werden, sagt Christiani. „Grünheide wird kein zweites Wolfsburg“, freut er sich ziemlich genau zwei Jahre nach der Nachricht, dass Tesla nach Grünheide kommt und ein halbes Jahr, nachdem die Tesla-Fabrik eigentlich schon hätte in Betrieb gehen sollen.

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Arne Christiani hat oft gehört, er habe Tesla den roten Teppich ausgerollt. In einer Talkshow hat er vor wenigen Wochen gesagt, er sei „nicht der größte Verfechter der Demokratie“, um sich gleich darauf dafür zu entschuldigen. Trotzdem ist das, was sich dieser Bürgermeister für Grünheide erhofft, echt. Für ihn wird Tesla möglich machen, dass junge Leute auch in der Region arbeiten können.

Aber gilt das tatsächlich für alle Menschen in Grünheide?

Drei Kilometer Luftlinie vom Rathaus in Grünheide entfernt steht Steffen Schorcht vor dem werdenden Werk von Tesla und holt sein Fernglas aus der Manteltasche.

Personenverkehr auf Luftkissen

Man sieht dieser gerade wohl berühmtesten Baustelle des Landes an, dass sie von einem Mann dirigiert wird, der es eilig hat. Elon Musk, das einprägsame Gesicht von Tesla, will die Welt vom Verbrennungsmotor befreien, Menschen auf dem Mars ansiedeln und den Personenverkehr auf Luftkissen verlegen, die in Röhren über 1.200 Kilometer pro Stunde schaffen. Im Februar 2020 rodete sein Unternehmen in Grünheide, wo heute riesige Hallen stehen, 92 Hektar Kiefernwald. Im Juni 2020 erfolgten die ersten Gründungs- und Fundamentarbeiten, fünf Monate später die Rodung von weiteren knapp 83 Hektar Wald, trotz Protesten.

Die Baustelle, vor der Schorcht nun steht und auf der angeblich rund um die Uhr bis zu 3.500 Menschen arbeiten, ist gewaltig. Schorcht betont, dass sie noch immer nicht genehmigt ist – und doch stehen da auf mehr als 420 Fußballfeldern große Hallen, der Rohbau eines Batteriewerkes, das 2022 in Betrieb gehen soll, Tanker, Laster, Krane. Ein Ufo im märkischen Sand, und das eine halbe Stunde entfernt vom Berliner Flughafen BER, der Jahrzehnte geplant und 14 Jahre lang gebaut wurde.

Wie in der Wüste von Australien

Von Anfang an kämpfte Schorcht, der einen Kilometer von der Baustelle entfernt wohnt, gegen ein solches Werk mitten im Wasserschutzgebiet. Noch immer fordert er mit der Bürgerinitiative Grünheide den Baustopp. Auch, als Tesla versprach, weniger Wasser zu verbrauchen, knickte er nicht ein. Brandenburg ist eine der trockensten Regionen Deutschlands, es gibt Prognosen, nach denen es hier 2050 aussehen wird wie in der Wüste von Australien. Selbst heute, wo nach knapp zwei Jahren Kampf für Wald, Artenschutz, Wasser und Luft viele Naturschützer müde geworden sind, wo sich kaum mehr einer auf Presseanfragen zurückmeldet: Schorcht ist da, wenn man Fragen hat.

Und er hat zahlreiche Antworten. Schorcht, ein freundlicher, aber bestimmter Mann mit leichtem Thüringer Akzent, berichtet, dass es Anfang November Starkregen gegeben hat. Die Feuerwehr und das THW mussten kommen, um Wasser abzupumpen. Nun weiß keiner ganz genau, was da im Grundwasser ankommen ist und weiter Richtung Brunnenanlage fließt.

Dann steigt Schorcht in sein Auto, er will noch etwas weiter südlich, zu einer Reihe zu diesen Brunnen, die 70.000 Menschen in der Region mit Wasser versorgen. Da kann er gut erklären, dass Grundwasserspiegel sinken, wo gebaut wird – und dass der Trichter zum Brunnen immer größer wird, wenn das der Fall ist. „Der Trinkwasserbedarf ist nicht gesichert, wenn das Werk noch größer wird und Ansiedlungen mit weiterem Wasserbedarf folgen“, sagt er.

Es geht weiter zu einem Ortsteil, wo einige Leute im Sommer kein Wasser mehr in ihren Hausbrunnen hatten. Vorbei an einem Wald, wo jetzt ein Teil der Eidechsen, Nattern und Ameisen vom Tesla-Gelände wohnen. Und dann steigt Schorcht an der Löcknitz aus, stapft entschlossen durch den Matsch, zeigt auf das klare Wasser des gewundenen Flusses.

Das Naturschutzgebiet Löcknitztal beginnt östlich von Grünheide. Hier brüten sogar seltene Fischadler. Die Löcknitz fließt in die Spree und die Spree fließt in Berlins größten See, den Müggelsee, weiß Schorcht. Und der ist als Reinwasserspeicher unentbehrlich für die Wasserversorgung der Hauptstadt. Unter anderem deshalb gibt es gerade viel Stunk um den Standort eines neuen Klärwerks für Tesla, denn auch in gereinigtem Wasser bleiben Spuren der Abwässer, besonders von nicht abbaubaren organischen Substanzen.

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Zweifel hegen, Fragen stellen

Schorcht hört nicht auf zu erklären, er fährt immer weiter. Doch eigentlich ist es gar nicht nur die Frage nach dem Wasser, die ihn so aufregt. Wie kann es sein, meint er, dass Land und Gemeinde hinter geschlossenen Türen mit Tesla verhandelt – und dass Viele in der Region die Neuigkeit aus der Zeitung erfahren haben? Tesla, weiß er, hat hier in Brandenburg die verlässlichen Mühlen der deutschen Bürokratie einfach übersprungen. Die Firma konnte sofort loslegen, von Null auf Hundert. Und trotzdem haben viele Menschen in Schorchts Umfeld nicht getan, was man in der Demokratie in solchen Fällen tun kann: Zweifel hegen, Fragen stellen, den Leuten auf die Finger sehen.

Dass da einfach so ein Elon Musk in den Medien laut lacht, wenn er nach dem Wasser gefragt wird, das ist Schorch unbegreiflich. Und noch unbegreiflicher ist es ihm, dass er trotzdem noch wie ein Popstar gefeiert wird. Schorcht war mal für die SPD, mal für die Linken in der Stadtverordnetenversammlung. Als sich am Anfang der Proteste auch Leute um die AfD herum zu den Demos kamen, hat er sich wie auch die BI Grünheide schnell distanziert.

Steffen Schorcht weiß genau, wie schlecht die Fabriken von Tesla in den USA oft bei Nachhaltigkeitsberichten abgeschnitten haben. „Das E-Auto ist nicht der Heilsbringer für die grüne Zukunft“, weiß er. Tatsächlich wird bei seiner Produktion nicht weniger C02 produziert. Und: „Da werden knallhart reine Kapitalinteressen durchgesetzt“.

Steffen Schorcht ist weiter davon entfernt denn je, die Politik und die Wirtschaft einfach machen zu lassen.

Aber sieht das die Mehrheit der Menschen in Grünheide ebenso? Hat sie dasselbe Standvermögen?

Arne Christiani meint, mindestens 80 Prozent seiner Gemeindemitglieder begrüßen die Ansiedlung von Tesla.

Ist das wirklich so?

Man muss zurück zum zugigen Marktplatz von Grünheide, um Näheres zu erfahren. Viele, die man dort auf dem rosa Betonpflaster oder unter den Arkaden, im Asia Bistro oder beim Feierabendeinkauf trifft, sagen: Tesla ist ein tolles Unternehmen.

Endlich ein Job nach der Ausbildung

„Vielleicht findet mein Sohn jetzt nach der Ausbildung einen Job in Grünheide“, sagt eine große, schlanke Frau um die Vierzig, die gerade in den Blumenladen will.

„Ich finde es toll, dass hier frischer Wind rein kommt“, sagt ein Teenager im schwarzen Dufflecoat, der mit ein paar Büchsen Cola aus dem Edeka schlurft, auch wenn es ihm damals leid getan habe um den Kiefernwald.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Blick auf das Gelände der Tesla Gigafactory Berlin-Brandenburg

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2.) von Oben      —     Gelände der zukünftigen Fabrik von Tesla in Grünheide, am linken Bildrand der Berliner Ring, rechts das Gewerbegebiet Freienbrink

 Unten      —     Grünheide, im Hintergrund Baustelle von Tesla

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Beide müssten deeskalieren

Erstellt von Redaktion am 6. Dezember 2021

Ukraine: Es braucht zwei für einen Tango

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Andreas Zumach /   Für eine Entschärfung des Ukraine-Konflikts müssen sich sowohl Putin als auch Biden bewegen.

Der seit Jahren ständig eskalierende Konflikt zwischen Russland und den Mitgliedsstaaten der NATO um die Ukraine hat einen kriegsgefährlichen Höhepunkt erreicht. Das für Dienstag angekündigte Gipfeltelefonat zwischen den Präsidenten Putin und Biden kann nur dann zu einer Entschärfung beitragen, wenn beide Seiten sich bewegen.

Die in der Brüsseler NATO-Zentrale und den westlichen Haupstädten  erhobene sowie in den meisten Medien sekundierte Forderung, nur Putin müsse einen Schritt machen und die in der Tat besorgniserregende Konzentration von Truppen und schweren Waffen im Grenzgebiet zur Ukraine  beenden, wird scheitern. Denn diese einseitige Forderung  folgt dem im Westen weitverbreiteten Narrativ, die  Konfrontation in den Beziehungen mit Moskau habe erst mit Russlands  völkerrechtswidriger Annexion der Krim  im März 2014 und der seitdem anhaltenden Unterstützung der Sezessionisten im Donbas begonnen.

Dieses Narrativ ist falsch. Die Verschlechterung der Beziehungen begann bereits mit der NATO-Osterweiterung, die ab 1996 vollzogen wurde unter Bruch des Versprechens, das US-Aussenminister Baker, Bundeskanzler  Kohl und Aussenminister Genscher dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow Anfang Februar 1990 nachweislich gegeben hatten. Der schwere historische Fehler der NATO-Osterweiterung – statt auf das von Gorbatschow vorgeschlagene «Gemeinsame Haus Europa» und ein kollektives, auch für Polen und die baltischen Staaten verlässliches Sicherheitssystem mit Russland im Rahmen der OSZE zu setzen – ist zwar heute wahrscheinlich leider nicht mehr revidierbar.

Doch die NATO hätte mit der Rücknahme ihrer Gipfelentscheidung von 2008, auch noch der Ukraine die Option auf eine Mitgliedschaft zu eröffnen, in den letzten Jahren längst ein wichtiges Deeskalationssignal nach Mokau schicken können.  Dieser weiterhin richtige Schritt ist, nachdem inzwischen eine entsprechende Forderung der Regierung Putin öffentlich auf dem Tisch liegt und Biden im Vorfeld des  Telefonats mit Putin «rote Linien» Russlands bereits abgelehnt hat, sicher schwieriger geworden.

Doch es gibt auch andere Deeskalationsschritte, welche die beiden Präsidenten bilateral vereinbaren oder auch unilateral unternehmen könnten. Am dringendsten wäre der sofortige Wiederbeitritt zum «Open Skies-Abkommen» über vertrauensbildende Massnahmen im Luftraum, den nach dem Austritt der USA unter Präsident Trump auch Russland aufgekündigt hatte.

Wie dringend diese Massnahme wäre, unterstreicht die Beinahe-Kollision eines russischen Passagierflugzeuges mit einem westlichen Aufklärungsjet über dem Schwarzen Meer am Samstag. Weitere hilfreiche Deeskalationsschritte wären die Einstellung jeglicher militärischer Unterstützung Russlands für die Sezessionisten im Donbas und der USA für die Regierung der Ulkraine sowie der Rückzug russischer sowie NATO-unterstellter Truppen aus Regionen beiderseits der Grenze.

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Grafikquellen        :

Oben      —   Präsident Joe Biden und der russische Präsident Wladimir Putin nehmen an einem Tete-a-Tete während eines US-Russland-Gipfels am Mittwoch, den 16. Juni 2021, in der Villa La Grange in Genf teil. (Offizielles Foto des Weißen Hauses von Adam Schultz)

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Elektrifiziert das Land!

Erstellt von Redaktion am 5. Dezember 2021

Raus aus der Öl- und Gas Falle

Lage von Nord Stream

Von Claudia Kemfert

Der ungewöhnlich starke Preisanstieg bei Öl, Gas und Kohle in den vergangenen Wochen hat die Debatte um die Energiewende neu entfacht. Rasch kursierte das Wort „Energiepreiskrise“, tauchten verdrehte Logiken und Schuldzuschreibungen auf: Die Kritiker der Energiewende machen diese für die steigenden Preise verantwortlich und behaupten, eine Umstellung auf erneuerbare Energien sei unbezahlbar. Manche erklären den CO2-Preis zur Wurzel allen Übels und fordern inzwischen eine Rückkehr zur vermeintlich klimafreundlicheren und günstigeren Atomkraft. Dabei ist es genau umgekehrt: Die Erneuerbaren wirken preissenkend, und zwar sowohl an der Strombörse als auch bei Industrie und Verbraucher.

Dass die Energiewende nicht das Problem, sondern die Lösung ist, zeigt sich schon daran, dass all jene keine höheren Rechnungen erhalten werden, die in einem gut gedämmten Haus wohnen, mit Solarenergie Strom und Wärme erzeugen, „grüne“ Nah- oder Fernwärme nutzen oder mit dem Elektroauto unterwegs sind.

Und auch das Marktgeschehen spricht gegen die These, dass die erneuerbaren Energien und der Wandel zu größerer Energieeffizienz für die Kostensteigerungen verantwortlich sind. Vielmehr sind es vor allem die fossilen Energieträger, die die Preise derzeit explodieren lassen. Verantwortlich dafür ist die fehlgeleitete Energiepolitik der vergangenen Jahre und die gewaltige Marktmacht einzelner Akteure. Umso wichtiger aber ist es nun, den Moment der Krise als Chance für Veränderung zu begreifen. Denn ein gut gemachter Klimaschutz hat das Potential, die Energiepreise zu senken und am Ende gar das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, da in wichtige Zukunftsmärkte investiert wird. Dafür aber muss die Energiewende umgehend und mit voller Kraft erfolgen.

Die Ursachen des Preisanstiegs

Der aktuelle Preisanstieg hat drei zentrale Ursachen. Erstens haben die Corona-Lockerungen in diesem Jahr dazu geführt, dass die wiedererstarkende Wirtschaft weltweit mehr Öl nachfragte – was den Ölpreis in die Höhe treibt. Zweitens kann China neuerdings aufgrund strengerer Umweltauflagen im eigenen Land weniger Kohle fördern und muss diese daher aus anderen Staaten importieren. Das lässt auch den Preis für Kohle ansteigen. Beim Anstieg des Gaspreises spielt dagegen, drittens, Russland eine entscheidende Rolle. Statt der gestiegenen Nachfrage nachzukommen, hat Moskau seine Gasexporte gedrosselt. Dahinter steckt auch politisches Kalkül. Durch die kurzfristige Stimulation des Gasgeschäfts will der Kreml unter anderem die Fertigstellung der Erdgaspipeline Nord Stream 2 erzwingen, um so langfristig die eigene Marktmacht auf dem europäischen Kontinent zu sichern.

Dass die Bundesrepublik diesem Kalkül geradezu ausgeliefert ist, liegt auch an den Fehlern der Vergangenheit. So wurden zahlreiche Gasspeicherkapazitäten an Gazprom verkauft. Das russische Unternehmen kontrolliert derzeit etwa ein Drittel der Erdgasspeicher in Deutschland, den Niederlanden und Österreich.[1] Diese Gasspeicher wurden in den vergangenen Monaten auffällig stark geleert, was die Nachfrage und die Preisspirale hierzulande nun zusätzlich antreibt. In anderen Ländern, in denen Gazprom keine Gasspeicher besitzt, sind diese auf normalem Niveau gefüllt.[2]

Ein vorausschauender Aufbau nationaler Gasreserven hätte die aktuelle Krise verhindern und die hiesige Energieversorgung unabhängig von geopolitischen Strategien machen können. Seit langem weisen wir im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung darauf hin, dass es sinnvoll wäre, eine nationale und aktuell auch europäische Gasreserve aufzubauen, ähnlich der strategischen Ölreserve.[3] Allerdings lehnte die schwarz-rote Bundesregierung diese Forderung trotz einiger Vorschläge der SPD mit Verweis auf eine angeblich gesicherte Versorgung in diesem Winter ab.[4] Vor allem aber hätte ein konsequenter Ausbau der erneuerbaren Energien die Unabhängigkeit Deutschlands vom weltweiten Energiemarkt gestärkt. Die gegenwärtigen Preissteigerungen sollten daher als Treiber für einen langfristigen wie nachhaltigen Wandel gesehen werden. Die EU strebt dies bereits mit ihrem im Juli präsentierten Programm „Fit for 55“ an. Sie will die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent unter das Niveau von 1990 senken. Dem Kreml ist dieses Programm ein Dorn im Auge. Durch lobbymäßig geschickt in die öffentliche Debatte gestreute Ursache-Wirkung-Logikfehler verfolgt er derzeit das Ziel, die EU-Klimaschutzpolitik auszubremsen.

Die Atomkraft als Irrweg

Die Atomenergie, die neuerdings im Namen des Klimaschutzes wieder ins Feld geführt wird, bietet dagegen keinen Ausweg – weder aus der derzeitigen Energiekostenkrise noch aus der Klimakrise. Vor allem Frankreich drängt innerhalb der EU auf gemeinsame Investitionen in die Atomenergie. Doch deren erneuter Ausbau, der spätere Rückbau der Atomreaktoren und vor allem die anschließende jahrtausendelange Lagerung des radioaktiven Mülls belasten uns und die folgenden Generationen mit gewaltigen Kosten.[5]

Prof. Dr. Claudia Kemfert spricht bei Freidays For Future Demonstration (50708081303).jpg

Allein marktwissenschaftlich spricht wenig für den Ausbau der Kernenergie: In keinem Staat der Welt gelingt die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie ohne umfangreiche staatliche Investitionen. Ganz im Gegenteil erweist sich diese meist als Fass ohne Boden: In Finnland beispielsweise verdreifachten sich die Kosten während des Baus.[6] Vor allem aber bedarf es rund 15 Jahre, bis neue Atomkraftwerke geplant, gebaut und in Betrieb genommen werden. Die für eine Begrenzung der Erderhitzung notwendige schnelle Abkehr von fossilen Brennstoffen innerhalb der kommenden Jahre ist auf diese Weise nicht möglich.

Erneuerbare Energien sind im Gegensatz dazu zu einem Bruchteil jener Kosten zu haben. Sie vermeiden geopolitische Konflikte und stärken die Resilienz der Energieversorgung und der Wirtschaft insgesamt. Statt enorme Kosten und langjährige Bauzeiten in Kauf zu nehmen, sollte in saubere Energien und Energieeffizienz investiert werden. Zu Letzterem gehören auch die energetische Gebäudesanierung sowie das Vorantreiben der Verkehrswende.

All das zeigt: Die einzig richtige Antwort auf die fossile Energiekrise ist die beschleunigte Energiewende. Durch die Senkung fossiler Subventionen würden all diejenigen stärker belastet, die einen vergleichsweise großen CO2-Fußabdruck haben – und zu diesen zählen laut Oxfam vor allem die wohlhabenderen Teile der Bevölkerung.[7] Kluger Klimaschutz kann also durchaus mehr soziale Gerechtigkeit schaffen. Die CO2-Bepreisung, die ein wichtiges Instrument zur Erreichung der Klimaziele darstellt, weil sie die „Nebenkosten“ fossiler Energien durch die Klimawandelfolgen widerspiegelt, hat dagegen das Problem, dass die durch sie steigenden Preise Verbraucher*innen ungleich belasten. Während Gutverdienende diese leicht kompensieren können, bekommen Menschen mit niedrigen Einkommen die höheren Kosten im Alltag deutlich zu spüren. Eine Pro-Kopf-Rückerstattung der CO2-Bepreisung ist deshalb unabdingbar, um gerade einkommensschwächere Haushalte zu entlasten.[8]

Quelle         :       Blätter-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Lage von Nord Stream

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Unten        —   Prof. Dr. Claudia Kemfert von den Scientists For Future, Gutachterin beim IPCC und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, spricht bei der #FightFor1Point5-Demonstration von FridaysForFuture zum fünften Jahrestag des Pariser Abkommens am Brandenburger Tor, Berlin, 11.12.20

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Pandemievertrag der WHO

Erstellt von Redaktion am 3. Dezember 2021

Protektionistischer Markt

Von Unni Karunakara

Das neue Pandemieabkommen der WHO ändert nichts an der ungleichen Verteilung von Ressourcen. Nötig ist eine Dekolonisierung der Gesundheitspolitik.

Eine Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung, dem Entscheidungsgremium der WHO, hat sich diesen Mittwoch ausschließlich mit einem Thema beschäftigt: dem Pandemievertrag. Wird dieser Vertrag in der Lage sein, die Defizite in der globalen Solidarität zu beseitigen, wenn es um besseren Zugang zu wichtigen, lebensrettenden Medikamenten geht, um Impfungen und medizinisches Material?

Die Antwort lautet: Nein. Solange der politische Wille fehlt, mit demselben Nachdruck Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen wie bei Ländern, denen man eine falsche Politik vorwirft, ändert der Vertrag nichts. Er wird nichts nützen, solange es in den reichen Ländern keine Bereitschaft gibt, wissenschaftliche und technologische Ressourcen zu teilen. Verhandlungen um einen neuen Pandemievertrag sollen vom politischen Unwillen der reichen Länder ablenken, zu teilen.

Zwar gibt es ein Instrument, das eine globale Antwort der öffentlichen Gesundheit auf weltweite Ausbrüche von Infektionskrankheiten ermöglicht: die Internationalen Gesundheitsregularien (IHR). Doch es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass dieses Instrumentarium, das 1969 beschlossen und 2005 nach dem Ausbruch der Sars-Pandemie reformiert wurde, weiterer Überarbeitung bedarf. Dazu würde die Ausweitung der Zuständigkeit auf Pandemien und Krankheitsübertragungen vom Tier auf den Menschen gehören.

Und dazu muss die Garantie gehören, dass die Maßnahmen gerecht und gleich vorgenommen werden – und die Möglichkeit der WHO, das Handeln der nationalen Regierungen in diesem Zusammenhang zu überwachen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Jetzt ist ein neuer Pandemievertrag verabschiedet worden, der von der Europäischen Union und einer Handvoll anderer Länder und Institutionen mit Unterstützung des Generaldirektors der WHO vorangetrieben wurde. Das Timing ist dabei von Bedeutung. Die Zahl der Covid-19-Fälle steigt weltweit an, und es ist eine neue Virusmutation aufgetaucht.

Europa stagniert trotz vorhandenen Impfstoffs bei einer Impfrate von lediglich 70 Prozent. Während sich Straßenproteste von Österreich bis zu den Niederlanden gegen den Impfdruck richten und in den reichen Ländern die dritte Impfung verabreicht wird, haben Millionen Menschen auf der Welt noch nicht einmal die erste Impfung in Aussicht. Dieses katastrophale Versagen von globaler Kooperation und Solidarität kann nicht allein damit begründet werden, dass die globalen Rahmenbedingungen und Vereinbarungen dafür nicht ausreichen.

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Was fehlt, ist der politische Wille der reichen Länder, wesentliche Ressourcen und Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie zu teilen. Wie das Kaninchen auf die Schlange starren wir auf ein weiteres Jahr mit wachsenden Infektionen und resignieren gleichzeitig vor der Impf­ungleichheit und wachsender Todeszahlen.

Es ist klar, warum Menschen in armen Ländern keinen Zugang zu Impfungen haben: Eine große Mehrheit der Staatengemeinschaft hatte den Vorschlag gestützt, Patentrechte für essenzielle medizinische Technologien, darunter auch Impfstoffe, für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Dies lehnten die EU, Großbritannien, Norwegen und die Schweiz ab, ausgerechnet jene Länder, die nun die Initiatoren des Pandemievertrags sind. Das sollte wohl davon ablenken, dass sie gegen die Patentaussetzung sind.

Aber im Herzen der Ideologie vom freien Markt, die den reichen Ländern ein so wichtiges Anliegen ist, steckt eigentlich eine protektionistische Tendenz. Patentgesetze haben es Big Pharma ermöglicht, Monopole zu errichten und immense Gewinne einzufahren, während sie Millionen von Menschen den Zugang zu Impfstoffen verweigern. Selbst in Zeiten eines weltweiten Gesundheitsnotstandes sind die reichen Länder nicht in der Lage, Menschen über Profite zu stellen.

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Briefmarke von 1983

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Unten        ––           A partir de segunda-feira (2) haverá postos exclusivos de vacinação para esse público, além de gestantes e puérperas. Confira a lista. Foto Geovana Albuquerque / Agência Saúde

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Eine günstige Gelegenheit

Erstellt von Redaktion am 1. Dezember 2021

Trotz Tarifabschluss bleibt der Pflegenotstand.

Von Stefan Kerber-Clasen 

Aber die Wut über „die da oben“ könnte in soziale Kämpfe für einen wirklichen Umbau umgewandelt werden. In den Krankenhäusern ist eine Verschärfung der zur Normalität gewordenen Notlage zu beobachten

Tarifkampagnen sind in Deutschland meistens ziemlich lahm. Aber vergangene Woche schlängelte sich der Demonstrationszug überraschend lang durch die Innenstadt Hannovers. Im Mittelpunkt standen die Pflegekräfte der Universitätskliniken, die die Intensivstationen unter widrigen Bedingungen am Laufen halten. Kaum setzte der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Werneke dazu an, die finanzpolitischen Argumente der Arbeitgeberseite zu entkräften, wird er unterbrochen: „Notsituation auf der Corona-Intensivstation der medizinischen Hochschule Hannover. Die streikenden Kolleg_innen bitte zum roten Pavillon, dort Lagebesprechung und dann zurück in den Dienst!“ Der Unmut nimmt zu. Eine junge Rednerin lässt ihrer Wut über das kaputte Krankenhaussystem, das dafür verantwortlich ist, dass ihre Kolleg_innen aus dem Streik zurück auf die Station spurten müssen, und darüber, dass von Menschenwürde im Krankenhaus oft nicht viel übrig bleibe, freien Lauf.

Wäre es nicht eine Tarifrunde des öffentlichen Dienstes der Länder, man hätte denken können, gleich werde das Finanzministerium besetzt. In der aktuellen Situation scheint das gar nicht so fernliegend. Denn dass eine ganz andere politische Antwort auf die gegenwärtige Misere des öffentlichen Dienstes notwendig ist, daran zweifelt hier niemand. Doch trotz radikal verschärfter Coronalage ist wieder keine progressive Perspektive in Sicht. Offensichtlich wird Deutschland nicht aus Schaden klug, sondern durch Kritik und politisches Handeln: Hierzu ist es allerdings notwendig, die Kritikperspektive richtig zu justieren und die eigenen Kräfte zu fokussieren.

In der aktuellen Situation bedeutet dies vor allem, die Frage nach den Grenzen der Behandlung auf den Intensivstationen nicht allein als „Schuld“ der Ungeimpften zu diskutieren, sondern – im Einklang mit der Gewerkschaftsposition – als politisch zu verantwortendes Problem: Die Notlage der Intensivstationen und der Krankenhäuser genauso wie der Fachkräftemangel und der Rückzug vieler Beschäftigte aus dem Beruf sind in Kauf genommene Ergebnisse konkreter Politik. Es ist daher nicht eine erneute Ausnahme­situation in den Krankenhäusern zu beobachten, sondern eine Verschärfung der zur Normalität gewordenen Notlage.

Inauguración del Hospital Regional de Apatzingán. (20503993770).jpg

Der Frust und die Wut über Einschränkungen im Alltag, nur beschränkt wirksame Impfungen oder unzureichenden Schutz von Kindern können auch in eine progressive Perspektive einfließen. Und nichts bietet sich dazu aktuell mehr an als der Kampf für eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems. Jetzt könnte der Zeitpunkt gekommen sein, das politische Potenzial des vielfach als bloß naiv oder symbolisch-alibimäßig belächelten massenhaften Applauses von den Balkonen in der ersten Coronawelle zu entfalten und zu organisieren. Denn mehr denn je verdichten sich im Gesundheitssystem die kurz- und längerfristigen politischen Entscheidungen zu einem katastrophalen Ergebnis – mit gravierenden aktuellen gesellschaftlichen Konsequenzen (Überlastung, Triage, Tod) und darüber hinaus (Traumata, Burn-out, Berufswechsel, Verlust des Vertrauens in das Gesundheitssystem).

Doch nirgends, auch nicht im Koalitionsvertrag, ist unter den Regierenden auszumachen, dass der politische Wille besteht, künftig anders zu handeln. Es wäre aber eine Chance, aus der Pandemie etwas gesellschaftlich Positives zu schaffen – nämlich erste verbindliche Schritte zu einem bedürfnisorientierten, arbeitsfreundlichen, demokratischen Gesundheitssystem zu unternehmen. Die kommenden Wochen sind hierfür, auch wenn es zynisch klingen mag, günstig. Die Katastrophe auf den Intensivstationen wird noch viel zu lange anhalten; die Tarifrunde der Länder ist zwischenzeitlich mit einem Teilerfolg für die Pflegekräfte abgeschlossen worden. Und eine neue Regierung mit neuer Gesundheitsminister_in und neuem Finanzminister steht von Anfang an unter Handlungs- und Legitimationsdruck.

Quelle       :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Kinderbetreuung ist Care-Arbeit

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Unten    —    Inauguración del Hospital Regional de Apatzingán. Apatzingán, Michoacán. 18 de agosto de 2015.

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Pharma Patente freigeben

Erstellt von Redaktion am 26. November 2021

Solidarisch aus der Krise – Pharma enteignen!

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Quelle      —       Untergrundblättle – CH 

Von  : pm

Gerade wenn sich in ganz Nord-Europa zehntausende Menschen von rechten bis faschistischen Anti-Corona-Aufrufen auf die Strasse mobilisieren lassen ist es zentral die verheerende Gesundheitspolitik aus antikapitalistischer Sicht zu kritisieren.

1. Warum wird geforscht?

Genau wie im Kapitalismus ein T-Shirt nicht produziert wird damit jemand warm hat sondern damit jemand ein T-Shirt kauft, wird ein Medikament oder eine Impfung nicht entwickelt damit jemand gesund bleibt sondern damit jemand dieses Medikament kauft. Verkauft wird dabei nicht einfach das Produkt, sondern die in ihm enthaltene menschliche Arbeit. Da im Falle des Medikaments ein Grossteil dieser investierten Arbeit aber nicht in die Produktion fliesst sondern in die Entwicklung, braucht es einen Zwischenschritt. Produziert wird von den ForscherInnen im Kapitalismus eine Ware namens ’Geistiges Eigentum’, die von ihren ChefInnen in Form von Patenten verkauft wird. Sinn und Zweck der forschenden Pharmaindustrie ist Produktion, Vermarktung sowie Handel von ’Geistigem Eigentum’. Entsprechend ist es die Hauptaufgabe ihres Interessensverbandes interpharma dieses zu schützen. Durch öffentliche Stimmungsmache und parlamentarische Lobbyarbeit kämpft er erfolgreich gegen jeglichen Versuch das Patentrecht aufzuweichen – wie etwa gegenwärtig gegen den Initiative des gesamten globalen Südens, Patente auf Covid-Wirkstoffe für die Dauer der Pandemie auszusetzen und damit die Kapazitäten für die Impfstoffproduktion auszuweiten und sie für ärmere Länder erschwinglich zu machen (TRIPS-Waiver in der WTO).

2. Wo wird geforscht?

interpharma und Konsorten betonen gegenüber solchen Forderungen jeweils die immensen Ausgaben, die die Entwicklung einer Impfung bedeuteten. Natürlich ist dieses ’Argument’ in aller Allgemeinheit falsch – ein Blick auf die Prunkbauten von Novartis und Roche oder in ihre Jahresabschlüsse genügen zur Widerlegung irgendeiner ’Kostenneutralität’. Das Argument ist aber im besonderen Fall von Covid besonders perfid, nicht nur da der Löwenanteil der Impfstoff-Forschung von Staaten bezahlt worden ist, sondern auch da sich viele der zur Debatte stehenden Patente auf Forschung beziehen, welche an öffentlich finanzierten Universitäten statt gefunden hatte.

Für die in interpharma zusammengeschlossenen Pharma-Multis ist die Universität Basel eine wahre Goldgrube: Zum Nulltarif werden fähige ForscherInnen ausgebildet und Grundlagenforschung geleistet. Ergibt sich dann aus der universitären Forschung eine potentielle Anwendung (das heisst ein potentielles Patent), wird diese im Rahmen von öffentlich-rechtlichen Partnerschaften oder dem Aufkauf von Spin-offs privatisiert. Es sollte uns also nicht überraschen residiert interpharma im gleichen Haus, in dem auch das Rektorat der Universität Basel seinen Sitz hat. Umgekehrt dürfen sich die Herren und Damen aus der Universitätsleitung ruhig mitgemeint fühlen wenn sie morgen die frische Farbe an ihren Büros sehen.

3. Was wird geforscht?

Dies zumal die Unterordnung der kollektiv finanzierten Universität unter die privaten Profitinteressen der Pharmamultis noch weiter geht. Wenn wir behaupten das Ziel der pharmazeutischen Forschung sei die Produktion von Patenten, stimmt das nur halbwegs, denn natürlich bringt der Novartis und ihren AktionärInnen das beste Patent nichts, wenn es sich nicht vermarkten lässt. Dies hat zur Folge, dass im Kapitalismus Forschungsgelder dorthin fliessen, wo eine zahlungskräftige Nachfrage besteht. Nicht nur haben sich Novartis und Roche deswegen schon lange aus der wenig einträglichen Impfforschung zurückgezogen (wie etwa auch aus der Forschung neuer dringend benötigter Antibiotika) und sich gewinnträchtigeren Bereichen etwa der Krebs- und Diabetes-Therapien zugewandt. Nein, natürlich hat man in den Chefetagen der Basler Pharmakonzerne ein Interesse daran, dass sich auch die unversitären Zuliefer-Betriebe auf diese Bereiche fokussieren. Um dies zu erreichen hat sich die Installation von privat (ko-)finanzierten Professuren (Roche und Vifor Pharma) oder Instituten (Novartis) als besonders effizientes und kostengünstiges Modell herausgestellt.

Nicht nur ihre Mitglieder, auch interpharma selbst betreibt eine eigene Stiftungsprofessur in Basel: Seit 2011 hält Stefan Felber eine von interpharma finanzierte ’Professur für Gesundheitsökonomie’. Der Lobbyist soll – akademisch legitimiert – an den gesellschaftlichen Grundlagen arbeiten, an welchen seine AuftragsgeberInnen so prächtig verdienen. Und welche mit ihren ganzen Privatisierungen und Kostensenkungsprogrammen der letzten Jahrzehnte genauso ursächlich verantwortlich für jedes Corona-Opfer sind wie der Virus selbst.

File:Hoffmann-La Roche AG in Basel (11).jpg

Lange Rede kurzer Sinn: Es wäre eine drastische Untertreibung zu behaupten, die Arbeit der Herren und Damen von interpharma beschränke sich auf das retweeten grössenwahnsinniger PR-Hashtags. Als InteressensvertreterInnen der Big Pharma stehen sie den Interessen der Menschen hier und global 180 Grad entgegen. Diese Interessen wissen sie durchaus wirkmächtig zu vertreten. Unser Ziel ist nicht dies anzuprangern. Unser Ziel ist zu sagen: Auch wir müssen unsere Interessen zu vertreten wissen. Nicht im Parlament, wo die ProfiteurInnen mit Nebelgranaten jonglieren. Nicht an der Uni, wo bestehende Machtverhältnisse mit viel Pomp weiter zementiert werden. Sondern auf der Strasse, im unvereinbaren Bruch mit dem System, das uns alle krank macht!

Diese Strasse wird derzeit auch von einer zutiefst reaktionären Bewegung beansprucht. Während auch sie vordergründig für einen Bruch mit dem System der Big Pharma steht, ist der von ihr propagierte libertäre Freiheitsbegriff und Nationalchauvinismus nur die konsequenteste Fortsetzung des Status quo.

In ihrer ganzen Bandbreite – von Qanon- bis Tell-AnhängerInnen – nährt sie sich an antisemitisch aufgeladenen Bildern eines feindlichen Komplotts, welche den vormals gesunden und geeinten „Volkskörper“ der Schweiz zu spalten und vergiften versuche. Dagegen betonen wir: Natürlich ist der staatlichen Gesundheitspolitik zu misstrauen – aber nicht weil sie uns „SchweizerInnen“ vergiften will, sondern weil sie als Institution des Klassenstaates uns Arbeitende nur insoweit gesund halten will als sich unsere kollektive Arbeit in privaten Profit verwandeln lassen kann. Die viel kritisierten Massnahmen, welche dieser Klassenstaat diktiert, gehen nicht zu weit, sie hören tatsächlich viel zu früh auf, nämlich exakt dort wo der Gewinn der Banken und Konzerne bedroht wäre (und ja auch jener der SVP-MilliardärInnen).

Dabei wäre es so naheliegend solidarische Wege aus der Krise zu skizzieren. Wege deren Ziel die Gesundheit aller ist statt der Profit Weniger. Zum Beispiel – um ganz bescheiden zu starten – die Gewinne von Novartis und Roche zu konfiszieren und dafür endlich den Pflegenden richtige Löhne zu zahlen… Das Ausarbeiten dieser Wege dürfen wir nicht jenem Klassenstaat überlassen, dessen einzige historische Aufgabe es ist genau das zu verhindern, sondern die Ausarbeitung muss kollektiv von unten geleistet und im Kampf gegen die Inteessen der Herrschenden durchgesetzt werden.

Grafikquellen          :

Oben     —   Leverkusen, Blick auf eine Straße: Bayer – Wissenschaft für ein besseres Leben

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Die Natur wird verkauft

Erstellt von Redaktion am 26. November 2021

Wie man die Natur skrupellos zu Geld macht

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Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In unserer Welt der Euphemismen mit der nur unvollständigen bis missverständlichen Darstellung schwieriger Sachverhalte und schöngefärbter Anpreisung unliebsamer Projekte läuft ein Prozess der „Monitarisierung der Natur“, von dem die breite Weltbevölkerung wenig bis garnichts weiß bzw. versteht oder unter dem sie sich auch nach einem Blick in Wikipedia nichts recht vorstellen kann. Dabei handelt es sich auf gut Deutsch ganz einfach darum, die Natur zu Geld zu machen. Gebilligt hatten das seinerzeit auf dem Weltgipfel der Vereinigten Nationen 2012 alle demokratisch und autorität geführten Staaten. Konkret begann es dann damit, dass die private Verwaltungsgesellschaft der Börse von Chicago im Dezember 2020 den Handel mit sog. „Futures“ ankündigte. Hinter diesem zukunftsorientierten Titel verbirgt sich ein hochspekulatives Finanzprodukt für den Handel mit Wasser in Kalifornien, dessen Preis durch Spekulation bestimmt werden soll. Kaum zu glauben, aber wahr. Und es kommt noch schlimmer. Im Oktober 2021 und nur kurz vor der COP26 in Glasgow führte die Wall-Street-Börse in New York mit Unterstützung von BlackRock neue Finanzanlagen für die Spekulation mit allen Elementen der Natur ein, um „der Gefahr einer weiteren massiven Verknappung der natürlichen „Ressourcen“ für die Wirtschaft“ und deren Wachstum entgegenzuwirken. Und kaum einer hat’s gemerkt, keiner hat aufgeschrien, keine Behörde hat sich gerührt. Und das, obwohl diese Monetarisierung der Natur die gesamte Natur unserer Welt in eine „gigantische Goldgrube“ verwandelt und zu einer unermesslichen Bereicherung einiger weniger Reicher auf Kosten der Mehrheit der Menschen führen muss.

In der letzten Anne-Will-Sendung lobte F. Merz überschwänglich ausgerechnet BlackRock für die Nachhaltigkeitserklärung des größten Finanzverwalters der Welt und verschwieg gleichzeitig und sicher wissentlich, was sich eigentlich hinter der BlackRock-Erklärung verbirgt. Ein Blick hinter den Vorhang lässt uns ob der Verlogenheit der Finanzwelt mehr als erschrecken. Gelüftet hat den Vorhang der europaweit hochangesehene Politologe und Soziologe Ricardo Petre

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Für einen  Blick über die Ölplantagen muss der rote Teppich verlassen werden.

Scheinheilig präsentiert sich die private Finanzwirtschaft mit der Maske des Retters eines nachhaltigen Wirtschaftens, allen voran BlackRock als größte Finanzmacht der Welt nach den USA und China. Dabei stellt sich BlackRock vor, bis 2030 30% der Natur in „Naturschutzgebiete“ umzuwandeln, die mit Finanzkapital gekauft und verwaltet werden. Natürlich mit geilen und kaum besteuerten Gewinnen. Die Verwalter dieser „Naturschutzgebiete“, werden heuchlerisch NAC (Natural Asset Companies) genannt. Den Wert der „Naturschutzgebiete“ hat BlackRock auch schon mit vier Quadrillionen US$ evaluiert. Ein solches Geschäft darf mansich natürlich nicht entgehen lassen. Hinter beschönigenden Begriffen verbergen sich also perverse Machenschaften. Während Merz BlackRock in höchsten Tönen lobte, hatte die total-kapitalistische Ausbeutung der Welt in aller Heimlichkeit bereits begonnen. Verlogener geht’s nimmer. Wann endlich kommt der Paradigmenwechsel weg von der kapitalgetriebenen Zuwachswirtscht hin zu einem unsere Nautor achtenden und pflegenden Wirtschaften? Wollen wir wirklich zulassen, dass raffgierige Finanzverwalter unsere Natur skrupellos zu Geld machen?

Urheberecht
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Grafikquellen      :

Oben          —   BlackRock Gruppe

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Unten        —       Distrikt Kunak, Sabah: Eine Ölpalmplantage entlang der Malaysischen Bundesstraße 13 mit verschiedenen Stadien von Ölpalm wachsen

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Einflüsse aus Silicon Valley

Erstellt von Redaktion am 25. November 2021

Ist »Longtermism« die Rettung – oder eine Gefahr?

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Eine Kolumne von Christian Stöcker

Die Klimakrise zeigt, wie kurzsichtig die Menschheit handelt. Eine von Bitcoin-Milliardären und Leuten wie Elon Musk üppig finanzierte Denkschule will das ändern. Eine gute Sache? Nur auf den ersten Blick.

Das Seltsamste am TED-Vortrag des britischen Philosophen William MacAskill aus dem Jahr 2018 ist, dass die Klimakrise darin nur sehr am Rande vorkommt. Und das, obwohl MacAskill sich die Zukunft der Menschheit zum zentralen Thema gemacht hat.

In Jeans und T-Shirt spricht MacAskill gut zehn Minuten lang über »existenzielle Risiken« für die Menschheit und über die von ihm selbst und anderen populär gemachte Idee des »effektiven Altruismus«. Er arbeitet an einer Einrichtung namens »Global Priorities Institute«. Wenn man ihm aber zuhört, hat man nicht den Eindruck, dass die Klimakrise zu seinen zentralen Prioritäten gehört.

Einmal erwähnt der Philosoph zwar »die Möglichkeit extremer Klimaveränderungen«, aber in einer Reihe mit Biowaffen, außer Kontrolle geratener künstlicher Intelligenz und Geoengineering, also aktiven Eingriffen ins Erdsystem selbst. Mit anderen Worten: in einer Reihe mit derzeit eher hypothetischen Bedrohungen. Dann ergänzt er: »Ich sage nicht, dass eines dieser Risiken besonders wahrscheinlich ist«, und da runzelt man als über das Ausmaß und die Bedrohlichkeit der Klimakrise informierter Mensch dann doch die Stirn.

Sehr, sehr viel Geld ist im Spiel

Ein bekannter Fan und Förderer der neuen philosophischen Richtung, für die MacAskill steht, ist Skype-Mitgründer Jaan Tallinn. Und der scheint da ähnlich zu denken: Als CNBC ihn Ende 2020 fragte, was seiner Meinung nach die größten existenziellen Risiken für die Menschheit seien, zählte Tallinn synthetische Biologie, unkontrollierbare künstliche Intelligenz und als drittes »unbekannte Unbekannte« auf, also Risiken, von denen wir noch gar nicht wissen. Der Klimawandel dagegen sei »nicht existenziell«, so der Multimillionär, solange kein völlig unkontrollierbares Worst-Case-Szenario eintrete. Und das gilt noch immer als unwahrscheinlich. Globale Katastrophen und entsetzliches Leid aber als sehr wahrscheinlich, wenn die Menschheit nicht endlich handelt.

Nun werden Sie sich fragen, warum Sie sich für die Ansichten eines jungen britischen Philosophen und eines estnischen Techmillionärs interessieren sollten.

Weil MacAskill, gemeinsam mit anderen Philosophen wie dem vor allem für sein Buch »Superintelligence« bekannten Nick Bostrom oder dem Australier Toby Ord, für eine an der University of Oxford entstandene, vor allem im Silicon Valley sehr einflussreiche Denkschule steht. Ihre Protagonisten haben sie »Longtermism« getauft. Leute wie Tallinn setzen ihre gewaltigen Vermögen ein, um diese Denkschule und ihre Projekte zu finanzieren. Und die hat, wenn man ihre Gedanken zu Ende denkt, teils sehr beunruhigende Implikationen.

Immer die ferne Zukunft im Blick

Toby Ord hat den Begriff Longtermism einmal so definiert: »Die Ansicht, dass das wichtigste Kriterium für den Wert unseres heutigen Handelns ist, wie dieses Handeln die ferne Zukunft beeinflussen wird.« Es geht also darum, konstruktiv nach vorn zu denken, was könnte daran falsch sein?

Der Philosoph Phil Torres dagegen hat Longtermism in einem viel beachteten und diskutierten, durchaus polemischen Essay gerade als »üppig finanziert und zunehmend gefährlich« bezeichnet. Die Longermists seien technologiegläubig und, weil sie den Wert künftiger, noch ungelebter Leben ebenso hoch ansetzen wollten wie den heute lebender Menschen, teilweise zynisch und menschenverachtend. Longtermism sei eine »säkulare Religion«. Hat er recht?

46 Milliarden Dollar und unbescheiden benannte Institute

Longtermism ist eng verbunden mit MacAskills Idee vom »effektivem Altruismus«, und dieser wiederum ist, für ein philosophisches Konzept, unfassbar wirkmächtig. Ein Mitglied der Szene schätzt, dass derzeit 46 Milliarden Dollar bereitstehen, um in Projekte des »effektiven Altruismus« investiert zu werden. Dessen Grundidee ist so simpel wie sinnvoll: karitative Spenden so einzusetzen, dass sie messbare, möglichst positive Ergebnisse erzeugen. Wohltätigkeit plus wissenschaftliche Methode also.

Die Longtermism- und Effective-Altruism-Szene ist eng vernetzt. Man schreibt zusammen Bücher und trifft sich in unbescheiden benannten Institutionen wie dem Future of Humanity Institute, dem Future of Life Institute und dem Global Priorities Institute.

Topspender aus der Krypto-Szene

Zu den Topspendern gehören Silicon-Valley-Milliardäre wie der Facebook-Mitgründer Dustin Moskovitz und der Kryptowährungs-Unternehmer Sam Bankman-Fried. Aus der Krypto-Szene stammen auch viele andere Spender. Elon Musk wiederum spendete Geld für Nick Bostroms Future of Humanity Institute an der University of Oxford, an dem auch Ord arbeitet.

Quelle        :          Spiegel-online          >>>>>          weiterlesen

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In das Internet mit Glasfaser

Erstellt von Redaktion am 22. November 2021

Glasfaser Internet ist ein Standortvorteil

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Von Jimmy Bulanik

Im Jahr 2010 verlegte die Deutsche Telekom in Essen 50 Mbit/s Internet Leitungen. Die Anschlüsse wurden auf die IP Technologie umgestellt. Trotz allem gibt es für Essen sowie das Bundesland Nordrhein-Westfalen den Einsatz von veralteter Kupfertechnik respektive der letzte Meile in die Häuser. Essen ist als eine Universitätsstadt das Herz des Ruhrgebietes mit über 580.000 Menschen welche in der Stadt leben. In Singapur bekommen die Menschen für umgerechnet 63 Euro Glasfaser Internet mit einer 2GB Leitung.

Somit gehören die Menschen hier zu jenen welche das Nachsehen haben. Auch die Preispolitik für das Internet in der Bundesrepublik Deutschland ist zu teuer. Für die nahe Zukunft müssen 10GB umgesetzt werden. Jedes WLAN Kabel, CAT kann gegenwärtig 40 GB durchleiten. Höhere Übertragungsraten in besonders dem Upload als auch dem Download sind nötig. Die Datenmengen im Internet steigen stetig. Zu Konstatieren ist das Glasfaser Internet eine zukunftsträchtige Investition in die Infrastruktur ist. Ein nachhaltiger „Job Motor“ obendrein. Somit ist Glasfaser Internet ein Standortvorteil. Die Preise für das Glasfaser Internet müssen demokratisch für alle bezahlbar werden.

Garantiert ist das andere Länder wie Singapur das Tempo ihrer Entwicklung selber bestimmen. Dabei werden diese Dritten nicht auf Deutschland warten. Die Zeit vor der Landtagswahl in NRW am 15. Mai 2022 ist eine günstige Gelegenheit um für die Gerechtigkeit zu sorgen. Das Thema der Digitalisierung gegenüber den Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten proaktiv anzusprechen. Dies mitunter zur Grundlage machen welche Partei gewählt werden wird.

Nützlicher Link im Internet:

Singtel

www.singtel.com/personal/products-services/broadband/fibre-broadband-plans/2gbps

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Zurück zur Stagflation?

Erstellt von Redaktion am 18. November 2021

Von der Stagflation zum Neoliberalismus

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Auf den Stufen zur Macht !

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Das Ende der Finanzialisierung des Kapitalismus sieht dem Anfang zum Verwechseln ähnlich.

In den vergangenen Wochen ist in der Wirtschaftspresse das große Retrofieber ausgebrochen. Angesichts rasch zunehmender Inflation und durchwachsener Konjunkturaussichten werden zunehmend Erinnerungen an die Stagflationsperiode in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts wach,1 als ein anämisches Wirtschaftswachstum, häufige Rezessionen, die rasch anschwellende Massenarbeitslosigkeit und eine mitunter zweistellige Teuerungsrate das Ende der Phase der Nachkriegsprosperität in den Zentren des Weltsystems markierten. Der Begriff der Stagflation – ein aus den Wörtern Stagnation und Inflation geformtes Schachtelwort – ist gerade in dieser Krisenperiode, die gewissermaßen dem Neoliberalismus den Weg ebnete, popularisiert worden.

Im September lag die Inflation in der Bundesrepublik vor allem aufgrund des Auslaufens der temporären Mehrwertsteuersenkung, die bei Pandemieausbruch die Massennachfrage stützen sollte, mit 4,1 Prozent etwas über dem europäischen Durchschnittswert von 3,4 Prozent.2 Nur einen Monat später wurden bereits 4,5 Prozent erreicht, wobei Prognosen von einer Teuerungsrate von fünf Prozent zum Jahresende ausgehen.3 In den USA beschleunigte sich der Preisauftrieb – gemessen in der sogenannten Konsumenteninflation – hingegen von 5,3 Prozent im August auf 5,4 Prozent im September. Im Oktober waren es schon 6,2 Prozent. Dies ist der höchste Wert seit 30 Jahren.4 Für die Gruppe der größten Industrie- und Schwellenländer, der G-20-Staaten, geht die OECD von einer Inflationsrate von 4,5 Prozent Ende 2021 aus.5

Zugleich werden die Wachstumsprognosen für dieses Jahr – trotz enormer Konjunkturpakete in den USA und der EU – in vielen wichtigen Wirtschaftsräumen gestutzt: In der BRD senkte das Ifo-Institut seine Prognose für dieses Jahr von 3,3 auf 2,5 Prozent.6 Das Bruttosozialprodukt (BIP) der Vereinigten Staaten soll laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) heuer nicht um sieben, sondern nur um sechs Prozent wachsen (trotz eines Haushaltsdefizits von 13 Prozent des BIP!). China, dessen als Konjunkturtreiber fungierende Immobilienblase akut zu platzen droht, kann laut neusten Bankenprognosen auf ein Wachstum von 7,8 Prozent hoffen – ursprünglich waren es 8,2 Prozent.7

Der IWF revidierte Mitte Oktober seine globalen Wachstumsaussichten für 2021 von sechs auf 5,9 Prozent, wobei es hierbei zu bedenken gilt, dass viele Konjunkturprogramme noch laufen, neue Maßnahmen diskutiert (USA) oder erst implementiert (Eurozone) werden und die Notenbanken weiterhin massiv Geld drucken. Allein die Krisenmaßnahmen der Vereinigten Staaten sollen das Zehnfache der Summe betragen, die nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 aufgewendet worden ist.8 Ähnlich verhält es sich im Fall der BRD, Japans, Frankreichs und Großbritanniens.9 Der Staat ist längst – gezwungenermaßen – auch im neoliberalen Westen zu einem zentralen wirtschaftlichen Akteur aufgestiegen, dessen gigantische Konjunkturmaßnahmen,10 die alle Krisenprogramme des Krisenschubes von 2007-09 weit überflügeln, immer schwächere Effekte zeitigen. Die Schuldenberge wachsen immer schneller, die Inflation gewinnt an Fahrt, die aufgeblähte Finanzsphäre wird zunehmend instabil – offensichtlich erschöpfen sich die bisherigen Maßnahmen, mit denen die Politik die Krisenschübe bekämpfte.

Eine sich abkühlende Konjunktur bei rasch zunehmender Inflation – die Parallelen zu den 70ern werden noch durch die derzeitigen Lieferengpässe und die Preisexplosion bei vielen Vorprodukten, Rohstoffen und fossilen Energieträgern verstärkt,11 die Erinnerungen an den Ölpreisschock von 1973 wachrufen, als die OPEC in Reaktion auf den Jom-Kippur-Krieg ihre Fördermengen drosselte. Dabei scheint der gegenwärtige Inflationsschub in weitaus stärkerem Maße durch solch „äußere“ Faktoren, durch ein unzureichendes Angebot an Rohstoffen und Energieträgern angetrieben zu werden, als in den 70ern, als die Folgen des Lieferboykotts der OPEC durch Investitionen in die westliche Ölproduktion (Nordsee, Golf von Mexiko) gemindert werden konnten.

Wechselwirkung von innerer und äußerer Schranke des Kapitals

Die gegenwärtige Inflation wird faktisch durch eine erstaunlich enge Wechselwirkung der inneren und äußeren Schranke des Kapitals angetrieben (siehe hierzu auch: Dreierlei Inflation12). Eine auf Pump laufende, überschuldete kapitalistische Weltwirtschaft, der aufgrund beständiger konkurrenzvermittelter Produktivitätsfortschritte ein neues Akkumulationsregime fehlt, stößt bei seinem schuldenfinanzierten Verwertungszwang zunehmend an dessen ökologische Grenzen.

Die neue Ressourcenknappheit samt Lieferengpässen resultiert nicht nur aus der pandemiebedingten Überlastung der maroden Infrastruktur in vielen kapitalistischen Kernländern, nachdem sie in den neoliberalen Dekaden systematisch unterfinanziert oder gar privatisiert wurde. Hinzu kommt die permanent ansteigende Nachfrage der globalen kapitalistischen Verwertungsmaschine, die Unmengen an Ressourcen für spekulative Pyramidenprojekte – etwa absurde Immobilienblasen, wie derzeit in China und zuvor in den USA und Europa – verbrennt. Der schuldenfinanzierte und ungeheuer rohstoff- und energieintensive Bau von Immobilien zu Spekulationszwecken, die größtenteils leerstehen und nach dem Platzen der Blase abgerissen werden, stellt derzeit den wichtigsten Konjunkturtreiber des staatskapitalistischen China dar – und genauso verhielt es sich beim Immobilienboom in den USA, wo ganze Vorstadtviertel nach dessen Ende abgerissen wurden, obwohl die Obdachlosigkeit historische Höchstwerte erreichte.

Der beständig ansteigende Ressourcenhunger des als Kapital fungierenden Geldes, das durch Warenproduktion zu mehr Geld werden muss, lässt nicht nur die Nachfrage nach vielen traditionellen, fossilen Rohstoffen – wie etwa der klimaschädlichen Kohle – ansteigen, auch die Rohstoffe, die für eine ökologische Transformation gebraucht werden, sind heiß begehrt und es zeichnen sich hierbei Lieferengpässe und Versorgungslücken ab.13 Überdies lassen die Folgen des Klimawandels bereits das Angebot einbrechen und die Nachfrage steigen: Brasilien muss beispielsweise mehr fossile Energieträger importieren, da eine lang anhaltende Dürre die Wasserkraftwerke des Landes zunehmend außer Betrieb setzt, während die globale Nahrungsproduktion aufgrund zunehmender klimatischer Verwerfungen unter Druck geraten dürfte.

Nicht nur die marode spätkapitalistische Infrastruktur arbeitet in der voll einsetzenden Klimakrise bereits am Limit, hinzu kommt in etlichen Wirtschaftszweigen die zunehmende Investitionsangst des Kapitals, das aufgrund eines fehlenden Akkumulationsregimes und der ungeheuren Kosten beim Aufbau neuer Produktionsstandorte sich oftmals selbst bei manifestem Warenmangel zurückhält. Ein Paradebeispiel dafür ist die IT-Industrie, wo trotz lang anhaltender Lieferengpässe die führenden Konzerne bei dem Aufbau neuer Fabriken äußerst vorsichtig agieren, um nicht in der nächsten Baisse auf Investitionsruinen zu sitzen. Um auf dem globalen Stand der Technik produzieren zu können, sind Milliardeninvestitionen in einzelne Standorte notwendig. Die Fabriken zur Chipherstellung bräuchten Jahre, um errichtet zu werden, erläuterte ein Brancheninsider, sie seien auch „viel größer und viel teurer“ als früher.14

Die Wechselwirkung von äußerer und innerer Schranke des Kapitals äußert sich somit im permanent zunehmenden Ressourcenhunger einer kapitalistischen Weltwirtschaft, die ihren Wachstumszwang nur noch durch eine massive Gelddruckerei, einen wuchernden Finanzsektor und beständig wachsende Schuldenberge aufrechterhalten kann, wobei die heruntergekommene gesellschaftliche Infrastruktur mit den Folgen der einsetzenden Klima- und Ressourcenkrise überfordert ist.

Rückblick: Von der Stagflation zum Neoliberalismus

Allen graduellen Unterschieden zum Trotz sind die Parallelen zwischen der Stagflationsperiode der 70er und der gegenwärtigen Teuerungswelle unübersehbar. Doch es besteht auch ein kausaler Zusammenhang zwischen dieser Krisenperiode und dem nun erodierenden neoliberalen System, das gerade in Reaktion auf die Stagflation sich etablieren konnte. Die spezifische Krisenkonstellation der Stagflationsperiode bildete gewissermaßen die Grundlage für den gesamtgesellschaftlichen Durchbruch des Neoliberalismus – einfach deswegen, weil der Keynesianismus an der Stagflation scheiterte. Die Stagflation war der Krisensumpf, aus dem der Neoliberalismus kroch, der nun – nach gut vier Dekaden – am Ende scheint.

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Die Ölkrise der 70er bildete nur einen peripheren Faktor bei der Ausbildung der lang anhaltenden Stagflationsperiode, die ihre zentrale Ursache in dem Auslaufen des langen, von der Autoindustrie und der „fordistischen“ Produktionsweise getragenen Nachkriegsbooms hatte. Die nach dem Krieg im Zuge der „Automobilmachung“ (Robert Kurz) des Kapitalismus entstandenen Märkte waren in den 70ern erschlossen, die Konkurrenz nahm zu, während die daraus resultierenden, verstärkten Tendenzen, die Produktion zu automatisieren, zur rasch ansteigenden Arbeitslosigkeit führten. Diese Gemengelage aus enger werdenden Märkten und wegbrechender Nachfrage ließ die Profitrate in der warenproduzierenden Industrie in der 70ern einbrechen.

Das durch keynesianistische Wirtschaftspolitik und fordistische Produktionsmethoden gekennzeichnete Weltsystem befand sich also in den 70ern in einer fundamentalen Krise, die aus der Erschöpfung der „inneren Expansion“ im Rahmen des fordistischen Akkumulationsregimes und einer fallenden Profitrate resultierte und in unübersehbare Stagnationstendenzen samt der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit mündete. (siehe hierzu auch: Das Ende des „Goldenen Zeitalters“ des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus)15.

Die damals hegemoniale, keynesianische Wirtschaftspolitik scheiterte an der Krise, da sie auf die Konjunktureinbrüche, die aus dem Auslaufen des Fordismus resultierten, in gewohnter Weise mit Konjunkturprogrammen reagierte, die nur als Strohfeuer fungierten und die Inflation anheizten. Ähnlich verhielt es sich mit den zunehmenden Gewerkschaftskämpfen in jener Zeit, die einfach nur eine Preis-Lohn-Spirale in Gang setzten und die Inflation zusätzlich anheizten. Der Neoliberalismus konnte gerade deswegen die Gewerkschaften in den USA und Großbritannien so schnell in den 80ern ausschalten, weil der Öffentlichkeit dieser Zusammenhang sehr wohl präsent war (Und überdies illustriert diese Episode sehr gut die Unfähigkeit des verkürzten sozialdemokratischen Klassenkampf-Denkens, die Krisenursachen zu begreifen und letztendlich selbst die eigenen, binnenkapitalistischen Interessen des variablen Kapitals, also der Arbeiterklasse, effektiv zu vertreten).

Die Stagflationsperiode resultierte folglich maßgeblich aus dem zunehmenden Missverhältnis zwischen der stagnierenden realen Verwertung von Kapital in der erlahmenden fordistischen Warenproduktion und dem Geldwachstum in Gestalt höherer Löhne (Lohn-Preis-Spirale) und umfassender Konjunkturaufwendungen der Staaten. Die Unfähigkeit des Keynesianismus, dieser Krisenperiode zu begegnen, eröffnete dem Neoliberalismus seine Chance, zur neuen ökonomischen Orthodoxie aufzusteigen.

Was der Neoliberalismus ab den 80ern vollbrachte, scheint auf den ersten Blick absurd: Reagan und Thatcher schafften es in den USA und Großbritannien, den Gewerkschaften – die für die Inflation verantwortlich gemacht wurden – das Genick zu brechen und die realen Löhne über Jahrzehnte einzufrieren. Die Inflation wurde in den USA überdies durch eine extreme Hochzinspolitik rasch eingedämmt („Volcker-Schock“), die Rezessionen in den Zentren auslöste und die Peripherie in eine schwere Schuldenkrise führte.

Und dennoch ist ab der zweiten Hälfte der 80er eine gewisse Stabilisierung des Neoliberalismus in den Zentren zu konstatieren (auf Kosten der ersten Zusammenbrüche in der verschuldeten Peripherie). Aufbauend auf der Aufhebung des Goldstandards während des Vietnamkrieges, bildete die Hochzinsphase der frühen 80er-Jahre, mit der die Inflation bekämpft wurde, zugleich die Initialzündung für die Finanzialisierung des Kapitalismus. Das hohe Zinsniveau, das zeitweise bis auf 18 Prozent kletterte, lockte anlagesuchendes Kapital auf die US-Finanzmärkte, die rasch expandierten und zum dominanten Wirtschaftsfaktor aufstiegen – während die Warenproduktion im amerikanischen Rostgürtel (rust belt) verkümmerte. Die Vereinigten Staaten entwickelten sich von der „Werkstatt der Welt“ zum „Finanzplatz der Welt“, wobei es gerade die Stellung des US-Dollars als Weltleitwährung war, die diese Transformation ermöglichte.

Denn letztendlich beruhte dieser neoliberale, finanzmarktbasierte Kapitalismus auf einer – durch die Produktion fiktiven Kapitals in der Finanzsphäre ermöglichten – Verschuldungsdynamik, bei der seit den 80er-Jahren die globalen Schulden schneller ansteigen als die Weltwirtschaftsleistung. Es ist letztendlich ein Vorgriff auf künftige Kapitalverwertung in der Finanzsphäre, die immer weiter in die Zukunft verlegt werden muss. Damit wird auch klar, wieso es in den USA trotz stagnierenden Lohnniveaus und steigender Produktivität nicht zu einer fundamentalen Überproduktionskrise kam, sondern etwa in den 90ern unter Clinton eine lange Aufschwungperiode verzeichnet werden konnte.16 Der Aufschwung war – dank des Dollars als Weltleitwährung – auf Pump finanziert, vermittels der rasch expandierenden Finanzmärkte, die in den späten 90er-Jahren mit der Dot-Com-Blase die erste globale, im Jahr 2000 kollabierende Blasenbildung hervorbrachten.

Die Krisenfalle

Die neoliberale Simulation eines Akkumulationsregimes in der Finanzsphäre basierte somit auf einem beständig seit den 80er-Jahren wachsenden, globalen Schuldenberg, der seit den 90ern vermittels immer neuerer, an Umfang gewinnender globaler Spekulationsblasen realisiert wird.17 Die finanzmarktgetriebene neoliberale Globalisierung floh gewissermaßen vor der Stagflation in immer größere Schuldenberge und Spekulationsexzesse, was den globalen Finanzwasserkopf – der periodische, an Stärke zunehmende Krisenschübe hervorbringt – immer instabiler macht. Nach der 2000 geplatzten Internetblase folgte 2008 der große Immobiliencrash, um 2020 den bislang schwersten Krisenschub im Gefolge der Pandemie zu erfahren, der Gelddruckerei und Kreditaufnahme in bislang unbekannte Höhen katapultierte. Die kapitalistische Finanz- und Geldpolitik war somit in den vergangenen 40 Jahren vor allem damit befasst, diesen auf den Finanzmärkten immer weiter getriebenen Schuldenturmbau kurzfristig zu stabilisieren, indem sie sein Fortbestehen nach Krisenschüben durch eine Flucht nach vorn in weitere Spekulationsschübe – durch regelrechte Blasentransfers – ermöglicht.

Das vollzieht sich faktisch durch eine neoliberale Anpassung keynesianischer Krisenpolitik, durch eine Absenkung des Zinsniveaus, mit dem aber nicht die Warenpreise in der realen Wirtschaft angefacht wurden, sondern die Finanzmarktwarenpreise in der Finanzsphäre. Seit 40 Jahren ist das Zinsniveau beständig gesenkt worden, um den Finanzmärkten immer wieder nach Turbulenzen frische Liquidität zuzuführen, wobei die wichtigsten Niedrigzinsphasen nach den Krisenschüben von 2000, 2008 und 2020 einsetzten.18 Ab 2008 reichen Nullzinsen nicht mehr aus, um das sich immer weiter verschuldende Weltsystem nach einem Krisenschub zu finanzieren. Die Notenbanken gehen dazu über, durch den Aufkauf von Wertpapieren in der Finanzsphäre, dieser immer neue Liquidität zuzuführen.19 Mittels dieser Gelddruckerei, die einen Kollaps des Weltfinanzsystems letztendlich nur hinauszögern kann, wandelten sich die Notenbanken faktisch zu Sondermülldeponien der Finanzmärkte.

Mit dem Aufkommen des gegenwärtigen Teuerungsschubes kehrt gewissermaßen die ungelöste Stagflationskrise der 70er-Jahre zurück (Siehe hierzu auch: Corona: Krisengespenster kehren zurück20), die der Neoliberalismus durch den dargelegten, globalisierten Schuldenturmbau der vergangenen Dekaden verdrängen konnte. Die kapitalistische Krisenfalle,21 vor der die neoliberalen Funktionseliten in immer extremere Finanzmarktexzesse flohen, schnappt nun zu: Die Inflation kann – auch aufgrund der besagten Wechselwirkung von Wirtschafts- und Klimakrise – nicht mehr in der Finanzsphäre gebannt werden. Die expansive Geldpolitik der Notenbanken lässt die Preise immer schneller ansteigen, was die Gefahr einer Verselbstständigung dieser Inflationsdynamik zur Hyperinflation – vor allem in Wechselwirkung mit neuen Krisenschüben in der Finanzsphäre – mit sich bringt.

Milliarden aus dem Fenster werfen? Kita-Plätze statt Betreuungsgeld Aktion mit Sylvia Löhrmann, Cem Özdemir und Stefan Engstfeld.jpg

Deswegen hat die US-Notenbank Fed bereits Anfang November angekündigt, ihr allmonatlich 120 Milliarden Dollar umfassendes Aufkaufprogramm für Wertpapiere, mit dem faktisch die US-Staatsverschuldung finanziert und der Finanzsphäre frische Liquidität zugeführt wird, sukzessive zurückzufahren.22 Jeden folgenden Monat sollen die Notenbank-Käufe von Staatsanleihen um 10 Milliarden US-Dollar, und der Erwerb von Hypothekenpapieren um fünf Milliarden Dollar reduziert werden, bis das Programm Mitte 2022 ausläuft. Spekulationen sehen die erste Zinserhöhung der Fed, mit der die derzeitige Nullzinspolitik beendet würde, ebenfalls Mitte 2022 einsetzen.23 Ähnliche Diskussionen dürften auch in der EZB bald aufkommen, wo aber der Entscheidungsprozess noch durch die nationalen Interessengegensätze zwischen dem monetaristischen deutschen Zentrum und der südlichen Peripherie überlagert wird.

Doch mit einer Einstellung der Liquiditätsprogramme der Notenbanken und einer Anhebung der Leitzinsen drohen Rezessionen und Schuldenkrisen. Die öffentliche und private Verschuldung ist in den Zentren des Weltsystems bereits auf 425 Prozent des BIP geklettert.24 Dieser Schuldenberg, unter dem nicht zuletzt amerikanische Konzerne leiden, ist nur bei einem sehr niedrigen Zinsniveau tragbar, zumal eine Anhebung der Leitzinsen zur Konjunkturabkühlung führen und die Bedienung der gegenwärtigen Verbindlichkeiten erschweren würde.

Die kapitalistische Krisenpolitik hat ihren finanzmarktgetriebenen, neoliberalen Gaul totgeritten, auf dem sie über vier Jahrzehnte vor der inneren Schranke des Kapitals zu fliehen versuchte. Der neoliberale Aufschub scheint sich seinem Ende zuzuneigen, und die über Jahrzehnte vergessene Stagflation kehrt auf einer weitaus höheren Stufenleiter zurück. Denn der wichtigste Unterschied zwischen der heutigen Teuerungswelle und der historischen Phase der Stagflation besteht vor allem darin, dass eine Hochzinsphase, wie sie der Fed-Chef Volcker ab 1979 einleitete, keinen Ausweg mehr bietet.

Die Krisenfalle, die sich vor der kapitalistischen Politik auftut, besteht somit darin, dass diese systemimmanent nur den weiteren Weg des Krisenverlaufs wählen kann: Stagflation oder Deflation. Soll die Inflation bekämpft werden – um den Preis einer Rezession samt Schuldenkrise und drohender deflationärer Spirale, wie sie Südeuropa unter Schäubles Spardiktat verwüstete? Oder sollen die Konjunkturmaßnahmen samt expansiver Geldpolitik aufrechterhalten werden – auch um den Preis einer drohenden Hyperinflation? Deflation oder Inflation: Es sind nur verschiedene Krisenwege, auf denen die unabänderliche Entwertung des Werts vonstattengehen kann. Entweder wird das Geld in seiner Eigenschaft als allgemeines Wertäquivalent entwertet (Inflation), oder der Entwertungsprozess erfasst das Kapital in seiner Gestalt als konstantes und variables Kapital, als Fabriken, Maschinen und lohnabhängige Menschen, die plötzlich ökonomisch „überflüssig“ werden.

Welchen Verlauf die Krise nimmt, wird die Politik in den kommenden Monaten bestimmen.

 https://www.nytimes.com/2021/10/13/business/stocks-inflation-stagflation.html

2  https://www.manager-magazin.de/finanzen/inflation-warum-die-inflation-womoeglich-laenger-bleibt-als-gedacht-a-fdf9fd36-7879-42df-b6fe-d901fcfd7cdb

3  https://www.spiegel.de/wirtschaft/service/inflation-grosshandelspreise-steigen-so-stark-wie-seit-47-jahren-nicht-a-99c1f775-ff66-4c7b-8e28-5e563c76b150

4  https://www.npr.org/2021/11/10/1054019175/inflation-surges-to-its-highest-since-1990

5  https://www.bbc.com/news/business-58638224

6  https://www.br.de/nachrichten/wirtschaft/ifo-institut-kappt-wachstumsprognose-fuer-2021,SjishrV

7  https://www.cnbc.com/2021/09/28/goldman-sachs-cuts-chinas-gdp-growth-forecasts-amid-energy-crunch.html

8  https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/weltwirtschaft-auf-dem-weg-in-die-stagflation/27111376.html

9  https://www.mckinsey.com/featured-insights/coronavirus-leading-through-the-crisis/charting-the-path-to-the-next-normal/total-stimulus-for-the-covid-19-crisis-already-triple-that-for-the-entire-2008-09-recession

10  https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

11  http://www.konicz.info/?p=4566

12  http://www.konicz.info/?p=4389

13  http://www.konicz.info/?p=4566

14  https://arstechnica.com/gadgets/2021/11/why-the-chip-shortage-drags-on-and-on-and-on/

15  https://www.heise.de/tp/features/Das-Ende-des-Goldenen-Zeitalters-des-Kapitalismus-und-der-Aufstieg-des-Neoliberalismus-3420843.html

16  https://www.heise.de/tp/features/Explosionsartige-Ausweitung-der-Finanzmaerkte-in-der-Clinton-Aera-3505313.html

17  https://www.businessinsider.com/baml-global-debt-has-rise-by-50-trillion-since-the-financial-crisis-2015-10?IR=T

18  https://www.cnbc.com/2019/07/31/heres-how-the-fed-sets-interest-rates-and-how-that-rate-has-changed-over-the-last-four-decades.html

19  https://research.stlouisfed.org/publications/economic-synopses/2020/04/21/central-bank-responses-to-covid-19

20  https://lowerclassmag.com/2020/04/27/corona-krisengespenster-kehren-zurueck/

21  https://www.heise.de/tp/features/Politik-in-der-Krisenfalle-3390890.html

22  https://www.wsws.org/en/articles/2021/11/04/fedr-n04.html

23  https://www.cnbc.com/2021/11/10/the-first-fed-rate-hike-is-now-expected-as-early-as-july-following-the-hot-cpi-data.html

24  https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/weltwirtschaft-auf-dem-weg-in-die-stagflation/27111376.html

Urheberecht
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In-reiner-deutscher-Hand

Erstellt von Redaktion am 17. November 2021

Kühne und Nagel und der deutsche Faschismus

 

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Quelle      —       Untergrundblättle – CH 

Von pm

Der Logistikkonzern Kühne und Nagel mit Hauptsitz in Schindellegi im Kanton Schwyz arbeitete zu Zeiten des deutschen Faschismus eng mit der NSDAP zusammen.

Der „arische“ Teil der Konzernbesitzer nuzte das Jahr 1933, um den jüdischen Teilhaber Adolf Mass (ermordet 1944 in Auschwitz) aus dem Unternehmen zu drängen und die Weichen auf volle Unterstüzung des Nationalsozialismus zu stellen. Zur gleichen Zeit trat Werner Kühne, ein Vorfahre des heutigen Chefs, in die NSDAP ein.Wie Historiker*innen aufzeigten spielten Kühne und Nagel während der sogenannten Möbel-Aktion 1942 eine entscheidende Role. Das Logistikunternehmen verfrachtete Möbel und andere Güter von deportierten Jüd*innen aus den besetzten Ländern nach Deutschland, wo es verkauft wurde. Über 70’000 Wohnungen wurden während diesem Raubzug leergeräumt. Kühne und Nagel war an mehr als der Hälfte davon beteiligt.Mit 500 Frachtkähnen, 674 Zügen und 26’984 Güterwaggons unterstüzten und ermöglichte Nagel und Kühne diese Aktion der Nazis und schlugen enorme Profite daraus. Im deutschen Reich wurde die Firma mehrfach als „nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet.

Aufarbeitung wird sabotiert

Anfragen von Historiker*innen nach Dokumenten aus dieser Zeit, werden von Kühne und Nagel links liegen gelassen. Es wird angegeben, dass keinerlei Archivbestände aus der Nazi-Zeit vorhanden seien. Die aktive Beteilligung am Holocaust wird mit der Erklärung relativiert, dass es eine wirtschaftlich schwierige Zeit gewesen sei und sie sozusagen das Nötige getan hätten, um über die Runden zu kommen.

Kühne und Nagel in „reinrassig deutscher“ Hand

Der zwölffache Milliardär und Chef des Konzerns Klaus Michael Kühne schreckt nicht davor zurück seine menschenverachtende Ideologie immer wieder öffentlich zu zeigen. Auf die Frage wieso er ausländischen Investor*innen eine Absage gab, antwortete er in einem Interview 2008: „Wir wollen uns möglichst reinrassig deutsch halten“. Dass sich dieser milliardenschwere Faschist auch aktiv für die Grenzschliessung einsetzt dürfte niemanden überraschen. Auch nicht, dass Kühne und Nagel im Jahr 2018 Soldatentransporte der Bundenswehr nach Mali durchführte.

Grösster Logistikonzern in der Türkei

Ebenso wenig erstaunt, dass Kühne und Nagel keine Hemmungen hat in der Türkei massiv zu investieren. Das Unternehmen hat hier den grössten Logistikonzern aufgekauft und damit erneut gezeigt, dass es bei der Firma keine Berührungsängste mit faschistischen Diktaturen gibt. In der Türkei werden Arbeitskämpfe brutal unterdrückt und Kurd:innen werden eingesperrt, verfolgt und ermordet. Die Türkei führt seine genozidalen Kriege gegen die Kurd*innen auch innerhalb der eigenen Staatsgrenzen.

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Der türkische Staat setzt dabei auf ethnische Säuberung: Kurd:innen werden vertrieben, andere abgesiedelt. Ob Kühne und Nagel für die faschistischen Besatzungen der Türkei nur indirekt oder auch ganz direkte Unterstützung bietet ist uns zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt.

Für das faschistische System in der Türkei ebenso wie für den deutschen Nationalsozialismus gilt: Möglich wird der Faschismus erst durch die aktive Beteiligung des Grosskapitals. Der Faschismus steht der bürgerlichen Gesellschaft nicht als Bedrohung gegenüber, sondern er ist ihre hässlichste, blutigste Variante. Solange wir es nicht schaffen das kapitalistische System zu überwinden, wird die Gefahr des Faschismus bestehen bleiben. Der bürgerliche Staat bekämpft faschistische Tendenzen nur oberflächlich.Der Reichtum und die Macht von Kühne und Nagel bauen auf der Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung auf. Doch obwohl das kein Geheimnis ist, hatte das bis heute nie irgendwelche negativen Folgen für Kühne & Nagel.Gleichzeitig werden Antifaschist:innen in Basel und anderswo zu langen Haftstrafen verurteilt. Gefängnis – für Menschen, welche sich Neonazis wie Tobias Steiger entgegenstellen, Unantastbarkeit – für global agierende Kapitalisten und Faschisten wie Klaus-Michael Kühne. Von dieser Klassenjustiz lassen wir uns nicht einschüchtern. Wir kämpfen für einen revolutionären Antifaschismus.

Grafikquellen          :

Oben     —       Kühne + Nagel hauptsitz in Schindellegi (SZ)Schweiz, wie von S-Bahn Zürich (SOB) Linie S40

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Radikale Transformationen

Erstellt von Redaktion am 14. November 2021

KLIMAPOLITIK IM ZEITALTER DER MILLIARDÄRE

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Von John Feffer

Es war als die größte Transformation der neueren Geschichte gedacht. Gleichsam über Nacht sollte ein schmutziges, ineffizientes und ungerechtes Großsystem, das sich über elf Zeitzonen erstreckte, von Grund auf umgekrempelt werden. Viele Milliarden lagen bereit, um den Prozess voranzubringen. Ein neues Team von „Transformationsexperten“ arbeitete einen Umbauplan aus, und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung machte begeistert mit. Noch dazu sollte der große Sprung nach vorn als Vorbild für alle Länder dienen, die eine hoffnungslose Stagnation überwinden wollten. Doch es kam alles anders.

Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach und aus ihren Ruinen als größter Nachfolgestaat das neue Russland entstand, heuerte die frisch gewählte Regierung von Boris Jelzin eine Clique ausländischer Experten an, die den Aufbruch in ein postsowjetisches System der Demokratie und der freien Marktwirtschaft bewerkstelligen sollten. Der Westen offerierte Kredite in Höhe von vielen Milliarden Dollar, die Russen steuerten die Erlöse aus der Privatisierung staatlicher Vermögenswerte bei.

All diese Gelder hätten ausgereicht, um Russland zu einem Schweden des Ostens zu machen. Stattdessen landeten sie großenteils in den Taschen einer neu entstandenen Klasse von Oligarchen. Es folgte die ökonomische Katastrophe der 1990er Jahre, in deren Verlauf 20 bis 25 Milliarden Dollar aus dem Land abflossen, während das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1991 und 1998 um fast 40 Prozent schrumpfte.

Die Sowjetunion war einst die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt gewesen. Das heutige Russland liegt in der globalen BIP-Rangliste – noch hinter Italien und Brasilien – an 11. Stelle; und auch das nur dank seiner Energieexporte und der in der Sowjetära aufgebauten Rüstungsindustrie. Was das BIP pro Kopf angeht, so liegt Russland auf Platz 78.

Es gab viele Gründe für das Scheitern der russischen Transformation: der Zusammenbruch eines Empires, ein jahrzehntelanger ökonomischer Niedergang, der rachsüchtige Triumphalismus des Westens, die grenzenlose Korruptheit einheimischer Opportunisten. Es wäre allerdings ein Fehler, dieses warnende Beispiel als einzigartigen historischen Unfall abzutun.

Wenn wir nicht aufpassen, könnte die Diagnose des russischen Scheiterns leicht zur Prognose für die gesamte Menschheit werden. Denn heute droht erneut ein Transformationsprozess verpfuscht, eine goldene Gelegenheit verschenkt zu werden. Die Welt ist gerade dabei, nicht Milliarden, sondern Billionen von Dollar für einen noch weit grundlegenderen Wandel auszugeben – und zwar von einer ähnlich schmutzigen, ineffizienten, ungerechten Wirtschaftsordnung in eine … ja, in was eigentlich? Falls es die Weltgemeinschaft irgendwie schafft, die Lehren aus früheren Transformationsprozessen zu ziehen, werden wir eines Tages in einer weit gerechteren, CO2-neutralen Welt leben, die ihre Energie aus erneuerbaren Quellen bezieht.

Aber darauf sollte man nicht wetten. Derzeit wird zwar dreckige nach und nach durch erneuerbare Energie ersetzt, allerdings ohne ein einziges der Probleme anzugehen, die aus der industriellen Prägung unseres Produktionssystem resultieren. Wir sollten uns daran erinnern, was die Ablösung der staatlichen Planwirtschaft durch freie Märkte in Russland hervorgebracht hat: eine Kombination aus endemischen Krankheiten der alten Wirtschaftsordnung und Strukturdefekten des Kapitalismus. Und bei der nun anstehenden globalen Transformation wäre das noch nicht einmal das Worst-Case-Szenario. Denn sie wird womöglich gar nicht stattfinden, oder die Herausbildung einer klimaneutralen Wirtschaftsweise wird sich über Jahrzehnte hinziehen.

Die Anhänger eines „Grünen New Deal“ schwärmen von einer Win-win-Bilanz: Solaranlagen und Windturbinen werden jede Menge billiger Energie produzieren, die Klimakrise wird entschärft, dreckige Arbeit durch saubere ersetzt. Und der Globale Norden wird dem Globalen Süden helfen, die Phase der „normalen“ Industrialisierung zu überspringen und in eine glorreiche grüne Zukunft einzutreten. Doch in der Realität sind so umfassende Transformationsprozesse niemals eine Win-win-Angelegenheit. Im Fall der russischen Transformation vom Kommunismus zum Kapitalismus gab es fast nur Verlierer, und unter den Folgen leidet das Land bis heute. Andere grundlegende Wandlungsprozesse – etwa die Agrarrevolution im Neolithikum oder die verschiedenen industriellen Revolutionen – sind auf jeweils eigene Art ähnlich katastrophal verlaufen.

Das entscheidende Problem liegt letztendlich vielleicht weniger bei der misslichen Ausgangslage als vielmehr im Mechanismus der Transformation selbst, denn die kann grausame Folgen haben oder gar in einen Genozid münden. Man frage nur die Neandertaler. Oh sorry, das kann man natürlich nicht, denn die wurden schon in einer großen Transformation vor 40 000 Jahren ausgelöscht, als sich der Homo sapiens durchsetzte. Und doch haben diese Hominiden nicht nur Knochen und Werkzeuge, sondern auch einen kleinen Teil ihrer DNA in der Erbmasse der heutigen Menschen hinterlassen.

Auch die Sowjetunion huldigte dem Wachstumsmythos

Die Neandertaler könnten auch infolge des Klimawandels ausgestorben sein; wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie von unseren Vorfahren getötet wurden. Damit hatten die Neandertaler ein ex­tremes, aber keineswegs einzigartiges Schicksal. Denn wann immer die Menschen einen großen Sprung nach vorn machen, hinterlassen sie in der Regel einen Riesenhaufen von Knochen.

Nehmen wir das Beispiel der Agrarrevolution, die das Ende der Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften bedeutete (von denen nur noch einige wenige in isolierten Regenwaldzonen Brasiliens überleben). Sie bescherte der Menschheit das Geschenk der Zivilisation, bis hin zu Schriftsprache, Handel und politischer Organisation. Aber dieser Habenseite steht die Schadenseite gegenüber, wie der Anthropologe Jared Diamond in einem berühmten Aufsatz dargelegt hat: Die neolithische Revolution brachte zugleich Krankheiten, Mangelernährung und krasse ökonomische Ungleichheit, was sie für Diamond zum „schlimmsten Fehler in der Geschichte der menschlichen Gattung“ macht.1

Zehntausend Jahre später hat die Menschheit womöglich einen noch weit schlimmeren Fehler begangen. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts hat zwar dazu geführt, dass wir eine höhere Lebenserwartung und genügend Nahrungsmittel haben, um die Weltbevölkerung zu ernähren, und neuerdings auch Tiktok. Doch zugleich hat die Anwendung neuer Technologien durch „die Wirtschaft“ zu einer ruinösen Plünderung unseres Planeten geführt. Was noch bedrohlicher ist: Mit der industriellen Revolution haben die Menschen, wie uns ein Blick auf die Kurve der CO2-Emissionen lehrt, zum ersten Mal begonnen, das Erdklima auf vielleicht irreversible Weise zu verändern, indem sie fossile Brennstoffe in immer irrwitzigerem Tempo verbrennen.

Die neue Religion des Wachstums um jeden Preis kostete auch zahllose Menschenleben. In den „dunklen Teufelsmühlen“ (William Blake) der frühen Fabriken wurden Kinder verheizt; ein neues Proletariat war zu einem scheußlich harten und kurzen Leben verdammt; viele Millionen Menschen wurden Opfer des Kolonialismus, der eine riesige Schneise der Zerstörung durch den Globalen Süden schlug. Und so schufen die durch Plünderung und Ausbeutung reich gewordenen Oligarchen der Industrialisierung die Basis für ein Zeitalter, das sie das „Goldene“ nannten. Tatsächlich war es eine Epoche atemberaubender ökonomischer Ungleichheit, die heute in Gestalt unseres „Zeitalters der Milliardäre“ eine verblüffende Renaissance erlebt.

Wie sich zeigen sollte, huldigten dann aber auch die Kommunisten, bei aller Kritik an den Grausamkeiten des Kapitalismus, dem Gott des unbegrenzten Wachstums. Angefangen mit Lenin, glaubten sie, dass die neuen kommunistischen Staaten dank staatlich gesteuerter Modernisierung und Zwangsmaßnahmen mehr produzieren könnten als die kapitalistischen Länder. Doch ihr Ehrgeiz, den Prozess der industriellen Modernisierung auf wenige Jahre zu komprimieren, um den Westen zu überholen, kam die eigene Bevölkerung teuer zu stehen. Die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft in den 1930er Jahren führte zu etwa 10 Millionen Toten. In China kostete der „Große Sprung nach vorn“ (1958–1962) sogar 45 Millionen Menschenleben. Und während die Leichenberge immer größer wurden, organisierte die kommunistische Ein-Prozent-Elite – eine neue Klasse von Parteifunktionären und ihrer Kumpane – ihren eigenen privaten „Sprung nach vorn“.

Für den Soziologen Peter L. Berger pflegen der Kommunismus wie der Kapitalismus ein Konzept ökonomischer Entwicklung, das auf dem „Opfer“-Gedanken beruht. Das heißt: „Fortschritt“ und „Wachstum“ sind mythische Größen, die gewisse Menschenopfer fordern – wie einst die Priester der Azteken, die mit rituellen Tötungen die Götter versöhnen und ihre Zivilisation retten wollten. In seinem Buch „Pyramids of Sacrifice“ schrieb Berger schon 1974, dass die Eliten „ihre privilegierte Position fast ausnahmslos mit angeblichen Wohltaten legitimieren, die sie für ‚das Volk‘ erbringen oder zu erbringen vorhaben“. Freilich kommen diese versprochenen Wohltaten in den meisten Fällen der Elite zugute und nicht den Massen.

New Internationalist - Alternatives to Capitalism Juli 2015, Ausgabe 484.jpg

Damit sind wir wieder bei der „großen Transformation“ der 1990er Jahre, als realsozialistische Länder kehrtmachten, um in Richtung Kapitalismus umzuschwenken. Natürlich kann man die Verluste, die Russland in dieser Zeit erlitt, nicht mit dem Schrecken der Kollektivierung in den 1930er Jahren vergleichen. Und doch musste fast die gesamte Bevölkerung – abgesehen von den wenigen, die zu Banditen wurden – Einbußen hinnehmen, weil die Transformationskosten die Rentnerinnen, die Arbeiter und Bauern weit überproportional belastet haben.

In den frühen 1990er Jahren war ein Drittel der russischen Bevölkerung unter die Armutsgrenze gesunken. Die Lebenserwartung der Männer ging zwischen 1990 und 2000 von 63 auf 58 Jahre zurück. Die allgemeine Ernüchterung über die „liberale Marktwirtschaft“ förderte den politischen Aufstieg von Wladimir Putin, der sich die enttäuschten Hoffnungen clever zunutze machte. Die Popularitätswerte des russischen Präsidenten sind nach wie vor ziemlich hoch, obwohl nur 27 Prozent der Russinnen und Russen glauben, dass es ihnen heute wirtschaftlich besser geht als zu Zeiten der Sowjetunion.

In den anderen Ländern des ehemaligen Sowjetblocks gab es ähnliche, wenn auch nicht so folgenschwere Verwerfungen. Und es gab mehr Gewinner, etwa in Polen, wo erstmals das Experiment der „Schocktherapie“ zum Einsatz kam. Von diesem schlagartigen Übergang zum Kapitalismus hat vor allem eine junge, gut ausgebildete, vorwiegend städtische Elite profitiert, die erfolgreich die Welle des Wandels gesurft hat.

Aber auch in Polen gab es die Transforma­tions­verlierer: ältere und weniger gebildete Leute vorwiegend aus ländlichen Gegenden. Die allerdings übten späte Rache mittels Stimmzettel, denn sie brachte bei den Wahlen von 2015 die entschieden antiliberale Partei namens Recht und Gerechtigkeit (PiS) an die Macht, die bis heute in Warschau regiert. Eine ähnliche Entwicklung brachte auch in anderen Ländern Osteuropas – in Tschechien, Ungarn und Slowenien – rechtspopulistische Regierungen an die Macht.

Allerdings konnten sich diese Länder, ungeachtet der Ernüchterung über das Resultat der Transformation, auf ein Fundament stützen, das Russland nicht hatte: die Europäische ­Union. Dank eines stetigen Zuflusses von Subventionen und Kapital sowie technischer Unterstützung beim Aufbau politischer und rechtsstaatlicher Institutionen konnten diese ost- und zentraleuropäischen EU-Mitglieder das vormals übermächtige Russland ökonomisch abhängen. Die Kluft, die den Osten der EU von dem reicheren Westen trennt, ist auch heute noch groß, aber vom Leben eines EU-Bürgers zweiter Klasse können die meisten Russinnen und Russen nur träumen.

Quelle       :       Le MONDE diplomatique-online       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Alleestraße 144 in Bochum

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Unten     —

Dieses Thema ruft nach SOS: Rettet unsere Spezies. Redakteur Richard Swift glaubt, dass in unserem gegenwärtigen politischen System genau das auf dem Spiel steht. Vielleicht nicht im nächsten Jahr oder gar im nächsten Jahrzehnt, aber sicherlich in absehbarer Zeit steuern wir sozial und ökologisch einen rutschigen Abhang hinunter – dessen Boden eine sehr harte Landung verspricht. Der Hauptbösewicht des Stücks ist unser gegenwärtiges System, das sich einem außer Kontrolle geratenen Wachstum verschrieben hat, das auf ökologischer Zerstörung und sozialer Ungleichheit basiert, die noch vor 30 oder 40 Jahren unvorstellbar waren. SOS ist ein Versuch, uns zu helfen, auf die Bremse zu treten und zu zeigen, dass wir andere Optionen haben.

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Große Worte: „Klimaschutz“:

Erstellt von Redaktion am 12. November 2021

Klimaschutz“ – Die Kleinen Leute bezahlen, die Reichen zocken ab

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Würden sie nur Oben bleiben, damit  wäre dem Klimaschutz sehr viel geholfen.

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Die Tagesschau fragt nicht, warum eine Minderheit Weltraum-Juxflüge unternehmen kann und Umweltschutzpolitik nur teures „Weiter so!“ bewirkt

Von alten Affen darf man keine neuen Grimassen erwarten und von ARD-aktuell keine systemkritischen Nachrichten. Die Redaktion beweist das täglich. Besonders enervierend mit ihren konformistischen Berichten über die schwachbrüstige Politik gegen die Klimakatastrophe: Hilfestellung fürs Publikum, damit es das bisschen Wesentliche im substanzlosen Politiker-Geschwätz entdeckt, gibt unser Staatsfunk nicht. Die Dramaturgie der Nachrichtengestaltung pendelt zwischen gelegentlichem Alarmismus und häufiger Lobhudelei: „Seht her, wir sind die Guten! Wir machen es richtig, wir sind Vorbild für die Welt!“ Darüber stehen dann Schlagzeilen wie diese: Deutschland hält Klimaziele 2020 ein. (1)

Im Vorspann der hier genannten Nachricht auf Tagesschau.de heißt es:

40,8 Prozent weniger Emissionen im Vergleich zum Jahr 1990 – das übertrifft sogar die im Klimaschutzgesetz vereinbarte Zielmarke leicht.“

„Beschtens!“, sagt da der gebildete Schwabe. Obwohl die Tagesschau einräumt, der Rückgang sei hauptsächlich dem coronabedingten Lockdown zu verdanken. Titel und Text des gesamten Beitrags regen eben nicht dazu an, kritisch zu reflektieren, was das regierende Dilettanten-Ensemble in Berlin als umweltpolitisches Theater aufführt.

ARD-aktuell berichtet über die „Klimapolitik“ nichts Unzutreffendes, lässt aber falsche Eindrücke entstehen. Zusammenhänge werden nicht aufgezeigt, an die Wurzeln der Probleme geht man nicht. Manipulative Beschränkung auf ausgewählte und zum Wünschenswerten passende Fakten reicht schon aus, um regierungsdienliche, aber realitätsferne Fantasievorstellungen zu erzeugen. Im konkreten Fall wurde zum Beispiel unterschlagen, was eine von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegebenen Studie ergeben hatte: Die bis 2020 geplanten und eingeleiteten Maßnahmen genügen zur Verringerung der sogenannten Treibhausgase hinten und vorne nicht. (2)

Die Gutachter gaben nämlich auch heuer wiederum aussagestarke Prognosen ab, die den zuständigen Politikern einen Berufswechsel nahelegen müssten:

Das Ziel der Reduzierung der Treibhausgase in der Energiewirtschaft – der größte Belastungsfaktor – wird mit 58 gegenüber den angestrebten 77 Prozent (im Vergleich zu 1990) bis 2030 deutlich verfehlt werden. (3)

Noch schlechter fällt die Öko-Bilanz der Verkehrspolitik aus. Hier können die bereits beschlossenen Maßnahmen laut „Projektionsbericht der Bundesregierung 2021“ noch nicht einmal die Hälfte des anvisierten Emissionsrückgangs bis 2030 erzielen. Das Gesamturteil ist vernichtend:

Auch, wenn die bisher beschlossenen Klimamaßnahmen vollständig und erfolgreich umgesetzt werden, kann Deutschland seine selbstgesetzten Klimaziele für die nächsten 20 Jahre nicht erreichen.“ (ebd.)

Gesäusel statt klarer Ansage

Über diese jüngste Studie berichtete ARD-aktuell zwar, griff aber schon beim Titel der Meldung zum Weichzeichner:

Klimaziele dürften verfehlt werden“ (4)

Wesentliche Aussagen der Untersuchung wurden im Weiteren relativiert und mit regierungsamtlichen, wahlkampfbedingten Anmerkungen entschärft:

…die Aussagekraft der Inhalte sei ‚sehr begrenzt‘. … Seit Ende August 2020 habe sich ‚beim Klimaschutz so viel getan, dass der Projektionsbericht mit Blick auf 2030 als veraltet angesehen werden kann‘“. (ebd.)

Die Tagesschau verstellt den Blick darauf, dass die Bundesregierung sich von ihrem Versagen zu entlasten versucht, indem sie selbst den von ihr beauftragten Experten über den Mund fährt. Ihr ebenso arrogantes wie substanzloses „es hat sich viel getan“ lullt die Fernsehzuschauer ein, statt sie begreifen zu lassen, was das Gutachten tatsächlich prophezeit: eine unverändert katastrophale Klima-Entwicklung. Ein grundlegendes Verständnis von dem, was ist und dem, was sein müsste, vermittelt die Tagesschau auf diese Weise nicht.

Statt erkenntnisförderlicher Information bietet ARD-aktuell Nutzloses zum Thema Klimakatastrophe in Hülle und Fülle. Und auch das nur für Tagesschau.de-Leser: Auf der Internet-Seite Tagesschau.de erschienen im Zeitraum zwischen 31. Oktober und 9. November satte 80 diesbezügliche Berichte. Mehr als dreiviertel handelten internationale Aspekte ab: den Gipfel in Glasgow, die Probleme Kanadas, Indiens, der VR China, die Unzulänglichkeiten in Russlands Umweltschutzpolitik (für die russophobe Redaktion natürlich ein Muss) oder die tiefgründigen Genderprobleme in der Westsahara (Titel: „Die Hüterinnen der Saaten“[5])

Themen von nationalem Interesse waren in der Minderzahl. Die ollen Kamellen, an denen da wieder und wieder gelutscht wurde, waren natürlich gesüßt mit umweltpolitisch neunmalklugen O-Tönen der Kanzlerin Merkel. Der klimapolitische Schwanengesang der vormaligen Umweltministerin im Kabinett Kohl, den sie nun am Ende ihrer 16 eigenen Kanzlerjahre anstimmt, ermutigte die Tagesschau-Redaktion zum Primitivangriff auf den gesunden Menschenverstand:

Klimakonferenz: Deutschland verbessert sich im Klimaschutz-Index auf Platz 13. …“ und:

Deutschland (habe) ehrgeizige Klimaziele formuliert“. (6) Tätää, tätää!

Wo der Hund begraben liegt

Die Tagesschau entwickelt und fördert dergestalt die Mär, dass vollmundige Ankündigungen und vereinzeltes Herumdoktern an Symptomen die Umweltzerstörung schon irgendwie aufhalten werde. Die Redaktion bringt es einfach nicht fertig, zentrale Ursache anzusprechen: die kapitalistische Wirtschaftsweise und deren Wachstumsreligion. Waren und Dienstleistungen werden leider nicht ausschließlich zur umsichtigen Bedarfsbefriedigung der Menschheit produziert, sondern auch zwecks Profitsteigerung der Kapitalbesitzer, ob es der Mitwelt nun dient oder nicht.

Eine Hand welche füttert wird nicht gebissen!

Zwangsläufig führt das zu Konkurrenz und Überschussproduktion, nicht nur in der Landwirtschaft oder Lebensmittelindustrie. Je nach Branche müssen 20 Prozent und mehr der Erzeugnisse wieder vernichtet werden. Nach Expertenschätzung beispielsweise 30 Prozent der fabrikneuen Kleidung. (7)

Der Arbeitsaufwand für ihre Herstellung war überflüssig, die Ressourcen wurden verschwendet. Eine geschlossene Kreislaufwirtschaft ist auf keinem Gebiet mehr möglich. Für die erzielten Kapitalüberschüsse ist eine Wiederinvestition in die Realwirtschaft ebenfalls fast ausgeschlossen. Der Staat schöpft sie sowieso nicht ab, obwohl er sie für den dringlichen Ausbau und die Pflege seiner Infrastruktur verwenden könnte. Sie blähen deshalb einen parallelen „Finanzmarkt“ auf.

All das geschieht jenseits der Notwendigkeiten unseres kleinen Planeten und seiner vielerorts verelendenden Bevölkerung. Die Hintergründe kann die Tagesschau natürlich nicht in jedem Einzelbeitrag ansprechen. Aber sie ignoriert ihren Informationsauftrag in der Gesamtheit ihrer Darstellung dieser Thematik. Sie vermeidet überdies grundsätzlich jede Aussage zu den entscheidenden Fragen:

Wer wird die schwersten Lasten zu tragen haben beim Versuch, die Klimakatastrophe noch einzugrenzen? Und wer wird unter den Folgen der nicht verhinderten Umweltschäden tatsächlich leiden?

McKinsey & Company, die in mehr als 60 Staaten vertretene US-amerikanische Unternehmens- und Strategieberatungsfirma, gibt die Problematik als simpel lösbar aus, malt eine Schöne neue Welt und wird sich dank solcher Sirenenklänge an vorhersehbaren Folgeaufträgen weiterhin eine goldene Nase verdienen: Sie behauptet, mit dem Aufwand von einer Billion Euro ließen sich der Klimawandel und seine Folgen bewältigen. (8) Das vordergründige Gedröhne findet großen Gefallen, weil jeder Hinweis darauf fehlt, wer die gigantische Rechnung letztlich bezahlen muss.

Nix Neues für Zahlemann und Söhne

BDI-Präsident Siegfried Russwurm macht es für Deutschland um ein paar Milliarden billiger, wird aber zur Frage „wer zahlt wieviel?“ ebenfalls nicht wirklich konkret:

Das klimaneutrale Industrieland gibt es nicht zum Nulltarif“. Die nötigen Mehrinvestitionen von 860 Milliarden Euro verteilen sich auf den Staat, Bürger und Unternehmen. … Für die Unternehmen brauche es noch Anreize.“ (9)

Der Staat soll Russwurm zufolge vor allem in die Infrastruktur investieren, was bis 2030 allein 240 Milliarden Euro kosten dürfte – unter anderem für bessere Stromnetze, mehr erneuerbare Energie, Ladesäulen, Wasserstoffkapazitäten und Ausbau der Schienenwege. Immerhin lässt der Mann durchblicken, worauf er hinauswill: Der Steuerzahler soll herhalten, nicht die Unternehmen; die seien, im Gegenteil, noch weitergehend als bisher zu privilegieren. Ja freilich.

Propagandistisch geschickter verfolgt McKinsey eine Akzeptanzstrategie:

Für die Bürgerinnen und Bürger Europas werden sich die Kosten insgesamt nicht erhöhen: Heizen und Kühlen sowie Mobilität würden günstiger, während die Preise für Lebensmittel und Ferienflüge zunehmen könnten. Haushalte mit geringerem und mittlerem Einkommen werden sogar etwas entlastet, wohlhabende Haushalte etwas stärker belastet sein“. (10)

Das wirkt so wohlwollend-milde wie die Rede von der „Landluft“, wenn die Abgase eines Güllewagens gemeint sind. Unwillkürlich fragt man sich, wann hinter solchen Sätzen und auf Tagesschau.de endlich die ersten Emojis auftauchen.

Allein die im deutschen Börsen-Index DAX versammelten 30 Unternehmen schütten pro Jahr mehr als 30 Milliarden Euro Dividende aus. (11) Würde dieses Geld in einen Solidarfonds der Unternehmen eingezahlt, ließe sich damit bis zum Jahr 2030 ein Drittel der notwendigen Summe erzielen, die für halbwegs effektiven Klimaschutz vonnöten wäre.

Da wäre noch viel mehr zu holen

Je nach Zählweise gibt es in Deutschland jedoch außer den 30 börsennotierten noch weitere 3,2 Millionen Unternehmen, davon mindestens 18 000 Großfirmen. (12) Den naheliegenden Gedanken, auch sie nach Möglichkeit an den Kosten zur Bewältigung der Umweltschäden zu beteiligen, verfolgt die Tagesschau erwartungsgemäß nicht, obwohl das fraglos zu ihrem Informationsauftrag gehörte. Vorbei die Zeiten, als eine weitsichtige sozialliberale Bundesregierung noch forderte (anno 1971):

Jeder, der die Umwelt belastet oder sie schädigt, soll für die Kosten aufkommen“ (13)

Heutzutage bewerben führende Politiker lieber Projekte, die dem selbstgehäkelten Klodeckelbezug gleichen: Sie machen optisch was her, sind zu nichts nutze und auf Dauer unhygienisch.

Für ARD-aktuell keineswegs Anlass zu konfrontativer Befragung der Verantwortlichen: Reiche Umweltfrevler werden geschont, für die Schadenreparatur hat das gemeine Volk zu blechen, die Tagesschau befasst sich damit nicht. Eine Untersuchung der Organisation Oxfam zeigt Details:

In Deutschland waren die reichsten 10 Prozent (8,3 Millionen Menschen) im Jahr 2015 für mehr CO2-Ausstoß verantwortlich als die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung (41,3 Millionen Menschen). Von den Gesamt-Emissionen seit 1990, für die die deutsche Bevölkerung verantwortlich ist, gehen 26 Prozent auf das Konto der reichsten 10 Prozent; die gesamte ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung ist nur für wenig mehr verantwortlich. (14)

Eine Umweltbelastungssteuer nach Verursacherprinzip und gestaffelt nach Vermeidbarkeitsgrad im jeweiligen Fall gibt es bekanntlich nicht. Oxfam:

Die katastrophalen Folgen der Klimakrise sind schon heute vielerorts spürbar. Verantwortlich (für die Schäden) ist eine Politik, die auf Konsumanreize setzt, immerwährendes Wachstum verspricht und die Welt ökonomisch in Gewinner und Verlierer spaltet. Für den Konsumrausch einer reichen Minderheit zahlen die Ärmsten den Preis.“ (ebd.)

Im Gegensatz zum restlichen deutschen Mainstream hat Tagesschau.de nicht über diese Studie berichtet. Das macht eben den Qualitätsjournalisten aus: Er hält gerade dann das Maul, wenn er´s am weitesten aufmachen müsste.

Informations-Placebos

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ARD-aktuell ist längst mitverantwortlich dafür, dass es keinen nennenswerten gesellschaftlichen Diskurs über gerechte Lastenverteilung bei der Bekämpfung und Begrenzung der Umweltschädigung gibt. Die Redaktion liefert lieber Informations-Placebos wie die Meldungen über ein bisschen mehr Pendlerpauschale oder ein paar Euro Zuschuss für Bürger, die ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Dass das an der strukturellen Ungerechtigkeit nichts ändert, wird nicht vermittelt.

Keine Regel ohne Ausnahme, fairnesshalber sei erwähnt: Die nur noch geschäftsführende Bundeskanzlerin hat kürzlich die Bepreisung von CO2-Emissionen als ihre Herzenssache beschrieben, sich aber wohlweislich gehütet, zuzugeben, wer die Preise bezahlt. Das holte die ARD-aktuell zumindest in ihrer Leser-Nische Tagesschau.de nach:

Tatsächlich bezahlen eine CO2-Bepreisung am Ende die Verbraucher. Durch die in Deutschland zu Jahresbeginn eingeführte Abgabe ist Benzin um etwa sieben Cent und Diesel um rund acht Cent pro Liter teurer geworden. Auch die Heizkosten steigen.“ (15)

Dass Merkel vorzugsweise die Kanzlerin des Geldadels war und sich vom Schicksal der „kleinen Leute“ nicht erschüttern ließ, wird allerdings einem Tagesschau-Sprecher niemals über die Lippen kommen.

Nach der Tsunami-Katastrophe am japanischen Atomkraftwerk Fukushima (2011) proklamierte Merkel den Atomausstieg, ohne die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass die Kraftwerksbetreiber nun für entgangene Gewinne Entschädigungen in Milliardenhöhe verlangen können. (16) Beim beabsichtigten Ausstieg aus der Kohleverstromung zeichnet sich die gleiche Malaise ab: Der Steuerzahler muss auch für unerfüllte Gewinnaussichten der Kohleindustrie zahlen. Die in Rede stehenden Summen gehen weit über den Ausgleich für verlorene Arbeitsplätze hinaus. Vorstöße, diesen Exzess per Gesetz zu verhindern, gab und gibt es nicht.

Rechtsprechung im Hinterzimmer

Über die bei uns übliche protektionistische Wirtschaftspolitik wird kaum öffentlich geredet, aber in aller Heimlichkeit nach ihren Regeln verfahren und entschieden. Die sogenannte Investor-Staats-Schiedsgerichtsbarkeit, ISDS, macht´s möglich. (17, 18) Seit den 90er Jahren gibt es darüber hinaus noch eine weitere Rechtsgrundlage, den Energy Charta Treaty, ECT (19). Dieser Vertrag erlaubt es speziell den privaten Investoren der Energiewirtschaft, Mitgliedsstaaten der EU zu verklagen und darüber hinter verschlossenen Türen verhandeln zu lassen.

Die Gründe dafür, die regulären nationalen und europäischen Gerichte zu umgehen, liegen auf der Hand: Aussicht auf höheren „Schadensersatz“ bei gleichzeitig fehlender Transparenz und Kontrolle seitens der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Das höhlt die Rechtsstaatlichkeit aus, widerspricht dem öffentlichen Interesse fundamental und belastet den Steuerzahler. Fast die Hälfte der 47 in diesem Rahmen bereits geführten Klagen wurde von Investoren mit Verbindungen zur Kohle-, Öl-, Gas- und Atomindustrie eingereicht. (20) Die beklagten Regierungen (=Staaten) wurden dazu verurteilt oder haben auf dem Vergleichsweg zugestimmt, mehr als 52 Milliarden US-Dollar Schadensersatz aus öffentlichen Mitteln zu zahlen.

Unter dem Titel Geheimprozesse gegen den Klimaschutz berichtet der frei arbeitende Journalist Henrik Rampe:

„… ‘Dieser Vertrag ist frontal gegen Klimaschutz, und deshalb muss er auch sehr tief reformiert werden,‘ äußerte der luxemburgische Minister Claude Turmes, ließ die Bald-Ex-Kanzlerin allerdings unbeeindruckt.“ (21)

Klagen gegen Deutschland führte und führt beispielsweise der Konzern Vattenfall, und zwar wegen nachträglicher Umwelt-Auflagen für das Kohlekraftwerk in Hamburg-Moorburg und wegen der Stilllegung der Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel (4 Milliarden Euro Schadensersatz).

„Aus Erfahrung wird man klug“, behauptet der Volksmund. Die Kanzlerin Merkel kann er dabei nicht bedacht haben. Die lehnte es beharrlich ab, aus dem ETC-Vertrag auszusteigen, obwohl ihr klar gewesen sein muss, welch ein gewaltiges finanzielles Hindernis für jegliche die Klimaschäden begrenzende Energiepolitik er darstellt. Pia Eberhard von der Brüsseler NGO Corporate Europe Observatory kommentiert diesen Starrsinn unverblümt:

Zu sagen, wir beschäftigen uns noch nicht einmal mit der Option eines Ausstiegs aus diesem Vertrag, ist auch nicht so anders, als den Klimawandel zu leugnen. Das sagt ja im Prinzip, es gibt kein Problem, wir können so weitermachen wie bisher.“ (22)

ARD-aktuell berichtet einfach nicht seriös über den deutschen Politiksumpf. Wer etwas über Probleme der Umweltpolitik wissen will, liest deshalb besser den Gaszähler ab. Das ist interessanter und aufschlussreicher als Tagesschau gucken. Wer über die schräge Klimapolitik schreiben will, kommt sowieso nicht in Versuchung, geistigen Diebstahl am Tagesschau-Angebot zu begehen. Frei nach Bertolt Brecht ist im Armenhaus schlecht klauen.

Aber Merkels Ruf als beliebteste Kanzlerin aller Zeiten bleibt gewahrt. Bald wird es Änschii-Miniaturen für den Vorgarten geben.

Quellen und Anmerkungen:

  1. https://www.tagesschau.de/inland/klimaziel-2020-101.html
  2. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/5750/publikationen/2021-03-19_cc_33-2020_klimaschutzprogramm_2030_der_bundesregierung.pdf
  3. https://www.energiezukunft.eu/klimawandel/deutschland-verfehlt-klimaziele/
  4. https://www.tagesschau.de/inland/klimaziele-2030-verfehlt-101.html
  5. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/klimawandel-genderfrage-101.html
  6. https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/wdr-story-43729.html
  7. https://www.ardmediathek.de/video/panorama/sneakerjagd-nike-vernichtet-neuware/das-erste/Y3JpZDovL25kci5kZS81NzQwNmNkYi04MWNiLTQxZjMtYTAyNy1mNjEwYmVhYjFjYzE/
  8. https://www.mckinsey.de/news/presse/2020-12-03-net-zero-europe
  9. https://www.wiwo.de/politik/deutschland/bdi-studie-mehrinvestitionen-in-hoehe-von-860-milliarden-euro-fuer-klimaziele-2030-noetig-/27725788.html
  10. https://www.mckinsey.de/news/presse/2020-12-03-net-zero-europe
  11. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4761/umfrage/dividendenzahlungen-der-dax-unternehmen/
  12. https://www.mittelstandswiki.de/wissen/Unternehmen_nach_Zahlen
  13. https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/spd-fdp-koalition-plant-erstes-umweltschutzprogramm-100.html
  14. https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/klimawandel-ungleichheit-reichste-1-prozent-schaedigt-klima-doppelt-so-stark
  15. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/cozwei-abgabe-weltweit-101.html
  16. https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Fukushima#Deutschland
  17. https://www.bmjv.de/DE/Themen/GerichtsverfahrenUndStreitschlichtung/Schiedsgerichtsbarkeit/Schiedsgerichtsbarkeit_node.html
  18. https://www.international-arbitration-attorney.com/de/what-is-international-arbitration/
  19. https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/energie-charta-vertrag-ect-100.html
  20. https://energy-charter-dirty-secrets.org/de/
  21. https://www.torial.com/henrik.rampe/portfolio/529731
  22. https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/energie-charta-vertrag-ect-100.html

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nicht kommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Grafikquellen          :

Oben     —   The Soyuz Soyuz TM-32 Taxi Flight crewmembers. Soyuz Commander Talgat Musabayev, Flight Engineer Yury Baturin — both cosmonauts representing Rosaviakosmos — and American Space Flight Participant Dennis Tito blasted off from the Baikonur Cosmodrome in Kazakhstan at 2:37 a.m. CDT (0737 GMT) on April 28, 2001. They docked to the station two days later on April 30, 2001, at 2:58 a.m. CDT (0758 GMT) to begin nearly eight days of docked operations with the Expedition Two crew. The crews transferred gear and equipment from the new Soyuz to the orbital outpost, as well as into the older Soyuz spacecraft in which the visiting crew would return home.

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Glasgow verkauft die Natur

Erstellt von Redaktion am 11. November 2021

Wasser marsch für mehr Klimaschutz

Wer von den Politiker-Innen würde sich denn so weit in die Wildnis wagen, die haben doch schon Angst vom roten Teppich zu fallen.

Von Heike Holdinghausen und Bernhard Pötter

In Europa und Südasien wurden Moorböden großflächig trockengelegt – und so von Treibhausgas-Speichern zu Treibhausgas-Schleudern. Das lässt sich ändern.

Sogar Michelle Obama war schon da. „Die neue große Weltkarte mit den Moorgebieten der Erde hat auch die ehemalige US-First Lady interessiert“, sagt Franziska Tanneberger, Leiterin des Greifswald Moor Centrums. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Ausstellungsflächen zu Feuchtgebieten – der Peatland Pavillon – auf dem Gelände der Klimakonferenz gleich neben dem US-Pavillon befinden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Michelles Ehemann Barack Obama sich mehrfach auf der Konferenz für echten Klimaschutz starkgemacht hat. Und der funktioniert nur mit dem Schutz der Moore.

Moorböden bedecken rund vier Millionen Quadratkilometer der Erde, vor allem auf der Nordhalbkugel, in Kanada, Skandinavien, Schottland und Mitteleuropa; tropische Moore kommen im Kongo, in Uganda und Indonesien vor. Auch ganz im Süden, in Südafrika, Tasmanien und Feuerland gibt es Moore. „Viele Länder wissen gar nicht, dass sie Moorböden besitzen“, sagt Tanneberger, „wenn sie schon lange genutzt werden, dann erscheinen sie halt als Wiese oder Kartoffelacker“.

Rund drei der vier Millionen Quadratkilometer Moorfläche sind noch intakt; sie speichern Wasser, bieten Tieren und Pflanzen Lebensräume – und speichern enorme Mengen an Kohlenstoff. Rund 550 Gigatonnen binden sie global, 42 Prozent der an Land gebundenen Menge, und damit mehr als etwa die Wälder. In Deutschland liegen in den Moorböden 1.300 bis 2.400 Millionen Tonnen Kohlenstoff. Trocknen die Böden aus, setzen sie Treibhausgase frei. Weltweit gibt es zwei Re­gio­nen, in denen Moore großflächig trockengelegt und so vom Speicher zum Emittenten von Treibhausgasen wurden: Europa und Südostasien. Etwa in Indonesien sei dies als Problem erkannt, es werde gegen­gesteuert, so Moorexpertin Tanneberger. „In Europa reagieren wir ungenügend auf dieses Problem.“ Dabei müsse in allen Plänen zur Klimaneutralität die Wiedervernässung der Moore einberechnet werden – „sonst müssen wir Wälder aufforsten, um den CO2-Ausstoß der Moore zu kompensieren“.

In Deutschland sind fast alle Moore entwässert – nur 2 Prozent sind intakt, 4 Prozent schon wiedervernässt. Obwohl Moorböden nur wenige Prozent der landwirtschaftlichen Fläche ausmachen, tragen sie zu 40 Prozent zu den Treibhausgas-Emissionen der Landwirtschaft bei. Hier könne man auf kleiner Fläche also viel erreichen, sagt Tanneberger.

Quelle       :         TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

Der Klimagipfel – ein Fitnessstudio

Von Bernhard Pötter

Eigentlich sollte auf der Einladung zur Klimakonferenz ein Warnhinweis wie auf Zigarettenschachteln kleben: „COPs können Ihrer Gesundheit schaden!“ Wer teilnimmt, schläft nur ein paar Stunden, isst und trinkt tags zu wenig und abends zu viel, hetzt von einem Termin zum nächsten oder langweilt sich in der letzten Nacht zu Tode. Gefährlich ist auch der Frust, dass der Klimawandel immer weitermacht, was für unsere Gesundheit ja noch schlimmer ist als die Gummibär-und-Schokolade-Diät auf der Konferenz.

In Glasgow ist vieles anders. Aus der Angst vor einem Corona-Superspreader-Event werden hier Toiletten, Tische und Stände permanent abgewischt und desinfiziert, überall steht Handdesinfektionszeug. Wenn die Verhandlerkolonne so fleißig und effektiv wäre wie die Putzleute sind, wäre mir ums Klima nicht bange.

Bei allem Stress ist die COP aber eigentlich ein großes Fitnessstudio: Gegen das ungesunde Sitzen gibt es lange Schlangen am Eingang oder vor den Toiletten, wo der Bewegungsapparat gestärkt wird. Die Wege sind weit: vom Eingang bis zum Pressezentrum sicher ein knapper Kilometer. Und wir sind dauernd on the road: zu Pressekonferenzen, zu Gesprächen, Terminen, Treffen mit Informanten, zum Klo, einfach rumschlendernd.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben          —     These illustrations show the floods that hit Germany in July 2021. Several European countries were hit by catastrophic floods in the summer of 2021, causing many deaths and considerable damage. The floods, which affected several river basins, first in the UK and then across northern and central Europe, were caused by unseasonably high levels of rainfall.

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2.) von Oben      —       Waldbrand-Experiment

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Klimawandel und Ursachen

Erstellt von Redaktion am 9. November 2021

Schöner aussterben mit nachhaltigem Palmöl

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Lindner war angeblich auf Borneo. Reicht ein Name zum Nichtverstehen aus ? Oder hat er den roten Teppich der Fa. Nestle nie verlassen?

Von Kathrin Hartmann

Die halbe Erde unter Naturschutz zu stellen, Wälder aufzuforsten und Öko-Siegel zu verleihen – all das klingt erstmal wie eine gute Idee. Die Journalistin Kathrin Hartmann weiß, wo daran der Haken ist.

In nichts steht der Verlust der Artenvielfalt dem drohenden Klimakollaps nach. Dass über diese Krise nicht so viel gesprochen wird, mag daran liegen, dass das Fassungsvermögen für Krisenwahrnehmung bereits vollends ausgefüllt wird – aber die Folgen dieser Krise sind leider ebenso gravierend. Unsere Luft, unser Trinkwasser, unsere Gesundheit und die Erzeugung unserer Lebensmittel sind unmittelbar von einer intakten Natur abhängig. Doch sind nur noch drei Prozent der globalen Ökosysteme intakt. Mehr als zwei Drittel der Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien sind in den vergangenen 50 Jahren verschwunden. Von den heute bekannten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten, die die Erde bevölkern, ist eine Million vom Aussterben bedroht.

Die Krise der Artenvielfalt und die Klimakrise verschärfen sich gegenseitig. Und sie haben noch etwas gemeinsam: Alle Wege, die bislang eingeschlagen wurden, um sie aufzuhalten, sind krachend gescheitert.

Gerade ist in der chinesischen Stadt Kunming die 15. Konferenz der Vereinten Nationen zur biologischen Vielfalt zu Ende gegangen. Auf mehr als nebulöse Absichtserklärungen haben sich die knapp 200 Vertragsstaaten nicht einigen können. Zwar wird im kommenden Frühjahr am selben Ort ein Rahmenabkommen zum Schutz der Artenvielfalt verabschiedet werden. Doch dieses wird weniger verbindlich sein als das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015. Und so hat es das internationale Übereinkommen über biologische Vielfalt, die Convention on Biological Diversity (CBD), in den vergangenen 28 Jahren nicht geschafft, ihrem Anspruch gerecht zu werden. Die 1993 in Kraft getretene CBD wollte bis 2010 „den Verlust der biologischen Vielfalt signifikant verlangsamen“, erreichte dieses Ziel aber nicht. 2010 wurden in Japan die sogenannten Aichi-Ziele verabschiedet. Kein einziges dieser 20 Ziele zum Biodiversitätsschutz wurde wie vereinbart bis 2020 erreicht, mehr als die Hälfte wurde deutlich verfehlt. Auch die EU-Biodiversitätsziele 2020 sind gescheitert.

Zertifiziert kaputtmachen

All das ist nicht nur eine Folge davon, dass zu wenig oder nichts getan wird. Die Maßnahmen selbst sind das Problem: Sie sind darauf ausgerichtet, das System, das zur Zerstörung von Natur und Klima führt, zu erhalten. Dazu zählen etwa die privatwirtschaftlichen Zertifizierungssysteme für zerstörerische Rohstoffe. Mittlerweile gibt es für alle wald- und naturzerstörenden Rohstoffe wie Palmöl, Soja, Holz, Kakao und Kaffee, aber auch für Wild- und Zuchtfische sowie für Fleisch Nachhaltigkeitssiegel. Wenn große Konzerne, die besonders großen Schaden anrichten, dazu gebracht werden könnten, freiwillig bestimmte Umweltstandards einzuhalten, könnte die Zerstörung eingedämmt werden – das ist die Idee hinter der Zertifizierung.

Nach gut 30 Jahren ihrer Erprobung lässt sich sagen: Sie ist gescheitert. Das belegt die Studie „Destruction: Certified“, die Greenpeace im März vorlegte. Die NGO untersuchte darin neun große Zertifizierungssysteme, darunter den Runden Tisch für nachhaltiges Palmöl, den Runden Tisch für verantwortungsbewusstes Soja und das Forest Stewardship Council. Keines dieser Systeme konnte den Verlust von Biodiversität aufhalten oder auch nur eindämmen. Nicht nur, weil die Standards zu schwach sind und zu schlecht kontrolliert – sondern weil keine einzige Initiative zum Ziel hat, den Verbrauch dieser landwirtschaftlichen Produkte zu reduzieren. Im Gegenteil setzen sie ausschließlich darauf, die Nachfrage nach zertifizierter Ware zu erhöhen. Konzerne, die auf krisensicheren Zugang zu steigenden Mengen dieser Rohstoffe angewiesen sind, sind Mitglieder dieser Initiativen – und darüber hinaus bilden sie auch die Mehrheit in den verantwortlichen Gremien.

So hat etwa der Runde Tisch für nachhaltiges Palmöl 1.934 Vollmitglieder. Darunter sind 973 Konsumgüter- und Handelsunternehmen, 887 Palmölfirmen und 15 Banken – aber nur 50 NGOs. Im Vorstand sitzen Manager von Wilmar International oder Golden Agri-Resources, Firmen, denen NGOs seit Jahren illegale Abholzung, Umweltzerstörung, Waldbrände und Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Sanktionen gibt es in solchen Initiativen so gut wie keine – man bestraft sich ja nicht selbst. So ist es nicht überraschend, dass der Runde Tisch für nachhaltiges Palmöl (RSPO) in den 17 Jahren seit seiner Gründung die Zerstörung von Regenwald für Palmöl-Plantagen nicht eindämmen konnte. Diese hat laut Global Forest Watch seit der RSPO-Gründung im Gegenteil weiter zugenommen und lag 2015 mit 753.000 Hektar zerstörter Waldfläche ein Viertel höher als 2004.

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Es mag absurd klingen, aber auch Klimaschutzmechanismen können den Verlust von Biodiversität beschleunigen. Zum Beispiel die sogenannten negativen Emissionen. Das sind Technologien, die der Atmosphäre CO₂ entziehen sollen, etwa durch Aufforstung oder Geo-Engineering. Der 1,5-Grad-Report des Weltklimarats (IPCC) zählt negative Emissionen zu den Instrumenten gegen die Klimakrise. Dazu zählt das Speichern von CO₂ mittels gigantischer Monokulturen zur Gewinnung von Bioenergie. Werden die Pflanzen dann verbrannt, sollen die Treibhausgase unterirdisch gespeichert werden. Drei von vier Modellpfaden im IPCC-Report enthalten dieses Instrument. Das ist höchst umstritten: Um das Paris-Ziel einzuhalten, müssten auf einem Drittel des weltweiten Ackerlandes Energiepflanzen wachsen. Phil Williamson von der University of East Anglia ist überzeugt, dass ein großflächiger Einsatz dieser Technologie mehr Arten zum Aussterben bringen würde als ein Temperaturanstieg von 2,8 Grad. Ähnlich problematisch sind große Aufforstungsprogramme zur Kompensation von CO₂.

Zu den größten globalen Programmen dieser Sparte gehört die Bonn Challenge, die 2011 von der Weltnaturschutzunion (IUCN), der Bundesregierung und der Global Partnership on Forest and Landscape Restoration initiiert wurde. 350 Millionen Hektar – eine Fläche von der Größe Deutschlands – will die Initiative mit Bäumen bepflanzen. 2019 belegte eine Studie des Londoner University College und der University of Edinburgh, dass beinahe die Hälfte der degradierten Flächen, die die teilnehmenden Länder wieder aufforsten wollen, mit industriellen Monokulturen bepflanzt werden sollen. Etwa mit Eukalyptus-Plantagen, die die Böden extrem austrocknen und so nicht nur Biodiversität schädigen, sondern die Gefahr von Waldbränden erhöhen.

Menschenleer, aber ölfördernd

Quelle          :        Der Freitag-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     ölpalmen in malaysia

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Verstehen – dann Bewerten

Erstellt von Redaktion am 7. November 2021

Deutsche Demokratische Republik – kurz: DDR

Berliner Mauer mit Panzersperren (Liesenstraße-Gartenstraße 1980).jpg

Untergrundblättle – CH 

Autoren-Kollektiv Ost revoltmag.org

Um eine sozialistische Politik in Ostdeutschland zu etablieren, bedarf es einer kritisch-solidarischen Auseinandersetzung mit der DDR und einer Praxis, die an die heutigen Alltagserfahrungen der Menschen anknüpft.

Für Menschen die bewusst in der DDR gelebt haben ist die Frage nach deren Charakter eine einfache. Sie können sich aufgrund ihrer damals erworbenen Alltagserfahrungen eine subjektive und – durch den Filter heutiger gesellschaftlicher Zustände – eine auf der Erfahrung mit zwei Systemen basierende realistische Meinung bilden. Schwierig ist es für die Nachgeborenen, für die aus Westdeutschland sowieso. Für die dritte Generation Ostdeutsche, welche die DDR nicht bewusst erlebt hat, ist die Ausgangslage diesbezüglich auf den ersten Blick besser, auf den zweiten umso verwirrender.Die „Leitmedien“, fest in westdeutscher Hand, zeichnen mitnichten ein realistisches Bild, denn sie verfolgen das Interesse, das heutige kapitalistische Gesamtdeutschland zu legitimieren. Im Kalten Krieg und seit der Wiedervereinigung ist eine Struktur in Kultur, Wissenschaft und Politik entstanden, die die dafür notwendige Erzählung gesellschaftlichen Stimmungen immer wieder anpasst.Auf der anderen Seite steht die ostdeutsche Halböffentlichkeit, vor allem das familiäre Umfeld, das ein differenzierteres Bild zeichnet.Für Linke wirkt sich das eigene politische Milieu nicht förderlich aus – selbst wenn man sich in einem marxistischen Umfeld bewegt -, denn man hat es bei der übergrossen Mehrheit mit dem westeuropäischen Blick auf den Realsozialismus zu tun. Der Tenor ist, der Sozialismus der DDR sei ein orthodoxer Arbeiterbewegungs/Parteien-Sozialismus gewesen, der diesen Namen eigentlich nicht verdient, oder gar Staatskapitalismus, autoritär, deshalb anti-emanzipatorisch, ökonomisch ineffizient und so weiter. Mitnichten sei er das gewesen, „was Marx beabsichtigte“, und deshalb nicht der Mühe wert, sich mit ihm zwecks Erfahrungstransfer zu beschäftigen. Letztlich ist dieses Urteil identisch mit dem der bürgerlichen Presse.Die, die etwas anderes behaupten, sind gesellschaftlich marginalisiert. So ist es leicht, sie als nicht ernstzunehmende politische Sekten abzutun, und zum grossen Teil trifft dieses Urteil zu. Ostdeutsche ohne eigene DDR-Erfahrung tendieren dazu, diese hegemoniale Meinung anzunehmen. Die Wiedervereinigungserzählung in ihrer Alternativlosigkeit, die schlussendlich doch „blühende Landschaften“ gebracht haben soll, stellen sie hingegen eher in Frage, denn die familiären Erzählungen von Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und der überwiegende Ausschluss aus gesellschaftlichen Diskussionen aufgrund ihrer Herkunft stehen dazu konträr.

Die „Leitmedien“ haben diesen Trend erkannt und lassen ein wenig Dampf aus dem Kessel. Wurde die DDR die letzten 30 Jahre entweder beschwiegen oder wie zu Zeiten des Kalten Krieges denunziert, wird heute zumindest ihre kulturelle Alltagsgeschichte erzählt, natürlich immer mit dem Fingerzeig auf die „SED-Diktatur“.

Konzessionen machen die Medien neuerdings auch beim Thema Wiedervereinigung, die immer noch ein grosses Geschenk für die Deutschen ist (vor allem aus westdeutscher Perspektive). Es wurden Fehler gemacht, sagt man heute – Stichwort Treuhand [1]. Der ostdeutsche Abwicklungsprozess, der die darauffolgende gesamtgesellschaftliche Deregulierungsära einleitete, lässt sich medial mit seinen bis heute spürbaren Folgen nicht mehr unterschlagen.

Die Liquidierung einer vermeintlich maroden Planwirtschaft und ihrer Industrien bleibt in dieser Erzählung jedoch weiterhin unausweichlich. Dass das Quatsch ist, weiss jeder, der sich mit der Materie beschäftigt. Selbst in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft kann man unter seriösen Historiker*innen diese These nicht mehr vertreten. Sie widerspricht den historischen Fakten, was die statistischen Belege im Folgenden dokumentieren. Diese Erkenntnisse, ein Ansatzpunkt für eine ostdeutsche Linke, schafft es jedoch selten in die Massenmedien.

Erst Verstehen, dann Bewerten

Schlussfolgerungen für eine eigenständige Politik, vor allem auch aus dem linken Lager, werden aus den ostdeutschen Realitäten aber nicht gezogen. Eine Diskussion darüber wird trotz der unübersehbaren und zunehmenden Distanz zu gesellschaftlichen Gross-Gruppen als „rückwärtsgewandt“ disqualifiziert. Die gesellschaftliche Linke kümmert sich in ihrer Mehrheit entweder aus Mangel an Kompetenz nicht um ökonomische Fragen oder schwelgt in Zeiten der Globalisierung in irrealen konservativ-romantischen Vorstellungen von Kleinteiligkeit und Dezentralisierung. Das Höchste der Gefühle sind Diskussionen über Vergesellschaftung der öffentlichen Daseinsfürsorge. Für den Rest der ressourcenverschwendenden Marktwirtschaft gibt es ein paar theoretische Überlegungen zur Wirtschaftsdemokratie – scheinradikale Ausrutscher, die niemanden weh tun, weil sie von Ansätzen der Realisierbarkeit Lichtjahre entfernt sind.

Die Beschränkung auf entweder „Delegitimation“ oder „Rehabilitation“ realsozialistischer Verhältnisse verunmöglicht den Rückgriff auf deren nachgewiesene anwendbare Lösungen für heutige gesellschaftliche Probleme. Auch linke postkapitalistische Diskussionen machen mit bei der Reduktion auf diese beiden Extrema, welche die Gegenseite vehement forciert und zu ihren Gunsten ausnutzt.

Eine kritisch-solidarische Aufarbeitung der DDR-Wirtschaftsgeschichte wäre für das zur Schau gestellte, überbordende westdeutsche Selbstbewusstsein lästig. Besonders dann, wenn man feststellen müsste, dass die vielgescholtene Planwirtschaft realsozialistischer Prägung es geschafft hat, das Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt der BRD nach dem zweiten Weltkrieg, in 40 Jahren pro Kopf von 39 Prozent auf 55 Prozent zu verbessern [2].

Die Anfangsdifferenz hatte ihre Ursachen in historisch-strukturellen Unterschieden im Laufe der industriellen Entwicklung, vor allem aber durch die zu leistenden Reparationen an die Sowjetunion. Nebenbei erwähnt, hatte die DDR von Mitte der 1960er bis Mitte der 80er Jahren durchgängig höhere wirtschaftliche Wachstumsraten als die BRD [3]. Das führte dazu, dass das Land 1988 beim pro Kopf Bruttoinlandsprodukt (12.197 Euro [4]) in Europa auf Platz 14 lag, knapp hinter Grossbritannien (13.700 Euro) und Italien (13.500 Euro), deren gesellschaftlicher Reichtum aufgrund kapitalistischer Verhältnisse natürlich eine immense Ungleichverteilung aufwies. Eine historische Leistung vor allem der ostdeutschen Arbeiter*innenschaft unter den Vorzeichen von Ressourcenknappheit und einer vom Westen betriebenen Embargopolitik eines immer weitergehenden Ausschlusses des Ostblocks aus der internationalen Arbeitsteilung.

Das war die Ausgangslage bei der Wiedervereingung und das Ergebnis ist bekannt: kein Aufholen oder Konsolidieren – sondern Deindustrialisierung mit all ihren Folgen. Bei der Ursachenforschung für den Zustand der heutigen ostdeutschen Gesellschaft kann man deshalb nicht erst beim Prozess der deutschen Einheit beginnen, sondern muss sich mit der DDR beschäftigen, um zu verstehen, warum heute so viele Ostdeutsche, auch die Nachgeborenen, so unzufrieden mit der Lage in ihrem Teil des Landes sind.

Einheit und sozialistischer Aufbau (im Osten)

Die DDR war das Resultat des vom deutschen Faschismus angezettelten und verlorenen Zweiten Weltkrieges. Nicht alle Deutschen haben die Nazis unterstützt. Der Stimmenanteil von über 30 Prozent für SPD und KPD bei den letzten Reichstagswahlen am 5. März 1933, schon nach der Machtergreifung, sind ein klares Indiz dafür, dass der Grossteil der Arbeiterklasse sich nicht mit den Faschisten identifizierte.

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Nach der Kapitulation der Wehrmacht wurde Deutschland in Besatzungszonen der Siegermächte aufgeteilt. Die Sowjetunion hatte ein Interesse an einem neutralen, entmilitarisierten und ungeteilten Gesamtstaat unter alliierter Überwachung, um eine erneute aggressive Entwicklung zu verhindern. Alle Spaltungsinitiativen in den folgenden Jahren gingen historisch bewiesenermassen von den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik aus: Währungsreform [5], Staatsgründung [6], Wiederbewaffnung. Die Schliessung der innerdeutschen Grenze und die Berliner Mauer waren eine Reaktion auf den Kalten Krieg zweier hochgerüsteter, konkurrierender, grundsätzlich unterschiedlicher Gesellschaftsentwürfe.

Die ostdeutschen Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen hatten ihre Lehren aus dem Dritten Reich gezogen und waren der Meinung, dass nur der Aufbau des Sozialismus, schon immer Ziel der Arbeiter*innenbewegung, eine neue Tragödie verhindern könne. Das Verhalten der neuen Bundesrepublik mit ihren wieder in Amt und Würden gekommenen Alt-Nazis [7] bestätigte dies nur. Das man in solch einer Situation auf die Erfahrungen des ersten sich sozialistisch nennenden Landes, das gleichzeitig die eigene Besatzungsmacht war, setzte, ist nicht überraschend.

Marx und seinen Analysen folgend, war die Herstellung nicht nur der politischen, sondern auch der materiellen Gleichheit vonnöten, um das Ideal einer aus Gleichberechtigten bestehenden Gesellschaft zu erreichen. Letzteres hatte die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und seine Überführung in gesellschaftliches zur Voraussetzung: Volkseigentum. Jede*r sollte und konnte am Gedeihen des Gemeinwesens teilnehmen, weshalb Arbeitslosigkeit qua definitionem ausgeschlossen war. Diese Gründungsmaxime war bis zum Ende der DDR nicht verhandelbare Staatsräson und Grundlage jeglicher gesellschaftspolitischen Entscheidung.

Die unumstrittenen Vorzüge der DDR, ein sicheres Terrain…

Der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen war für alle kostenlos.

Frühkindliche Erziehung und Bildung mit pädagogischen Standards, eine gleiche allgemeinbildende polytechnische Schulbildung für alle Kinder bis zur zehnten Klasse, sehr wenige Spezialschulen für die wirklich Hochbegabten, natürlich auch aus Arbeiterfamilien, bildeten die Grundstruktur des Bildungswesens. Danach folgten entweder ein zweijähriges Abitur oder eine Berufsausbildung, wahlweise mit Abitur.

Es gab für jede*n Jugendliche*n eines dieser Angebote, entsprechend ihrer*seiner Fähigkeiten. Nach der Hochschulreife war ein Studienplatz garantiert, nicht ausschliesslich nach den eigenen Wünschen, sondern abhängig von den schulischen Leistungen und dem gesellschaftlichen Bedarf. Man bildete nur so viele Fachkräfte aus, wie die Gesellschaft benötigte. Das Resultat: ein gesicherter Arbeitsplatz im erlernten Beruf für die Absolventen und ein effizienter Umgang mit vorhandenen Ressourcen, die auch in anderen Bereichen der Gesellschaft benötigt wurden. Auch entfiel der Druck zum sozialen Aufstieg, denn Gleichheit war garantiert, alltäglich spürbar im Respekt gegenüber Hand- wie Kopfarbeit, der sich in den, im Vergleich zu heute, um ein Vielfaches geringeren Unterschieden in den Löhnen widerspiegelte.

Das Gesundheitswesen war effizient organisiert, um die medizinischen Bedürfnisse der Bevölkerung auf modernstem Niveau zu befriedigen. Es gab eine staatliche Krankenkasse, Polikliniken, in denen alle medizinischen Fachrichtungen einer ambulanten Betreuung ortsnah konzentriert waren. Grundsätzlich setzte man auf Prävention statt auf eine Gerätemedizin, die Menschen heilen soll, die zuvor vielfach zu krankmachendem Konsum animiert wurden und mit der wieder viel Geld verdient werden kann. Natürlich gab es auch die hochspezialisierten Kliniken in der DDR, für die es aufgrund des gemeinwohlorientierten Ansatzes der Gesellschaft weniger Bedarf gab. …mit Perspektive, Kitaplatz und Zentralheizung

Im volkseigenen Wohnungswesen war die Wohnungsfrage als soziales Problem Ende der 80er Jahre gelöst. Kosten und Nutzen ins Verhältnis setzend, war es der Plattenbau am Stadtrand, weniger die Sanierung der Altbauen, sondern ihr teilweiser Abriss, der zu diesem Ergebnis führte – eine Methode übrigens, die zur selben Zeit auch in Westdeutschland Anwendung fand. Dass genug gebaut wurde (und das grundsolide und langlebig), kann man heute sehr einfach daran erkennen, dass wegen des massiven Bevölkerungsschwundes in Ostdeutschland Wohngebäude abgerissen, „zurückbaut“ werden, um einen Marktzustand herzustellen, der Rendite für private Wohnungsunternehmen garantiert.

Niemand hatte doch mit guten Taten glänzen wollen.

Um diesen eigentlich absurden Vorgang in Zeiten exorbitant steigender Wohnungsmieten zu legitimieren, ist es auch in dieser Frage dann wieder eine sich mehrheitlich als linksliberal verstehende Mittelschicht, die die dafür notwendige Begründung für den DDR-Kontext produziert: grundsätzliche hässliche Architektur, fast schon menschenunwürdig, weil, wie man ja heute sieht, Orte der sozialen Ausgrenzung und damit Grundlage für Diskriminierung. Ein Argument von Gut-Situierten, die ansonsten die Architektur der Bauhaus-Moderne für ihr Eigenheim als Gipfel der Ästhetik verstehen. Eine industrielle Grosssiedlungsform mit viel Licht, Luft und Grün für alle ist aber eine zu beendende autoritäre Anmassung. Eine Pseudo-Kritik, die sich gesellschaftlichen Ursachen von sozialen Lagen verweigert, sie vielmehr durch eine Umkehr von Ursache und Wirkung verschleiert.

Teil der gelösten Wohnungsfrage waren in der DDR selbstverständlich die Mietpreise: eine Drei-Zimmer-100qm-Altbauwohnung mit Ofenheizung kostete kalt circa 100 DDR-Mark, die Neubauwohnung etwas mehr. Das war natürlich nicht kostendeckend. Das musste es auch nicht, denn sie wurde wie vieles andere vom Staat subventioniert, aus der sogenannten zweiten Lohntüte, die nicht ausgezahlt wurde. Von allen erwirtschaftet, für alle.

Die schwierigen Themen

Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungswesen, der Zugang zu Kunst, Kultur und Sport und so weiter, all die sozialen Errungenschaften sind Wohlfühlthemen, wenn es um eine Einschätzung der DDR für Unvoreingenommene geht. Zwar versuchen die bürgerlichen Medien es auch hier mit dem Umdeuten offensichtlich positiver Massnahmen, doch die Argumentationen klingen zunehmend gewollter, und nicht nur für in der DDR Sozialisierte immer absurder.

Aber bei vielen Linken verfängt das Diktatur-Argument. Der Weg ist dann nicht weit bis zur Assoziation mit der Sozialpolitik im Dritten Reich, nur für Arier, das in der Kampf-Begrifflichkeit der „zwei deutschen Diktaturen“ seine Entsprechung findet. Aber egal, ob man dem zustimmt, so demokratisch wie es heute im zwar „bösen“ Kapitalismus zugeht, sei es in der „SED-Diktatur“ ja nun wahrlich nicht gewesen und in der Öffentlichkeit hätten alle nur geflüstert, wegen der Staatssicherheit und so. Das Ertragen der Unfreiheit hätte sich das „Regime“ über soziale Zugeständnisse erkauft. So, oder so ähnlich, ist die Erzählung.

Jenseits von Sozialpolitik betritt die wohlwollende Betrachter*in von DDR-Realitäten aber unsicheres Terrain. Themen, wie Demokratie, Zivilgesellschaft, Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit versucht man lieber zu umgehen, weil dies zwangsläufig zum Hinterfragen westlich-bürgerlich-liberaler Gesellschaften und ihrer wie eine Monstranz vor sich hergetragener „Werte“ führen müsste.

Fussnoten:

[1] Zum Thema Treuhand siehe auch: https://www.zeroone.de/movies/goldrausch-die-geschichte-der-treuhand/

[2] Heske, Gerhard: Wertschöpfung, Erwerbstätigkeit und Investitionen in der Industrie Ostdeutschlands, 1950-2000. Daten, Methoden, Vergleiche. Historical Social Research, 38(4), 2013, S. 29.

[3] Ebd. S. 25.

[4] Heske, Gerhard: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950-1989: Daten, Methoden, Vergleiche. Historical Social Research, Supplement, 21, 2009, S. 248.

[5] Unentdecktes Land e.V.: Ausstellungskatalog „Unentdecktes Land“, 2019, S. 22.

[6] Ebd. S. 6.

[7] Nobert Podewin (Hrsg.): Braunbuch: Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Berlin (West), Berlin 1968.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC 2.0) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben     —  Kreuzungspunkt der Berliner S-Bahn von West- nach Ost-Berlin am Abzweig Liesenstraße-Gartenstraße, 1980

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2.) von Oben      ..     PEGIDA Demonstration Dresden 2015.03.23

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Europa versus USA :

Erstellt von Redaktion am 7. November 2021

Klimaallianz oder grüner Handelskrieg

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Beinahe täglich vermelden die Nachrichten extreme Wetterereignisse, und die Klimakrise erweist sich immer stärker als greifbare Realität. Zugleich tickt auch die Uhr der Klimadiplomatie. Die lang erwartete UN-Klimakonferenz (COP 26) findet vom 31. Oktober bis zum 12. November im schottischen Glasgow statt, und wenn es dort zu Fortschritten kommen soll, müssen Positionen bestätigt und abgestimmt werden. Ursprünglich sollte die COP 26 wenige Tage nach der US-Präsidentschaftswahl von 2020 beginnen, doch Covid-19 erzwang eine Verschiebung, was in gewisser Hinsicht ein Glücksfall ist. Denn dieser Umstand erlaubt es der Regierung unter Präsident Joe Biden, eine konstruktivere Rolle zu spielen. Jedoch herrscht nicht nur zwischen den Umweltministern der G20-Staaten Uneinigkeit, sondern selbst die Biden-Regierung und die Europäer sind untereinander von Klimaharmonie weit entfernt.

Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union versprechen inzwischen jeweils mehr als noch bei der Weltklimakonferenz von Paris 2015. Sie sind sich aber uneins, wie sie diese Ziele erreichen können. Die Klimawandelleugnung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump wurde ebenso verbannt wie sein grober ökonomischer Nationalismus – vorerst zumindest. Stattdessen erlebt die Welt eine transatlantische Rangelei über die Vorrangstellung in der Klimapolitik. Der erneuerte Führungsanspruch der Biden-Regierung prallt auf die berühmte regulative Macht der EU. Schon wird von einem „CO2-Handelskrieg“ gesprochen.[1] Wird sich dabei das Weiße Haus durchsetzen oder doch der „Brüssel-Effekt“ (Anu Bradford)?[2]

Bislang ist es noch nicht zu jener Entfremdung gekommen, die sich im Vorfeld des Irakkriegs ab 2002 in der Konfrontation zwischen „Mars“ und „Venus“ zeigte.[3] Aber die Lage erinnert an das gegenseitige Unverständnis in der globalen Wirtschaftskrise ab 2008 und der Eurokrise zwei Jahre darauf. Nun geht es darum, mit welchem Regime wir den heutigen Kapitalismus regulieren, und das ist verknüpft mit Umweltpolitik. Aus Brüsseler Sicht erscheint das wie eine Wahl zwischen Europas regelbasierter Lösung, die auf Marktprinzipien beruht, und dem improvisierten, politisch bestimmten Ad-hoc-Vorgehen der USA. Washington hingegen sieht bei Europas Dekarbonisierungsprogramm eine Bindung an undurchführbare Systeme zur CO2-Bepreisung und an polarisierende Vorschläge für einen CO2-Grenzausgleich.

Die Experten der Demokratischen Partei mögen Trumps Verachtung für Europa nicht teilen. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass sie die europäische Umweltpolitik tief im Innern mit dem gleichen Misstrauen betrachten wie die Eurozone – als eine Reihe von Plänen, die auf dem Papier vielleicht gut aussahen, sich in der Praxis aber als Desaster entpuppen. Die Zukunft der transatlantischen Klimapolitik hängt nicht nur davon ab, dass ein Modus vivendi zwischen sehr unterschiedlichen Politikkonzepten gefunden werden kann. Vielmehr bedarf es neuer und konstruktiverer Ansätze, um die nordatlantische Wirtschaft als Sprungbrett für die Dekarbonisierung zu begreifen.

Energiepolitisch verschiedene Welten

Wenn es um Klimapolitik geht, bewegen sich EU und USA auf ganz verschiedenen Zeitachsen. Die Amerikaner bemühen sich verzweifelt darum, nach der jahrelangen Lähmung unter Trump politisch wieder in die Gänge zu kommen. Sie wissen, wie schnell die Zeit bis zu den Midterm-Wahlen im November 2022 verrinnt. Da die meisten Ministerien bislang nicht einmal ihre Stäbe voll besetzt haben, scheint es das Beste zu sein, mithilfe von Regulierungen die Versorgungswirtschaft zum Verzicht auf fossile Brennstoffe zu verpflichten. Dazu kommen sämtliche Investitionen in Infrastruktur, Überlandleitungen und Ladestationen für Elektroautos, die es durch den labyrinthischen Abstimmungsprozess im Kongress schaffen.

Die Europäer hingegen arbeiten seit Jahrzehnten an diesem Problem. Sie haben bereits 2005 ein Preissystem für CO2 eingeführt und machen dieses nun zum Kernstück ihrer Strategie. Gemeinsam mit den Investitionen aus dem Corona-Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“ wird die Ausweitung des CO2-Preises von Industrie und Versorgungswirtschaft auf Verkehr und privates Heizen den Druck zur Dekarbonisierung erhöhen. Das wird zwar auf den Widerstand von Unternehmerlobbys und einigen nationalen Regierungen stoßen, darunter der polnischen, die sich der Kohle verschrieben hat. Aber Brüssel setzt darauf, dass die politische Unterstützung für grüne Politik stark genug ist, um voranzukommen – und scheint bislang das Momentum auf seiner Seite zu haben. Selbst Europas konservative Zentralbanker haben sich darauf verständigt, grüne Kriterien nicht nur bei der Bankenregulierung zu berücksichtigen, sondern auch bei Anleihenkaufprogrammen. Die US-Notenbank Fed hingegen zeigt sich demgegenüber reserviert. Und angesichts der prekären politischen Balance in den USA dürfte das auch das Beste sein. Die Fürsprecher einer grünen Politik in den Vereinigten Staaten müssen in der Tat sehr genau schauen, worauf sie ihre Kräfte verwenden.[4]

Das ist zweifellos eine politische Frage, spiegelt aber auch strukturelle Differenzen wider. Geht es um Energie, sind die USA und Europa äußerst verschiedene Orte. Auch ohne eine CO2-Steuer waren die Energiepreise in der EU immer schon horrend. Dank diverser Energiesteuern kostet eine Kilowattstunde Strom in Deutschland mehr als das doppelte dessen, was in den USA verlangt wird, und dasselbe gilt für eine Gallone Benzin. Daher sind Energieverbrauch und CO2-Emissionen in Europa auch viel niedriger. Der durchschnittliche Amerikaner emittierte 2019, also vor dem Corona-Schock, 15,52 Tonnen Kohlendioxid im Jahr. Der durchschnittliche Deutsche kam im selben Jahr auf 8,52 Tonnen und der durchschnittliche Franzose auf 4,81 Tonnen.[5] Die EU importiert rund 60 Prozent ihres gesamten Energiebedarfs – vor allem Öl. Die USA wiederum sind durch die Fracking-Revolution kürzlich zum Energieexporteur aufgestiegen und würden gerne mehr exportieren, darunter nach Europa. Das geht über die Wirtschaft hinaus: Der gesamte amerikanische Lebensstil – ausufernde Vororte, Einkaufszentren und Klimaanlagen – hängt am Verbrauch enormer Mengen von Energie, Öl und Gas. In ihrem Verhältnis zu den natürlichen Ressourcen haben die Vereinigten Staaten mehr mit anderen Siedlungskolonie-Staaten – wie Kanada, Australien oder Russland – gemein als mit der EU.

Das ungleiche Paar aus EU und USA in Klimafragen zusammenzubringen, erfordert einen Akt politischen Willens. Auf amerikanischer Seite heißt das, mehrere demokratisch geführte Regierungen in Folge müssen wider alle Vernunft darauf hoffen, dass Klimapolitik sich für sie auszahlt. Von den Europäern verlangt es strategische Geduld und die Bereitschaft, es auszubaden, wenn die Vereinigten Staaten sich regelmäßig, wenn auch unvermeidlich, zurückziehen.

Seit Beginn der globalen Klimadiplomatie in den 1990er Jahren haben die USA gelernt, welche Abkommen funktionieren und welche nicht. Was nicht funktioniert, sind verbindliche globale Vereinbarungen nach dem Muster des Kyoto-Protokolls. Ein internationaler Vertrag dieser Art hat im US-Senat schlicht keine Chance. Tatsächlich ist es aussichtslos, dort überhaupt einen verbindlichen Klimavertrag durchzubringen. Stattdessen müssen Vereinbarungen auf nationalen Verpflichtungen zur Dekarbonisierung basieren und im US-Fall ohne die finale Genehmigung durch eine Senat-Ratifizierung auskommen können. Das war das Geheimnis hinter dem erfolgreich verhandelten Pariser Klimaabkommen – es ist eine „Bottom-up“-Vereinbarung zwischen allen Ländern der Welt, nationale Klimapläne einzureichen. Es ging darum, ein gemeinsames Ziel zu bestimmen, ohne vorzugeben, überall würden dieselben Methoden funktionieren – oder auch nur, dass alle nationalen Regierungen bereit wären, sich gleichermaßen auf die Dekarbonisierung zu verpflichten. Länder können austreten, wie es die USA unter Trump taten. Aber sie können auch wieder eintreten und sich erneut verpflichten, das hat die Biden-Regierung gezeigt. Regelmäßige Berichte üben Druck auf alle Teilnehmer aus, ihre Ambitionen zunehmend zu steigern. Genau das wird in wenigen Tagen in Glasgow geschehen.

Emissionshandel als Lösung?

Ein Laissez-faire-Ansatz in diesem Sinne ist offensichtlich attraktiv. Er wirft aber zwei Fragen auf: Wenn es darum geht, ein Momentum nötigenfalls selbst auf Kosten der Stimmigkeit zu erzeugen – wie verhindert man dann, dass die sehr unterschiedlichen nationalen Pläne die Bemühungen der ambitioniertesten Länder untergraben? Wie kann also ein Land, das eine teure Dekarbonisierungspolitik betreibt, verhindern, von CO2-intensiven billigen Importen aus dem Rest der Welt untergraben zu werden? Das ist eine Frage der Fairness gegenüber der eigenen Wirtschaft. Aber für Europa und die USA geht es dabei längst nicht mehr bloß um Wettbewerb zwischen den Industrien, sondern um das gesamte Grundprinzip der Klimapolitik.

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Denn die Klimapolitik hat sich seit den 1990er Jahren grundlegend gewandelt. Europa und die USA tragen eine gewaltige historische Verantwortung für die Klimakrise. Wenn wir das Jahr 1715 als Ausgangspunkt nehmen, sind die Vereinigten Staaten kumulativ verantwortlich für 25 Prozent aller weltweiten Emissionen und die gegenwärtigen EU-Mitglieder plus Großbritannien für 22 Prozent.[6] Noch heute verbrauchen Europäer und Amerikaner weit mehr als ihren fairen Anteil am globalen CO2-Budget. Allerdings kommen EU und USA im Jahr 2021 gemeinsam auf weniger als ein Viertel der globalen Emissionen. Ob sie sich nun dekarbonisieren oder nicht, die Klimakrise wird weitergehen. Die Staaten des Westens sind reich und können mehr als die meisten anderen tun, um ihre Bevölkerung zu schützen. Aber wenn es um die Klimakrise selbst geht, halten sie ihr Schicksal nicht mehr in den eigenen Händen. Sie haben daher ein existenzielles Interesse daran, nicht nur selbst Klimapolitik zu betreiben, sondern auch Einfluss auf andere zu erlangen. Nur so können sie sicherstellen, dass die Welt jene Emissionsminderung erreicht, die für die Stabilisierung des Klimas entscheidend ist.

Die Lösung dafür besteht aus Sicht der meisten Ökonomen – darunter kritische Stimmen wie Joseph Stiglitz – in der CO2-Bepreisung. Werden die von den Emissionen verursachten Schäden richtig eingepreist, erhöht das die Kosten des Energieverbrauchs, drückt die Nachfrage und schafft Anreize für alternative Angebote. Es schafft zudem Märkte für Kapitalinvestitionen in saubere Energie, und damit die Grundlage für grüne Finanzinnovationen. Der Preis kann über Steuern erhoben werden oder über einen Emissionshandel mit festen Obergrenzen, bei dem die Umweltverschmutzer auf einem Markt für Emissionszertifikate konkurrieren müssen. Grenzsteuern für Importe aus Ländern, in denen das CO2 immer noch finanziell unterbewertet ist, verhindern, dass diese Maßnahmen unterlaufen werden und gestatten den führenden Klimaschützern eine strategische Einflussnahme. Ein großer Markt, der hohe Umweltmaßstäbe anlegt, setzt Standards für alle, die dorthin exportieren wollen.

Quelle        :        Blätter-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     — gros bateau

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Unten      ––          APL Post-Panamax Containerschiffe Bild-ID: line0534, Amerikas Küsten. Abholort: San Francisco.

Gemeinfreiheit
Dieses Bild ist gemeinfrei, da es Materialien enthält, die ursprünglich von der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administrationstammen und im Rahmen der offiziellen Pflichten eines Mitarbeiters aufgenommen oder hergestellt wurden.

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Eine Patente Lösung ?

Erstellt von Redaktion am 4. November 2021

CO2-arme Technologie

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Von Krisha Kops

Die herrschende Patentlogik setzt klimaschädliche Anreize. Mit einem neuen globalen Fonds könnten alle Staaten in CO2-arme Technologie investieren.

Egal welchen Farbanstrich die neue Koalition erhalten wird, Klimapolitik wird eines ihrer Hauptanliegen sein. Und selbst wenn der eine Koalitionspartner dabei mehr auf Technologien setzen wird als der andere, werden die Klimaziele nicht ohne die nötigen Innovationen eingehalten werden können. In Deutschland nicht. Auf der Welt nicht.

Während Deutschland sich wie der Rest der Europäischen Union erhofft, dass Unternehmen durch Verteilung eines schrumpfenden Kontingents an CO2-Zertifikaten „einen Anreiz erhalten, in klimafreundliche Techniken zu investieren“, wird ein gewaltiges Problem übersehen: die Patentlogik. Insbesondere global ist dies problematisch. Und was hinsichtlich der Klimapolitik ein globales Problem ist, ist letztlich auch ein deutsches.

Nehmen wir zum Beispiel indische Kohlekraftwerke. Als bereits sogenannte superkritische Technologien auf dem Markt waren, benutzte Indien noch immer die ineffizienteren subkritischen. Als dann der Standard auf die noch saubereren ultra-superkritischen Technologien angehoben wurde, hinkte Indien mit den superkritischen hinterher. Dies bedeutete nicht nur eine weniger effektive Produktion, sondern bis zu 30 Prozent mehr CO2-Ausstoß.

Der Grund dafür war, dass die weiterentwickelteren Grenztechnologien mit Tausenden Patenten geschützt waren. Im Jahr 2009 zahlte etwa der chinesische Kohlekraftwerksbauer Harbin Electric 1,5 Millionen Dollar an Lizenzgebühren für jeden Kessel, der mit der patentierten Technologie von Mitsui Babcock hergestellt wurde.

Statt diese Ausgaben mit der dadurch ermöglichten effektiveren Produktion gegenzurechnen, entscheiden sich viele Anlagenbetreiber wie in Indien für ältere Technologien. Dies führte zu zusätzlichen 1,5 Millionen Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr und Anlage – in etwa so viel, wie eine Million Pendler in NRW mit täglich 40 Kilometer Durchschnittsstrecke pro Jahr erzeugen.

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Die Problematik liegt also darin, dass die 20-Jahre-Patente zwar Anreize zu Forschung geben, die Verbreitung der darauf basierenden Technologien aber durch gewaltige Aufpreise behindern. Deshalb kommen die besten grünen Technologien besonders dort nicht zum Einsatz, wo die meisten Wachstumsemissionen in den nächsten Jahren erzeugt werden: in Entwicklungsländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Die größten Anstrengungen zur Emissionsreduzierung werden dagegen in Ländern mit hohem Einkommen unternommen. Länder, in denen die Steuern und Marktpreise für Emissionen am höchsten sind. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen?

Alle Patentrechte abzuschaffen, könnte insofern nachteilig sein, als damit auch die Forschungsanreize verschwänden. Vielmehr gilt es, die Anreize so zu setzen, dass neue grüne Technologien auch die ärmsten Gesellschaften erreichen und damit insgesamt zu mehr CO2-Einsparung, vielleicht sogar -Umwandlung führen. Ein Weg, dies zu erreichen, sind sogenannte Impact Funds, die beispielsweise auch im medizinischen Bereich vorgeschlagen werden.

Firmen, die ihre Technologien in einem entsprechenden Green Impact Fund for Technology (GIFT) anmelden, würden sich verpflichten, kostenlose Lizenzen für Herstellung, Verkauf und Nutzung anzubieten. Oder die Technologie zu (vielleicht auch unter) den variablen Kosten zu verkaufen.

Im Gegenzug würde man die Firmen an den jährlichen, für sechs Jahre geplanten Ausschüttungen des Funds beteiligen. Jede Jahresausschüttung würde unter den gemeldeten Erfindungen proportional zur mit ihnen jeweils im Vorjahr erzielten Emissionsminderung aufgeteilt.

Quelle         :          TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    This map shows the mean surface air temperature (2 meters above the surface) over the Arctic in January, from NCEP/NCAR Reanalysis data from 1968 to 1996.

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Unten     —   KW Neurath von Osten – 180208

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Klimagipfel COP26

Erstellt von Redaktion am 2. November 2021

Hoffen auf zwei Wunder

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Den politischen Kniefall vor den Lobbyisten wird auch der Papst nicht verhindern.

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Um die Menschheit abzusichern, müsste bei der Klimakonferenz von Glasgow ein Verhandlungswunder geschehen. Viele Regierungen aber scheinen weiterhin auf ein ganz anderes Wunder zu hoffen. Das ist ein böses Omen.

»Die Zeit für diplomatische Freundlichkeit ist vorüber. Wenn nicht alle Regierungen – insbesondere die der G20-Staaten – aufstehen und die Anstrengungen gegen die Klimakrise anführen, steht uns entsetzliches menschliches Leid bevor.«
Uno-Generalsekretär António Guterres am 27. Oktober 2021

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Unten     —       Christian Stöcker (2017)

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Eine Flucht nach vorn

Erstellt von Redaktion am 28. Oktober 2021

Wer will es hier verstehen – Internationale Klimapolitik

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Von Anna-Katharina Hornidge und Steffen Bauer

Die Erwartungen an die UN-Klimakonferenz sind hoch. Wie schafft es die Weltgemeinschaft, vor die Kaskade sich verstärkender Krisen zu kommen?

Sechs Jahre nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens im Jahr 2015 steigen die globalen Treibhausgasemissionen weiter an, allein im Jahr 2018 auf 55 Gigatonnen. Zwar stagnieren die Emissionen der OECD-Staaten inzwischen, sie bleiben aber pro Kopf weit höher als im Rest der Welt. Gleichzeitig steigen die Emissionen der Entwicklungs- und Schwellenländer weiter an, auf gegenwärtig bereits rund zwei Drittel der jährlichen globalen Treibhausgasemissionen. Ohne drastisches Gegensteuern laufen wir auf eine globale Erwärmung von mehr als 3 Grad zu. Damit gefährden wir Wohlstand und Entwicklungschancen weltweit, mit dramatischem Verlust von Biodiversität und Lebensräumen.

Wir stehen vor einer Zerreißprobe innerhalb und zwischen Gesellschaften, die nicht zuletzt Demokratie, Frieden und Menschenrechte gefährdet. Die Covid-19-Pandemie hat diese Risikokaskade weiter verstärkt. Zudem verzögert sie in vielen Ländern eine ambitionierte Klimapolitik.

Die UN-Klimakonferenz COP 26, die vom 31. Oktober bis zum 12. November im schottischen Glasgow tagt, soll Abhilfe schaffen. Sie muss zeigen, dass die internationale Klimapolitik handlungs- und funktionsfähig ist. Die Erwartungen an die britische COP-Präsidentschaft sind hoch. Es müssen in Glasgow Lösungen gefunden werden – insbesondere hinsichtlich der „Marktmechanismen“ wie dem internationalen Handel mit Emissionszertifikaten.

Covid-19-bedingte Hygiene- und Einreiseregeln sowie die damit verbundenen Extrakosten erschweren jedoch die Beteiligung vieler Vertreterinnen gerade aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Können diese vor Ort nicht angemessen ihre Interessen vertreten, wird eine Einigung in politischen Streitfragen kaum möglich sein.

Wie also schaffen wir es als Weltgemeinschaft, vor die Welle zu kommen, vor die Kaskade sich verstärkender Krisen? Wie kann eine Flucht nach vorn aussehen, die in allen Teilen der Welt als gerecht empfunden würde?

Die entsprechenden Leitlinien finden sich in der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für Nachhaltige Entwicklung und dem Pariser Klimaabkommen. Nachhaltige globale Entwicklung wird unerreichbar bleiben, wenn die globale Erwärmung 2 Grad überschreitet. Und während die Industrieländer als historische Hauptverursacher des Klimawandels hierfür unbestreitbar eine besondere Verantwortung tragen, sind die Hauptemittenten heute global gesehen die großen Schwellen- und Entwicklungsländer. Ihnen fällt die Rolle der zentralen Game Changer im Kampf gegen den Klimawandel zu. Um diese zu füllen, benötigen sie jedoch die entsprechende internationale Unterstützung. Die Covid-19-Wiederaufbauprogramme müssen eine global gerecht verteilte, auf Kohleemissionen verzichtende Modernisierung unserer Wirtschafts- und Sozialsysteme vorantreiben.

Die Covid-19-Finanzspritzen müssen für Dekarbonisierung in allen Wirtschaftsbereichen eingesetzt werden

Europa und insbesondere Deutschland fällt hierbei eine ressourcenstark und verlässlich indirekt führende Rolle zu, die es Vertragsstaaten aller Ländergruppen ermöglicht, ambitionierte nationale Klimaziele zu formulieren und umzusetzen. Im Zentrum steht dabei die Dekarbonisierung der Wirtschaftssysteme mit besonderem Fokus auf Energieerzeugung, Industrie, Land- und Forstwirtschaft, Wassernutzung und Fischerei, sowie der Ausbau sozialer Sicherungs- und Gesundheitssysteme für gesellschaftliche Akzeptanz und Krisentauglichkeit. Zudem müssen rasante Urbanisierungsprozesse insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika klimagerecht gestaltet, Ökosysteme, Demokratien, Frieden und Menschenrechte geschützt werden.

Die transformativen Hebel liegen in der Ausgestaltung des globalen Finanzsystems und in einer Regierungsführung, die Rechtssicherheit und Menschenrechte garantiert. „Sustainable finance“-Instrumente wie die CO2-Bepreisung oder der von der EU-Kommission vorgeschlagene Grenzausgleichsmechanismus CBAM müssen weiterentwickelt werden.

Quelle     :       TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   KW Neurath von Osten – 180208

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Unten     —       Logos internationaler Klimaschutzkonferenzen

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Ein Dorfgespräch

Erstellt von Redaktion am 28. Oktober 2021

Im Kuhdorf abgehängt

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Von Klaus Hillenbrand

Wenn gefühlte Wahrheiten ganz real sind: 99 Prozent aller Dorfbewohner auf dem Land haben keinen vernünftigen Zugang zum öffentlichen Personennahverkehr.

Landeier lieben ihren Golf, den sie jeden Samstag abschäumen, polieren, dabei die Motorwäsche nicht vergessen und stets auch daran denken, die silbern glänzenden Felgen abzutrocknen. Landeier fahren jeden, wirklich jeden Weg mit ihrem Kraftfahrzeug. Sie sind seit ihrer Schulzeit in keinen Bus mehr gestiegen und hassen Bahnhöfe, soweit ihnen überhaupt bekannt ist, was das ist. Sie haben wahlweise Benzin oder Diesel im Blut. Deshalb verpesten Landeier die Umwelt und beschleunigen den Klimawandel.

Die Wahrheit aber ist: Die allermeisten Dorfbewohner in Deutschland können gar nicht anders.

Diese Diagnose war bisher nur ein Gefühl, begründet durch ellenlanges Herumstehen an ländlichen Bushaltestellen und verzweifeltes Warten auf eine Regionalbahn. Nun ist dieses Gefühl wissenschaftlich untermauert. Eine Studie der Bahn-Tochter ioki kommt nun zu dem Schluss, dass rund 55 Millionen Menschen, also eine deutliche Mehrheit, vom öffentlichen Personennahverkehr mehr oder weniger abgehängt sind.

Dabei sind die Ausgangsbedingungen gar nicht so schlecht. Denn 93,5 Prozent aller in der Bundesrepublik lebenden Personen wohnen so, dass die nächste Haltestelle fußläufig entfernt liegt, was die Studie mit einer Entfernung von maximal 600 Metern definiert. Nur: Das dichte Netz an Haltestellen hilft nichts, wenn diese viel zu selten bedient werden. Als ausreichend betrachtet die Studie dabei eine Abfahrt pro Stunde zwischen 6 und 21 Uhr, also eine Verkehrsfrequenz, die Großstädter wohl als absolut unerträglich betrachten würden. Das Land aber bleibt davon weit entfernt: Mehr als ein Drittel der dort lebenden Menschen kann von so einer Grundversorgung nur träumen.

Aber auch wenn ein Bus tatsächlich fährt, heißt das noch lange nicht, dass man in einem erträglichen Zeitraum auch am gewünschten Zielort ankommt. Die Studienmacher haben beim Vergleich zwischen Pkw und öffentlichem Nahverkehr sehr freundlich gerechnet. Selbst wenn man mit Bus oder Bahn doppelt so lange unterwegs ist wie mit dem eigenen Wagen, die Fahrt sich aber insgesamt nur um maximal zehn Minuten verlängert, wird dies noch für „akzeptabel“ erklärt. Das Ergebnis bleibt dennoch vernichtend: „In dörflichen Räumen von ländlichen Regionen stehen für 99 Prozent der Personen keine akzeptablen ÖV-Verbindungen zur Verfügung, um die werktägliche Mobilität zu bewerkstelligen“, heißt es. Man möchte gar nicht wissen, wie es am Wochenende zugeht.

Quelle      :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Bushaltestelle in Laer

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E. Musk und sein roter Mars

Erstellt von Redaktion am 27. Oktober 2021

Kurs auf eine bessere Welt

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Den kleinsten Spinnern beanspruchten  schon immer die große Welt 

Ein Schlagloch von Mathias Greffrath

Der Science-Fiction-Roman „Red Mars“ beschreibt den Weg zum erstmaligen Sinken des CO2-Gehalts in der Atmosphäre. Das geht auch im echten Leben.

Im Jahr 2026 werden die ersten Kolonisten auf den Mars fliegen. So hat es sich der Science-Fiction-Romancier Kim Stanley Robinson vor achtundzwanzig Jahren ausgedacht, in seinem Roman „Red Mars“. Im wirklichen Leben wird 2026 die erste bemannte Rakete zum Mars starten. So will es jedenfalls Elon Musk, der im Jahr 2050 mit seiner Firma SpaceX die erste Stadt auf dem Roten Planeten bauen will – als Rettungsboot für eine verwüstete Erde. 2050 wiederum wird das Jahr sein, in dem zum ersten Mal die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre sinkt – jedenfalls in Kim Stanley Robinsons neuem Roman „Das Ministerium für die Zukunft“, der mir ein ebenso inspirierendes wie unruhiges Lesewochenende beschert hat.

Robinson skizziert in 108 Kapiteln, wie die Klimaziele von Paris erreicht, ja übertroffen werden könnten – aber auch, mit welchen Katastrophen wir auf dem Weg dahin zu rechnen haben, angefangen mit einer Hitzekatastrophe im Jahr 2025, in der auf einen Schlag zwanzig Millionen Inder sterben. Daraufhin streut die indische Regierung Schwefel in die Atmosphäre. Schließlich wird eine UN-Exekutivbehörde installiert, das „Ministerium für die Zukunft“, ausgestattet mit einem Mandat der Ungeborenen und sehr weitgehenden ­Vollmachten.

Mit Geo-Ingeneering, mit Geheimdiplomatie, dem Aufschwung von sozialen Bewegungen, vor allem mit einer neuen Weltwährung, deren Verrechnungseinheit die Kohlenstofftonnen sind, die nicht gefördert oder in die Erdkruste eingelagert werden („Carbon Quantitative Easing“), wendet sich das Blatt. Nach drei Jahrzehnten mit Klimakatastrophen, Ökoterrorismus und fehlschlagenden Experimenten beginnt 2050 der CO2-Gehalt der Atmosphäre zu sinken.

Es sei leicht, sagte Robinson in einem Interview mit dem Magazin Jacobin, sich die Regeln für eine andere, bessere Welt auszudenken; schwieriger schon, sich konkret den Weg aus unserer Misere hin zur neuen Ordnung vorzustellen. Diesen Versuch hat er unternommen. Und: alle Elemente seiner Anti-Dystopie existieren bereits: Drohnen, die Bäume säen, wo Menschen nicht hinkommen; Zentralbanker, die Milliardenkredite an Klimaschutz binden, Genossenschaften mit nachhaltiger Landwirtschaft. Vor allem aber wird das ganze Arrangement zusammengehalten durch ein auch emotional starkes Bekenntnis zur Herrschaft des Gesetzes. Robinson betrachtet das Pariser Abkommen als verpflichtendes Grundgesetz des 21. Jahrhunderts. Seine Heldin Mary Murphy sagt: „Am Ende läuft es alles auf Gesetzgebung hinaus, wenn es darum geht, eine neue Ordnung zu schaffen, die gerecht, nachhaltig und sicher ist.“ Gesetze, das soziale Werkzeug der Menschheit, so alt wie der Pflug. „Sonst haben wir nichts in der Hand.“

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Die Luftveränderung wirkt nach vielen Jahren

Am Ende läuft alles auf Gesetzgebung hinaus. Von heute bis 2050 sind es gerade mal sieben Legislaturperioden. Und gemessen an diesem monumentalen Roman kommen einem die Zielbestimmungen, die wir von den Koalitionsverhandlungen erwarten können, wie harmloses Aufwärmspiel für eine „Klimaregierung“ vor. Dabei liegt der Entwurf einer wirklichen Regierungserklärung vor. Am 9. Juni haben die Leopoldina und der „Rat für nachhaltige Entwicklung“ Angela Merkel ein 45-Seiten-Papier mit 14 Empfehlungen überreicht, einen großartigen strategischen Aufriss für den Übergang in ein neues Energiezeitalter gemäß den Zielen des Pariser Abkommens. Er berührt so ziemlich alle Dimensionen des Lebens in unserer Zivilisation: von einer globalen Rohstoffdiplomatie über die Umwälzung ganzer Industriezweige, die Lehrpläne an Schulen, die Digitalisierung des Alltags bis hin zu den Essgewohnheiten. Aber gelingen kann das nur, wenn es nicht allein von ökologischem, technischem und sozialem Enthusiasmus getrieben wird, sondern wenn aktive Bürger und Bürgerinnen mitmachen.

Quelle         :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben          —   SpaceX CEO and founder Elon Musk unveils the Dragon V2 during a ceremony for the new spacecraft inside SpaceX headquarters in Hawthorne, Calif. The spacecraft is designed to carry people into Earth’s orbit and was developed in partnership with NASA’s Commercial Crew Program under the Commercial Crew Integrated Capability agreement. SpaceX is one of NASA’s commercial partners working to develop a new generation of U.S. spacecraft and rockets capable of transporting humans to and from Earth’s orbit from American soil. Ultimately, NASA intends to use such commercial systems to fly U.S. astronauts to and from the International Space Station.

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Unten     —       <a href=“https://en.wikipedia.org/wiki/Elon_Musk“ rel=“noreferrer nofollow“>Elon Reeve Musk</a>, aka Elon Musk is the founder, CEO, CTO, and chief designer of SpaceX; early investor, CEO, and product architect of Tesla, Inc.; founder of The Boring Company; co-founder of Neuralink; and co-founder and initial co-chairman of OpenAI. Musk is one of the richest people in the world. This caricature of Elon Musk was adapted from a Creative Commons licensed photo from <a href=“https://www.flickr.com/photos/teslaclubbe/12270807823/„>Tesla Owners Club Belgium’s Flickr photostream</a>.

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Elektro – Fahrzeuge

Erstellt von Redaktion am 26. Oktober 2021

Die Ampel ist gut für Tesla

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Von Ferdinand Dudenhöffer

Rot-Grün-Gelb deutet auf eine Richtungsänderung: weg von Plug-In-Hybriden – hin zur staatlichen Subventionierung vollelektrischer Fahrzeuge.

Bei den Ampel-und den kommenden Koalitionsgesprächen wird auch über die Autoindustrie zwischen Grünen, FDP und SPD gesprochen. Mit dem Verzicht auf ein Tempolimit haben die Grünen wichtige Zugeständnisse gemacht. Auch deshalb könnten weniger populäre Subventionen schnell auf die Agenda kommen. Ausgemachtes Thema bei der FDP ist, mit Preis- und ordnungspolitischen Maßnahmen die CO2-Wende im Automarkt zu erreichen. Damit werden Subventionen, wie die heutigen staatlichen Umweltprämien beim Elektroautokauf von bis zu 6.000 Euro, diskutiert. Für eine schwarze Haushalts-Null kann man nicht beliebig weiter subventionieren.

Auf Gegenliebe bei den Grünen stößt dabei mit Sicherheit die Streichung der Umweltprämie für die wenig geliebten Plug-In-Hybride (PHEV). Eine gelb-grüne Streichung der PHEV-Subventionen macht weiter deutlich, dass das alte Merkel-Modell, einfach weiter und für jeden ein bisschen, nicht mehr Leitlinie ist. Die Streichung der PHEV-Umweltprämie ist zusätzlich ein Symbol, das der Bevölkerung nach all den Berichten zur Pseudo-Umweltverträglichkeit der Plug-Ins gut vermittelbar ist. Damit sollte auch in den SPD-Gesprächen das Ende der PHEV-Förderung nicht auf allzu große Gegenwehr stoßen.

Bei einer potenziellen Streichung handelt es sich nicht um „Peanuts“. So wurden nach unserer Schätzung knapp eine Milliarde Euro in den ersten neun Monaten des Jahres benötigt, um den Autokäufern den Erwerb von 241.064 Plug-In-Hybriden zu versüßen. Übers Gesamtjahr 2021 belastet die Plug-In-Prämie den Staatshaushalt mit deutlich mehr als einer Milliarde Euro.

Wer wäre nun Gewinner und Verlierer bei einer solchen Streichung? Auf Grundlage der Pkw-Verkäufe der ersten neun Monate des Jahres haben wir die PHEV-Anteile der einzelnen Herstellergruppen im deutschen Automarkt ermittelt. Der klassische PHEV-Anbieter im deutschen Automarkt ist Volvo. Bei 100 Volvo-Neuwagen sind 42 davon Plug-In-Hybride. Die kleine Schwester Pole­star hat die PHEV-Anteile bei der Gruppe Volvo-Pole­star leicht auf 40,1 Prozent gedrückt. An zweiter Stelle stehen die Japaner mit Mitsubishi mit 26,8 Prozent und Mercedes-Smart mit 24,6 Prozent PHEV-Anteil. Auch hier hilft die kleine Schwester Smart, den Anteil zu drücken. Zusammengefasst: Die deutschen Autobauer sowie Volvo, Mitsubishi, Jaguar Landrover profitieren überproportional von der Plug-In-Prämie. Ein Streichen der Prämie würde diese Autobauer stärker treffen, da die Fahrzeuge Preisvorteile verlieren. Damit gerät auch das Erreichen der CO2-Grenzwerte in Gefahr. Eine weitere teure Angelegenheit. Im Gegenzug müssten daher die vollelektrischen Autos stärker im Vertrieb angeschoben werden.

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Bleibt die Frage nach den Gewinnern, wenn PHEV-Modelle nicht mehr gefördert werden. Vollelektrische Fahrzeuge würden bei Wegfall der Prämien wettbewerbsfähiger. An den Daten für die ersten neun Monate im Markt Deutschland ist erkennbar, dass alle, die heute hohe vollelektrische Bauteile haben, ihre BEV-Verkäufe und damit auch ihre Gesamtverkäufe zusätzlich steigern können. Damit sind sie die Gewinner.

Die Ampel macht Tesla zum größten Sieger auf dem deutschen Automarkt und danach mit großem Abstand Hyundai-Kia, Renault-Dacia, Porsche, Nissan, VW und Mercedes-Smart. Auf der Verliererseite stehen Honda, der Stellantis-Konzern, Skoda, BMW-Mini, Mazda, Volvo-Polestar, Audi, Seat, Jaguar-Landrover, Ford und Toyota-Lexus.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —         Pickman Vehicles and a Site Solar Generator at their Soft Launch Zion National park. Model Names (Front to back): Passenger, XR, Classic, Site Solar Powered Generatorr

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In die Erdgasfalle

Erstellt von Redaktion am 26. Oktober 2021

Abhängig in die Krise

Von Maxence Peigné, Nico Schmidt 

Energie wird immer teurer. Schuld daran ist die Politik der EU. Kann Europa aus den Fehlern der Vergangenheit lernen?

Noch nie war Gas so teuer wie jetzt. Seit Anfang des Jahres hat sich der Großhandelspreis in Europa vervierfacht. Von Bari bis Berlin spüren das allmählich nun auch die Verbraucher – und das lange bevor der Winter beginnt. Denn mit Gas wird nicht nur geheizt, sondern auch Strom erzeugt. In Spanien ist in diesem Jahr der Strompreis bereits um ein Drittel gestiegen, in Italien wird er im kommenden Quartal um fast die Hälfte zulegen. Auch in Deutschland, da sind die Analysten sicher, werden die Preise bald kräftig anziehen. Hierzulande heizt jeder zweite Haushalt mit Gas.

Das sind nicht nur schlechte Nachrichten für Verbraucher, die steigenden Energiepreise könnten auch die Klimapolitik der EU bremsen. „Es besteht die Gefahr, dass steigende Energiepreise den Green Deal gefährden“, sagt die Energieexpertin des Brüsseler Thinktanks European Policy Centre, Annika Hedberg. „Die Menschen sind von Natur aus gegen Veränderungen, und einige Politiker werden versuchen, davon zu profitieren.“ Dabei würde eine klimaneutrale Wirtschaft viele Vorteile bieten – unter anderem niedrigere Energiepreise.

Ein Teil des momentanen Problems sind die Mechanismen des Strommarktes. Dessen Ziel ist es, stets den Bedarf des nächsten Tages zu decken. Die Kosten dafür richten sich nach der teuersten Anlage im Netz, die benötigt wird, um ein ausreichendes Stromangebot zu schaffen. Wenn die Energie ausschließlich mit Sonne und Wind erzeugt werde, würden die Kosten drastisch sinken. Sobald wenige teure fossile Brennstoffe wie beispielsweise Gas hinzukommen, würden die Kosten sofort sprungartig steigen. Dass sich selbst der mit der Klimaschutz steigende Strombedarf in Europa vollständig und kostengünstig mit erneuerbaren Energien decken lässt, konnte ein Team des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in einer Studie zeigen.

Hilfe gegen den Preisschock

„Wenn wir mehr in erneuerbare Energie investiert hätten, wären wir weniger vom Gas abhängig und könnten diese Krise leichter durchstehen“, sagt der Gasexperte des Thinktanks E3G, Raphael Hanoteaux. Kurzfristig sei es nun wichtig, den Leidtragenden der verfehlten EU-Politik zu helfen. „Wir müssen Menschen mit geringem Einkommen unterstützen, damit sie weniger unter der Energiekrise leiden“, sagt Hanoteaux. Mehrere EU-Staaten haben bereits damit begonnen. Die spanische Regierung kündigte jüngst an, die Gewinne von großen Energiekonzernen zu begrenzen. Die französische Regierung versprach ihren Bürgern, die Stromtarife einzufrieren, und in Italien will die Regierung die Haushalte mit drei Milliarden Euro unterstützen. Doch solche Nothilfen können den Preisschock nur vorübergehend lindern.

Ein Grund für den massiven Anstieg der Gaspreise sehen Experten auch in der Energiepolitik der Europäischen Union, die sich verpflichtet hat, die Pariser Klimaschutzziele einzuhalten, mit denen die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden soll. Die EU-Kommissarin für Energie, Kadri Simson verkündete unlängst: „Die Situation zeigt, dass wir unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen so schnell wie möglich beenden müssen.“ Doch lässt die EU den Worten keine Taten folgen. Stattdessen investiert die Union nach Recherchen des Journalistenteams Investigate Europe mehr als 100 Milliarden Euro in Erdgasprojekte. Das schafft neue Abhängigkeiten und könnte Europa in eine Erdgasfalle führen.

Ein Viertel des europäischen Energiebedarfs wird mit Gas gedeckt. Fast die Hälfte davon wird aus Russland geliefert, ein kleinerer Teil aus Norwegen, etwa 16 Prozent. Freimütig wirbt die Energie-Lobby für Gas als „klimafreundliche Brückentechnologie“, besonders verglichen mit Kohle.

Doch ob das Klima so geschützt werden kann, ist fraglich. Das Problem beginnt bereits bei der Förderung. Denn wie eine Reihe von Studien ergab, werden dabei große Mengen Methan freigesetzt, der Hauptbestandteil von Erdgas. Nach Angaben des Weltklimarates wirken Methanmoleküle als Treibhausgas 86-mal stärker als Kohlendioxid. Kürzlich gab nun auch die EU-Kommission zu, dass dies nicht mit ihrem Ziel vereinbar sei, die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu senken In einer Studie der Kommission heißt es, der Gasverbrauch müsse „auf einen Bruchteil des derzeitigen Niveaus“ reduziert werden, um die ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen.

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Wo neun Laien sich über einen Deal freuen bleibt der Verstand auf der Strecke

Auch die Energieexperten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kommen zu dem Ergebnis, Gas sei „nicht mehr Teil der Lösung“, sondern sei „Teil des Problems“. Die Energieökonomin des DIW, Claudia Kemfert, sagt: „Jede Investition in fossile Infrastruktur, dazu gehören Erdgaspipelines und Flüssiggasterminals, wird eine verlorene Investition sein.“ Doch die EU-Politiker verweigern sich dieser Erkenntnis. Sie unterstützen stattdessen Pläne, die vorsehen, dass europaweit weitere Flüssiggasterminals und Erdgaspipelines gebaut werden sollen.

Vor drei Wochen passierte die neue TEN-E-Verordnung das EU-Parlament. Hinter dem etwas sperrigen Namen verbirgt sich der Rahmen für das zentrale Planungsinstrument der europäischen Energiepolitik: die Liste der „Projects of Common Interest“ (PCI). Projekte, die in diesen Katalog aufgenommen werden, dürfen auf beschleunigte Genehmigungsverfahren und zusätzliche Fördermöglichkeiten hoffen.

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Oben     —       Sonde „Großburgwedel 5“ in der Nähe von Wettmar (Niedersachsen)

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Stadtgespräch Corona-Werte

Erstellt von Redaktion am 26. Oktober 2021

Wir brauchen die „Inzidenz“

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Von Gereon Asmuth

Die „7-Tage-Inzidenz“ wird zuletzt weniger beachtet als die Zahl der Hospitalisierungen. Dafür gibt es Gründe. Aber den Wert aufzugeben, wäre fatal.

Es war einmal ein Land mitten in Europa, da kannten sich die Menschen aus. Es war Pandemie, der Kontakt zu anderen war nicht mehr so easy wie früher, aber je­de:r in Deutschland kannte eine Richtschnur, einen Wert, den man morgens im Radio hörte oder im Internet sah: die 7-Tage-Inzidenz. Man wusste: Oh, über 35, langsam muss man sich wieder Sorgen machen. Hm, 50, jetzt wird es heikel. Über 100? Nun gehe ich wirklich nicht mehr ohne Maske vor die Tür. Vermeide Besuche bei Oma und Opa. Gehe am besten allen aus dem Weg.

So weit, so klar. Und das, obwohl gewiss nicht je­de:r genau erklären konnte, was es mit dieser Inzidenz auf sich hat; was diese soundsoviel Neuinfektionen pro Hunderttausend Ein­woh­ne­r:in­nen bedeuten: mathematisch, politisch oder ganz praktisch. Nach anderthalb Jahren Pandemie und drei hoch- und wieder runterschwappenden Wellen hatte man jedoch gelernt, sich nach diesem Wert zu richten. Werte geben Orientierung.

Dann kam die Impfung. Endlich. Aber sie hatte eine Nebenwirkung: Sie brachte die Werte ins Wanken.

Tatsächlich muss man sehen, dass eine Infektionsrate heute nicht mehr dasselbe bedeutet wie eine gleich hohe Inzidenzzahl noch vor einem Jahr. Denn dank der – leider immer noch unzureichenden – Impfungen erkranken deutlich weniger Infizierte an Covid-19, kommen weniger Erkrankte ins Krankenhaus und weniger Pa­ti­en­t:in­nen auf Intensivstationen. Streng ökonomisch heißt das: Deutschland kann sich mehr Infizierte leisten, ohne das Krankenhaussystem zu überlasten.

Die Zahl der Hospitalisierungen taugt als Warnwert wenig

Das ist erfreulich. Allerdings fehlt den Normalsterblichen ohne den Inzidenzwert die Orientierung beim Umgang mit dem weiterhin potenziell tödlichen Virus.

Insofern war es cool von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass er sich im Sommer auf die Suche nach einem neuen Messwert machte – und die ­sogenannte Hospitalisierungsrate auftat. Die zählt nicht mehr die Neuinfizierten, sondern die, die ins Krankenhaus müssen. Ein weiterer Unterschied: Für Hospitalisierungen gibt es keinen bundeseinheitlichen Schwellenwert, sondern Regelungen je nach Ausstattung der Kliniken in den Ländern. Sie ist zuden ein Wert unter mehreren, mit dem sich der Stand der Pandemie lokal sehr differenziert bewerten lässt. Man ist näher dran am Problem. Also alles gut? Leider nein.

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Denn die Hospitalisierungsrate schafft wiederum mehrere Probleme. Erstens: Weil Menschen sich erst infizieren und später ins Krankenhaus kommen, steigt – oder fällt – der Wert verglichen mit der Inzidenz der Neuinfektionen erst Tage später. Sie ist also ein Warnwert mit Verspätung. Zweitens: Wegen vieler Nachmeldungen wird die Rate regelmäßig um bis zu 100 Prozent nach oben korrigiert. Der Wert, den das Robert Koch-Institut also täglich durchgibt, ist meistens viel zu tief. Wie viele Co­ro­na­pa­ti­en­t:in­nen heute tatsächlich in den Kliniken liegen, weiß man erst in drei bis vier Wochen. Für einen Warnwert ist all das fatal.

Quelle     :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben    —        Mexican Beer: Corona 6-Pack

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Geschmeidige Nationalisten

Erstellt von Redaktion am 25. Oktober 2021

„Serbische Welt“ und Balkankonflikt

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Von Erich Rathfelder

Das Projekt Großserbien wurde nie aufgegeben und ist nun als „Serbische Welt“ wieder aufgetaucht. Die EU muss jetzt handeln, bevor es zu spät ist.

Dem Europaabgeordneten Michael Gahler (CDU) riss vergangene Woche im Europaparlament die Hutschnur. Das Gremium diskutierte die Lage auf dem Balkan, ohne den weitreichenden und gefährlichen Konflikt in Bosnien und Herzegowina auch nur zu erwähnen. Gahler hat sich zu Recht aufgeregt.

Durch die serbischen Drohungen ist ein Szenario entstanden, das an die Zeit vor dem letzten Krieg erinnert

Was hindert eigentlich die europäische und auch deutsche Öffentlichkeit daran, sich mit dieser Entwicklung auseinanderzusetzen, die in einen Krieg münden könnte? Mit der Drohung, den von Serben beherrschten Landesteil von Bosnien und Herzegowina abzutrennen, ist ein Szenario entstanden, das in vielem an die Zeit vor dem letzten Krieg von 1992 bis 1995 erinnert.

Das Vorhaben der bosnisch-serbischen Führung ist nach Meinung Gahlers „illegal“ und hebelt das Friedensabkommen von Dayton 1995 aus. Das hat zwar auch die serbischen Eroberungen und die Verbrechen der ethnischen Säuberungen während des Krieges legitimiert und der serbischen Seite 48 Prozent des Landes zugesprochen. Es hat aber auch die Existenz des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina in seinen historischen Grenzen bestätigt und mit der bis heute währenden Anwesenheit von (symbolischen) Kontingenten von Eufor- und Nato-Truppen garantiert.

Wer Milorad Dodik, den starken Mann der bosnischen Serben, als nicht ernst zu nehmenden Politiker oder gar Spinner ansieht, macht einen Fehler. Denn Dodik folgt einer langfristig angelegten Agenda des serbischen Nationalismus. Das Projekt Großserbien, das vor 30 Jahren den damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević beflügelte und das zum Ziel hatte, alle Gebiete des ehemaligen Jugoslawien, wo Serben leben, in einem Staat zusammenzufassen, scheiterte zwar. Es wurde jedoch nie aufgegeben und ist jetzt im neuen Gewand von „Srpski Svet“, der serbischen Welt, wieder aufgetaucht.

Gezielte Provokationen

Die vom serbischen Präsidenten Alexandar Vucić ausgerufene „serbische Welt“ umfasst die Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Kosovo. Und genau in diesen Gebieten werden nun gezielt Provokationen lanciert. So beispielsweise im Kosovo mit dem Aufmarsch serbischer Truppen an der Grenze, um die angeblich in Gefahr geratene serbische Minderheit zu schützen.

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Im Nato-Land Montenegro ist es gelungen, mit Hilfe der orthodoxen Kirche eine serbienfreundliche Regierung zu etablieren. Und in Bosnien und Herzegowina wird das Parlament der Republika Srpska diese Woche entscheiden, alle gemeinsamen Gesetze und Institutionen zu revidieren mit dem Ziel, die Republika Srpska zu einem unabhängigen Staat zu formen – der natürlich dann die Option offen hält, sich irgendwann mit Serbien zu vereinigen.

Man kann der serbischen Führung und den serbischen Nationalisten vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie nicht geschmeidig ihre langfristigen Ziele verfolgen und dabei die gesamtpolitische Lage in Europa und der Welt vor Augen haben. Bei Gegenwind weicht sie zurück, ohne jedoch ihre langfristigen Ziele aus dem Auge zu verlieren. Wenn aber die EU in einer Krise und der Westen insgesamt außenpolitisch fast handlungsunfähig ist, kann sie austesten, wie weit sie gehen kann.

Hilflose Aufrufe aus Brüssel, nicht die Serben, sondern die Kosovoalbaner sollten sich mäßigen, spielt ihnen in die Hände. Die EU-Mission in Bosnien und Herzegowina, die den Forderungen der serbischen und kroatischen Nationalisten immer wieder entgegenkam, ist in ihren Augen ein Weichei. Dass Angela Merkel und Ursula von der Leyen bei ihren kürzlichen Besuchen in der Region Serbien als stabilisierenden Faktor in der Region ansahen, gehört zu den großen Fehleinschätzungen von europäischer Seite. Es wiederholt sich die Appeasementpolitik Europas gegenüber Milošević von vor 30 Jahren.

Schwäche des Westens

Quelle       :        TAZ.-online          >>>>>         weiterlesen

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Die Kanzlerin der Pkws

Erstellt von Redaktion am 22. Oktober 2021

Angela Merkel  hinterlässt einen automobil-industriellen Komplex außer Kontrolle

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Vielleicht darum nur die Nr. 2 in Schland ?

Von Florian Haymann 

Gewiss weinen manche der Kanzlerin schon Tränen nach, obwohl sie noch gar nicht abgetreten ist. Dabei ist die ökonomische Bilanz ihrer Politik der vergangenen 16 Jahre verheerend. Sie besteht zu einem großen Teil aus liegengelassenen Chancen: Nicht nur wurden die falschen Wirtschaftszweige gefördert, sondern zugleich der Sparsamkeitsfetisch gepflegt. Das Ergebnis: Eine marode Infrastruktur, ein entkoppeltes Prekariat, eine bedrohte Mittelschicht und verfilzte Strukturen, die kaum noch auflösbar scheinen.

Dabei addieren sich falsch investierte (beispielsweise in schädliche Sackgassen-Technologien oder direkt an die Kapitaleigner umgeleitete) Summen und die Opportunitätskosten, also die Beträge, die stattdessen in zukunftsträchtige Industriezweige und Infrastruktur hätten investiert werden können um dort Gewinne zu erzeugen, zu einem Berg, der selbst Helmut Kohl als einen Kleingeist in Sachen Umverteilung dastehen lässt.

Der Raubbau an der Biosphäre und die Fixierung auf den Export, verbunden mit einem Austeritätsfetisch, sind die Kernelemente des deutschen Geschäftsmodells, das Merkel von ihren Vorgängern in Gestalt eines schüchternen Kindes übernahm und mit der ihr eigenen Mischung aus Ideenlosigkeit, Konsequenz und Indolenz zu einem präpotenten Volljährigen heranzog.

Ihre Anfänge als Umweltministerin unter Kohl und die Einsicht, die sie gelegentlich durchscheinen ließ („Wir sitzen alle in einem Boot“, 1995, bis hin zu „nicht ausreichend viel passiert“, 2021) geben nun, am Ende ihrer Kanzlerschaft, vielen Analysten Raum für Überlegungen zu Ideal und Wirklichkeit, politischen Handlungsspielräumen und kapitalistischen Zwängen. Zum Verständnis wird jedoch selbst die immer wieder angeführte Tatsache, dass Angela Merkel eine promovierte Naturwissenschaftlerin ist, nichts beitragen. Auch als gelernte Fleischereifachverkäuferin hätte sie nicht anders gehandelt. Ihr Tun erklärt sich allein aus ihrer CDU-Sozialisation und der damit verbundenen Verzahnung von Politik und Wirtschaft, wie ein Blick auf die Automobilwirtschaft leicht zeigt.

Die Automobilindustrie ist die größte Branche des verarbeitenden Gewerbes und damit der bedeutendste Industriezweig in Deutschland. So tragen es der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) und das Bundeswirtschaftsministerium vor sich her. 2007, im Jahr nach Angela Merkels Amtsantritt, betrug der Gesamtumsatz der Branche 332 Milliarden Euro. Bis 2019 steigerten die deutschen Automobilhersteller diesen Umsatz auf 436 Milliarden, also um 31 Prozent. Diese Zahlen mögen beeindruckend klingen, verlieren aber bereits etwas an Glanz, wenn man beachtet, dass 2019 weniger als ein Drittel der Autos in Deutschland produziert wurden, die Wertschöpfung hierzulande also wesentlich geringer ausfiel. Hinzu kommt, dass nur ein Bruchteil der Gewinne der großen Autofirmen – bei VW und Daimler waren das im ersten Halbjahr 2021 jeweils 11 Milliarden, bei BMW immerhin 8 Milliarden Euro – in Deutschland steuerlich veranlagt werden.

Die andere Seite dieses gewaltigen, aber mit gut 800.000 Beschäftigten gar nicht mal so riesigen Wirtschaftszweigs (allein die Kreativwirtschaft hat 1,1 Millionen, der Gesundheitsbereich über 7 Millionen Beschäftigte) sind seine immensen Kosten, die er nicht nur der bundesrepublikanischen Gesellschaft, sondern dem gesamten Planeten aufbürdet. Mit direkten und indirekten Subventionen erhält der Staat den Absatz und die starke Nutzung von Autos künstlich aufrecht, etwa durch die Pendlerpauschale, die steuerliche Begünstigung von Dienstwagen (Dienstwagenprivileg) und von Dieselkraftstoff (Dieselprivileg). An Letzterem hielt Merkel selbst nach der Aufdeckung der bis heute anhaltenden Stickoxid-Verschmutzung durch Dieselfahrzeuge aus deutscher Herstellung fest.

Milliarden aus dem Fenster werfen? Kita-Plätze statt Betreuungsgeld Aktion mit Sylvia Löhrmann, Cem Özdemir und Stefan Engstfeld.jpg

Auch für die Automobilindustrie !

Keines der vorgenannten Privilegien wurde unter Merkel eingeführt, aber wegen der beständigen Verteuerung der Firmenwagenflotten, dem höherem Realverbrauch und mehr gefahrenen Kilometern erhöhte sich diese Form der Subventionierung des Individualverkehrs kontinuierlich bis auf aktuell gut 30 Milliarden – pro Jahr. Dagegen fallen die direkten Förderungen, die für Forschung und Entwicklung selten mehr als 2 Milliarden im Jahr betragen und die Kosten für die Anschubprogramme 2009 („Umweltprämie“, 1,5 Milliarden) und ab 2020 (10.000 € je E-Auto) kaum ins Gewicht.

Der Schaden liegt im Bereich von Billionen

Horrend sind dagegen die gesellschaftlichen Kosten, die durch Unfälle, Abgase, Lärm und weitere Verschmutzungen verursacht werden. Der Dresdner Lehrstuhl für Verkehrsökologie bezifferte diese Kosten, in denen allein 10.000 jährliche Todesopfer enthalten sind, in einer Studie aus dem Jahr 2012 mit weiteren 56 Milliarden, kam also auf eine gesamtgesellschaftliche Subventionierung des Kraftfahrzeugsektors von mehr als 80 Milliarden jährlich. Teilt man dies durch die 800.000 Arbeitsplätze, dann kommt man zum Schluss, dass jeder einzelne davon die Gesellschaft gut 100.000 Euro kostet: an Subventionen, an Schäden und an Folgekosten. Ohne diese Form der Sozialisierung der Schäden wäre die Autoindustrie in ihrer jetzigen Form nicht gewinnbringend, ja nicht einmal kostendeckend zu betreiben.

Um auf die Opportunitätskosten zurückzukommen: Es ist das Eine, dass hier 430 Mrd. (weltweiter) Umsatz mit mindestens 88 Mrd. an wirtschaftlichen Einbußen bzw. Schaden (in Deutschland) erkauft werden — Jahr für Jahr. Ein immenser Fortschritt hätte bereits darin gelegen, auf Empfehlung des Umweltbundesamtes die eine oder andere dieser Subventionen zu streichen. Ein Anderes aber ist es, dass dieses Geld auch nicht an Branchen floss, die damit wesentlich produktiver umgegangen wären und zugleich weniger volkswirtschaftlichen Schaden, ja, womöglich sogar Nutzen, hervorgerufen hätten.

Nun könnte man sich überlegen, welche Folgen es hätte, wenn dieses Geld an Branchen flösse, die damit wesentlich produktiver umgingen und zugleich weniger volkswirtschaftlichen Schaden, ja, womöglich sogar Nutzen, hervorriefen Man stelle sich nur einmal eine Kanzlerin vor, die, statt 100.000 Jobs in der Windkraft zugrunde gehen zu lassen, diese mit den überfälligen Abgaben für Kerosin- und Dieselverbrauch (ca. 10 Milliarden jährlich) und die im Jahr ihres Amtsantrittes noch hoffnungsvolle Solarwirtschaft mit dem Geld unterstützt hätte, das Deutschland jährlich seinen Diesel- und Dienstwagenfahrern hinterherwirft (rund 10 Milliarden): Das Land hätte stark reduzierte Emissionen und zwei Anwärter auf exportstarke Produkte vorzuweisen gehabt.

A propos Export: Natürlich ziert es eine Volkswirtschaft, wenn sie viele hochwertige Produkte zu produzieren und exportieren imstande ist. Die vielzitierte Exportmeisterschaft Deutschlands hat jedoch ihre Schattenseite. Maurice Obstfeld, Chefökonom des IWF sieht darin „nicht unbedingt ein Zeichen von Stärke, sondern ein(en) Beleg heimischer Investitionsschwäche und einer Sparquote, die über das hinausgeht, was wirklich notwendig ist.“ Er bezieht sich hierbei auch auf die insgesamt schwache Lohnentwicklung, welche die Binnennachfrage in Deutschland in den letzten 20 Jahren quasi stagnieren ließ. Yannis Varoufakis macht auf ein weiteres Korrelat aufmerksam: „Ein Leistungsbilanzüberschuss von fast zehn Prozent des Volkseinkommens bedeutet, dass die Nation ihre Ersparnisse ins Ausland tragen muss, um dort in Defizitländern investiert zu werden.“ Eine Währungsunion wie die EU ist keine Einbahnstraße. Was des Einen Überschuss, ist des Anderen Defizit. Deshalb hat die EU-Kommission auch eine Obergrenze von 6% festgelegt, die Deutschland aber Apropos Export: Natürlich ziert es eine Volkswirtschaft, wenn sie viele hochwertige Produkte zu produzieren und exportieren imstande ist. Die vielzitierte Exportmeisterschaft Deutschlands hat jedoch auch eine gewaltige Schattenseite, zu der die insgesamt schwache Lohnentwicklung gehört, welche die Binnennachfrage in Deutschland in den letzten 20 Jahren quasi stagnieren ließ. Dazu kommt: Eine Währungsunion wie die EU ist keine Einbahnstraße, des Einen Überschuss ist stets auch des Anderen Defizit. Weshalb die EU-Kommission eine Obergrenze von 6 Prozent des BIP für die Leistungsbilanz festgelegt hat, die Deutschland aber beständig und schulterzuckend reißt.

Für Führerscheinlose  hat Scheuer jetzt den Merkel-Roller im Angebot ! Da kann jeder über die Lenkstange gucken. Alle für die Tier -e in Mann oder Frau

Die Fokussierung auf den Export in Verbindung mit unmäßiger Knauserigkeit hat bislang zwar kaum negative Auswirkungen auf die deutsche Konjunktur, dafür aber einen großen Anteil an der sogenannten Euro-Krise. Ganz konkret hingegen sind die Auswirkungen der unmäßigen Knauserigkeit auf das Leben in Deutschland: Selbst das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft beziffert den Schaden, der durch unterlassene Investitionen in Krankenhäuser, Schulen, Brücken und Schienen bis 2019 entstanden ist, auf 450 Milliarden. Und hier war das marode Alarmsystem, das den Ahrbewohnern zum Verhängnis wurde, noch nicht eingepreist!

Hinzu kommt ein unterfinanziertes, desolates Bildungssystem, das nicht nur im internationalen Vergleich schlecht dasteht, sondern zunehmend stark sozial selektiert, immer mehr Bildungsverlierer produziert und somit einen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet, der sich über Generationen erstrecken wird. Wie schnell hier der Billionen-Bereich erreicht ist, zeigt eine Studie des Ifo-Instituts, die bereits den Schaden der coronabedingten Schulschließungen auf 3,3 Billionen beziffert.

Quelle       :       Der Freitag         >>>>>        weiterlesen

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Oben          —      Der Audi A8 W12 der Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel mit dem Kennzeichen 0-2.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 19. Oktober 2021

Außenpolitik bei Sondierungen: Nicht oben auf der Agenda

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Durch die Woche mit Ulrich Gutmair

Özdemir und Nouripour sind bei den rot-grün-gelben Verhandlungen nicht dabei. Außenpolitische Programme spielen kaum eine Rolle.

Eine Woche der Sondierungen geht zu Ende. Anders als vor vier Jahren war von den Beteiligten wenig aus den Verhandlungen zu hören. Sie beließen es dabei, zu erklären, welche Themenbereiche Gegenstand der Gespräche waren oder sein werden. Vor den Mikrofonen und Kameras betonte man bloß, wie nah man sich schon – oder wie fern man sich noch – fühle.

Jetzt wird sich zeigen, ob die Verhandlungsteams einer möglichen „Fortschrittskoalition“, wie die Ampel sich jetzt nennt, weiter so deutschlandfixiert sein werden – oder ob nicht doch auch der eine oder die andere Ex­per­t:in für Außenpolitik mitverhandeln darf. Bis jetzt scheint Außenpolitik jedenfalls nicht oben auf der Agenda gestanden zu haben, sieht man sich allein die Zusammensetzung der Teams an.

Das Fehlen Cem Özdemirs im Team der Grünen wurde bis jetzt nur aus symbolpolitischen Gründen beklagt: Ein Mann mit türkischem Nachnamen, das wäre doch ein Zeichen. Das Problem liegt woanders. Özdemir verfügt über außenpolitische Expertise. Er weiß nicht nur, wovon er redet, wenn er etwa die Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten thematisiert. Er tut es auch. Will sagen: Er spricht von Dingen, die uns alle angehen. Schade, dass Cem Özdemir nicht bereits vier Jahre lang unser Außenminister war.

Immerhin hatten die Grünen ihn ins „erweiterte Sondierungsteam“ geschickt. Außenpolitiker Omid Nouripour wäre auch eine Bereicherung fürs Grünen-Team gewesen. Er hat der FAZ die Frage, ob Deutschland eine neue Außenpolitik brauche, vor einer Woche mit einem einfachen, klaren „Ja“ beantwortet. Um dieses „Ja“ zu formulieren, muss man kein außenpolitisches Genie sein.

Die Jahre der Trump-Regierung haben den Europäern gezeigt, dass sich der transatlantische Partner schnell in einen polternden Bully verwandeln kann, dem Europa herzlich egal ist. Auch Joe Bidens Maxime lautet „America first“, was angesichts des desolaten Zustands seines Landes mehr als verständlich ist, wo seit einer Woche über die katastrophalen Zustände auf der New Yorker Gefängnisinsel Rikers Island diskutiert wird.

Rikers Island als Symbol für das Versagen neoliberaler Politik

Märchenstunde auf Augenhöhe ?

Rikers Island ist ein Symbol für das Versagen neoliberaler Politik in den vergangenen Jahrzehnten, die das Verrotten von technischen und gesellschaftlichen Infrastrukturen zur Folge hatte. Die Außenpolitik Chinas ist unter Xi Jingping expansiver, aggressiver und autoritärer geworden. Währenddessen führt der alte Geheimdienstler Wladimir Putin längst einen neuen Kalten Krieg gegen die offenen Gesellschaften des Westens.

Ideologisch mit Konzepten wie der „traditionellen Familie“, praktisch-operativ mit Desinformationskampagnen in den sozialen Medien und über sein Propagandainstrument Russia Today.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben        —             Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Unten          —      Putin und Angela Merkel im sibirischen Tomsk (2006)

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Labiler Kapitalismus

Erstellt von Redaktion am 19. Oktober 2021

Die Globalisierung ist heute anders kaputt als früher

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Ziel o.k. . Ergebnis NULL – ZERO –  da sich jeder seine Rosinen herauspickt?

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Die Welt ist auf dem Weg zum Labil-Kapitalismus, einer zu leicht aus dem Takt zu bringenden Wirtschaftsordnung. Aber wirtschaftliche Stabilität ließe sich herbeiinvestieren.

Vor ein paar Tagen noch haben sich an britischen Tankstellen Leute um ein paar Tropfen Treibstoff geschlagen. Weil seit dem Brexit und durch den Brexit mehr als 100.000 Lkw-Fahrer fehlen, lagen über Wochen Tankstellen trocken. Inzwischen hilft das Militär aus. Konnte man sich köstlich drüber amüsieren, haben viele auch. Die Brexit-Briten kloppen sich um Benzin, haha. Aus historischer Sicht ist dabei kurz einer der Gründe aufgeblitzt, warum die Amerikaner ihre aggressive Öl-Politik des 20. Jahrhunderts betrieben: 300 Millionen Menschen, 400 Millionen private Waffen, Autofahrernation und dann andauernde Benzinknappheit – das wäre eine Bürgerkriegsgarantie gewesen.

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Oben     —   Säulenmodell

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Unten          —        Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.

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DDR minus Sozialismus

Erstellt von Redaktion am 15. Oktober 2021

Das Wachstum um des Wachstums willen

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Wer immer nur gehorcht, wird nie Selbständig denken.

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Gerinnen die zunehmenden Lieferengpässe und Versorgungslücken zu einer neuen Normalität in der spätkapitalistischen Dauerkrise?

Was braucht die am Rande des Klimakollaps taumelnde Welt am dringendsten? Mehr Kohle, selbstverständlich! Vor wenigen Tagen ordnete die Führung in Peking an, die Fördermengen der Kohleminen in der Volksrepublik rasch zu erhöhen, um den anhaltenden Stromausfällen und Energieengpässen zu begegnen.1 72 Kohleminen in der inneren Mongolei wurden von den lokalen Behörden angewiesen, ihre Produktion um rund 98 Millionen Tonnen zu erhöhen, was in etwa 30 Prozent der monatlichen Kohleproduktion Chinas entspricht. Die staatskapitalistische „Werkstatt der Welt“ ist der mit Abstand größte globale Kohleproduzent und -konsument,2 dessen halsbrecherische Wachstumsdynamik der vergangenen zwei Dekaden durch eine Verdreifachung des Kohleverbrauchs befeuert wurde.3

Neben dem geopolitischen Konflikt mit dem Kohleexporteur Australien,4 dessen Minen noch vor wenigen Jahren einen großen Teil ihrer Produktion in die Volksrepublik ausführten, sind es ausgerechnet die ersten zaghaften Maßnahmen Pekings zur Eindämmung der Klimakrise, die nun zu Produktions- und Stromausfällen in China beitragen. Im April kündigte die chinesische Regierung an,5 heuer den Kohleverbrauch auf 56 Prozent des gesamten Energieverbrauchs von knapp fünf Billionen Tonnen Kohleäquivalenten begrenzen zu wollen. Zudem mussten etliche Kohleminen in China die Produktion aufgrund höherer Sicherheitsstandards drosseln. Der Versuch Pekings, eine Entkopplung von Energieverbrauch und Kohleverfeuerung einzuleiten, musste somit vorerst abgebrochen werden.

Ohnehin baut die Volksrepublik weiterhin neue Kohlekraftwerke – die aktuellen Planungen sehen 43 Meiler vor, deren Betrieb den chinesischen CO2-Ausstoß um 1,5 Prozent ansteigen lassen dürfte.6 Dies ist kein Widerspruch zu den oben genannten Plänen, da Peking weiter von einem rasch ansteigenden Energiebedarf ausgeht. Bei schnell steigendem Energiekonsum kann der Anteil der Kohle sinken, wenn er langsamer wächst als der Gesamtverbrauch. Überdies überstieg die Stromnachfrage Chinas bereits im ersten Halbjahr 2021 das Niveau vor dem pandemiebedingten Einbruch 2020, sodass die strengeren staatlichen Emissionsauflagen zu Drosselungen des Stromverbrauchs führten.7

Es ist blanker Wahnsinn, die Kohleproduktion in der voll einsetzenden Klimakrise auszuweiten – doch die zunehmenden Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit ihrem fetischistischen Verwertungszwang lassen diesen Prozess der ökologischen Selbstzerstörung als einen ökonomisch folgerichtigen Sachzwang erscheinen. In China – wo die Staatspartei nicht, wie in den westlichen Demokratien, einfach unter Beibehaltung des Wirtschaftssystems abgewählt werden kann – ist dies besonders klar erkennbar: Die bisherigen Energieausfälle in rund 20 Provinzen der „Werkstatt der Welt“ führten zu Produktionsstilllegungen bei vielen energiehungrigen Betrieben, sodass die Wachstumsprognosen für dieses Jahr abgesenkt werden mussten. Die Stromknappheit würde demnach das diesjährige Wirtschaftswachstum – Ausdruck der Verwertungsbewegung des Kapitals – der Volksrepublik von 8,2 auf 7,8 Prozent reduzieren, hieß es in Prognosen von US-Banken.8 Ein hohes Wirtschaftswachstum bildet aber die ökonomische Basis der politischen Legitimität der Herrschaft der „Kommunistischen“ Partei Chinas. Wirtschaftseinbrüche samt Wohlstandverlusten kann sich die KP schlicht nicht leisten, will sie ihr Machtmonopol unangefochten erhalten.

Mit einem ähnlichen Dilemma sieht sich auch Indien – nach China der zweitgrößte Kohlekonsument der Welt – konfrontiert. Obwohl die Bewohner des indischen Subkontinents inzwischen lebensbedrohliche Hitzewellen erleiden müssen,9 kämpft das Schwellenland nun mit Versorgungsengpässen bei dem klimaschädlichen fossilen Energieträger.10 Stromausfälle bedrohen schlicht die wirtschaftliche Erholung des Landes, das rund 70 Prozent seiner Elektrizität aus der Kohleverstromung gewinnt. Will Indien weiter „wachsen“, Millionen von Lohnabhängigen der Kapitalverwertung zuführen, dann muss es mehr Kohle verfeuern – ansonsten drohen abermalige Pauperisierungsschübe.

Auch in Brasilien steigt die Marktnachfrage nach fossilen Brennstoffen. Hier ist es die voll einsetzende Klimakrise, die dazu führt, dass noch mehr fossile Energieträger verfeuert werden müssen.11 Die lang anhaltende Dürre in dem einstmals durch Regenwaldklima geprägten Schwellenland hat die Stromerzeugung aus Wasserkraft weitgehend lahmgelegt, weshalb Brasilien gezwungen ist, riesige Mengen an Erdgas aus den USA zu importieren. Die brasilianischen Importe würden überdies die Energiepreise in Europa ansteigen lassen, meldete Reuters schon im September,12 da die Exportkapazitäten der USA voll ausgelastet seien. Brasilien, wo Wasserkraft die wichtigste Energiequelle ist, befindet sich immer noch in einer schweren Wirtschaftskrise. Millionen Menschen leiden in dem vom Rechtsextremisten Bolsonaro regierten Schwellenland Hunger, sodass ein Ankurblung der Wirtschaft oberste Priorität genießt – auch wenn hierbei noch mehr CO2 in die Luft geblasen werden sollte.

Der Automatismus des als Kapital fungierenden Geldes, das durch Warenproduktion zu mehr Geld werden muss, ist blind gegenüber den Folgen seiner Verwertungsbewegung. In der sich derzeit abzeichnenden globalen Versorgungskrise scheinen somit die innere und äußere Schranke des Kapitals direkt in Wechselwirkung zu treten: Der Verwertungszwang des Kapitals, das mit zunehmender Produktivität immer mehr Energie und Rohstoffe verfeuern muss, um die Verwertungsbewegung abzuschließen, trifft auf die ökologischen und klimatischen Grenzen des Planeten Erde. Dem selbstzerstörerischen Verwertungsmotor des Kapitals, das ohnehin nur noch größtenteils auf Pump läuft, kommt langsam der „Brennstoff“ – sowohl hinsichtlich der Verwertung von Arbeitskraft, wie der Rohstoffverbrennung – abhanden.

Nirgends kommt diese dem kapitalistischen Weltsystem inhärente Irrationalität der Warenproduktion derzeit krasser zum Ausdruck als in China; in der „Volksrepublik“, die gerade aufgrund ihrer staatskapitalistischen Verfasstheit ein Modell künftiger autoritärer Krisenverwaltung darstellt. Der spekulative Bauboom im Reich der Mitte (mehr hierzu in der kommenden Konkret), der eine nun zu platzen drohende Immobilienblase gigantischen Ausmaßes fabrizierte, ging mit einem aberwitzigen Rohstoff- und Energieverbrauch einher.13

Binnen weniger Jahre verbrauchte Chinas Bausektor mehr Beton, als die USA im gesamten 20. Jahrhundert. Mit den 6,6 Gigatonnen, die zwischen 2011 und 2013 verbaut wurden, ließe sich ganz Hawaii zubetonieren. Was bleibt davon? Zu Spekulationszwecken billig errichtete Geisterstädte, deren Neubauten wenige Jahre nach ihrer Errichtung schon in Verfall übergehen. Wenn diese im Spekulationsfieber errichteten Immobilien tatsächlich zum Wohnen geeignet wären, könnten sie 90 Millionen Menschen (mehr als der gesamten Bevölkerung der BRD) Obdach gewähren.14 China überholt in dieser Hinsicht den Westen: Die Krisendynamik in der Volksrepublik absolviert faktisch im Zeitraffer dieselben Etappen, wie sie zuvor die USA durchstanden, nur auf einer noch höheren Stufenleiter. Der nun zur Reife gelangten Immobilienblase ging ja die chinesische Aktienmanie voraus, die 2015 in einem von der Politik mühsam eingedämmten Crash15 mündete. Eine ähnliche Abfolge von Aktiencrash (die 2000 geplatzte Dot-Com-Blase) und Immobilienspekulation durchliefen auch die USA und Westeuropa.

Das Wachstum um des Wachstums willen muss in einer endlichen Welt an Grenzen stoßen. Die Produktion für die Müllhalde und Abrissbirne, die Ausdruck der Verwertungsbewegung des Kapitals ist, scheint das gesamte spätkapitalistische Weltsystem in eine Ressourcenkrise zu stürzen – gerade weil die Billionen, die nach Pandemieausbruch zur Stabilisierung der globalen Schuldentürme aufgewendet wurden, ein konjunkturelles Strohfeuer zündeten,16 das nun an Lieferengpässen zu ersticken droht: In China oder Indien gehen buchstäblich die Lichter aus, in Brasilien müssen Energieträger importiert werden. In Europa hingegen äußern sich die zunehmenden Probleme, dem Verwertungsprozess neuen „Brennstoff“ zuzuführen, in explodierenden Preisen für fossile Energieträger.17

Letztendlich ist derzeit die kapitalistische Globalisierung bei zunehmender ökonomischer wie ökologischer Krisenintensität in ihrem Fortbestand bedroht, da sie selbst Ausdruck des historischen Krisenprozesses und der damit einhergehenden Globalisierung des systemischen Verschuldungszwangs ist, der zu Ausbildung der globalen Defizitkreisläufe – insbesondere des pazifischen Defizitkreislaufs zwischen den USA und China – in den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts führte. Ökologisch und logistisch betrachtet, ist es nackter Wahnsinn, einen Großteil der globalen Gebrauchsgüterproduktion unter ökologisch ruinösen Bedingungen zu fertigen und um den halben Globus zu karren.

Einen kapitalistischen Sinn hatte dies nur aufgrund der zunehmenden Krisenkonkurrenz und der damit verbundenen Auslagerung energie- und arbeitsintensiver Fertigungsschritte in Schwellenländer – zumal die damit einhergehenden ökologischen Folgekosten vom Profitkalkül des Kapitals nicht erfasst werden. Das Ganze „lohnte“ sich, solange die Schuldenblasen im Westen oder in China im Aufstieg begriffen waren, und solange die ökologischen Grenzen dieser globalen Verbrennungsbewegung des Kapitals nicht manifest wurden. In Schwellenländern wurden und werden Mensch und Natur unter Bedingungen ausgepresst, wie sie dem 19. Jahrhundert entsprungen sein könnten, um Waren für die sich immer weiter verschuldenden Zentren des Weltsystems zu produzieren. Die zunehmende innere Widerspruchsentfaltung des Kapitals brachte somit eine ökologisch ruinöse kapitalistische Globalisierung hervor, die äußerst anfällig ist für externe Schocks wie extreme Wetterereignisse oder Pandemien.

Der Fragilität dieses ökologischen Irrsinns, der sich im Rahmen der globalen kapitalistischen Defizitkreisläufe ökonomisch rentiert, materialisiert sich gerade vor der Westküste der Vereinigten Staaten, wo sich derzeit regelrechte Schiffsstaus bilden.18 Auf baldigen Verschleiß ausgelegte Waren, die unter enormem Energieaufwand mit Kohlestrom hergestellt und über den größten Ozean des Planeten befördert werden, können aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen derzeit nicht rechtzeitig entladen werden. Das US-Weihnachtsgeschäft ist in Gefahr, weshalb der Hafen von Los Angeles nun rund um die Uhr in Betrieb bleiben soll.19

Die derzeitigen Produktionsausfälle in einer Semiperipherie, in der die Klimakrise sich voll entfaltet, dürften somit den pandemiebedingt einsetzenden Mangel in den Zentren noch verstärken. Die globalen Produktions- und Lieferketten einer kapitalistischen Weltwirtschaft, die zum uferlosen Wachstum verdammt ist und daran buchstäblich zu ersticken droht, dürften den kommenden Erschütterungen, die ja auch ihren geopolitischen Fallout haben, kaum standhalten. Derzeit dient vor allem Großbritannien, das sich nach dem nationalistisch motivierten Brexit mit ernsthaften logistischen Problemen konfrontiert sieht, nachdem viele europäische Arbeitsmigranten die Insel verließen, als Lachnummer Europas.

Doch in Europas Zentrum sieht es nicht viel besser aus: Gerade die exportorientierte deutsche Wirtschaft spürt den neuen kapitalistischen Mangel, der früher gerne mit dem real existierenden Sozialismus assoziiert wurde, bereits überdeutlich. Bananen gibt es noch in der Bundesrepublik – bei Grafikkarten, Computerchips und elektronischen Komponenten für die Autoindustrie, die unter akutem Komponentenmangel leidet, sieht es schon anders aus.

Doch die Industrie klag zunehmend über Mangel bei allen möglichen Materialien und Vorprodukten in der maroden kapitalistischen Misswirtschaft.20 Es fehlt an Stahlblech, Holz, Pumpen, Ventilatoren, oder Hydraulikschläuchen. Bei Branchenumfragen im August gaben 70 Prozent der Maschinenbau-Unternehmen an, unter einer unzureichenden Versorgung mit Vorprodukten und Rohstoffen zu leiden, während es im April nur 40 Prozent gewesen sind. Inzwischen seien nahezu alle Betriebe betroffen, hieß es Anfang September. Besonders schwierig gestalte sich dabei die Versorgung mit Stahl und Elektronikkomponenten. Ähnlich angespannt ist die Versorgungslage im gesamten produzierenden Gewerbe – von der Autobranche bis zur Möbelindustrie. Auch hier klagten bei Umfragen 70 Prozent aller Unternehmen und Konzerne über ausbleibende Lieferungen an Rohstoffen, Ressourcen und Vorprodukten. Der Materialmangel hat bereits zur konjunkturellen Abkühlung in der Bundesrepublik beigetragen.

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Das automatische Subjekt der Wertverwertung kennt auf alle Probleme, die aus einer Akkumulationsbewegung resultieren, nur eine Antwort: Wachstum. Bürgerliche Ideologie besteht darin, diesen auf sich selbst rückgekoppelten, realabstrakten Verbrennungsprozess der konkreten Welt entsprechend der aktuellen Erfordernisse zu legitimieren: Etwa in der Gestalt eines „Grünen Kapitalismus“ und des Green New Deals samt der gerade in Deutschland massiv propagierten Elektromobilität. Doch auch die Wahnidee eines ökologischen Kapitalismus, der den uferlosen Verwertungsprozess des Kapitals klimaschonend – etwa in Gestalt der Elektromobilität – fortführen würde, blamiert sich gerade an dem Umstand, dass endloses Wachstum auf einem begrenzten Planeten nicht machbar ist. Unabhängig davon, dass die Produktion von Elektroautos mehr Energie verschlingt als diejenige von Benzinern,21 ist die Ressourcenfrage bei einer beständig wachsenden Massenproduktion, wie sie der Akkumulationsbewegung des Kapitals eigen ist, keinesfalls geklärt.

Es zeichnen sich bereits Lieferengpässe22 bei Lithium, Nickel, Kobalt, Kupfer und seltenen Erden ab.23 Es ist eine typische Milchmädchenrechnung, zu glauben, dass genug Rohstoffe für die Elektromobilität vorhanden seien, weil diese auf der Erde lokalisiert werden können. Die Rohstoffe müssen unter sehr hohem Kapitalaufwand und ungeheuren Umweltkosten gefördert und aufbereitet werden (Lithium), wobei viele der derzeit diskutierten Fördermethoden und Lagerstätten nur bei sehr hohen Preisen rentabel wären. Doch auch eine massive Ausweitung der Förderung kann die für den Verwertungsprozess des Kapitals notwendigen Fördermengen kaum liefern – Lithium, nach dem die Nachfrage in der deutschen Autoindustrie sich bis 2030 verzehnfachen soll, ist kein Rohöl.24 Bei Kupfer soll die Nachfrage der deutschen Autoindustrie im Zuge der Mobilitätswende um drei Millionen Tonnen steigen. Eine Preisexplosion ist somit zwangsläufig. Und irgendwer müsste diese fahrenden Sondermülldeponien, deren Recycling bald enorme Kosten verursachen wird,25 auch noch sich leisten und kaufen können, damit der Verwertungskreislauf des Kapitals auf dem Markt einen Abschluss findet.

Die Ähnlichkeit zwischen der Agonie des real existierenden Staatssozialismus osteuropäischer Prägung und der derzeitigen Krisenphase sind frappierend – inklusive der zunehmenden Rolle des Staates als Krisenmanager. Die BRD wandelt sich derzeit zu einer DDR, abzüglich der sozialen Errungenschaften der Sozialismus. Wie verwaltete der Staatssozialismus seine Mangelwirtschaft? Durch Rationierung, durch Warteschlangen am Konsum und Wartelisten von Jahren und Jahrzehnten auf langlebige Güter, bis hin zur Lebensmittelkartenausgabe in manifesten Krisenphasen (Polen, Rumänien der 80er Jahre).

Bei dem Krisenverlauf hören aber die Parallelen auf, da der im Wachstumszwang verfangene Spätkapitalismus diese Versorgungskrise nicht bis zu einer systemischen Implosion aussitzen kann. Als Krisenetappen zeichnen sich hingegen Stagflation, massenhafte Pauperisierung in den Zentren, Hunger in der Peripherie und ein anschließender globaler Nachfrageeinbruch an – bis das Marktgleichgewicht im Elend wieder hergestellt ist, oder die zunehmenden ökonomischen und ökologischen Verwerfungen in einem Großkrieg münden.

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1https://edition.cnn.com/2021/10/08/business/china-coal-power-shortage-climate-intl-hnk/index.html

2https://www.worldometers.info/coal/coal-production-by-country/#china

3https://www.statista.com/statistics/265491/chinese-coal-consumption-in-oil-equivalent/

4https://www.9news.com.au/national/china-media-warns-australia-more-trade-sanctions-tony-abbott-taiwan/bd61a209-aca6-4db8-8c57-46200fcf6c30

5https://www.spglobal.com/platts/en/market-insights/latest-news/coal/042621-china-set-to-cap-coal-consumption-boost-domestic-oil-amp-gas-output-in-2021

6https://time.com/6090732/china-coal-power-plants-emissions/

7https://www.handelsblatt.com/politik/international/energie-kohle-engpaesse-setzen-chinas-wirtschaft-unter-druck-buerger-fuerchten-heizprobleme/27664450.html?ticket=ST-10996104-L7BcIQnuKMYO1qK27VAs-ap1

8https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/china-stromausfaelle-laehmen-die-industrie-a-e8cc2873-279a-481c-90e9-5f2444cb2745

9https://www.aljazeera.com/news/2021/7/2/india-severe-heatwave-northern-states-delhi

10https://www.cnbc.com/2021/10/12/coal-shortage-india-could-soon-be-on-the-brink-of-a-power-crisis.html

11https://www.aljazeera.com/economy/2021/9/1/brazil-warns-of-energy-crisis-with-record-drought

12https://finance.yahoo.com/news/brazils-record-lng-imports-draw-040100548.html

13www.konicz.info

14https://www.ft.com/content/ea1b79bf-cbe3-41d9-91da-0a1ba692309f

15https://www.heise.de/tp/features/China-Der-namenlose-Aktiencrash-3374166.html

16https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

17https://finance.yahoo.com/news/energy-crisis-gripping-world-potentially-120310123.html

18https://www.nau.ch/news/amerika/mega-schiffstau-gefahrdet-us-weihnachtsgeschaft-66017971

19https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/wegen-lieferengpaessen-hafen-von-los-angeles-soll-24-stunden-am-tag-laufen-a-a14c1e02-ff7d-43af-a6a0-7e8124daeaa9

20https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/exporte-materialmangel-101.html

21https://www.heise.de/tp/features/Mogelpackung-Elektromobilitaet-5987309.html?seite=all

22https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/nickel-e-autos-batterien-nachfrage-mangel-101.html

23https://www.manager-magazin.de/unternehmen/autoindustrie/elektroauto-bei-batterien-und-rohstoffen-drohen-engpaesse-recycling-wird-nicht-ausreichen-a-56a6c93a-2e9e-4db0-9a11-7e968473ce55

24https://www.stern.de/digital/technik/lithiumkrise–experte-erklaert–wie-der-rohstoffmangel-die-energiewende-in-gefahr-bringt-30536626.html

25https://www.theguardian.com/environment/2021/aug/20/electric-car-batteries-what-happens-to-them

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Grafikquellen      :

Oben          —     Lawyers and judges protest boundless monitoring at PRISM debate in Germany

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2.) von Oben          —       Steinkohlentagebau, Kalgoorlie-BoulderWestern Australia

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Forschungs-Milliarden

Erstellt von Redaktion am 15. Oktober 2021

Wohin die Forschungs-Milliarden fließen

Milliarden aus dem Fenster werfen? Kita-Plätze statt Betreuungsgeld Aktion mit Sylvia Löhrmann, Cem Özdemir und Stefan Engstfeld.jpg

Sind nicht auch die Gelder für Partei-Stiftungen als Waschmaschinen zu werten?

Von Manfred Ronzheimer

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat ihren neuen „Förderatlas“ vorgelegt. Er zeigt, wohin die Fördergelder für die Wissenschaft gehen. Die Drittmittel aus der Wirtschaft gehen zurück.

Immer mehr öffentliche Mittel, den Steuerzahlern zuvor mehr oder weniger freundlich abgeknöpft, werden in die Forschung investiert. Wie die Finanzflüsse der Wissenschaft verlaufen und wo die Milliarden landen, das ermittelt alle drei Jahre die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in ihrem „Förderatlas“. In der neuen Auflage führt erneut München das Ranking der forschungsstärksten Universitäten an. Danach erhielt in den drei Jahren von 2017 bis 2019 – die Statistik endet vor dem Corona-Einbruch – die Ludwig-Maxi­mi­lians-Uni­ver­sität in München mit 369 Millionen Euro die größte Summe aller deutschen Wissenschaftseinrichtungen aus dem Fördertopf der DFG. Auf Platz zwei folgt die Schwester-Uni, die TU München, mit 346 Millionen Euro, vor der Uni Heidelberg (332) und der RWTH Aachen (313). Auf Platz fünf hat sich die TU Dresden vorgearbeitet (293), die beste ostdeutsche Hochschule im Ranking.

In den einzelnen Fächergruppen gab es dabei unterschiedliche „Sieger“. In den Geistes- und Sozialwissenschaften holte die FU Berlin mit 87,5 Millionen Euro in den Jahren 2017–19 die meisten DFG-Drittmittel ab, Bei den Lebenswissenschaften kam die LMU München mit 178 Millionen Euro auf Platz eins. Bei den Naturwissenschaften obsiegte die Uni Heidelberg mit 73,2 Millionen, während bei den Ingenieurwissenschaften der gleiche Rang der RWTH Aaachen mit 152 Millionen Euro zufiel. Man beachte: die besten Techniker bekamen doppelt so viel Förderung wie die besten Naturforscher.

Die DFG erfasst in ihrem Report die so genannten Drittmittel, die neben der Grundfinanzierung zu­sätzlich, meist in wettbewerblichen Verfahren oder nach Gutachter­prüfung eingeworben werden. Insgesamt erhielten die Hochschulen in Deutschland 2019 rund 23,7 Milliarden Euro an „Grundmitteln“ – in diesem Fall aus den Haushalten der Bundesländer als Träger der Hochschulen – und 8,7 Milliarden Euro „Drittmittel“ aus unterschiedlichen Quellen.

Die DFG war dabei weiterhin die größte Drittmittelgeberin mit 31,5 Prozent. Weiter gestiegen ist der Anteil des Bundes, der 2010 noch bei 22 Prozent gelegen hatte und inzwischen 29 Prozent erreicht. Aus der EU kamen 2019 rund 10 Prozent aller Drittmittel. Weiter gesunken sind die Drittmittel aus Industrie und Wirtschaft von 21 Prozent im Jahr 2010 auf nun 17 Prozent im Berichtsjahr 2019. Nach Aussage des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft hat dieser Rückgang damit zu tun, dass für die deutschen Unternehmen vermehrt ausländische Einrichtungen als Forschungspartner interessant werden. Als weiterer Grund für den Rückgang gilt die überbordende Antragsbürokratíe.

Beim Blick auf die Bundesländer, in die jene 9,5 Milliarden Euro flossen, die von der DFG in den Jahren 2017–2019 vergeben wurden, zeigen sich erneut die drei Gruppen, in die sich die deutsche Forschungslandschaft aufteilt. Den größten Posten erhielt mit 1,83 Milliarden Euro naturgemäß das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen, vor Baden-Württemberg (1,6 Milliarden) und Bayern (1,45). Diese drei Länder bilden quantitativ das „Oberhaus“ der deutschen Forschung. Berlin belegt im Gesamtranking den für einen Stadtstaat sehr günstigen Platz 4 mit 838 Millionen Euro, vor den Flächenländern Niedersachsen (790), Hessen (635) und Sachsen (600) – und bildet mit diesen die Mittelgruppe im deutschen Förderranking. In der Schlussgruppe mit den meisten Bundesländern liegen alle unter der 300-Millionen-Schwelle (Rheinland-Pfalz mit 303 Millionen Euro knapp oberhalb), Schlusslicht bleibt Mecklenburg-Vorpommern mit 98 Millionen Euro. Das ist nur ein Drittel von dem, was der arme Stadtstaat Bremen (201 Mio) an DFG-Förderung erlösen konnte.

Der DFG-Report hat diesmal eine Sonderauswertung für die ostdeutschen Bundesländer vorgenommen. Sie zeigt, dass es für die TU Dresden kontinuierlich aufwärts ging, von Platz 35 bei den DFG-Bewilligungen in 1997 auf Rang 5 im aktuellen Förderatlas von 2021. Bei der HU Berlin fällt die Achterbahnfahrt auf: Von Platz 29 in 1997 – das war damals der beste Platz einer ostdeutschen Uni – auf Platz 5 in 2005 und dann wieder runter auf Platz 11 im Bericht von 2021 – immerhin auch jetzt noch die zweitbeste ostdeutsche Uni. Als dritte folgt auf Rang 28 die Uni Leipzig, dicht vor der Uni Jena auf Platz 29. Das heißt, nur 4 Hochschulen haben es von den 16 ostdeutschen Hochschulen mit mehr als 1 Million Euro Drittmitteleinnahmen in den 30 Jahren aus dem „30-Prozent-Turm“ heraus geschafft.

Quelle       :          TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Aktion der Grünen gegen das Betreuungsgeld im NRW-Landtagswahlkampf 2012

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Phänomen – Antiusanismus

Erstellt von Redaktion am 14. Oktober 2021

Kontertext: –  Wie ein Begriff, der nichts bedeutet, Karriere machte.

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von Rudolf Walther / 

Nach dem politisch wie moralisch schäbigen Rückzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten aus dem «Krieg gegen den Terror» in Afghanistan kann man auch einen Begriff beerdigen, mit dem die Kritik am Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten sowie die Motive und Ziele der Kritiker hierzulande jahrelang diffamiert wurden: «Antiamerikanismus» . Der Begriff gehört zu den beständigsten Formeln im propagandistisch-ideologischen Nahkampf gegen Linke seit dem Kalten Krieg. Er hat aber auch eine Vorgeschichte, die bis zu den Konservativen in der Weimarer Republik und in die Nazizeit zurückreicht. Allerdings war zu keiner Zeit auch nur ansatzweise klar, was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist.

«Antiamerikanismus» ist ein Begriff, der nicht während des Kalten Krieges der 50er- und 60er-Jahre erfunden wurde, aber damals ans Schwungrad der  «westlich» kostümierten Propaganda gelangte. Was er bedeuten sollte, blieb im Nebel. Noch in den 90er-Jahren erklärte ein aufgeregter Autor während des Kosovo-Krieges die These, die indianische Urbevölkerung in Nordamerika sei fast ausgerottet worden, zum «alten Topos des Antiamerikanismus». Und in seinem argumentativen Delirium feierte er die Benennung von Kampfhubschraubern nach dem Stamm der Apachen als eine «gelungene» Form von Wiedergutmachung aus «Schuldbewusstsein gegenüber den Erschlagenen.» Dagegen konnten sich Überlebende nur mit dem Risiko wehren, ihre Selbstachtung aufzugeben, denn gegen Niedertracht verteidigt sich nicht, wer bei sich ist.

Wenn man der Geschichte des Begriffs «Antiamerikanismus» nachgeht, stösst man auf Ungereimtheiten und Peinlichkeiten. Das beginnt mit dem Elementarsten – mit der Definition dessen, was «Antiamerikanismus» bedeutet. Am einfachsten ziehen sich jene aus der Affäre, die eine Definition verweigern, indem sie auf die «Vielschichtigkeit» des Begriffs verweisen. Das ermunterte den Autor einer akademischen Qualifikationsarbeit dazu, auf 250 Seiten «die Entstehung des Antiamerikanismus» abzuhandeln, ohne einen Präzisierungsversuch zu unternehmen. Nicht einmal die Existenz des Phänomens hielt der Autor für gesichert. Er schrieb also  über etwas, was es vielleicht gar nicht gab oder in so vielen Varianten, dass letztlich jeder selbst bestimmte, was er «Antiamerikanismus» nannte. Ratlos räumte er ein: «Ich bin mir bewusst, dass eine strenge Definition des Phänomens Antiamerikanismus auf Schwierigkeiten stossen würde.»

«Antiamerikanismus» ist für ihn eine Geschmacksfrage, worauf auch die knappe Definition im OED («Oxford English Dictionary», 1989) hindeutet: «A spirit of hostility towards Americans» (etwa «eine feindselige Stimmung gegenüber Amerikanern»). Stimmungen gibt es etwa so viele wie Menschen und Augenblicke. Aber was hat es mit Feindseligkeit gegenüber Amerika und Amerikanern zu tun, wenn man – wie oben erwähnt – eine historische Tatsache wie die Ausrottung der indianischen Urbevölkerung erwähnt?

Lexikalisch sieht es schlecht aus für den Begriff «Antiamerikanismus»: Massgebliche Nachschlagewerke enthalten keinen Artikel «Antiamerikanismus» oder begnügen sich mit einem lapidaren Satz wie der OED  oder «Brockhaus. Die Enzyklopädie» (1996). Den Messdienern der politischen Leitartikel-Liturgien blieb so Gelegenheit  für Improvisationen. Wer in Europa seinerzeit das geplante TTIP-Abkommen ablehnte, huldigte für hiesige Kommentatoren dennoch dem «Antiamerikanismus», wie Majid Sattar in der FAZ vom 20.7.2016 und Eric Gujer in der NZZ vom 23.10.2015 unisono meinten.

Bundesarchiv B 145 Bild-F062762-0017, München, SPD-Parteitag, Lafontaine, Glotz.jpg

Ein etwas älteres Sprachspiel belebte einst Peter Glotz als Bundesgeschäftsführer der SPD in den 80er-Jahren. Seine These: Politik besteht auch darin, «Begriffe zu besetzen.» Fortan machten sich die Einpeitscher der Parteien daran, irgendeinen Begriff zu «besetzen» und je nach Gusto «die neue soziale Frage» oder «die alten Ungleichheiten» für sich zu reklamieren. So bekamen Linke die Schelle «Antiamerikaner» umgehängt. Da PR-Agenturen im Planen begriffsgestützter «Kampagnen» agiler operierten, kam man vom «Begriffebesetzen» bald wieder ab. Dazu trug eine Kampagne der CDU bei, die daneben ging. Mit dürftiger Rabulistik wollte Heiner Geissler in der Nach- bzw. Aufrüstungsdebatte der Öffentlichkeit weismachen, «Pazifisten» seien schuld an «Auschwitz», denn mit der militärischen Schwächung hätten sie den Aufstieg der Nazis begünstigt.

Das Rezept solcher winkeladvokatorischer Schläue ist simpel: Wer zu viel oder zu wenig isst, ist süchtig. Und daraus wird messerscharf syllogisiert, wer weder zu viel noch zu wenig esse, leide auch an einer «Sucht», nämlich an der nach Gesundheit. Mit solchen Kurzschlüssen bastelt man aus kosmopolitischen Demokraten im Handstreich «negative Nationalisten» und aus Pazifisten «negative Militaristen». Auch das Blödmann-Strategem «political correctness» funktioniert nach diesem Muster.

Ein zweites Sprachspiel: Für den deutschen Politikwissenschaftler Dan Diner etwa ist «Antiamerikanismus der projektive Anwurf an die USA, für die Übel aller Welt ursächlich zu sein». Wer behauptet derlei ausser etwa der rechte Reiseschriftsteller Leo L. Matthias, der Verschwörungstheoretiker Ulf Ulfkotte oder einige nur emotional daherredende Friedensschwärmer, denen die Differenz zwischen der Kritik an der  Politik der USA und an «Amerika»  entgangen ist? In den 50er- und 60er-Jahren bündelte Matthias seine abendländisch, religiös-katholisch, elitär-konservativ, frauenfeindlich und autoritätsgläubig imprägnierten Ressentiments – die alle schon in der konservativen Publizistik der Weimarer Republik aufgekommen waren  und von den Nazis übernommen wurden, zur affirmativ verstandenen Parole «Antiamerikanismus». Aber was hat derlei mit kritischer Analyse von US-Politik, mit seriöser Kritik an kulturellen, wirtschaftlichen, militärischen oder  politischen Orientierungen amerikanischer Eliten oder den  Optionen  aufgeklärter Pazifisten zu tun? War Nietzsche wegen kerniger Sätze über Amerika (« Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute eigentümliche Wildheit in der Art, wie Amerikaner nach Gold trachten») im gleichen Sinne ein «Antiamerikaner» wie deutschnationale und nationalsozialistische Propagandisten, die «Amerikanisierung» in den 20er-Jahren als «Verjudung» oder «Vernegerung» denunzierten?

Anhand von Büchern jüngerer Autoren wie Dan Diner («Verkehrte Welt», 1993 und «Das Jahrhundert verstehen», 1999)  kann man zeigen, wie der Propagandaformel «Antiamerikanismus» durch sozialpsychologische Spekulationen nachträglich beliebige Inhalte eingepflanzt und Motive untergeschoben werden können. Die gegen den Vietnamkrieg Protestierenden waren Diner zufolge «antiamerikanisch» orientiert. Im Nachhinein stellt er ihnen  die Ferndiagnose, «die in Vietnam erkannten Verbrechen» hätten sich in den Köpfen und Seelen (!) der studentischen Demonstranten Ende der 60er-Jahre «mit den von den eigenen Vätern» im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen verwoben. Das Argument läuft in zwei Richtungen: weil die Väter und Grossväter gegen die Nazis nichts unternommen hätten, wollten deren Kinder und Enkel den Makel «generationsverschoben» kompensieren. Die zweite Variante: Kinder und Enkel kämpfen wie Väter und Grossväter gegen «Amerika» – jetzt als verblendete Demonstranten, früher als von Hitler verführte Soldatenknechte. Diners Spekulation über den «generationsverschobenen» Protest funktioniert  wie eine Doppelmühle beim Brettspiel: Anti-Vietnam-Protest ist in jedem Fall «Antiamerikanismus» – entweder als Kompensation für das Nichtstun der Väter oder als Kopie des Handelns der Väter. So entsteht  apartes «Wissen», das auf fragwürdigen Konstruktionen wie der eines «kollektiven Unbewussten» beruht, das «generationsverschoben» agiert.

Ein finales Sprachspiel: Die  Springer-Autoren Richard Herzinger und Hannes Stein («Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler», 1995) wählten einen anderen Weg, um haltlose psychologische Spekulationen über zeitverschobene Motivations- und Mentalitätsstrukturen zu vermeiden. Die beiden Literaturwissenschaftler betrachten als «Antiamerikaner», wer «den Westen» kritisiert. Was «der Westen» ist, klären sie mit einem Vergleich: «Wie im Zentrum des jüdischen Monotheismus ein unnennbarer, körperloser und völlig abstrakter Gott steht,  […] so klafft auch im Innern der liberalen Demokratie eine Leerstelle. Niemand kann sagen, was den Kern des Westens ausmacht, denn er hat keinen Kern. Genau aus diesem Grund ist der westliche Lebensstil so universal tauglich.»

Ist «der Westen» schon einmal mit «Gott» ebenbürtig und gleichursprünglich, fällt der nächste Schritt leichter: Gott ist unfassbar und allmächtig. Auch der Westen ist unfassbar, aber noch nicht allmächtig, dafür hat er immerhin schon «verbindliche Werte». Diese sind freilich «nicht inhaltlich bestimmbar» – genau wie die Erwägungen Gottes. Um diese «westlichen Werte», die zwar keiner Analyse zugänglich sind, doch zu fassen, wagen die Autoren den Salto mortale aus dieser Welt in den unendlichen Raum ohne Gründe und Begründungen: Deshalb nennen sie die westlichen Werte schlicht «neutrale Werte».

Nun ist jeder denkbare Wert durch die Beziehung bestimmt, die zwischen einem Gegenstand und einem Massstab, den ein wertender Mensch anlegt, hergestellt wird. Ein «neutraler Wert» ist entweder kein Wert, weil diese wertende Beziehung gar nicht hergestellt wird, oder der «neutrale Wert» ist Unsinn, weil der Mensch eben wertet, auch wenn er etwas als «neutral» bezeichnet. In diesem Sinne ist Neutralität gar kein «neutraler Wert».

Bolivarian mural against Imperialism & United States.jpg

Der Begriff «Amerikanismus» hat seine Wurzeln in den revolutionären Ereignissen zwischen der Unabhängigkeitserklärung (1776) und dem Verfassungskonvent (1787). Die damals aus christlicher Spiritualität, Patriotismus, Common Sense  und politischem Pragmatismus entstandene «Ziviltheologie» (Jürgen Gebhardt) verdichtete sich zu «Geboten der Vernunft und reinem Amerikanismus», so Thomas Jefferson 1797. Diese Gebote zeichneten sich durch hohe Elastizität gegenüber wechselnden politisch-sozialen Umständen aus, was nicht verhinderte, dass «Amerikanismus» bald zum Ensemble granitener Vorurteile und Ressentiments versteinerte.

«Amerikanismus» wurde jedoch immer und überall gleichzeitig an den Pranger gestellt und bejubelt. Meistens formierte sich die Kritik am «Amerikanismus» in Europa auf konservativer, das Lob dagegen auf liberaler und linker Seite. Das gilt für die USA eher umgekehrt. Der tendenziell linke, schwarze Agitator Malcolm X fühlte sich als «Opfer des Amerikanismus», und auf der andern Seite weigerte sich das «Comittee on Un-American Activities» unter dem antikommunistischen Berufsamerikaner Joseph McCarthy zwischen 1950 und 1954 beharrlich, zu bestimmen, was «unamerikanisch» bzw. «amerikanisch» bedeutet. Fazit: «Antiamerikanismus» und «Amerikanismus» sind für analytische Zwecke, die weiter reichen als banale ideologische Zurechnungen im politischen Handgemenge, untauglich.

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Grafikquellen        :

Oben      —    Protester holding Adbuster’s Corporate American Flag at Bush’s 2nd inauguration, Washington DC.

2.) von Oben      —       For documentary purposes the German Federal Archive often retained the original image captions, which may be erroneous, biased, obsolete or politically extreme. SPD-Parteitag in der Olympiahalle in München

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Unten       ––         Bolivarian mural against Imperialism and the United States.

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„Uran und Mensch“

Erstellt von Redaktion am 14. Oktober 2021

Atom-PR-Doku „Uran und Mensch“

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Hannes Sies

Wenn in zwei Stunden Dokumentarfilm zur Atomtechnologie nur 45 Sekunden dem Kardinalproblem der Endlagerung atomaren Mülls gewidmet werden und die Anwendung dieses Mülls in Uranmunition gleich ganz weggelassen wird -dann wissen wir, hier wird weniger dokumentiert oder informiert als Propaganda betrieben.

Der dt.-frz. Sender ARTE will kein Staatssender sein, wie das verruchte RT von Russland. ARTE benimmt sich aber so und bringt Uran-Verherrlichung als Begleitpropaganda zur Atom-Offensive seines Präsidenten Macron. Macron hat just ein 30-Milliarden-Programm für neue AKWs made in France verkündet. Hinter den Kulissen fordert Macron Nato-Einsätze in der Sahelzone, was die USA noch ablehnen, die da ihre eigenen Pläne haben -irgendwas Geheimes mit CIA und IS vermutlich. Frankreich bekommt aus Nordafrika sein billiges Uran für die eigenen AKWs. Da kommt ein Uran-Werbefilm der Uran-Exportnation Australien auch nicht ungelegen. ARD, ARTE und ZDF haben ein Pro-Atom-Framing über die Hirne ihrer Zuschauer gelegt.

Australien: Uran-Verklärung dank Aborigines

Mystische Gesänge leiten die Doku ein, dazu der Satz: „Legenden nach gibt es eine Welt unter der unseren, eine Welt, in der ein Drache schläft.“ Dieser Drache, werden wir immer wieder erfahren, ist das Uran. Statt seriöser Information und politisch angemessener Kritik bieten uns ARTE und ZDF mystifizierenden Unsinn zum Thema in ihrer Bearbeitung einer Doku, die in Australien produziert wurde, wo die größten Uranvorkommen der Welt liegen. Das ganze wirkt wie ein Werbefilm für die australische Uranindustrie.

Dr.Derek Muller ist ein hübscher junger Physiker, der von der Atomkraft fasziniert ist. Er erzählt uns zwei Stunden lang begeistert vom Wundermetall Uran, das noch Anfang des 20.Jahrhundert nahezu unbekannt war. „Doch schon 40 Jahre später ist es das begehrteste und am meisten gefürchtete Metall auf Erden.“ Seine Miene sagt dazu: Wow! Was für eine tolle Sache!

Dieses eine Metall habe unsere gesamte Welt geformt. Im Ton eines marktschreierischen Enthusiasmus: „Uran verändert alles!“

Dann schockartiger Schnitt auf einen miesen alten Horrorfilm: Eine Frau kreischt, ein Riesententakel reißt ein Haus ein. Schnitt. Ein Atompilz. Propagandistisch untergeschobene Aussage: Warnungen vor Atomwaffen oder Atomkraftwerken -das kann nur billige Panikmache sein.

Derek Muller wird uns unermüdlich das Uran anpreisen, von seiner Entdeckung in der ekligen Pechblende an -so nannte man im Silberbergbau die schwarze Schicht mit wertlosem Uranerz, die man abräumen musste. Dort fanden Physiker, wie er, Derek Muller, dann radioaktives Leuchten und man glaubt zuerst beim Radium an wundersame Heilkraft. Marie Curie bekam als erste Frau dafür in Frankreich einen Doktortitel und später zwei Nobelpreise. Derek Muller selbst steigt fröhlich in ein immer noch betriebenes Heilbad aus Uranschlamm, seinen Geigerzähler hält er dabei hoch und beteuert, das alles sei harmlos wie nur was. Dann lustige Rückblicke auf Uran und Radium in Zahnpasta und Badesalzen der ahnungslosen Vergangenheit…

Desinformation statt Aufklärung: Uranmunition?

Lange muss man warten, bis die Atombombe erwähnt wird. Man musste sie in den USA bauen, weil Hitlers Deutschland sie sonst zuerst gehabt hätte. So die Befürchtung, die sich als falsch erwies. So bekam Japan die Bombe ab: Hiroshima und Nagasaki. Ein paar Bilder von Strahlenopfern trüben die Begeisterung von Derek Muller aber kaum. Wow! Welche gewaltige Bombe! Sie brachte 1945 den Frieden!

Uran-PR-Doktor Derek Muller rühmt das atomare Gleichgewicht des Schreckens, dass uns den Frieden gesichert habe, dabei vergisst er zwei Kritikpunkte: 1. Es war kein Frieden, sondern eine unablässige Kriegsführung, meist im Geheimen durch USA und CIA, wie man bei Daniele Ganser nachlesen kann. Der aktuelle offen erklärte „Krieg gegen den Terror“, den die Nato mit terroristischen Methoden führt, wird auch als Dritter Weltkrieg wahrgenommen -natürlich nicht im Westen, wo die Westmedien ihn als „Humanitärmissionen“ ausgeben. 2.Atomwaffen haben uns im 20.Jahrhundert dutzende Male an den Rand eines Atomkrieges gebracht. Meist hat die Öffentlichkeit davon nichts erfahren, wie z.B. hier: Der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Vietnamkrieg, General William C. Westmoreland, begann im Februar 1968 eigenmächtig mit der Vorbereitung eines Nukleareinsatzes in Vietnam. Sein Chef, Präsident Johnson, der nach dem höchstwahrscheinlich von der CIA ausgeführten Mord an Präsident Kennedy an die Macht kam (Kennedy wollte die CIA ausflösen), hatte aber Angst vor den Atomwaffen Chinas und pfiff Westmoreland zurück. Dies meldete die New York Times leider erst 50 Jahre später, nach Ende der Top-Secret-Einstufung dieser Information. Telepolis meldete dies 2018 anlässlich Atomwaffen-Drohungen, die US-Präsident Trump gegen Nordkorea ausstieß.

Vom derzeit durch die Nato weltweit verübten Einsatz von Uranmunition will Dr.Derek Muller nie gehört haben, von den womöglich Hundertausenden von Verseuchten, mit Strahlenkranken, Krebstoten und missgebildeten Kindern auf dem Balkan, in Irak und Afghanistan, in Syrien, Libyen, Somalia, wo die Nato-Staaten USA und Großbritannien die heimtückische Waffe großflächig einsetzten. ARTE-ZDF verblödet sein Publikum also mit einem Film über Uran ohne dessen derzeit verheerendstes Einsatzgebiet, das kriminelle Verschießen hochgiftiger Uranmunition durch die aggressivste Militärmacht unserer Zeit: Die Nato. Stattdessen einlullend säuselnde Naturmystik von Down under, dem Paradies der Uranabbau-Industrie.

Naturmystik -und der Atommüll? Ach, den recyclen wir!

Die Aborigines in Australien, die mit dem schlafenden Drachen vom Anfang, haben es auch schon gewusst: Vorsicht! Derek zeigt uns deren Höhlenmalereien von Strichmännchen mit knotigen Gliedern -wie bei Strahlenkrankheit. Dort sei es verflucht, glauben diese Native Australians. Einer von denen lehnte sogar ab, sein Land für 5 Milliarden schöne Australische Dollars an eine Uranfirma zu verkaufen, staunt Derek, der den alten Schwarzen Mann vor malerischer Naturkulisse interviewt. Von irgendwelchen Konflikten um Rassismus und Uranausbeutung hat Derek natürlich nie was gehört.

Da kommen selbst Sunnyboy Derek Bedenken und überhaupt Atom… war da nicht irgendwas mit Tschernobyl und Fukuchima? Nach viel Tralala und Wow!-Erlebnissen kommt erst im 2.Teil der Doku etwas weniger Tolles zur Sprache. Tschernobyl und Fukuchima waren tragische Desaster, sozialistischer Schlendrian hier (man zeigt ausgiebig Hammer-und-Sichel-Monumente zwischen den Ruinen) und Naturkatastrophe da: Erdbeben, Tsunami, wer konnte das denn ahnen!

Aber alles halb so schlimm: Nur ein paar Hotspots, da klickert der Geigerzähler, sonst misst Derek kaum mehr als die gute Naturstrahlung, die wir alle abkriegen. Ein paar olle Ukrainer und Japaner krauchen da sogar schon wieder durch die Sperrgebiete und fallen auch nicht gleich tot um.

Kurz vor Ende des zweiten Teils der Uran-Werbe-Doku kommen doch noch ein paar kritische Gedanken auf, nachdem AKWs, ihre tolle CO2-freie Technologie und unerschöpfliche Energie über den grünen Klee gelobt wurden.

„Könnte man es als grünes Kraftwerk bezeichnen? Nur wenn man ein sehr wichtiges Problem übersehen würde. Die meisten Atomkraftwerke verbrauchen nur etwa 5% des verwendeten Urans. Der Rest ist hochradioaktiver Abfall. Zur Zeit haben die USA etwa 72.000 Tonnen radioaktiven Abfall. Er wird meist in solchen Containern verstaut. Teile davon müssen für mindestens 100.000 Jahre eingelagert werden. Der Schutz dieser Abfälle obliegt einer Firma, einem Verwaltungsrat und den Anteilseignern, die sich für 100.000 Jahre verpflichten.“

45 Sekunden kritisches Denken über Atommüll, dann: „Doch was wäre, wenn man diese Abfälle wieder nutzbar machen könnte?“ Die Atomreaktoren der Zukunft könnten mit Atommüll die ganze Welt mit Energie versorgen, billiger als Kohle. Fukushima habe uns gezeigt, dass wir die Technik der Reaktoren verbessern müssen… Strahlengefahren? Kennt der Strahlemann der Uranindustrie eigentlich nicht, außer am Hotspot, den kann man ja meiden. Langzeitwirkung auch von niedrigen Dosen? Ach was, das verdaut der Körper schon. Das sei wie beim Vodka, erzählte ihm jemand in Tschernobyl: Eine Flasche auf ex bringt dich ins Koma, aber sie übers Jahr verteilt trinken ist ok.

Kritische Stimmen, wie man sie im Zusammenhang mit der Uranmunition hört? Auf dem Ohr ist der PR-Physikdoktor taub. Am Ende hält er seinen Radioaktivitätschip hoch, den er während der ganzen Doku trug: Ha! Kaum mehr zusätzliche Strahlung als an einem schönen Sonnentag in Australien! Dass dieser Chip nur Gamma-Strahlen misst und die Verseuchung auch Alpha- und Beta-Strahler betrifft, sagt er nicht. Damit sind Dr.Derek Muller, ZDF und ARTE ganz linientreu zu den USA und der von ihnen gesteuerten UNO (von der Derek auch eine Studie in die Kamera hält).

Die paranoiden Machteliten der USA sicherten ihre Kontrolle über medizinische Daten zu Strahlenschäden durch die IAEA (Internationale Atomenergiebehörde). Die IAEA sollte über eine Suborganisation namens ICRP verhindern, dass die eigentlich zuständige UNO-Gesundheitsbehörde WHO das Gebiet neutral untersucht. Bis heute gibt die ICRP (International Commission on Radiological Protection) Messmethoden vor, die leider so gehalten sind, dass Gesundheitsschäden durch langfristige Strahlenbelastung nur ungenau bestimmt werden können. Solche Belastungen fallen an bei Atomwaffen-Fallout, AKWs oder auch Uranmunition. Ein Glück für Atomindustrie und Militärs, die sonst Schadensersatzklagen fürchten müssten. Die undurchsichtig „sich selbst organisierende“ ICRP liefert also pseudowissenschaftliche Vorlagen für das bis heute andauernde Vertuschen der Krebs-Epidemie in Uranwaffen-Kriegsgebieten. Das alles berichtet der Uranmunition-Kritiker Frieder Wagner (S.143, 228), der, wie von mir in Buchkritiken beschrieben, mit dreckigen Tricks der Mainstream-Medien von einer desinformierten Öffentlichkeit ferngehalten wird. Deutschlandfunk und der ein kritisches Image pflegende WDR boykottieren Wagner seit er die Nato-Kriegspolitik als inhuman entlarvte -Ende Gelände für die angebliche Pressefreiheit, andere echte Journalisten können ein Lied davon singen, allen voran der in Folterhaft eingekerkerte Wikileaks-Gründer Julian Assange.

Die Atomtechnik verbessern? Zuerst müssen wir die Propaganda der Atomindustrie und ihrer willigen Büttel bei unseren Öffentlich-Rechtlichen Sendeanstalten richtig stellen. Sonst reden die uns erst die Krebsgefahr, dann den Strahlenmüll und schließlich noch den Atomkrieg schön.

Uran und Mensch -Ein gespaltenes Verhältnis

Teil 1 -Ein Metall wird zur Bombe,

Teil 2 -Ein Metall verändert die Welt,

ZDF & ARTE 2015 / Genepool Productions, Film Victoria & Screen Australia 2015

in der ARD-Mediathek

https://programm.ard.de/TV/arte/uran-und-mensch—ein-gespaltenes-verh-ltnis–1-2-/eid_287243275689861

Quellen

Kompa, Markus, Operation Kieferbruch: US-Militär wollte im Vietnamkrieg Nuklearwaffen einsetzen, telepolis 8.10.2018, https://www.heise.de/tp/news/Operation-Kieferbruch-4183260.html

Sies, Hannes, Frieder Wagner: Todesstaub made in USA – Uranmunition verseucht die Welt, Buchkritik, Scharf-links.de 6.10.2021 http://www.scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=78389&cHash=a990574f56

Sies, Hannes, Hinter einer Nebelwand aus Propaganda – Frieder Wagner: Todesstaub made in USA – Uranmunition verseucht die Welt, Buchkritik von Hannes Sies, Neue Rheinische Zeitung 10.10.2021, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27716

Wagner, Frieder, Todesstaub – made in USAPromedia Verlag, Wien 2019

Urheberecht
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Grafikquellen      :

Oben          —       Protestaktionen gegen die Endlagerung und Atommülltransporte im Wendland, D

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Die Plage von Oberndorf

Erstellt von Redaktion am 12. Oktober 2021

Blockade und Tribunal gegen Heckler & Koch in Oberndorf

File:Heckler & Koch Oberndorf 01.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Peter Nowak

Ca. 150 Menschen sassen am Freitagvormittag auf Stühlen vor dem Haupteingang des Rüstungskonzerns Heckler & Koch (H&K), das sich auf einer Anhöhe über Oberndorf am Neckar befindet.

Während man, wenn sich der Nebel lichtete, einen Blick über die idyllische Landschaft des Schwarzwald bekommen konnte, lauschten die Zuhörer*innen des von Antimilitarismusgruppen ausgerichteten Tribunals der Kriminalgeschichte der Rüstungskonzerne in Oberndorf.Sie prägen den Ort seit ca. 200 Jahren. So berichtet der langjährige Friedensaktivist Lothar Eberhard, dass in den Werken des Rüstungsfabrikanten Mauser während der NS-Zeit ca. 6000 Zwangsarbeiter*innen schuften mussten. Im früheren Lager des Reichsarbeitsdienstes haben ca. 2000 polnische Zwangsarbeiter*innen hinter Stacheldraht leben müssen. Etwa 380 Menschen sind in Oberndorf umgekommen, berichtet Eberhardt.1949 haben 3 Ingenieure von Mauser H& K gegründet, berichtet Cora Mohr. Zunächst lieferte der Konzern Waffen an die Bundeswehr, bald wurden sie zu Exportprodukten in alle Welt. Dass die Konzernverwaltung es dabei mit der Legalität nicht so genau nahmen, berichtete der langjährige H&K-Kritiker Jürgen Grässlin, der zum Tribunal zugeschaltet war.

Den Nachforschungen des langjährigen H&K-Kritikers ist es zu verdanken, dass der Konzern mittlerweile wegen Verstoss gegen das Waffenexportgesetz verurteilt wurde und einen Teil der Einnahmen zurückzahlen muss. Als eine Schande für die deutsche Justiz bezeichnete Grässlin den Umgang mit den Opfern von H&K-Waffen und ihren Angehörigen. Sie wurden sogar aus dem Saal gedrängt, als sie auf die Folgen des Einsatzes von Waffen in ihren Land reden wollten.

Auf das Tribunal dagegen wurden 2 Mitglieder der zapatistischen Delegation, die gerade verschiedene Länder besucht, mit grossen Applaus und internationalistischen Parolen empfangen. Sie berichteten wie mit Waffen von H&K gegen soziale Bewegungen vorgegangen wird. In ihrem Beitrag äussern die Zeug*innen ihr Unverständnis, dass deutsche Waffen in mexikanische Gebiete gelangen konnten, die dafür nicht vorgesehen waren.

Die Psychologin Felicitas Treue berichtete über die psychischen Folgen der Drohungen, die von Polizei, Militär aber auch von privaten Sicherheitsdiensten in Mexiko ausgeht. Sie erinnerte daran, dass besonders Frauen von der allgemeinen Kultur der Gewalt in Mexiko betroffen sind, was in der hohen Zahl der Femizide deutlich wird. Im Anschluss an das Tribunal formten sich die mittlerweile auf knapp 200 angewachsene Zahl der Antimilitarist*innen zu einem Demonstrationszug vom H&K-Werk in die Unterstadt von Oberndorf.

Dabei kam mehrmals zu kurzzeitigen Rangeleien mit der Polizei, die mit einem Grossaufgebot inklusive Hubschrauber, Räumpanzer und Pferden in Oberndorf aufmarschiert waren. Selbst ein grosser Teil der Einwohner*innen äusserte sich überrascht über die massive Polizeipräsenz. Im Vorfeld sorgten Meldungen über einen angeblichen Aufmarsch gewaltbereiter Linksradikaler in Oberndorf für Verunsicherung in der Bevölkerung.

Damit konnte auch die polizeiliche Repression gerechtfertigt werden. So berichtete ein für die Pressearbeit während des Aktionstags zuständiger Antimilitarist, dass die Polizei das Auto, in dem das Presseteam arbeitete, durchsucht habe. Sämtliche elektronische Geräte seien beschlagnahmt worden. Diese Mitteilung wurde mit lauten Puh-Rufen in Richtung der Polizei beantwortet.

FriedenGeht.jpg

Auch auf der Demonstration kam es mehrmals zu kleinen Rangeleien mit Aktivist*innen und der Polizei. Die Vorbereitungsgruppe zeigte sich in einer Pressemitteilung mit den Aktionstag zufrieden und erinnerte dabei auch an weitere Aktivitäten neben dem Tribunal.„Die vorangekündigten Blockade-Aktionen führten dazu, dass sowohl im Werk von H & k als auch im Nachbarwerk von Rheinmetall keine Produktion stattfand. Da die Firmen bereits im Vorfeld ihren Mitarbeiter:innen den Tag frei gaben, wurden am 08.10.2021 keinerlei Waffen in Oberndorf produziert oder geplant“, sagte die Bündnispressesprecherin.Sie sieht in dem Aktionstag in Oberndorf einen Erfolg der noch recht jungen antimilitaristischen Bewegung, die sich unter im Rheinmetall Entwaffnen-Bündnis bundesweit zusammengefunden hat. Unter dem Motto „Krieg beginnt hier“ konzentriert es sich darauf, deutsche Konzerne, die in an der Rüstung verdienen, zu markieren.

Nach zwei Aktionscamps im niedersächsischen Unterlüss, dem Sitz von Rheinmetall folgte ein Aktionstag in Kassel und in diesem Jahr die Aktion gegen H& K in Oberndorf. Im nächsten Jahr will sich das antimilitaristische Bündnis erneut auf Kassel, den Sitz verschiedener Rüstungskonzerne fokussieren. Die zeitgleich laufende Internationale Kunstausstellung Documenta mit internationaler Beteiligung könnte die Aufmerksamkeit vergrössern.

Die Plage von Oberndorf

Zumal der Widerstand gegen die Machenschaften von H & K und Co. auch ausserhalb der linken Bewegung wächst. Ein gutes Beispiel ist der Film La Praga (Die Plage) des brasilianischen Videokünstler Igor Vidor. Dort schneidet er Bilder von Schiessereien in den lateinamerikanischen Favelas mit Waffen von H&K in das Strassenbild von Oberndorf.

In den Film wird auch erklärt, dass die Waffen von H&K bei der Niederschlagung von Gefängnisaufständen, Streiks und sozialen Unruhen ebenso Anwendung finden, wie bei Schiessereien zwischen verschiedenen Gangstrukturen. Am Ende des Films steht der Ruf „Stoppt es“ und damit ist die Produktion von H& K stellvertretend für die Rüstungsexporte gemeint. Genau das war das Anliegen des Aktionstages am 8.10.

Grafikquellen          :

Oben     —    Heckler & Koch, Oberndorf-Lindenhof, Deutschland

Author            Aspiriniks    – /-        Source       -/-        Own work

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Unten        —         Demonstration of peace activists at Heckler&Koch’s headquarters, Oberndorf am Neckar, Germany

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Time for BREXIT

Erstellt von Redaktion am 7. Oktober 2021

Wenn Benzinkrise und Massenzwangsschlachtungen zu notwendigen Übeln der Politik werden

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Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Nur mit großer Verwunderung mag man sich an die Versprechungen von Boris Johnson 2016 erinnern, als er die Briten mit Wunschträumen von Wohlstand und Souveränität zum Austritt aus der EU aufrief. Nach fünf Jahren heftiger Diskussionen ist der Austritt eingetreten, die Versprechen aber haben sich in Schall und Rauch aufgelöst. Absolut nichts ist besser geworden, es sei denn man bewertet die Beschilderung der Fahrzeuge neuerdings mit UK als Fortschritt. GB (Großbritannien) ist nicht mehr.

Und jetzt behauptet Boris Johnson kühn, dass die aktuelle Benzinkrise und das bevorstehende Zwangsabschlahten von bis zu 120.000 Schweinen auf den Zuchtfarmen notwendige Ereignisse beim Übergang zur Post-Brexit-Zeit seien. Davon war vor dem BREXIT nichts zu hören und auch nicht davon, dass das alles eigentlich in der Verantwortung der Industrie läge, die nur auf Billiglohn setze. Das ist zwar richtig, aber insofern doppelzüngig, als die Regierung des UK eben diese Billiproduktion zur Ankurbelung des Exports gewollt und gefördert hat. Aber was kümmert Boris Johnson sein Geschwätz von gestern. Heute muss er sein Gesicht retten und einen anderen Schuldigen finden. Und mangels EU muss der wohl im eigenen Land sein. Oder vielleicht doch in der eigenen Politik? Eine Tory-Konferenz scheint da die richtige Bühne, um sich selbstgefällig reinzuwaschen. Jetzt auf einmal soll es die Aufgabe der Industrie und nicht der Minister sein, solche Probleme zu lösen. Die Frage, wer denn diese Probleme geschaffen hat, wird nicht mehr gestellt, hat man doch eine freie Marktwirtschaft. Geradezu schamlos behauptet Boris Johnson heute, dass sein Volk für das Ende der UK-Wirtschaft auf einer Basis von Billiglöhnen, geringer Qualifikation und niedriger Produktivität gestimmt hatte und dass man sich davon jetzt löse. Allen Ernstes führt er den LKW-Fahrermangel darauf zurück, dass dieser Beruf für Frauen nicht attraktiv genug sei, weil sie in kleinen Kabinen schlafen und in Gebüsche pinkeln müssen. Also sollen jetzt die auf der Insel lebenden Deutsche LKW-Fahrer werden. Welche Logik!? Welches Verständnis von freier Marktwirtschaft!?

In dieser prekären Situation allenthalben die Steuern zu erhöhen, scheint Boris Johnson aber normal und notwendig, um die Wirtschaft anzukurbeln. Welche Wirtschaft denn, wenn es überall an englische Fachkräften mangelt? Alle Sektoren jammern und jetzt auch noch der Finanzplatz London mit dem Abwandern essentieller Bankgeschäfte auf den Kontinent. Und jetzt auch noch der Pandora-Skandal, der London als Angelpunkt gigantischer Steuervermeidung weltweit indentifiziert. Wenn das alles notwendige Schlaglöcher auf dem Weg in die vielversprochene,bessere Zukunft des (noch) vereinigten Königreiches sind, kann man die Menschen dort nur bedauern, die das alles ertragen und mit ihren Steuern bezahlen müssen.

Urheberrecht
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Grafikquelle :

Oben      —    Not sure of the artist.

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Revolten der Hilflosen

Erstellt von Redaktion am 4. Oktober 2021

Massenunzufriedenheit, Revolten und Notstandsstaat

PEGIDA Demonstration Dresden 2015-03-23 16741539780 481a3dd066 o.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew Hamburg im Oktober 2021 Maulwurf/RS

  1. Prolog

Je länger die” Corona-Krise” dauert, je härter der Druck des Notstandsstaates wird, vor allem in der Impffrage, desto mehr nehmen die Konflikte zu. Wer bisher den ”Corona-Notstand” ignorieren konnte, kann es mit der Zeit immer weniger, denn mit der Länge und Tiefe der ”Corona-Krise” wird jeder gezwungen, Partei zu ergreifen, denn jeder wird immer tiefer in die ”Corona-Krise” hineingerissen.

  1. Konfrontationen

Gegenwärtig faßt sich konkret in der ”Impffrage” die Entwicklung des Klassenkampfes zusammen. Die ”Impffrage” ist konkret die Frage nach der Zwangsimpfung. Sollten die Impfziele zur ”Herdenimmunität” nicht erreicht werden, weil sich zu wenig Menschen freiwillig impfen lassen, wird mit der Zwangsimpfung gedroht. Die ”Impfpflicht” steht im Raum. Über die Impfpflicht rückt der Notstandsstaat den Massen immer näher. Eine ”Impfpflicht” ist nur der Einstieg in weitere Pflicht- bzw. Zwangsdienste. Die Diskussion um eine ”Impfpflicht” stellt einen Paradigmenwechsel dar. Es baut sich ein autoritärer Kapitalismus auf, welcher auch formal die Arbeiterklasse fester im Griff hat.

Im Neoliberalismus trat der bürgerliche Staat zurück und überließ dem Wertgesetz mit seiner strukturellen Gewalt das Feld. Außerökonomische Gewalt wurde nur zur Implementierung des neoliberalen Akkumulationsmodells benutzt oder bei größeren Revolten gegen den neoliberalen Kapitalismus. Wurden die proletarischen Widerstände gebrochen, zog sich der bürgerliche Staat wieder hinter die Linie der strukturellen Gewalt des Wertgesetzes zurück.

Der nationalliberale, autoritäre Kapitalismus des multipolaren Weltmarktes hingegen läßt die strukturelle Gewalt des Wertgesetzes nicht alleine, sondern unterstützt und ergänzt dauerhaft die Repression durch das Wertgesetz vermittels der außerökonomischen Gewalt des bürgerlichen Staates. Die Gewalt des bürgerlichen Staates sichert offener als im neoliberalen Kapitalismus die bürgerliche Klassenherrschaft.

Während im neoliberalen Kapitalismus die ”Freiheit” als ”Vertragsfreiheit” der zentrale Pfeiler der ideologischen Praxis war, ist es im nationalliberalen Kapitalismus des multipolaren Weltmarktes die ”Pflicht” im Dienste der ”nationalen Sicherheit”. Die erste Pflicht des Bürgers ist es, Ruhe und Ordnung zu halten. Damit tritt die individuelle Freiheit hinter der Pflicht zurück, tritt hinter der ”nationalen Sicherheit” zurück. Handlungen eines klassenhaften Subjekts werden nach dem Kriterium der ”nationalen Sicherheit” vom individuellen Kapitalkommando, wie vom ideellen Gesamtkapitalisten bewertet. Die Privatsphäre im nationalliberalen Kapitalismus des multipolaren Weltmarktes ist geringer als im neoliberalen Kapitalismus und damit auch die politische Freiheit. Es wird nicht nur das Arbeitsleben im Ausbeutungsprozeß des kapitalistischen Produktionsprozesses im Sinne der Akkumulation erfaßt, sondern auch das Privatleben, denn dies könnte ebenfalls eine Bedrohung für die Akkumulation von Kapital darstellen.

Der neoliberale Kapitalismus war das Produkt des Zusammenbruchs der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa. Das Akkumulationsregime des neoliberalen Kapitalismus bildete sich schon seit Mitte der siebziger Jahre als Resultat der historischen Krise des Kapitalismus seit 1974/1975 aus, konnte sich aber nur in den Jahren 1989/1990, nach dem Ende der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten, durchsetzen. Erst ab diesem Zeitpunkt wurde der Kapitalismus in neoliberaler Form ”alternativlos”. Die demokratische Konterrevolution in Osteuropa integrierte die vormaligen bürokratisch entarteten Arrbeiterstaaten nun als kapitalistische Staaten unmittelbar in den Weltmarkt und gleichzeitig entwickelte sich der bürokratisch entartete Arbeiterstaat China ebenfalls in Richtung Kapitalismus. Der US-Imperialismus schien die einzige Weltmacht zu sein, organisierte und garantierte die Akkumulation des Kapitalismus im neoliberalen Weltmarkt. Auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erschien diese historische Tendenz ideologisch in dem Satz, daß die nun erfolgte ”Globalisierung” des Kapitalismus unter Hegemonie des US-Imperialismus das ”Ende der Geschichte” sei. Alternativen zum Kapitalismus seien unmöglich und konkret: Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus sind ebenfalls nicht möglich. Eine individuelle und kollektive Gegenwehr gegen die kapitalistischen Zumutungen seien ab jetzt unmöglich. Man habe die kapitalistischen Bedingungen und Zumutungen zu akzeptieren und sich an diese anzupassen. Die Arbeiterbewegung wurde in die Defensive gedrängt und war für das Kapital keine Bedrohung mehr. Die Bourgeoisie rüstete nach innen und außen deutlich ab. Der geringe proletarische Widerstand stellte keine Gefahr mehr da und so wurden auch die vereinzelten proletarischen Widerstandsaktionen akzeptiert, denn sie gefährdeten nicht das kapitalistische System, modifizierten dieses nur. Der bürgerliche Staat zog sich hinter die Linie des Wertgesetzes zurück und kam nur noch dann hervor, wenn proletarische Widerstandshandlungen zu einer potentiellen Gefahr für das kapitalistische System wurden. In der Regel lief der proletarische Widerstand, welcher sich in einzelnen Punkten durchsetzen konnte, gesamtgesellschaftlich gegen eine unsichtbare Mauer. Es setzte eine breite gesamtgesellschaftliche Entsolidarisierung ein, welche an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als ”Individualisierung” erschien. Diese Spaltung der Lohnarbeiterklasse in vereinzelte Monaden gab dem Kapital freie Hand bei der Deregulierung der objektiven Klassenbeziehungen. Mit der Zerschlagung der kollektiven Rechte der Arbeiterklasse durch die Deregulierung der objektiven Klassenbeziehungen gewährte das Kapital gleichzeitig der Arbeiterklasse eine Ausdehnung der individuellen Rechte. Der Neoliberalismus tauscht kollektive Rechte in individuelle Rechte um. Diese Zerstörung der kollektiven Rechte ist im neoliberalen Kapitalismus der Preis für die Ausweitung der individuellen Rechte. Die Ausweitung der individuellen Rechte war ein Moment in der Deregulierung der objektiven Klassenbeziehungen, wurde als Waffe gegen die kollektiven Rechte der Arbeiterklasse eingesetzt.

Mit dem Beginn der Großen Krise in den Jahren 2007/2008 kam auch der neoliberale Kapitalismus zu seinem langsamen realen Ende. Der Zusammenbruch der Wallstreet im September 2008 beendete die vitale Phase des neoliberalen Kapitalismus, von nun verfiel er in Agonie und begann offen zu verfaulen. Die Akkumulationsdynamik des Kapitalismus fand ihren Schwerpunkt in Eurasien und es begann der Aufstieg des kapitalistischen China und des russischen Imperialismus. Damit gab es wieder eine Alternative, eine kapitalistische Alternative, zum US garantierten neoliberalen Weltmarkt. Die ”Corona-Krise” markiert nun auch das formale Ende des neoliberalen Kapitalismus und die Durchsetzung des multipolaren Weltmarktes. Der US-Imperialismus als hegemonialer Imperialismus geht als hegemonialer Imperialismus mit dem neoliberalen Kapitalismus unter. Nun gibt es keinen Hegemon mehr innerhalb der imperialistischen Kette. Dieser Hegemon muß im Rahmen eines Dritten Weltkrieges oder in einer Kette von imperialistischen Kriegen ausgekämpft werden. Eine massive Aufrüstung eines jeden kapitalistischen Nationalstaates nach innen und außen ist notwendig, wenn das jeweilige nationale Kapital sich im Weltmaßstab behaupten will. Es findet eine tendenzielle und autoritäre Re-Regulierung statt; die kollektiven Rechte der Arbeiterklasse, die der Neoliberalismus zerstörte, kommen nicht wieder zurück und nun werden auch die individuellen Rechte der einzelnen Lohnarbeiter zerstört. Das Kapital wendet sich verstärkt seit der ”Corona-Krise” vom Neoliberalismus ab und zum Nationalliberalismus hin und der Nationalliberalismus steht für die totale Entrechtung der Arbeiterklasse. Der Nationalliberalismus des multipolaren Weltmarktes tauscht eine kollektive soziale Mindestsicherung als ”soziale Sicherheit” gegen Gehorsam zum Schutz der ”nationalen Sicherheit”. Ein höheres Niveau an kollektiver sozialer Sicherheit, welches das soziale Mindestniveau übertrifft, wird vom Nationalliberalismus als Bedrohung der ” nationalen Sicherheit” gesehen und mit allen Mitteln repressiv bekämpft. Wer eine höhere soziale Sicherheit als die kollektive soziale Mindestsicherung erhalten möchte, kann dies nur individuell über den ”Markt” regeln. Im Nationalliberalismus agiert der bürgerliche Staat und das Wertgesetz auf der gleichen Linie, die strukturelle Gewalt und die außerökonomische Gewalt Hand in Hand gegen die Arbeiterklasse.

Mit der Entstehung von ”Alternativen” im Kapitalismus und auch potentiell zum Kapitalismus selbst, wächst wieder die Bedeutung der Repression des bürgerlichen Staates. Die Zeit der ”Freiheit” im Kapitalismus ist vorbei. Dafür kommt die Zeit des Schutzes der ”Nation”, die Zeit des ”Patriotismus” und des Gehorsams- ”Freiheit zur Förderung des Staatswohls”. Es ist das Ziel des Kapitals die Arbeiterklasse zum Verzicht zu zwingen, ihre gesellschaftlich notwendige Reproduktion drastisch zu abzusenken. Dabei steht die ”parlamentarisch-demokratische” Form des bürgerlichen Staates im Wege. Unter dieser Form bürgerlicher Klassenherrschaft kann die Arbeiterklasse im Kapitalismus Eroberungen machen und diese auch verteidigen. Das Kapital muß die Arbeiterklasse entrechten, um die proletarischen Eroberungen im Kapitalismus zu zerstören. Die Bourgeoisie greift dazu auf den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) zurück.

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Die Große Krise in ihrem neuerlichen Krisenschub, der ”Corona-Krise”, zwingt dem Kapital diese Entwicklung auf. Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate als durchschnittliche Bewegungsform der Akkumulation von Kapital und damit des Wertgesetzes kann modifiziert, aber nicht aufgehoben werden. Der neuerliche Krisenschub begann schon vor der ”Corona-Krise” im Herbst 2019 und die ”Corona-Krise” modifizierte nur die Entwertungstendenzen. Ein neoliberaler Weltmarkt ist nicht mehr zu halten, dieser bricht unter dem Gewicht der Überakkumulation von Kapital zusammen und es bildet sich naturwüchsig der multipolare Weltmarkt heraus. Das Kapital reagiert auf diesen konkreten Kriseneinbruch mit einer Neuzusammensetzung des Kapitals und damit auch mit einer Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und schlägt dazu eine Deflationspolitik ein. Eine radikale Deflationspolitik erfordert den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus). In diesen historischen Umbruchszeiten flüchtet die Bourgeoisie zu den Ausnahmeformen bürgerlicher Klassenherrschaft, hofft darin Halt und Sicherheit zu finden. Unter dem Schutz des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) formiert sich das Kapital neu. Ist die Neuzusammensetzung des Kapitals abgeschlossen, ist das Kapital wieder offener in Bezug auf die ”parlamentarisch-demokratische Form” bürgerlicher Klassenherrschaft.

Auch der US-Imperialismus ist von seinem „demokratischen Pfad“ abgekommen und weist aufgrund der sozialen und politischen Spaltungen, vor allem im Kapital und im bürgerlichen Staat selbst, eine verdeckte Militärdiktatur auf. Der Putschversuch vom 6. Januar mit der versuchten Stürmung des Parlaments zeigt offen die Spaltung des US-Kapitals auf. Das US-Militär und der militärisch-industrielle Komplex ist selbst gespalten. Ein Teil unterstützte Joseph Biden, der andere Teil Donald Trump. Erst während des Putschversuchs fiel im US-Militär die Entscheidung zugunsten von Joseph Biden. Somit wurde Joseph Biden nicht vom US-amerikanischen „Volk“ gewählt, sondern unmittelbar vom Kapital durch das US-Militär. Das US-Militär verselbständigt sich mit diesem Militärputsch als Reaktion des Putschversuch des Donald Trump als letzte Instanz über dem US-Präsidenten und nahm schon vorher ohne Erlaubnis des zivilen Staates geheime Kontakte mit China auf. Der US-Imperialismus ist auf das Niveau der Peripherie herabgesunken. Der gescheiterte Putschversuch am 6. Januar führte zu einem erfolgreichen Gegenputsch des Militärs und zur „Wahl“ des US-Präsidenten durch das US-Militär und dem militärisch-industriellen Komplex.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals ist eine historische Periode, d.h. sie kann sich gar unter Umständen jahrzehntelang hinziehen; sie ist keine technische Frage, sondern ein Ergebnis von Klassenkämpfen. Erst dann ist die Neuzusammensetzung des Kapitals abgeschlossen, wenn eine Metropole die derzeit vakante Position des Hegemons innerhalb der imperialistischen Kette eingenommen hat. Dieser neue Hegemon organisiert die imperialistische Kette und damit den Kapitalismus neu und etabliert ein neues Akkumulationsmodell, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, den Kapitalismus zu stürzen. Der Zusammenbruch eines chinesischen Immobilienkonzerns droht den chinesischen Immobilienmarkt zu sprengen, was weltweit eine tiefe Krise auslösen kann. Damit könnte sich die gegenwärtige Hegemonialkrise deutlich zuspitzen. Im September steht der Konzern kurz vor dem Zahlungsausfall und dies sendet Schockwellen durch alle Weltbörsen und bricht dann zusammen. Vor allem die ausländischen Investoren werden das Nachsehen haben. Ein möglicher Zahlungsausfall bringt dann deflationäre Tendenzen gegen die derzeitigen inflationären Tendenzen in Stellung. Die Politik des „leichten Geldes“ ist die materielle Basis für den verzweifelten Versuch, deflationäre Tendenzen abzuwehren und schafft damit die materielle Grundlage für Spekulationswellen. Die beschädigten Lieferketten und der zusammenbrechende neoliberale Weltmarkt mit seinem Protektionismus mit seinen geopolitischen Implikationen vor allem in Ostasien gegen China lassen inflationäre Tendenzen aufwachsen und senken die Reallöhne, was dann wieder die deflationären Tendenzen fördert, es sei denn, die Gewerkschaften setzten einen Inflationsausgleich durch. Die Zentralbanken sind zwischen den inflationären und deflationären Tendenzen der Akkumulation eingeklemmt. Lassen sie die Zinsen weiterhin niedrig, befördert dies die Spekulation und damit die inflationären Tendenzen oder sie lassen die Zinsen steigen, dann befördern sie deflationären Tendenzen vor allem durch das Platzen der Spekulationsblasen. Letztlich führen auch die inflationären Tendenzen in die Deflation, denn der Einbruch der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage durch die Reallohnverluste führt dazu, daß das Kapital nicht mehr die erhöhten Produktionskosten auf die gesamtgesellschaftliche Nachfrage überwälzen kann. Der drohende Zusammenbruch eines großen chinesischen Immobilienkonzerns könnte mit einer expansiven Geldpolitik aufgefangen werden. Dieses würde jedoch die inflationären Tendenzen weitertreiben. Eine Absenkung der inflationären Tendenzen verlangt nach einer Zinserhöhung. Dies jedoch gefährdet dann die Spekulationsblasen. Die Akkumulation des Kapitals ist derzeit sehr prekär und deshalb auch der Notstandsstaat in der Hinterhand, nicht wegen der SARS-Corona-Pandemie, sondern wegen den strukturellen Akkumulationsproblemen.

Der multipolare Weltmarkt ist ein Durchgangsstadium hin zu einem neuen Hegemon. Doch niemand kann vom gegenwärtigen Standpunkt aus konkret vorhersagen, wer der neue Hegemon der imperialistischen Kette sein wird, noch wie und wann der multipolare Weltmarkt endet. Das Ende des multipolaren Weltmarktes ist offen. Es kann nur gesagt werden, daß der US-Imperialismus seine Hegemonie verloren hat und damit bricht der neoliberale Weltmarkt notwendig zusammen und alle Metropolen, wie auch alle Staaten der Peripherie, sind gezwungen sich neu auszurichten und treten eine Flucht nach vorn an. Ein neues Akkumulationsmodell des Kapitalismus verlangt nach einem neuen Hegemon, der erst in der Arena eines Dritten Weltkrieges oder in einer Kette von imperialistischen Kriegen gekrönt wird. Der Krieg ist nur die Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln. Die höchste Form des Klassenkampfes ist die proletarische Weltrevolution; die zweithöchste Form des Klassenkampfes ist der Dritte Weltkrieg und somit ist der realisierte Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette und damit im Kapitalismus überhaupt, immer nur ein Produkt des Klassenkampfes. Damit ist auch ein neues Akkumulationsmodell des Kapitalismus ein Produkt des Klassenkampfes. Proletarische Weltrevolution als proletarische Offensive im Klassenkampf versus Dritter Weltkrieg als proletarische Defensive im Klassenkampf, als Abfallprodukt dieses konkreten Klassenkampfes kann eine neue Akkumulationsweise im Kapitalismus entstehen. Die Epoche des Zusammenbruchs des neoliberalen Kapitalismus schafft naturwüchsig als abstrakte Negation den multipolaren Kapitalismus. Doch eine konkrete innerkapitalistische Negation der abstrakten Negation steht noch aus und wird erst nach dem Ende einer historischen Epoche des Klassenkampfes feststehen. Der langsam zusammenbrechende neoliberale Kapitalismus ist nur der Anfang eines historischen Prozesses, dessen Ende und Ergebnis nicht vorweggenommen werden kann. Damit ist der multipolare Weltmarkt das Zwielicht zwischen dem untergehenden neoliberalen Kapitalismus und einer unbekannten und unbestimmten Zukunft, eine Fahrt ins Unbekannte und damit auch eine Fahrt in großer Gefahr. In der Differenz zwischen dem Vergehen und dem Werden liegen große Möglichkeiten, wie Gefahren, die Gefahr eines Dritten Weltkrieges, aber auch die Möglichkeit der proletarischen Weltrevolution. Aber eins ist derzeit sicher. Es sind gegenwärtig historische Zeiten, in denen die Zukunft entschieden wird. Und damit ist auch sicher, daß es ein Zurück zum Neoliberalismus nicht mehr geben wird. Es gibt nur ein vorwärts, wohin auch immer. Die ”alternativlosen Zeiten” sind vorbei. Nun existiert eine offene Situation.

In diesen historischen Zeiten zieht sich das Kapital in den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) zurück, sucht die volle Handlungsfreiheit. Das Diktum von Carl Schmitt; ”Souverän ist nur der, der über den Ausnahmezustand entscheidet”, gilt weiterhin. Die volle Handlungsfreiheit hat das Kapital nur im bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus). In einer ”parlamentarisch-demokratischen” Form bürgerlicher Klassenherrschaft geht die Bourgeoisie einen historischen Kompromiß mit der Arbeiterklasse ein und verliert tendenziell ihre Handlungsfreiheit. Die historische Mission des Reformismus in der imperialistischen Epoche des Kapitalismus ist es, über eine organisierte Klassenzusammenarbeit den Kapitalismus zu stabilisieren. Die Arbeiterklasse kann gewisse Eroberungen im Kapitalismus machen, d.h. individuelle und kollektive Rechte, individuelle und kollektive Freiheiten, erkämpfen und verteidigen, daß gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse ist ansteigend. Nur insoweit der organisierte Reformismus die Arbeiterklasse hinter sich hat, kann er Druck auf das Kapital ausüben und Reformen erkämpfen. Diese sozialen und politischen Reformen werden immer von der Arbeiterklasse erkämpft und niemals von der Bourgeoisie gewährt. Damit ist der Reformismus eine Agentur der Bourgeoisie in der Arbeiterklasse und muß sich gleichzeitig immer auf die Arbeiterklasse stützen, was zu einer kleinbürgerlichen Bewegungsform des Reformismus führt. Nur in der parlamentarisch-demokratischen Form bürgerlicher Klassenherrschaft kann sich der Reformismus entfalten. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ist der Tod des Reformismus. Im ”Corona-Notstand” ist der Reformismus noch deutlicher entmachtet, als im neoliberalen Kapitalismus. Im neoliberalen Kapitalismus führte der organisierte Reformismus noch eine Randexistenz; im multipolaren Kapitalismus muß er um seine formale Existenz kämpfen. Die offene Entmachtung des organisierten Reformismus, vor allem aber die offene Selbstentmachtung des organisierten Reformismus, zeigt die Defensive des organisierten Reformismus auf. Aus dieser Richtung hat die Bourgeoisie keinen organisierten Widerstand zu erwarten. Allein die formale Existenz des Notstandsstaats reicht aus, den Widerstand des organisierten Reformismus zu brechen. Der Corona-Notstandsstaat brauchte die Gewerkschaften nicht offen zu zerschlagen, sie unterwarfen sich durch die Kapitulation der Gewerkschaftsbürokratie im vorauseilenden Gehorsam und drohen auf diesem Wege als Arbeitsfront in den bürgerlichen Staat eingebaut zu werden.

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Das Kapital realisiert in der ”Corona-Krise” eine radikale Deflationspolitik und dies wird von der Gewerkschaftsbürokratie akzeptiert. Es findet ein größerer Arbeitsplatzabbau statt, als zu Beginn der Großen Krise 2008/2009. Gleichzeitig ist der Widerstand gegen diese Deflationspolitik heute geringer als in den Jahren 2008/2009. Jeder systematische Widerstand wird von Seiten der Gewerkschaftsbürokratie verhindert. Aus der Klasse ist es bisher nicht gelungen, sich gegen die Deflationspolitik systematisch zu organisieren und so den Widerstand von unten gegen Kapital und Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen. Bleiben die vereinzelten Abwehrkämpfe isoliert, ist die Niederlage unausweichlich. Unter dem Schutz des ”Corona-Notstandes” treibt das Kapital die Neuzusammensetzung des Kapitals und damit der Lohnarbeiterklasse zu Lasten der Lohnarbeiterklasse voran. Erst wenn die Neuzusammensetzung des Kapitals und damit die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse realisiert wurde, wird der Notstand für das Kapital überflüssig.

Unterstützt wird der ”Corona-Notstand” auch durch die weitgehende Zersplitterung des Parteiensystems im Parlament. Eine stabile Parlamentsmehrheit für eine Regierung wird immer prekärer. In diesem Fall hat ein parlamentarisch-demokratisches System für das Kapital keinen Nutzen mehr und der Griff zum Notstand ist für die Bourgeoisie geboten. Unter dem Notstand mit einem möglichen Notparlament versucht die Bourgeoisie die Krise einzugrenzen und längerfristig eine stabile Parlamentsmehrheit aufzubauen. Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, Neuzusammensetzung des Kapitals geht nur in historischen Brüchen vor sich und bedarf dann die Abstützung durch den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus).

Die Ware Arbeitskraft soll weiter verflüssigt werden. Dafür steht das Projekt des Kapitals ”Industrie 4.0”. Ohne eine weitere Verflüssigung der Ware Arbeitskraft kann die Produktivkraft der Arbeit nicht weiter angehoben und ohne eine qualitative Anhebung der Produktivkraft der Arbeit kann die Überakkumulation von Kapital in der Krise nicht durchbrochen werden. Das Kapital setzt auf KI (künstliche Intelligenz). Über die KI, materiell fixiert im Kapital fix, wird die Ware Arbeitskraft enger mit dem konstanten Kapital zusammengeschlossen. Das Fließband wird nicht abgeschafft, sondern potenziert sich. Über die KI werden die Arbeitsvorgaben gesteuert und auch kontrolliert. Das Ziel des Kapitals ist es, die Poren des Arbeitstages weiter zu schließen. Über die KI-Systeme versucht das Kapital die Aufgaben der Unteroffiziere des Kapitals in das vergegenständlichte Kapital zu legen, um die Distanz zur Kontrolle der Ware Arbeitskraft zu verkürzen. Dazu dienen auch Biosensoren, welche physische Daten aufzeichnen, aus denen das Kapitalkommando psychische Verhaltensweisen ”interpretiert”. Biosensoren funktionieren nach dem Prinzip des ”Lügendetektors” und ihre interpretierten Ergebnisse sind eher Magie als Wissenschaft. Um die Ware Arbeitskraft umfassend zu kontrollieren, wird versucht, die Lohnarbeiter dahin zu drängen, daß diese Biosensoren auch im Privatleben getragen werden. Die Überwachungsdaten erhält nicht nur das individuelle Kapitalkommando, sondern auch Dritte, die US-Internet Konzerne wie Microsoft oder Apple und gehen von dort an den imperialistischen US-Staat und auch gleichzeitig an den individuellen bürgerlichen und imperialistischen Staat. Im Kapital fix überschneidet und verdichtet sich die Überwachung und Kontrolle des Lohnarbeiters auf verschiedenen Ebenen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die gleichzeitige Überwachung verläuft arbeitsteilig. Das individuelle Kapitalkommando selektiert aus den Datensätzen nur die Datensätze, welche für den Fortgang des unmittelbaren Produktionsprozesses notwendig sind, der bürgerliche Staat selektiert die Datensätze, welche die ”nationale Sicherheit” garantieren. Beide Seiten erstellen ”Profile”, welche bei einem Austausch der Ergebnisse der Auswertungen geteilt werden. Deshalb versucht das Kapital nun die Arbeiterklasse per Gesetz zu zwingen, ihren Impfstatus dem Kapitalkommando öffentlich zu machen. Als nächstes würden andere Gesundheitsdaten folgen und dann weitere Daten, aus denen man schließen kann, ob jemand gewerkschaftlich organisiert ist oder nicht. Das Ziel ist die Zerstörung des Datenschutzes der Arbeiterklasse und gläserne Belegschaften. Es kommt so zu einem psychologischen, sozialen und politischen Gesamtprofil, welche die Grundlage für die offene oder verdeckte Sicherheitsüberprüfung ist. Die Sicherheitsüberprüfung zielt auf das Berufsverbot. Der Lohnarbeiter wird immer primär unter dem Aspekt der ”nationalen Sicherheit” erfaßt und damit als potentielles Sicherheitsrisiko. Wird der Lohnarbeiter als ”Sicherheitsrisiko” erfaßt, ist es die Aufgabe der Repression des bürgerlichen Staates dieses potentielle ”Sicherheitsrisiko” zu eliminieren. Denn jede als ”potentielles Sicherheitsrisiko” eingestufte Person stellt eine ”Gefahr” für die Bourgeoisie und damit für die bürgerliche Gesellschaft dar. Es wird eine Kategorie ”gefährlicher Personen” konstruiert. Wer nur ein wenig von der ”neuen Normalität”, welche die ”Corona-Krise“ und der ”Corona-Notstand” hervorbringen, abweicht, ist ein ”potentielles Sicherheitsrisiko” eine potentielle Gefahr für ”uns alle” und wird auch viele Grundrechte verlieren. Hier baut sich ein Feindrecht auf, welches weit über das Feindstrafrecht hinauswirkt. Wer von der ”neuen Normalität” abweicht, wird von der Bourgeoisie zum ”inneren Feind” erklärt und in der ersten Stufe der Repression gewisse Grundrechte auf Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft entzogen. Zeigt der ”innere Feind” keine Reue und keine Bereitschaft zur Umkehr, droht in der zweiten Stufe die Einweisung in eine totale Institution des bürgerlichen Staates, denn die Verweigerer der „neuen Normalität“ sind eine Gefahr für die (bürgerliche) Gesellschaft. Zuerst werden die Personen kriminalisiert und pathologisiert, welche mit kleinbürgerlicher Zielrichtung in ihren Anti-Corona-Protesten ihre Ablehnung und Kritik an dem ”Corona-Notstand” kundtun- sie sollen eine Gefahr für die ”Gesellschaft” sein. Ab dem Sommer dieses Jahres werden die zum Feind, welche eine SARS-Corona-Impfung mit den nicht regulär zugelassenen Impfstoffen ablehnen. Der ”Feind” wird immer weiter gefaßt und ein Ende ist noch nicht erreicht. Zuerst waren die kleinbürgerlichen ”Anti-Corona-Protestler” der Feind, nun alle, die sich nicht schnell genug impfen können bzw. wollen. Diese soziale Kategorie ist größer als die kleinbürgerlichen Demonstranten gegen den ”Corona-Notstand” und fällt auch nicht mit ihr zusammen. Doch der bürgerliche Staat wirft beide Kategorien zusammen und baut ein Feindbild des ”inneren Feindes” auf. Dies hat Methode und geht weiter. Dies ist nur der Anfang. Schritt für Schritt wird die Liste der Feinde ausgeweitet und das bisherige normale Verhalten wird als kriminell und schädlich erklärt, die bisherigen Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus werden zur ”Gefahrenquelle” erklärt und proletarisches Handeln, proletarische Politik, als ”Gefahr für die nationale Sicherheit”.

Nach der Niederlage des US-Imperialismus und seines NATO-Paktes im Afghanistan-Krieg wird sich die Politik der transatlantischen Metropolen in allen Bereichen radikalisieren. Im Afghanistan-Krieg verliert der US-Imperialismus auch formal seine Hegemonie. Um sich als führender Imperialismus zu behaupten, muß sich der US-Imperialismus neu organisieren und zwingt damit auch die gesamte imperialistische Kette in eine Phase der Neuformierung. Die transatlantischen Metropolen stehen mit dem Rücken zur Wand und beginnen wild um sich zu schlagen- nach außen und nach innen. Afghanistan als das zweite Vietnam und Kabul als das zweite Saigon werden die transatlantischen Metropolen zu einer Politik der ”nationalen Sicherheit” treiben. Diese transatlantische Niederlage läßt die relative transatlantische Einheit zerbrechen und jede Metropole wird seine ”nationale Sicherheit” nach innen und außen in eigene Hände nehmen müssen, während Rußland und China Zentralasien neu organisieren werden und auch tendenziell den Mittleren Osten. Die Niederlage auch des US-Imperialismus im Afghanistan-Krieg verstärkt die Tendenzen zum ”Corona-Notstand”. Der ” Corona-Notstand” radikalisiert sich mit der Niederlage im Afghanistan-Krieg. Nun wird erst recht die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse über die Neuzusammensetzung des Kapitals vorangetrieben. Die Niederlage im Afghanistan-Krieg forciert die Neuzusammensetzung des Kapitals. Das Kapital-Projekt ”Industrie 4.0” wird mit der Niederlage im Afghanistan-Krieg noch dringlicher und realisiert sich über den ”Corona-Notstand”.

Der NATO-Pakt fällt in die Agonie. Der US-Imperialismus gründet seine eigene Pazifik-NATO mit dem Kürzel AUKAS, gegen Rußland und China, aber auch gegen die EU. Im Kern ist die Pazifik-NATO angelsächsisch, d.h sie besteht formal aus den USA, Britannien, Australien und mehr oder minder verdeckt Neuseeland und Kanada. Im Pazifik sind derzeit der deutsche Imperialismus und der französische Imperialismus auf dem Abstellgleis; sie müssen sich neuformieren, gegen China und gegen das US-geführte AUKAS-Bündnis gleichzeitig. Der Abzug des US-Imperialismus aus Afghanistan mit einer totalen Niederlage führt nur zu einem Neuaufmarsch im Sinne eines imperialistischen Großkrieges gegen China und Rußland und setzt den deutschen Imperialismus unter Druck. Nur wenn der deutsche Imperialismus die harte Linie des US-Imperialismus unterstützt, wird der deutsche Imperialismus im Pazifik akzeptiert. Dann jedoch droht Ungemach aus China, welches für das deutsche Kapital ein zentraler Exportmarkt ist. Der Druck auf den deutschen Imperialismus zwischen dem US-Imperialismus und China zu wählen wächst. Weder kann der deutsche Imperialismus den Wegfall des US-Marktes verkraften, noch des chinesischen Marktes. Im schlimmsten Fall verliert der deutsche Imperialismus zwei zentrale Märkte gleichzeitig. Will er deutsche Imperialismus ernst genommen werden, muß er seine Macht auch im Pazifik entfalten. Auch ist die Existenz der Pazifik-NATO ein Produkt des Bruchs des britischen Imperialismus mit der EU und auch des Bruchs mit dem deutschen Imperialismus, ein Ausdruck von „Greater- Britain“. Das neue AUKAS-Bündnis ist ein Produkt der multipolaren Weltordnung. Die alten transatlantischen Loyalitäten gelten nicht mehr. Jetzt heißt es: Jeder gegen jeden, alle gegen alle.

Konkret sieht die restlose Erfassung der Arbeiterklasse wie folgt aus: Der Impfpass, worauf die Impfung gegen den SARS-Corona-Virus vermerkt ist, fungiert objektiv als Passierschein und ist ein erster Schritt in ein ”Sozialkreditsystem” wie es in China existiert. Die SARS-Corona-Pandemie dient als Vorwand für eine äußere und innere Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Arbeiterklasse. Das Kapital richtet sich nun nach der ”nationalen Sicherheit” aus. Die ”neue Normalität” des Kapitalismus ist die Normalität des Paradigmas der ”nationalen Sicherheit”, des ”Staatswohls”, der ”inneren und äußeren Sicherheit des Staates”, der ”Staatssicherheit”, des ”Staatsschutzes”. Jedes kollektive, wie auch individuelle, Verhalten wird an der ”Staatssicherheit” gemessen. Bisheriges normales Verhalten wird kriminalisiert, wird pathologisiert. Das bisherige normale Verhalten wird als abnormal erklärt und bisheriges abnormale Verhalten wird als normales Verhalten geadelt. Ganz normale Staatsbürger werden so zu ”Gefährdern” uminterpretiert oder als ”Extremisten” oder potentielle ”Terroristen” kategorisiert. Ein ”Sozialkreditsystem” ist nichts anderes als eine niedrigschwellige massenhafte ”Sicherheitsüberprüfung” der Lohnarbeiterklasse. Der Impfpass wird so zu einer bürokratischen Waffe im Sinne einer Counterinsurency-Politik gegen die Arbeiterklasse. Es geht bei dem Impfpass darum, im Sinne einer politisch-sozialen ” Such- und Vernichtungsaktionspolitik”, proletarische Widerstandskerne zu identifizieren, indem ein soziales und psychologisches Profiling realisiert wird mit dem Zweck der Einteilung in ”Sicherheitsrisikoklassen”. Vor allem aber ist der digitale Impfausweis eine direkte bürokratische Waffe gegen die Arbeiterklasse, denn er kann jederzeit vom bürgerlichen Staat deaktiviert werden, so daß eine konkrete Person ohne gesetzliche Grundlage aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden kann. Es dauert eine Zeit, bis der ”Fehler” gefunden und behoben ist, solange aber kann eine konkrete Person vom gesellschaftlichen Leben isoliert werden. Der Impfpass ist nur ein kleiner Schritt in Richtung Überwachungsstaat und Conterinsurgency. Umso tiefer die Große Krise wird, desto mehr nähert sich das ”Afghanistan-Moment”, die Offenbarung der desolaten Lage, wo auch die psychologische Kriegsführung an ihr Ende kommt. Dann kommt die Zeit der Wahrheit und die Bourgeoisie greift selbstverständlich auf die offene Repression und den offenen Terror zurück. Unter dem Schleier des ”Gesundheitsschutzes” wird die Repression des bürgerlichen Staates ausgebaut und sich auf den Tag X gegen die Arbeiterklasse vorbereitet, wenn die Arbeiterklasse politisch der Bourgeoisie entgleitet.

Bei dem ”Corona-Notstand” geht es nur nebensächlich um den ”Gesundheitsschutz”, sondern zentral um den Schutz der Akkumulation. Wenn es um den Gesundheitsschutz ginge, würden antikapitalistische Strukturreformen anvisiert, damit vor allem die absolute Verelendung beendet wird, welche einen guten Nährboden für Pandemien und Endemien abgibt. Dazu gehört auch besonders die Bekämpfung der Wohnungsnot. Auch die beste Impfung kann Pandemien und Epidemien nicht verhindern und scheitert an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, welche die materielle Basis für die Pandemien und Endemien legen. Es müsste in den Armutsregionen und Armutsquartieren die Infrastruktur verbessert werden. Dies wäre die beste Impfung gegen Pandemien und Endemien, belastet aber die Akkumulation von Kapital. Dies bringt der ”Corona-Notstand” nicht auf dem Weg. Im Gegenteil. Der ”Corona-Notstand” hat gerade die objektive Funktion, einen Aufwuchs von Infrastrukturmaßnahmen in den Armutsregionen und Armutsquartieren zu verhindern, schafft den materiellen Schutzschirm für eine Deflationspolitik, welche vor allem die Armutsregionen und Armutsquartiere trifft. Für die Durchsetzung eines reformistischen Programms bedarf es volle Organisations-und Meinungsfreiheit und genau dies wird durch den ”Corona-Notstand” verhindert. Ohne zumindest die parlamentarisch-demokratische Herrschaftsform der Bourgeoisie kann kein proletarisches Reformprogramm, sei es noch so zahm, durchgesetzt werden und damit bleibt die Gefahr von Pandemien, Endemien, konkret des SARS-Corona-Virus, bestehen. Ohne die Anhebung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse wird sich die SARS-Corona-Pandemie/Endemie nicht erfolgreich bekämpfen lassen. Eine erfolgreiche Bekämpfung von Pandemien und Endemien verlangt nach einem Ausbau der individuellen und kollektiven Rechte der Arbeiterklasse, der Erhöhung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus, verlangt mindestens nach einer reformistischen Demokratisierung des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft und nicht nach einem Notstand, verlangt also nach einem parlamentarisch-demokratischem Klassenregime der Bourgeoisie.

Der ”Corona-Notstand” hat nur dann einen Sinn, wenn er andere Ziele verfolgt als den ”Schutz des Lebens und der Gesundheit”, denn er gefährdet objektiv den ”Schutz des Lebens und der Gesundheit”. Dem ”Corona-Notstand” geht es real um die Neuzusammensetzung des Kapitals und damit um die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse unter der Tarnung des ”Schutzes des Lebens” und der ”Gesundheit”. Der Impfpass dient nicht dem ”Schutz der Gesundheit”, sondern der Kontrolle und Disziplinierung der Arbeiterklasse. Der Impfpass geht einher mit der Deflationspolitik, ist eine Waffe gegen die Arbeiterklasse und gefährdet das Leben und die Gesundheit der Arbeiterklasse. Eine radikale Deflationspolitik verlangt nach einem repressiven Zugriff gegen die Arbeiterklasse und der Impfpass ist nur der Anfang. Diesmal gilt der Angriff des Kapitals der gesamten Arbeiterklasse und nicht ihrer einzelnen Momente. Es droht, die Identitätsfeststellung als Grundlage von Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung im Klassenalltag zur Regel zu werden. Damit entsteht eine Grauzone in der sich die Aufgaben der Hoheitsträger des bürgerlichen Staates mit privaten Werkschutzorganisationen vermischen und sich die privaten Werkschutzorganisationen Aufgaben des bürgerlichen Staates als Hilfstruppen aneignen. Der Impfpass als Zutrittskontrolle auch in den Betrieb oder auf das Arbeitsamt, kontrolliert vom Werkschutz und den technischen Anlagen zur biometrischen Erfassung, organisiert als ein Netz inländischer Grenzkontrolle. Über dem Impfpass weist man sich aus, daß man gegen SARS-Corona geimpft und damit kein „Gesundheitsrisiko“ und damit „Sicherheitsrisiko“ ist und dies bürokratische Grundlage dafür, als Ware Arbeitskraft im kapitalistischen Produktionsprozeß fungieren zu können. Bisher war der Impfstatus eines Lohnarbeiters in der Regel privat. Ausnahmen bestätigen die Regel. Nun verkehrt sich das Verhältnis ins Gegenteil. Die privaten Daten müssen offen werden für eine private und staatliche Rasterfahndung nach einer Hierarchie von „Sicherheitsrisiken“. Verweigert nun ein Lohnarbeiter dieses Ansinnen des bürgerlichen Staates, wird er sofort zum Staatsfeind und es drohen der Entzug der Lebensgrundlagen. Der Impfstatus ist nur der Anfang. Es folgen alle weiteren Gesundheitsdaten und alle anderen Daten. Bisher konnten Frauen bei Einstellungsgesprächen in der Frage nach der Schwangerschaft die Antwort verweigern oder die Unwahrheit sagen. Dies ist in Gefahr sich zu ändern. Ebenso ist bei Einstellungsgesprächen die Frage nach der gewerkschaftlichen Organisierung verboten. Auch hier konnte die Antwort verweigert oder die Unwahrheit gesagt werden. Auch dieser Komplex ist von einer Uminterpretation von privaten Daten in öffentliche Daten betroffen. Das Kapitalkommando sieht die Offenlegung des Impfstatus nur als Einfallstor an. In Hamburg wird seit Ende August die Corona-Politik verschärft. Die Gastronomie und Kulturunternehmen dürfen die Abstandsregelungen dann ignorieren, wenn sie nur noch geimpfte oder an Corona genesene Gäste akzeptieren. Dies setzt aber gleichzeitig auch voraus, daß alle Lohnarbeiter in den Betrieben ebenfalls als „Gensesen“ eingestuft wird oder als geimpfte Lohnarbeiter. Es reicht dies mündlich zu versichern, es muß mit Zertifikat bewiesen werden. Bisher war auch in Hamburg der Impfstatus, auch der Impfstatus, privat und ging keinen Dritten etwas an. Schritt für Schritt wird dies jetzt geändert.

Mit dem Ausbau der Überwachung als eine Form der Repression gegen die Arbeiterklasse soll präventiv möglichen Revolten begegnet werden. Die Entwertungstendenzen der Krise und die Kosten für die Abfederung der „Corona-Krise“ sollen auf die Arbeiterklasse übergewälzt werden. Dies kann Revolten provozieren. Bisher standen die proletarischen Revolten unter einem „vorpolitischen“ Akzent, während die kleinbürgerlichen Revolten der „Anti-Corona-Bewegung“ des alten Kleinbürgertums offen politische Revolten sind. Die Arbeiterklasse blieb entpolitisiert, während sich das Kleinbürgertum und hier besonders das traditionelle Kleinbürgertum, sich politisierte und gegen den „Corona-Notstand“ Widerstand leistete. Dort ist die Massenunzufriedenheit am größten, da durch die Corona-Notstandspolitik die soziale Existenzweise angegriffen wurde. Die Anti-Corona-Revolte des alten Kleinbürgertums ist rückwärtsgewand in Richtung Restauration des Neoliberalismus und scheitern an der Realität des Kapitalismus in Form des multipolaren Weltmarktes. Damit ist die Revolte des alten Kleinbürgertums elitär und nicht proletarisch-egalitär. Es geht nicht um die allgemeine Hebung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus des gesamten Kleinbürgertums oder der Arbeiterklasse, sondern nur um die partielle Verteidigung der Privilegien des alten Kleinbürgertums im Besonderen. Dies zieht dann auch Faschisten an. Proletarische Revolten hingegen betonen das egalitäre Moment und wollen die gesamten Massen mitnehmen. Derzeit gibt es keine expliziten proletarischen Revolten gegen die „Corona-Deflationspolitik“ des Kapitals, wohl aber „vorpolitische“ Revolten des jugendlichen Proletariats, die sich an einzelnen Verboten des „Corona-Notstandes“ spontan entzünden und bewußtlos-politisch, privat, und somit indirekt verbleiben und in einer „stummen Revolte“ enden. Eine stumme Revolte ist ziellos und hat keine politische Alternative. Die bewußte und direkte Revolte des alten Kleinbürgertums und die stumme Revolte des Proletariats gegen „Corona-Deflationspolitik“ und „Corona-Notstand“ treten gleichzeitig auf, bleiben aber getrennt voneinander. Sie wachsen nicht zusammen. Nur über eine proletarisch-egalitäre Organisierung gegen das kapitalistische System, nicht gegen Auswüchse dieses Systems, durch Übergangslosungen, lassen sich die beiden Revolten zusammenführen unter der Hegemonie der proletarischen Revolte. Der bürgerliche Staat in Form des Notstandsstaats geht immer härter gegen die Revolte des alten Kleinbürgertums vor. Nicht weil sie dem kapitalistischen System unmittelbar gefährlich wird, sondern weil sie die Legitimität des „Corona-Notstandsstaates in Frage stellt. Bisher darf noch die „Corona-Deflationspolitik“ einer Kritik unterzogen werden, nicht aber der „Corona-Notstandsstaat“ selbst. Unter keinen Umständen darf die Legitimität des „Corona-Notstandsstaats“ angezweifelt werden. Das Notstandsregime des deutschen Imperialismus darf nicht beim Namen genannt werden. Es ist unaussprechlich. Wer das deutsche Notstandsregime beim Namen nennt, ist ein Staatsfeind in den Augen der Bourgeoisie. Das Unaussprechliche auszusprechen, den Notstand als Notstand zu benennen, ist gegenwärtig für die Bourgeoisie eine Lästerung, eine Gotteslästerung. Das Unaussprechliche ist gegenwärtig das zentrale Tabu des deutschen Imperialismus und soll stumm akzeptiert werden. Man soll sich gemäß dem Notstand verhalten, aber darf das Wort nicht aussprechen. Die deutsche Bourgeoisie fürchtet sich vor einem Wort und macht deshalb vermehrt Jagd auf die Personen, die das Wort aussprechen.

Die Massenunzufriedenheit des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse drückt sich in Revolten aus. Aber eine Revolte ist keine Revolution, kann nur durch Organisierung und Bewußtheit zur Revolution werden, ansonsten zerfällt sie wieder in Apathie. Die Revolte ist die organische Vermittlung zwischen Revolution und Apathie/Entpolitisierung. Die historische Mission des Notstandsstaates ist es, in einer schweren Krise die notwendig entstehenden Revolten möglichst präventiv zu zerschlagen und die Massen in die Apathie/Entpolitisierung zurückzudrängen. Gelingt es das Moment der Revolte zu isolieren, dann wird die potentielle Entwicklung hin zur Revolution verhindert, aber gleichzeitig dem Moment der Apathie/Entpolitisierung das Tor geöffnet. Die historische Mission des Notstandsstaates ist es, die Massenunzufriedenheit zu die Apathie/Entpolitisierung zu kanalisieren, um revolutionäre Tendenzen zu verhindert, d.h. eine Apathie/Entpolitisierung nach innen, aber auch gleichzeitig eine aggressive Politisierung im Außenverhältnis gegen die Weltmarktkonkurrenz, also um die Kanalisierung und Umlenkung der Massenunzufriedenheit in Aggressionspotential gegen die Weltmarktkonkurrenten. Massenunzufriedenheit soll in Nationalismus transformiert werden, eben um Revolten zu verhindern und den Weg in die proletarische Weltrevolution zu blockieren. Auf diese Weise werden potentielle Revolten in einen aggressiven Nationalismus transformiert und eröffnen Möglichkeiten der Querfrontbildung zur Stabilisierung des Notstaatsstaates. Eine zerfallene und geschlagene Revolte oder eine präventiv zerschlagene Revolte kann somit zur materiellen Massenbasis Basis eines Notstandsstaates werden, zur Reaktion überlaufen. Die Apathie, die Entpolitisierung der Massen, ist materielle Voraussetzung für eine nationalistische Formierung des konkreten Kapitalismus. Eine Revolte muß sich im Klassenkampf in Richtung Revolution entfalten, will sie nicht ins Reaktionäre drehen. Dazu ist eine revolutionäre Führung durch die proletarische Organisation/Partei notwendig. Das Ziel ist die revolutionäre Zerschlagung des bürgerlichen Staates und die Errichtung von proletarischen Doppelherrschaftsorganen. Damit werden dann die Tore zur Diktatur des Proletariats weit geöffnet. Konkret: die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung, notfalls mit revolutionärer Gewalt im offenen Bürgerkrieg (der kollektive rote Terror) des Proletariats gegen die Bourgeoisie.

Bis zum jetzigen Zeitpunkt wurde über das Hartz IV-System vor allem die industrielle Reservearmee einer radikalen Deflationspolitik unterworfen und diese systematisch entrechtet und für den Ausbeutungsprozeß verflüssigt. Das Hartz IV-System ist für die industrielle Reservearmee und auch für die Randbelegschaften der partielle Notstand, welcher mit dem ”Corona-Notstand” auf die gesamte Lohnarbeiterklasse übergreift. Der mangelnde Widerstand gegen das Hartz IV-System führt zu einer Radikalisierung der Deflationspolitik und zu Ausdehnung der Notstandsverhältnisse auf die gesamte bürgerliche Gesellschaft vermittels des ”Corona-Notstandes”. Ohne proletarische Gegenwehr wird das Kapital dazu ermutigt, immer weiter gegen die Klasse vorzugehen, diese nicht als Klasse anzusehen, sondern als Ausbeutungsmaterial. Will man scharfe deflationäre Einschnitte durchsetzen, wird dies mit einem Notstand realisiert. Wird dieser Notstand von der Arbeiterklasse akzeptiert, hat das Kapital schon gewonnen, ohne den Notstand in seiner Totalität zu realisieren. Der Notstand ist dann ein milder Notstand, welcher die Deflationspolitik erleichtert, aber nicht realisieren muß. Da der Notstand mit der Deflationspolitik passiv akzeptiert wird, muß dies nicht gegen den organisierten Widerstand der Arbeiterklasse durchgesetzt werden. Der Notstand muß nur den unorganisierten, stummen, Widerstand der Arbeiterklasse brechen und jeden aufkommenden organisierten Widerstand präventiv zerbrechen. Es reicht schon der milde ”Corona-Notstand” aus, um die Arbeiterklasse zu disziplinieren und das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abzusenken, denn einen organisierten Widerstand gegen den ”Corona-Notstand” mit seiner ”Corona-Deflationspolitik” gibt es nicht. Die Gewerkschaftsbürokratie trägt den ”Corona-Notstand” und die ”Corona-Deflationspolitik” mit, statt einen organisierten Widerstand zu organisieren, d.h. sie wird präventiv jede Regung des proletarischen Widerstandes zerstören. Damit unterwirft die Gewerkschaftsbürokratie die Gewerkschaften auf dem Wege der Selbstgleichschaltung der Gleichschaltung des ”Corona-Notstandsstaates auf freiwilliger Art und Weise, d.h. es findet keine offene terroristische Zerschlagung und Gleichschaltung der Gewerkschaften durch den Notstandsstaat statt. Dies demoralisiert die Arbeiterklasse deutlich. Die Kapitulation der Gewerkschaftsbürokratie und damit die Kapitulation der Gewerkschaften vor dem deutschen Kapital, seinem Notstandsstaat und seiner Deflationspolitik, führt in der Arbeiterklasse zu Apathie und damit setzt eine Tendenz zur Entpolitisierung dort ein. Somit hat das Kapital nun ein Zeitfenster für eine radikale Umgestaltung des kapitalistischen Produktionsprozesses und setzt die Arbeiterklasse im Sinne der neuen Ordnung der Ausbeutung neu zusammen. Der ”Corona-Notstand” schafft dem Kapital die freie Hand ohne die ”Mitbestimmung” der Gewerkschaften den kapitalistischen Ausbeutungsprozeß neu zu organisieren. Nun benötigt das Kapital keinen Kompromiß mit den Gewerkschaften. Das Kapital entscheidet alleine über die Neuformierung des kapitalistischen Produktionsprozesses und kann nur durch einen autonomen proletarischen Widerstand in der Produktionssphäre in die Schranken gezwungen werden. Die Gewerkschaftsbürokratie wirkt über die von ihr kontrollierten Gewerkschaften als Arbeitsfront und fungiert in der Produktionssphäre als innere Schiene der Repression gegen den potentiellen proletarischen Widerstand, ist damit ein organischer Bestandteil des ”Corona-Notstandes” und der ”Corona-Deflationspolitik”. Über den korporatistischen Block aus Kapital, bürgerlichen Staat und Gewerkschaftsbürokratie als zentrale Ebene der Klassenzusammenarbeit im Modell Deutschland (Hegemonie der Weltmarktsektoren des Kapitals über die Binnenmarktsektoren) wird versucht, das deutsche Kapital im multipolaren Weltmarkt neu zu formieren. Das Modell Deutschland bedeutet immer die reelle Subsumtion der Gewerkschaften unter die Notwendigkeit der Akkumulation und damit unter die Kapitalinteressen, heißt auch immer präventive Beseitigung potentieller proletarischer oder links-kleinbürgerlicher Opposition.

Mit aller Macht soll der ”Arbeitsfriede” gewahrt werden. Aus diesem Grunde die Angriffe des DGB auf die Spartengewerkschaft GDL (Gewerkschaft der Lokführer), denn sie wagt gegen den deflationären Konsens vorzugehen und fordert objektiv damit den ”Corona-Notstand” heraus. Die Gewerkschaftsbürokratie des DGB agiert offen als Kettenhund der deutschen imperialistischen Bourgeoisie. Da die DGB-Bürokratie den deflationären Konsens des deutschen Kapitals aktiv mitträgt, muß sie jede Aktion einer anderen Gewerkschaft aktiv bekämpfen. Die inflationären Tendenzen steigen derzeit an, aufgrund der beschädigten und sich neuformierenden Lieferketten als ein Moment des auseinanderbrechenden neoliberalen Weltmarktes und dem qualitativen Umschlag in den multipolaren Weltmarkt. Auch den daraus entstehenden Reallohnverlust trägt die DGB-Bürokratie mit. Aber auch die GDL fordert nicht den Inflationsausgleich, will sich nur mit den Tariflöhnen nur auf gleicher Stufe mit der DGB-Gewerkschaft EVG stellen. Doch schon dies Ansinnen ist dem bürgerlichen Staat in Form des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn zu viel und ebenso auch der EVG-Bürokratie, denn die gewerkschaftliche Konkurrenz bedroht das Modell Deutschland und nicht nur den deflationären Konsens im Bereich der Deutschen Bundesbahn. Die Tarifverhandlungen bei der Deutschen Bundesbahn sind also nicht „nur“ Tarifverhandlungen, sondern es wird indirekt auch die Machfrage im Modell Deutschland gestellt, noch dazu im „Corona-Notstand“. Der „Corona-Notstand“ stützt das Modell Deutschland zusätzlich und die GDL-Streiks gegen die Deutsche Bundesbahn sind auch objektiv Streiks gegen den „Corona-Notstand“ und damit politische Streiks. Offiziell akzeptiert im Moment die Bourgeoisie diese Streiks der GDL. Inoffiziell gibt es vermehrt Druck auf die GDL, denn die Streiks könnten die Infektionsrate von SARS-Covid in die Höhe treiben, da die Züge im Streikfall überfüllt wären. Im Hintergrund geht es um das antigewerkschaftliche „Tarifeinheitsgesetz“, welches darauf abstellt, daß nur die mitgliederstärkste Gewerkschaft die Belegschaft vertreten kann. Dies bevorzugt eindeutig die DGB-Gewerkschaften, welche treu und fest zum Modell Deutschland stehen. Am „Tarifeinheitsgesetz“ zeigt es sich auch, daß der Notstand nicht vom Himmel fiel, sondern dieser eine Geschichte aufweist, eine Geschichte von immer neuen repressiven Maßnahmen des bürgerlichen Staates und immer neuen Kapitulationen der DGB-Gewerkschaftsbürokratie. Diese Geschichte endete bisher im „Corona-Notstand“. Noch hält sich die Bourgeoisie zurück, den Notstand auf die GDL anzuwenden. Aber das deutsche Kapital kann auch anders, wenn es meint, nur mit dem Notstand die GDL disziplinieren zu können. Bisher toleriert das deutsche Kapital die Streiks der GDL und glaubt die GDL ohne große Anstrengung auf Linie zu bringen. Die Streiks der GDL stehen zumindest nicht für eine Kapitulation, sondern sind objektiv ein zaghafter Versuch zur Verteidigung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Gesamtarbeiterklasse und müssen auch solidarisch von der Gesamtarbeiterklasse unterstützt werden, vor allem durch Solidaritätsstreiks. Die GDL ist auch gegen jeden Angriff des bürgerlichen Staates, auch in seiner Notstandsform, zu verteidigen. Eine breite Solidarität in der Gesamtklasse schützt die GDL auch gegen den Notstandsstaat und ein Sieg der GDL gegenüber der Deutschen Bundesbahn ist auch ein kleiner Sieg gegen die „Corona-Deflationspolitik“ des deutschen Kapitals und seines „Corona-Notstandes. Ein Sieg des Kapitals über die GDL wäre eine große Niederlage der Gesamtarbeiterklasse und verfestigt die „Corona-Deflationspolitik“ und den damit zusammenhängenden „Corona-Notstand“, es wäre ein Sieg des Modell Deutschland über die Arbeiterklasse. Die Angriffe des DGB-Vorsitzenden und des Vorsitzenden der EVG auf die GDL läßt die Widersprüche bezüglich des Tarifeinheitsgesetzes auch im DGB aufbrechen. Der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft verdi ergreift für die GDL Partei und fordert die die Aufhebung des „Tarifeinheitsgesetzes“. Der DGB war sich in der Frage des „Tarifeinheitsgesetzes“ nicht einig. Die IG-Metall und die IG-Chemie unterstützten dieses antigewerkschaftliche Gesetz, verdi, die NGG und die GEW lehnten es ab. Diese Spaltung im DGB wird anläßlich des GDL-Streiks wieder sichtbar. Hier reproduziert sich konkret das Modell Deutschland. Die hegemonialen Exportsektoren drängen auf eine kontrollierte Akkumulation, die in letzter Instanz auf Kosten der Akkumulation der Binnenmarktsektoren des Kapitals geht. In den Binnenmarktsektoren darf auch kein Widerstand organisiert werden, wenn es die Exportsektoren des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt an der Akkumulation hindert. Die Eisenbahn ist zentral auch für das deutsche Exportkapital. Die Akzeptanz des Modell Deutschland durch die Gewerkschaftsbürokratie reproduziert die Spaltungen des Modell Deutschland in der Arbeiterklasse und auch in der Gewerkschaftsbürokratie selber und unterminiert den DGB selbst. So drohen die Reallohnverluste durch die gegenwärtigen Preissteigerungen der Binnenmarktsektoren höher auszufallen als die Reallohnverluste in den Weltmarktsektoren des Kapitals. Bisher akzeptieren alle Gewerkschaften derzeit die Reallohnverluste durch die gegenwärtigen inflationären Tendenzen. Die Angriffe der DGB-Bürokratie auf die GDL sind eine Steilvorlage für das Kapital. Auf den Reihen des Kapitals kommen die Forderungen, vor allem im öffentlichen Dienst und der Infrastruktur betreffend, das Streikrecht drastisch einzuschränken. Zwangsschlichtung, Mindestbesetzung und Abstimmung über den Streik durch die Belegschaft und nicht durch die Gewerkschaftsmitglieder. Das Kapital gewöhnt sich an den „Corona-Notstand“ und dieser rückt immer tiefer gegen die Klasse vor. Die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften kann sehr leicht ins Visier des Kapitals geraten, durch Hartz IV unterhöhlt und der „Corona-Notstand“ droht zum Einfallstor zur Abwicklung der relativen Tarifautonomie zu werden. Eine Abwicklung der relativen Tarifautonomie ist auch eine Abwicklung der Gewerkschaften durch eine Selbstgleichschaltung der Gewerkschaften durch ihre Gewerkschaftsbürokratie. Das deutsche Kapital sieht in dem GDL-Streik gegen die Deutsche Bundesbahn tendenziell ein Angriff auf die „Nation“, d.h. konkret auf die „nationale Sicherheit“. Die „nationale Sicherheit“ ist die Sicherheit der Akkumulation und der GDL-Streik tendenziell die „nationale Sicherheit“ als Sicherheit der Akkumulation des Weltmarktkapitals. Damit werden objektiv die weiteren Angriffe des Kapitals auf die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften und somit auf das Streikrecht als der Kern der relativen Tarifautonomie, durch die „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ indirekt gerechtfertigt. Vom Blickwinkel des „Corona-Notstandes“ ist der GDL-Streik tendenziell eine Gefährdung der „nationalen Sicherheit“ und der Streik ist dann ein Verbrechen gegen den Staat, fast Hochverrat, während die Gewerkschaft dann tendenziell zu einer terroristischen Organisation wird. Noch hält sich der bürgerliche Staat in Form des Notstandsstaates zurück, wie lange ist offen. Aber die wachen Augen des Überwachungsstaates sind auf die Gewerkschaften, konkret auf die GDL, gerichtet; die wachen Augen des Großen Bruders sind auf jedes individuelle Glied der Arbeiterklasse gerichtet. Der Überwachungsstaat sieht alles, hört alles. Und wenn der Überwachungsstaat eine Gefahr für die „nationale Sicherheit“ wittert, wird die eiserne Faust des bürgerlichen Staates zuschlagen. Jede Aktion der Arbeiterklasse steht unter dem Verdikt der „nationalen Sicherheit“, jede Aktivität eines proletarischen Individuums steht unter dem Verdikt der „nationalen Sicherheit“.

Es gelingt der GDL der Deutschen Bundesbahn einen Tarifvertrag abzutrotzen. Doch auch diese Lohnerhöhungen bleiben hinter der Inflationsrate zurück. Jedoch konnte die GDL schon mit Streik mehr erreichen, als die DGB-Gewerkschaft EVG. Diese fordert nun von der Deutschen Bundesbahn Nachbesserungen an ihrem Tarifvertrag, der ohne Streik zu Stande kam. Das „Tarifeinheitsgesetz“ ist untauglich, die Akkumulationsprobleme bei der Deutschen Bundesbahn zu lösen, im Gegenteil, dies Gesetz schafft mehr Probleme als die schon vorhandenen. Aber Reallohnverlust bleibt Reallohnverlust. Mit diesem Ergebnis kann das Kapital trotzdem leben. Auch die GDL vermag nicht aus dem Modell Deutschland auszubrechen.

Der verdeckte Notstand schwingt im Modell Deutschland immer mit (Deutscher Herbst und die Morde von Stammheim gegen eine links-kleinbürgerliche Opposition) und der ”Corona Notstand” gegen die gesamte Arbeiterklasse und das gesamte Kleinbürgertum ist die bisherige Krönung des Modell Deutschland. Dieser ”Corona-Notstand” und die ”Corona-Deflationspolitik” reproduziert das Modell Deutschland. Verlierer ist die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum. Doch nicht im gleichen Maße. Verlierer des ”Corona-Notstandes” und der ”Corona-Deflationspolitik” sind die industrielle Reservearmee und die Randbelegschaften in der Arbeiterklasse und im neuen Kleinbürgertum. Jedoch das alte Kleinbürgertum verliert am deutlichsten, es wird signifikant dezimiert. Trotz aller Verluste stehen die Kernbelegschaften in der Arbeiterklasse und im neuen Kleinbürgertum noch am besten dar. Die Struktur des Modell Deutschland bleibt auch im ”Corona-Notstand” und in der ”Corona-Deflationspolitik” erhalten. Dies bezieht sich auch auf das konkrete Verhältnis des deutschen Kapitals zu sich selbst. Die Hegemonie des Weltmarktkapitals gegenüber dem Binnenmarktkapital wird sogar noch in dem ”Corona-Notstand” und der ”Corona-Deflationspolitik” ausgebaut.

Ohne das korporatistische Modell Deutschland hätte es Hartz IV nicht gegeben und Hartz IV war vor sechzehn Jahren der erste Schritt in den Notstand. Hartz IV war immer schon ein Teilnotstand für die industrielle Reservearmee und für die Randbelegschaften. Das Hartz IV-System agiert nach seiner eigenen Rationalität und ist nur locker an das demokratisch-parlamentarische Herrschaftssystem der Bourgeoisie angebunden. Nur die demokratisch-parlamentarische Klassenjustiz band das Hartz IV-System an das parlamentarisch-demokratische Herrschaftssystem des Kapitals. Mit dem ”Corona-Notstand” fällt auch die letzte Kontrollstelle für das Hartz IV-System, denn das demokratisch-parlamentarische System und seine Klassenjustiz wird durch den ”Corona-Notstand” überspielt. Der bürgerlichen Klassenjustiz kommt nur noch die Funktion zu, den ”Corona-Notstand” zu modifizieren, d.h. das Sonderrecht zu verwalten. Damit hat das Hartz IV-System unter dem Schutz des ”Corona-Notstandes” seine Freiheit erweitert, gegen die industrielle Reservearmee und gegen die Randbelegschaften härter als je zuvor vorzugehen.

Über das Hartz IV-System wurde der prekäre zweite Arbeitsmarkt mit den Randbelegschaften ausgebaut. Jede Arbeit ist zumutbar, außer die angebotene Arbeit ist sittenwidrig. Es gibt keinen Qualifikationsschutz mehr und auch keinen Tarifschutz. Dies führt zu einer Unterbietungsspirale und damit zu dem deutlichen Ausbau eines Niedriglohnsektors. Bei dem Kriterium ”Zumutbarkeit von Arbeit” wurde die Beweislast umgekehrt. Nun muß nicht mehr das Arbeitsamt beweisen, daß die Arbeit zumutbar ist, sondern der Antragsteller auf Arbeitslosengeld II muß beweisen, daß die angebotene Arbeit unzumutbar ist, was real nicht möglich ist. Auf diese Weise wird die industrielle Reservearmee in den prekären zweiten Arbeitsmarkt (Verschränkung von Niedriglohn und ergänzenden sozialen Transferleistungen) gezwungen. Wird die Aufnahme angebotener Arbeit verweigert, antwortet das Arbeitsamt mit Repression. Es werden Sanktionen ausgesprochen und die schon geringe Regelleistung drastisch gekürzt. Bei Wiederholung wird die soziale Transferleistung ganz eingestellt, was dann zur Obdachlosigkeit führen kann. Unter Umständen wird als „weiche Sanktion“ die Einweisung in die kommunale Hartz IV-Zwangsarbeit verfügt. Wer sich auch hier verweigert, dem drohen die üblichen Sanktionen bis hin zur Einstellung der sozialen Transferleistung. Dieser kommunale Zwangsarbeitssektor wird als Arbeitsgelegenheit organisiert. Es werden nur Sozialrechtsverhältnisse angeboten, keine Arbeitsverhältnisse, es wird nur eine Aufwandsentschädigung gezahlt, kein Lohn. Es gelten nur die wenigsten Arbeitsschutzgesetze und es darf kein Betriebsrat gegründet werden, die Gewerkschaften dürfen nur organisieren, aber keine Kampfmaßnahmen durchführen. Diese Sozialrechtsverhältnisse dienen der Disziplinierung und der Erprobung der erwerbslosen Arbeitskraft und sind kein organischer Bestandteil des zweiten Arbeitsmarktes, sondern dem Arbeitsmarkt entzogen. Die Hartz IV-Repression richtet sich direkt gegen die industrielle Reservearmee und indirekt gegen die aktive Arbeiterarmee, vor allem hier gegen die Randbelegschaften. Nur durch diese Repression entstand in Deutschland der größte Niedriglohnsektor in der EU. Der Arbeitszwang führt zur drastischen Absenkung des Lohns und der Arbeitsbedingungen. Hartz IV war schon immer ein Sonderrecht bzw. ein partieller Notstand gegen die Arbeiterklasse. Nur durch die systematische Entrechtung der Arbeiterklasse wurde dies möglich. Der Arbeitszwang war nur der erste Schritt. Die Hartz IV-Repression geht jedoch noch weiter und tiefer.

Auch wenn dem erwerbslosen Antragsteller das Arbeitslosengeld II gewährt wurde, geht die bürokratische Repression weiter, wird auf andere Personen ausgeweitet und wird zur sozialen Sippenhaft. Im Mittelpunkt steht die Bedarfsgemeinschaft. Nicht nur der Erwerbslose steht unter einem Arbeitszwang, sondern auch seine Angehörigen oder Mitbewohner, sie werden in Kollektivhaftung genommen. Die Hartz IV-Behörden haben einen eigenen „Ermittlungsdienst“ aufgebaut, der auch mit Denunziation arbeitet und kontrolliert die Wohnungen der Hartz IV-Bezieher. Es finden auf diese Weise Hausdurchsuchungen und Razzien statt; dort wird vor Ort kontrolliert, ob sich die Bedarfsgemeinschaft an die Hartz IV-Vorschriften hält. Das Hartz IV-System schränkt die Grundrechte drastisch ein und zerstört die Privatsphäre der Hartz IV-Empfänger.

Die Regelleistung ist zu gering für die gesellschaftlich notwendige Reproduktion, so daß auf die „Tafeln“ (Nahrungsmittelspenden) zurückgegriffen werden muß. Auf die Nahrungsmittelspenden oder auch auf Sachspenden der „Tafelvereine“ gibt es keinen Rechtsanspruch, dort entscheidet nur die subjektive „Gnade“.

Um überhaupt das repressive Arbeitslosengeld II zu erhalten, findet vorher eine „Bedürftigkeitsprüfung“ statt, d.h. es wird das Vermögen und das Einkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ ermittelt. Übersteigt dieses einen bestimmten Punkt, wird kein Arbeitslosengeld II gewährt. Erst dann, wenn das Einkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ gesunken und das Vermögen aufgebraucht wurde, wird Arbeitslosengeld II gewährt. Schon die „Bedürftigkeitsprüfung“ ist eine scharfe Waffe des Arbeitszwangs. Das Arbeitslosengeld I wird nur für ein Jahr gewährt. Danach setzt der Sturz in das Hartz IV-System ein, bzw. wenn kein Arbeitslosengeld II gewährt wird, muß das restliche Einkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ reichen, bzw. das Vermögen aufgebraucht werden, damit der Sturz in die Obdachlosigkeit abgewendet werden kann. Die Grundrechte sind im Hartz IV schon seit langem eingeschränkt, lange vor dem „Corona-Notstand“.

Mit Hartz IV wurde die deutsche Exportwaffe geschärft. Die deflationären Tendenzen verbesserten die Verwertungsbedingungen des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt und führten zu einer Exportoffensive. Ohne Hartz IV hätte das deutsche Kapital nicht seinen Weltmarktanteil ausbauen können. Ohne Hartz IV gäbe es keine extremen deutschen Handelsbilanzüberschüsse und damit auch keine extremen Handelsbilanzdefizite anderer Staaten. Hartz IV als ein Produkt des neoliberalen Weltmarktes, schafft und befördert weltwirtschaftliche Ungleichgewichte, welche eben den neoliberalen Weltmarkt zerreißen und objektiv die Herausbildung des multipolaren Weltmarktes vorantreiben und somit die Vorteile der Hartz IV-Waffe des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt tendenziell abschmelzen.

Der multipolare Weltmarkt unterscheidet sich vom neoliberalen Weltmarkt im offenen Staatsinterventionismus zu Gunsten seines jeweiligen nationalen Kapitals, die offene Verdopplung von ökonomischer und politischer Form der Weltmarktkonkurrenz. Der multipolare Weltmarkt negiert verselbständigte internationale Organisationen des Kapitals wie die WTO oder wie große transnationale und transkontinentale Freihandelszonen, sondern schafft sich seinen „Großraum“. Der Freihandel verliert an Bedeutung und der protektionistische Welthandel setzt sich an seine Stelle. Es kommt zur imperialistischen Blockkonkurrenz. Die verschiedenen Metropolen organisieren sich in imperialistische Blöcke, welche in scharfer Konkurrenz zueinanderstehen, sie schotten sich relativ voneinander ab, aber innerhalb eines jeden imperialistischen Blocks verdichten sich die materiellen Verhältnisse, verdichtet sich die Akkumulation. Der Wirtschaftskrieg ist die erste Form des imperialistischen Krieges und kann leicht in den offenen imperialistischen Krieg übergehen. Damit ist der multipolare Weltmarkt ein tendenziell protektionistischer Weltmarkt, wobei offen eine protektionistische Politik über Zölle realisiert wird, aber auch indirekt über Normensysteme. Der Währungskrieg über Abwertungen, welcher zu einem Abwertungswettlauf führen kann, ist auch eine scharfe Waffe im imperialistischen Konkurrenzkampf.

Bisher war der US-Imperialismus der Importeuer der letzten Instanz. Ohne den US-Imperialismus als Importeuer der letzten Instanz hätte der deutsche Imperialismus keine Exportoffensive starten können. Das Hartz IV-System hängt eben an dem US-Imperialismus als Importeuer der letzten Instanz. Doch auf Dauer kann der US-Imperialismus nicht als Importeuer der letzten Instanz fungieren, denn dies geht nur, wenn der US-Imperialismus selbst exportieren kann. Die mehrdimensionale Verschuldung des US-Imperialismus hängt von der Substanz der US-Akkumulationsbasis ab. Da die Akkumulation des US-mehrwertheckenden Kapitals immer weiter absinkt, wird die Last der Verschuldung immer höher und irgendwann droht die Last der Verschuldung höher zu sein als die Substanz der US-Mehrwertproduktion und die Schulden können nicht mehr bedient werden. Das US-Kapital, bzw. das US-mehrwertheckende Kapital, muß sich reorganisieren, damit die mehrdimensionale Verschuldung des US-Imperialismus getragen werden kann, nur dann kann das deutsche Kapital seine Exportoffensive in die USA im konkreten und in die Welt im abstrakten, fortsetzen. Der Akkumulationszwang des Wertgesetzes macht das deutsche Kapital notwendig blind für die Verfolgung langfristiger Interessen. Eine Restrukturierung des US-Kapitals wird die deutsche Exportwaffe in ihrer Offensive abbremsen. Hartz IV findet seine abstrakte Grenze am Weltmarkt. Mit einer Radikalisierung der Deflationspolitik kann nur temporär gegen die notwendige relative tendenzielle Abschließung des US-Kapitals gekontert werden. Auch das Unterlaufen von Strafzollerhöhungen vermittels weitere erhöhten Lohndruck hat seine abstrakten Grenzen. Das US-Kapital als Importeuer der letzten Instanz bestimmt damit in letzter Instanz den Spielraum des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt.

Das US-Kapital kann seine Defizite bisher nur finanzieren, weil der US-Dollar noch partiell Weltgeld war. Damit konnte sich der US-Imperialismus in seiner eigenen Währung verschulden. Der US-Dollar wurde an das Öl gebunden, d.h. die Fakturierung des Öls erfolgt nur in US-Dollar. Damit ist die Kontrolle über das Öl notwendig, um den US-Dollar zu verteidigen und der US-Dollar muß verteidigt werden, damit der US-Imperialismus sich in eigener Währung verschulden und somit seine Funktion des Importeurs der letzten Instanz erfüllen kann den Weltmarkt in neoliberaler Form stabilisiert. Je bedeutender die Funktion des Importeurs der letzten Instanz ist, desto notwendiger sind auch die Kolonialkriege, welche die Öl-Bindung des US-Dollar sichern und diese Kolonialkriege richten sich nicht nur gegen die Peripherie, sondern objektiv ebenfalls gegen die anderen Metropolen der imperialistischen Kette, die ebenfalls in der Peripherie ihre Einflußsphären haben. Die eskalierenden Widersprüche zwischen dem US-Imperialismus und dem russischen Imperialismus haben hier ihren materiellen Grund und ebenso die eskalierenden Widersprüche zwischen dem hochentwickeltsten Land der Peripherie, China, mit dem US-Imperialismus. Die Widersprüche im imperialen US-Kapital, zwischen dem mehrwertheckenden Kapital und dem fiktiven US-Kapital findet eine Lösung über die Verschuldung in eigener Währung und damit in der verstärkten imperialistischen Aggression mit Zielrichtung Kontrolle der strategischen Rohstoffe und kollidiert dann folglich mit dem russischen imperialistischen Kapital und mit dem chinesischen Kapital auf dem Schlachtfeld der Peripherie. Der offene US-Angriff auf die Peripherie ist ein verdeckter Angriff auf Rußland und China. Die US-Kolonialkriege sind verdeckte Kriege gegen Rußland und China und diese schlagen zurück, indem sie die halbkolonialen Staaten gegen den US-Imperialismus unterstützen. Die Große Krise seit 2007/2008 läßt die Situation eskalieren. Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate als durchschnittliche Bewegungsform des Kapitals bestimmt die Akkumulationsbewegung und kann modifiziert, aber nicht aufgehoben werden. Die Widersprüche zwischen dem US-mehrwertheckenden Kapital und dem US-fiktiven Kapital eskalieren in der Phase der Überakkumulation von Kapital und lösen sich in der Krise durch eine nochmals verstärkte imperialistische Aggression mit Zielrichtung Kontrolle der strategischen Rohstoffe, umso das Weltgeld US-Dollar zu garantieren, welcher die materielle Basis für den US-Imperialismus ist, sich in eigener Währung zu verschulden. In der Krise brechen die innerimperialistische Widersprüche deutlich auf. Gelingt es dem US-Imperialismus nicht, die strategischen Rohstoffe unter seine Kontrolle zu bringen, ist die Entwertung des Kapitals nicht mehr aufzuhalten. Die Widersprüche des US-mehrwerheckenden Kapitals und dem fiktiven Kapital führen zu einem Bündnis auf Kosten der imperialistischen Weltmarktkonkurrenz und der Peripherie, welche Widerstand leisten und die Flucht des US-Imperialismus nach vorn blockieren. Die Gefahr eines Dritten Weltkrieges ist dabei latent. Entweder der US-Imperialismus geht seinen Weg weiter und dies ist der direkte Weg in den Dritten Weltkrieg oder der er muß sich neuformieren. Doch dazu müßte die Arbeiterklasse über eine reformistische Politik zur Abfederung der kapitalistischen Widersprüche mehr Einfluß haben. Derzeit formiert sich der US-Imperialismus um, zieht sich tendenziell aus seinen Kolonialkriegen zurück, aber nur, um sich direkt und unmittelbar gegen den russischen Imperialismus und China zu stellen. Der Rückzug aus Afghanistan mißlang, denn er wurde zur Kapitulation, zur Flucht und der Afghanistan-Krieg endete noch demütigender als der Vietnam-Krieg, die Flucht aus Kabul ist noch demütigender als die Flucht aus Saigon. Die Schwäche des US-Imperialismus zeigt sich deutlich und dies erschwert dem US-Imperialismus internationale Bündnisse einzugehen. Der US-Imperialismus gilt derzeit als unberechenbar und als nicht zuverlässig. Der NATO-Pakt ist deutlich verunsichert und auch der deutsche Imperialismus formuliert eine seltene Kritik in Richtung US-Imperialismus. Statt eines geordneten Rückzuges tritt der US-Imperialismus seine Flucht aus Afghanistan an. Dies wird die Schwerpunktsetzung gegen Rußland und China erschweren. Nun müssen Rußland und China Afghanistan versuchen zu stabilisieren, ohne offen Truppen zu senden und auch die USA werden es auf diese Weise versuchen. Die USA haben das Ziel Afghanistan gegen Rußland und China auszurichten und müssen mit den Taliban in Kabul dann einen Kompromiß eingehen. Etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig. Dies würde dann ein Kompromiß zugunsten der Taliban-Führung sein. Durch die Niederlage in Afghanistan ist es für den US-Imperialismus nicht mehr möglich, den US-Einfluß über eine Einheitsregierung geltend zu machen. Doch gleichzeitig versuchen Rußland und China Afghanistan als US-Brückenkopf politisch zu neutralisieren. In und um Afghanistan gibt es derzeit ein politisches Vakuum. Doch auf Dauer existiert kein Vakuum. Afghanistan wird neu geordnet werden und zwar in der multipolaren Weltordnung.

Der multipolare Weltmarkt erzwingt eine neue multipolare Weltordnung. Die Niederlange der USA und des NATO-Paktes beschleunigt die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung, führt nun zur direkten Konfrontation zwischen den USA auf der einen Seite und Rußland und China auf der anderen Seite. Beide Seiten bereiten sich auf eine „Großkonfrontation,“ konkret auf den Dritten Weltkrieg vor. Es kann keine „friedliche Koexistenz“ zwischen den Metropolen der imperialistischen Kette geben, nur ein Kampf bis aufs Messer. Ein friedlicher Machtwechsel auf dem Thron des Hegemons der imperialistischen Kette ist nicht möglich. Der gefallene Hegemon US-Imperialismus geht wie andere Weltmächte nicht friedlich unter, sondern findet sein Schicksal auf dem Schlachtfeld. Der ehemalige Hegemon wird immer wild um sich schlagen und wird die Welt mit in den Untergang reißen, denn er wird niemals seine Degradierung ohne weiteres akzeptieren. Der Verlust der Hegemonie im Kapitalismus bedeutet immer auch, daß die eigene Währung ihr Privileg des Weltgeldes verlustig geht. Da der US-Imperialismus am US-Dollar hängt, hätte dies erhebliche Folgen für den US-Imperialismus. Der US-Imperialismus wird bis zu letzten kämpfen und zwar mit allen Mitteln. Im Kapitalismus gibt es keine „friedliche Koexistenz“ und auch keinen friedlichen Machtwechsel auf dem Thron des Hegemon. China wird nicht friedlich Hegemon werden können, da der US-Imperialismus nicht friedlich auf seinen Hegemonialanspruch verzichten wird und damit ist offen, ob China überhaupt jemals der Hegemon des Kapitalismus werden kann. Es gibt keinen automatischen Ersatzhegemon, wenn der bisherige Hegemon stürzt. Der neue Hegemon wird auf dem Schlachtfeld des Dritten Weltkrieges oder auf den Schlachtfeldern einer Kette von imperialistischen Kriegen gekrönt, nicht aber am Grünen Tisch.

Der US-Imperialismus und China sind feindliche Zwillinge, beide Seiten können nicht zusammen existieren, sie können nur zusammen untergehen. Der US-Imperialismus kann sein Defizit nur finanzieren, wenn China bereit ist, dies zu finanzieren und China kann nur dann exportieren, wenn der US-Imperialismus der Importeuer der letzten Instanz bleibt. Aber eben diese Akkumulationsbedingungen ändern sich. China hat genug Kapital akkumuliert, daß es in die höchste Sphäre der Akkumulation vorstößt, der Mehrwertproduktion komplex zusammengesetzter Arbeit und wird so zu einer Bedrohung des US-Imperialismus im Besonderen und der imperialistischen Kette (auch der russische Imperialismus ist ein Kettenglied der imperialistischen Kette) im Allgemeinen. Der US-Imperialismus und die imperialistische Kette (außer dem russischen Imperialismus) wollen China an dieser Entwicklung hindern und ziehen auch den imperialistischen Krieg gegen China in Betracht. Bisher hat der russische Imperialismus mit seiner politischen und militärischen Unterstützung Chinas dies Szenario verhindert. China ist militärisch und politisch zu schwach, um sich gegen den US-Imperialismus und gar gegen die imperialistische Kette als Ganzes zu behaupten. Nur unter dem (auch nuklearen) Feuerschutz des russischen Imperialismus ist und war China als Führungsmacht der Peripherie in der Lage, sich gegen den Imperialismus erfolgreich zu verteidigen. Nur die innerimperialistischen Widersprüche haben China vor einem imperialistischen Angriffskrieg (welcher auch ein nuklearer Angriffskrieg-nuklearer Enthauptungsschlag) gewesen wäre, bewahrt. Auf keinen Fall die Illusion einer friedlichen Koexistenz. Die Illusion der „friedlichen Koexistenz“ ist eine Illusion aus den ehemaligen bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten, aus Staaten, welche dem Kapitalismus in seiner höchsten Form, dem Imperialismus, deutlich unterlegen waren und deshalb implodierten. Damit ist die Ideologie der „friedlichen Koexistenz“ eine Ideologie der Schwäche und der Kapitulation. Der Imperialismus akzeptiert keine bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten im Kapitalismus; der Kapitalismus akzeptiert keine Schwäche. Der Imperialismus kann nur das Recht des Stärkeren akzeptieren, aber niemals ein Recht, indem der „Starke“ und der „Schwache“ gemeinsam koexistieren, sowenig Wolf und Haase gemeinsam friedlich koexistieren können. Entweder eine Metropole ergreift die Hegemonie oder China als Führungsmacht der Peripherie ergreift diese Hegemonie im Dritten Weltkrieg oder in einer Kette von imperialistischen Kriegen. Würde China die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette erreichen, dann wäre China zur imperialistischen Metropole transformiert. Eine hypothetische Entwicklung. Davor stehen der Dritte Weltkrieg bzw. eine Kette von imperialistischen Kriegen. Auf friedlichem Wege wurde noch niemals die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette bzw. des Kapitalismus errungen. Der Weg zur Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette, innerhalb des Kapitalismus, ist ein Weg aus Blut und Eisen. Entweder China greift an, oder wird angegriffen. Aus diesem Grunde versucht China sein Bündnis mit dem russischen Imperialismus auf ein höheres Niveau zu heben und strebt ein enges Verteidigungsbündnis mit Rußland an. Rußland ist diesem Bündnis zugeneigt, hält sich aber noch bedeckt. Das Schicksal des chinesischen Kapitalismus liegt in den Händen des russischen Imperialismus. Bisher war der russische Imperialismus noch die Vetomacht für China in der imperialistischen Kette. Aber das muß nicht immer so bleiben. Alleine gegen die imperialistische Kette kann China nichts ausreichen. Gelingt es innerhalb der imperialistischen Kette die Widersprüche zu überbrücken, auszugleichen, ist der chinesische Kapitalismus verloren. Da eine „friedliche Koexistenz“ zwischen Kapital und Arbeiterklasse, zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten, objektiv nicht möglich ist, ist auch eine „friedliche Koexistenz“ zwischen den kapitalistischen Staaten nicht möglich. Der Krieg als Negation der „friedlichen Koexistenz“ ist die Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln. Das Wertgesetz strukturiert den Kapitalismus und erscheint an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Konkurrenz. Einen Kapitalismus ohne Krieg und Konkurrenz, ohne Ausbeutung, gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Im Kapitalismus kann es wenn überhaupt nur eine gewaltsame Koexistenz geben, dann, wenn beide Seiten zu schwach sind, die Entscheidung herbeizuführen. Dann erscheint die gewaltsame Koexistenz als „friedliche Koexistenz“. Aber das ist nur eine Zwischenphase, bis der nächste Versuch gestartet wird, die Konkurrenzfrage auch auf gewaltsame Weise zu lösen.

Auch der deutsche Imperialismus richtet sich auf einen „Großkrieg“ zwischen imperialistischen Metropolen aus. Die Zeit der Kolonialkriege ist vorbei. Die Afghanistan-Niederlage des US-Imperialismus und des NATO-Paktes ist auch eine Niederlage des deutschen Imperialismus, denn auch der deutsche Imperialismus hatte seine Truppen an der Front und hat dort auch Kriegsverbrechen begangen. Nun muß sich ebenfalls der deutsche Imperialismus politisch und militärisch neu aufstellen. Damit rückt wieder perspektivisch die Wehrpflicht in den Vordergrund. Ohne ein Massenheer ist ein imperialistischer Großkonflikt nicht möglich. Mit dem Ende des sogenannten Kalten Krieges, der Kampf zwischen dem Kapitalismus, der vom Imperialismus strukturell bestimmt wird und den bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten bestand auch keine Notwendigkeit mehr von Massenheeren. Der drohende Dritte Weltkrieg verschwand mit dem Untergang der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten und die neoliberale Weltordnung herrschte durch den US-Imperialismus und der US-Imperialismus herrschte durch die neoliberale Weltordnung. Erst später rekonstruierte sich der russische Imperialismus als Imperialismus und die kapitalistische Entwicklung Chinas war noch ganz am Anfang. Der neoliberale Weltmarkt begünstigte im Laufe der Zeit das russische und chinesische Kapital im Gegensatz zu dem Urheber des neoliberalen Weltmarktes. Ab einem bestimmten abstrakten Punkt wurde der neoliberale Weltmarkt zur Fessel für das russische und chinesische Kapital und sie begannen langsam aus dem neoliberalen Weltmarkt auszusteigen. Dies versuchte der US-Imperialismus mit seinen transatlantischen Verbündeten zu verhindern und die Kolonialkriege wie Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Ukraine sollten den Ausstieg Rußland und Chinas aus dem neoliberalen Weltmarkt verhindern. Doch objektiv führten sie zur Forcierung des Ausstiegs von Rußland und China aus dem neoliberalen Weltmarkt, führten dazu, daß in diesen Kolonialkriegen Rußland und China die andere Seite unterstützte. Die Kolonialkriege waren also nur verdeckte imperialistische Kriege auf dem Rücken Dritter und statt den neoliberalen Weltmarkt zu stabilisieren, führten sie objektiv zu seiner Destabilisierung. Auch Afghanistan war ein innerimperialistischer verdeckter Krieg des US-Imperialismus gegen den russischen Imperialismus und China. Der chinesische Verbündete Pakistan mit seinem international sehr bedeutenden Geheimdienst ISI hielt den Taliban den Rücken frei. Ohne den pakistanischen Geheimdienst ISI und damit ohne Pakistan hätten die Taliban in Afghanistan nicht siegen können. Nur mit Hilfe des pakistanischen ISI konnte der US-Imperialismus die Reaktion gegen die Sowjetunion militärisch unterstützten. Der Sieg der Reaktion in Afghanistan 1989 mi dem Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan war immer auch ein Sieg Pakistans und nicht nur des US-Imperialismus. Nun hat der US-Imperialismus Pakistan verloren, weil er auf Indien als Gegengewicht zu China setzt und da Pakistan und Indien verfeindet sind, orientiert sich Pakistan in Richtung China und Rußland. Der US-Imperialismus hätte nur dann in Afghanistan siegen können, wenn Pakistan wieder auf seiner Seite wäre. Ohne Pakistan kann man in Afghanistan nicht siegen. Pakistan hält den Schlüssel zu Afghanistan in der Hand. Ohne Pakistan kann man in Afghanistan nicht siegen. Mit Pakistan an seiner Seite hat man nur die Mindestbedingung für einen Sieg in Afghanistan in der Hand.

Die Präsidentschaft Trump ist dann die Reaktion auf das Scheitern des US-Imperialismus, dem russischen Imperialismus und China weiterhin Fesseln anlegen zu können. Nun bricht auch der US-Imperialismus mit dem neoliberalen Weltmarkt und setzt sich an die Spitze dieser Entwicklung und zwingt so objektiv auch die transatlantischen „Verbündeten“ zu einem Kurswechsel. Auch sie müssen sich jetzt dem US-Imperialismus deutlicher widersetzen. Das transatlantische Verhältnis ist zerbrochen. Die Präsidentschaft Biden führt die Präsidentschaft Trump weiter, nur mit anderen, subtileren, Mitteln. Mit dem neoliberalen Weltmarkt zerbricht die neoliberale Weltordnung. Es sind historische Zeiten. Der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes und der neoliberalen Weltordnung läßt die Bourgeoisie in Richtung bürgerlicher Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) flüchten. Die Epoche des neoliberalen Weltmarktes und der neoliberalen Weltordnung war tendenziell eine Epoche der „friedlichen Koexistenz“. Die Hegemonie des US-Imperialismus über den neoliberalen Weltmarkt und der neoliberalen Weltordnung, die „Pax Americana“ schuf eine „friedliche Koexistenz“ innerhalb der imperialistischen Kette, eben durch die gewaltsame Koexistenz des US-Imperialismus als letzte Instanz innerhalb der imperialistischen Kette. Der US-Imperialismus erzwang, notfalls mit gewaltsamen Mitteln, die „friedliche Koexistenz“ der Metropolen untereinander. Mit dem Verlust der US-Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette verschwindet auch die die gewaltsame „friedliche Koexistenz“ in dieser und es bildet sich die allseitige imperialistische Vernichtungskonkurrenz aus, nicht nur im Verhältnis der Staaten untereinander, sondern vor allem in den inneren Strukturen einer jeden bürgerlichen Gesellschaft. In der imperialistischen Epoche des Kapitalismus wird Krieg zu Frieden und Frieden zu Krieg, im Innenverhältnis und im Außenverhältnis. Das Diktum der „nationalen Sicherheit“ negiert die „friedliche Koexistenz“, im Innenverhältnis, wie im Außenverhältnis.

Auch die „Linkspartei“ als ein Moment der kollektiven Einheitspartei der BRD trägt immer offener das Paradigma der „nationalen Sicherheit“ mit, beweist damit ihre „Regierungsfähigkeit“ für das Kapital. Doch das Kapital verlangt noch mehr Beweise. Die Linkspartei trägt den „Corona-Notstand“ gehorsam mit und profiliert sich gar mit Vorschlägen zur Verschärfung des „Corona-Notstandes“. Kurz vor Ende des Wahlkampfes für die Bundestagswahlen zaubert die Parteiführung ein „Sofortprogramm“ aus der Tasche und hebelt damit das Wahlprogramm für die Bundestagswahlen aus. Die Forderungen des „Sofortprogramms“ sind Minimalforderungen und lassen sich gut an die Forderungen von SPD und Die Grünen anpassen. Die SPD und die Grünen haben deutlich gemacht, daß die Linkspartei sich zum NATO-Pakt zu bekennen haben. Das Sofortprogramm schweigt sich in dieser Frage aus, kein Bekenntnis zum NATO-Pakt, aber auch kein Bekenntnis zu bisherigen Programmatik der Linkspartei zur Überwindung oder gar Abschaffung des NATO-Paktes, d.h. dieser zentralen Frage wird ausgewichen. Die „Linkspartei“ marschiert immer offener im Gleichschritt der „nationalen Sicherheit“. Die Frage zum NATO-Pakt ist eben nicht „nur“ eine außenpolitische Frage, sondern berührt zentral auch das sogenannte Innenverhältnis der Arbeiterklasse zum Kapital, denn der NATO-Pakt strukturiert das konkrete Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeiterklasse in und außerhalb der Betriebe. Es schreiben sich die NATO-Normen auf mannigfaltiger Weise in die zivile Verwaltung ein, in die Baunormen der Infrastruktur etc., d.h. Straßen und Brücken etc. sind nach NATO-Normen gebaut worden. Der NATO-Pakt zielt nicht nur gegen den „äußeren Feind,“ sondern ebenso gleichzeitig gegen den „inneren Feind“. Auch der „innere Feind“ kann „offen“ über militärische Maßnahmen angegriffen werden (der Putsch in Griechenland 1967, der Putsch in der Türkei 1980, tendenziell indirekter die Konterrevolution gegen die portugiesische Revolution) oder aber verdeckt durch die NATO-Geheimarmee Gladio (am deutlichsten in Italien, aber auch in Frankreich, Britannien, Deutschland Spanien etc). Die Reaktion des NATO-Paktes muß jede reformistische Bewegung einkalkulieren. Der NATO-Pakt ist eine äußere Verteidigungslinie der deutschen Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse und stabilisiert die Klassenherrschaft der deutschen imperialistischen Bourgeoisie nicht nur nach außen, sondern vor allem nach innen. Der NATO-Pakt ist ein Pakt der imperialistischen Kette gegen die Arbeiterklasse. Nicht umsonst drohte immer in den 70er Jahren in Italien und Portugal ein zweites Chile. Der Putsch in Chile gegen Allende war immer auch eine Warnung an Italien und Portugal. Die Warnungen des US-Imperialismus und des NATO-Paktes trugen vor allem in Spanien Früchte. Dort enthielten sich die Reformisten auch noch der kleinsten Reform, unterwarfen sich schon präventiv dem US-Imperialismus und seines NATO-Paktes. Auch Reformen sind schon am NATO-Pakt gescheitert (die Aktionen der NATO-Geheimarmee Gladio in Italien gegen den bürgerlichen Reformator Aldo Moro bis hin zu seiner Ermordung durch die von Gladio unterwanderten Roten Brigaden sind exemplarisch. Aldo Moro vom linken Flügel der Christdemokraten wollte den italienischen Imperialismus durch eine enge Zusammenarbeit mit der euro-stalinistischen KP reformieren und modernisieren. Trotz Warnungen der NATO-Führungsmacht USA hielt Aldo Moro an dieser Reformpolitik fest und wurde ermordet. Mit seiner Ermordung war das Reformbündnis Christdemokratie-eurostalinistische KP am Ende).

Der Corona-Notstand ruht auf den materiellen Grundlagen, welche durch die Ausrufung des „Bündnisfalls“ durch den NATO-Pakt im Oktober 2001 geschaffen wurden. Nachdem der US-Imperialismus die terroristischen Anschläge in den USA am 11 September 2001 inszeniert hatte, rief der NATO-Pakt den „Bündnisfall“ aus und schon im Oktober 2001 erfolgte der Angriffskrieg des NATO-Paktes unter der Führung des US-Imperialismus gegen Afghanistan. Mit dem „Bündnisfall“ traten automatisch die erste Stufe der Notstandsgesetze in Kraft, welche sich auf die Organisierung der Wirtschaft im Sinne einer Kriegswirtschaft beziehen. Der „Bündnisfall“ wurde einstimmig beschlossen und kann nur einstimmig aufgehoben werden, solange gilt er weiter bis heute und ist die materielle Basis für kriegswirtschaftliche Eingriffe in die kapitalistische Ökonomie des deutschen Imperialismus. Die administrativen Maßnahmen des „Corona-Notstandes“ bauen auf die erste Stufe der Notstandsgesetze auf. Die Tendenzen zum Notstandsstaat sind also älter als der „Corona-Notstand“,

Die NATO-Mitgliedschaft des deutschen Imperialismus schränkt also auch den politischen Gestaltungsraum ein und damit auch eine keynesianische oder erst Recht gar linkskeynesianische Wirtschaftspolitik. Das „Sofortprogramm“ der Linkspartei läßt sich nur mit dem NATO-Pakt durchsetzen, aber keinesfalls gegen den NATO-Pakt. Ein „Sofortprogramm“ mit dem Segen des NATO-Paktes ist ein proimperialistisches „Sofortprogramm“, aber kein Ausbruch in Richtung sozialer Gleichheit und Freiheit. Das vage „Sofortprogramm“ der Linkspartei wird sich den Interessen des deutschen Imperialismus und des NATO-Paktes anpassen und nicht umgekehrt, ist real nur die linke Flankendeckung für eine notstandsgestützte Deflationspolitik des deutschen Kapitals gegen die Arbeiterklasse. Immer energischer verteidigt die Linkspartei die „nationale Sicherheit“ gegen die Arbeiterklasse. Die direkte oder indirekte Unterstützung des NATO-Paktes ist nichts anderes als die Verteidigung der „nationalen Sicherheit“ des deutschen Imperialismus, denn gegenwärtig fällt die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus mit der Mitgliedschaft im NATO-Pakt zusammen. Im NATO-Pakt findet der deutsche Imperialismus seine „nationale Sicherheit“-gegen die Arbeiterklasse. Die „nationale Sicherheit“ des deutschen Kapitals bzw. die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus ist die größte Bedrohung für die historischen Interessen der Arbeiterklasse.

Die Linkspartei-Bürokratie wird immer offener ein Moment des deutschen Imperialismus. Die Akzeptanz des NATO-Paktes ist der letzte offene Schritt in diese Richtung und damit ein Schritt in Richtung des Dritten Weltkrieges. Der NATO-Pakt ist angegeben, aber es geht um real um die Machtentfaltung des deutschen Imperialismus, der Kampf um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette. Jetzt mit dem NATO-Pakt, aber, wenn es sein muß, auch ohne den NATO-Pakt oder gar gegen den NATO-Pak auf jeden Fall aber der deutsche „Sonderweg“. Die Weltordnung von Jalta und Potsdam löst sich auf und der deutsche Imperialismus verliert seine Fesseln, den die Sieger des ersten und zweiten imperialistischen Weltkrieges ihm angelegt haben; Fesseln die den deutschen Imperialismus nach innen und außen fesselten. Der dritte Griff zur Weltmacht ist möglich. Dieser dritte Griff zur Weltmacht ist die Folge von dem offenen Scheitern des US-Imperialismus und seines NATO-Paktes in Afghanistan. Der NATO-Pakt ist nicht mehr in der Lage, die „nationale Sicherheit“ des deutschen Imperialismus zu verteidigen. Nun muß sich der deutsche Imperialismus selbst „verteidigen“. Das Bekenntnis der Linkspartei zum NATO-Pakt ist nichts anderes als ein reales Bekenntnis zum deutschen Imperialismus und zum Kampf um die deutsche Weltherrschaft. Aus den Reihen der Linkspartei-Partei wird dies auch verdeckt ausgesprochen. Da nun der US-Imperialismus und auch der NATO-Pakt gezwungen sind, sich von seinen Kolonialkriegen zu verabschieden (das Scheitern in Afghanistan), kann sich nun die Linkspartei offen zum NATO-Pakt bekennen, was impliziert, daß die Linkspartei-Bürokratie dann den NATO-Pakt als „friedensfähig“ ansieht. Der Kern des NATO-Paktes ist es nicht, Kolonialkriege zu führen, sondern imperialistische Großkriege. Die Niederlage in Afghanistan macht den NATO-Pakt nicht „friedfertiger“, sondern aggressiver. Und diese Aggression des NATO-Paktes richtet sich vor allem gegen den russischen Imperialismus und gegen China, steigert die internationalen Spannungen in Richtung Dritter Weltkrieg. Die Neuausrichtung des NATO-Paktes ist eine Neuausrichtung auf den Kern der NATO, dem imperialistischen Großkrieg, dem Dritten Weltkrieg. Die Niederlage in Afghanistan, die Niederlage im kolonialen Krieg, führt nicht zur „Entspannung“ zwischen den Metropolen, sondern im Gegenteil zu ansteigenden Spannung innerhalb der imperialistischen Kette und das Bekenntnis der Linkspartei-Führung zum NATO-Pakt ist ein Beitrag zu Steigerung der internationalen Spannungen, wie auch ein Beitrag zu Steigerung der sozialen und politischen Spannung in Deutschland selbst.

Das Bekenntnis zum NATO-Pakt ist nur der formale und logische Schlußpunkt der politischen Entwicklung der Linkspartei. Bezüglich zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan gab es in der Fraktion der Linkspartei im Bundestag ebenfalls deutliche Risse. Ein Teil der Fraktion der Linkspartei war offen für ein weiteres „humanitäres“ Mandat der Bundeswehr, was nach der Niederlage völlig irreal ist, jedoch wird damit dem folgenden Bekenntnis zum NATO-Pakt der Weg geebnet.

Letztlich ist jedoch entscheidend, daß die Linkspartei am radikalsten für den „Corona-Notstand“ getrommelt hat und sogar dabei die CDU/CSU weit überholt hat. Unter der Losung: „Zero Covid“ wurde ein immer härterer Notstand gefordert. Über die SARS-Corona-Pandemie lernte die Linkpartei den „starken Staat“ lieben. Der „starke Staat“ konnte nicht stark genug sein. Mit der SARS-Corona-Pandemie verwirklichten sich die schon seit langem existierenden opportunistischen Tendenzen in der Linkspartei, die endgültige Integration in die kollektive Einheitspartei der BRD, eine Integration in den Notstand. Mit der offenen Notstandspolitik der Linkspartei hat die Linkspartei den Rubikon überschritten. Die Legitimierung des „Corona-Notstandes“ durch die Linkspartei bereitete dem NATO-Bekenntnis der Linkspartei den Boden. Der qualitative Bruch innerhalb der Linkspartei ist nicht das NATO-Bekenntnis der Linkspartei Führung, sondern die Legitimierung und Exekution des Corona-Notstandes durch die Linkspartei. Erst das Bekenntnis zum (Corona-)-Notstandsstaat macht das Bekenntnis zum NATO-Pakt und damit das Bekenntnis zum deutschen Imperialismus möglich und notwendig. Das Bekenntnis zum NATO-Pakt als ein besonderes Bekenntnis zum deutschen Imperialismus führt in Richtung Dritter Weltkrieg und konterrevolutionärer Bürgerkrieg und geht auch schon davor zu Lasten der Arbeiterklasse. Die notwendige Aufrüstung senkt tendenziell immer das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse zum Vorteil des militärisch-industriellen Komplexes. Wer sein Bekenntnis zum NATO-Pakt ablegt und damit sein Bekenntnis zum deutschen Imperialismus, fordert eine weitere Aufrüstung. Wer sich zum NATO-Pakt und damit zum deutschen Imperialismus bekennt, bekennt sich auch zur imperialistischen Bundeswehr, zu den Geheimdiensten und der Polizei, bekennt sich zu den repressiven Staatsapparaten des bürgerlichen Klassenstaates gegen die Arbeiterklasse, bekennt sich zur unterdrückenden Gewalt gegen die Arbeiterklasse. Mit dem Bekenntnis zum NATO-Pakt vollendet sich formal das praktisch-tätige Bekenntnis der Linkspartei zum (Corona-) Notstand und damit zum deutschen Imperialismus.

Die Linkspartei drängt zur formalen Macht. Schon seit längerem paßt sich die Linkspartei in die kollektive Einheitspartei der BRD. Die Parteibürokratie öffnete sich zu den höheren und mittleren Schichten des Kleinbürgertums und auf diese Weise änderte sich die soziale und politische Zusammensetzung der Linkspartei. Schritt für Schritt wurde das untere Kleinbürgertum und die Arbeiterklasse in der Linkspartei an den Rand gedrängt und damit egalitäre Positionen, während gleichzeitig das mittlere und höhere Kleinbürgertum mit seinen elitären links-neoliberalen Positionen Fuß faßte. Die Politik der Linkspartei ist geprägt vom mittleren und höheren Kleinbürgertum als soziale und politische Massenbasis für die Parteibürokratie. Die politische Kritik der Linkspartei richtet sich nur noch gegen vereinzelte Aspekte und „Auswüchse“ des kapitalistischen Systems, nicht aber gegen das kapitalistische System selbst. Auch eine reformistische Kritik des Kapitalismus bleibt eine Kritik des kapitalistischen Systems; die Linkspartei fällt sogar im Verhältnis zum organisierten Reformismus weit hinter diesem zurück. Das geschieht, wenn man keine sozialen Klassen und keine Klassenkämpfe mehr kennt, wenn man nur noch Individuen sieht, aber keine Gesellschaft. Wenn dann ein tiefer Kriseneinbruch stattfindet, flüchtet man schnell in die Arme des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) und vergißt dann auch schnell seine Berufung auf das Individuum und die „Freiheit“. Insofern drückt die Parteibürokratie und auch die Parteiführung mit ihrer Politik der Förderung des „Corona-Notstandes“ und dem Bekenntnis zum NATO-Pakt tendenziell den Willen der Basis aus. Die Eingliederung der Linkspartei in die kollektive Einheitspartei der BRD ist keine Verschwörung der Parteibürokratie gegen die Basis, sondern ist die Folge der sozialen und politischen Neuzusammensetzung der Linkspartei selbst. Die Linkspartei-Bürokratie schwört dem deutschen Kapital Nibelungentreue.

Die Linkspartei strebt immer schneller in Richtung „Regierungsverantwortung“, je konkreter der „Corona-Notstand“ wird. Immer deutlicher konkretisiert sich der „Corona-Notstand“ gegen die Arbeiterklasse. Gegen das SARS-Corona-Virus ungeimpfte Lohnarbeiter sollen dann, wenn die in Quarantäne befohlen werden, keine Lohnfortzahlung mehr erhalten, d.h. wenn sie nicht vom „Homeoffice“ arbeiten können, erhalten sie vom Kapital keinen Lohn und vom bürgerlichen Staat keinen Lohnersatz. Diese Regelung realisiert sich über die einzelnen Bundesländer. Immer konkreter und deutlicher wird die Arbeiterklasse unter das „Corona-Notstandsrecht“ subsumiert. Der „Corona-Notstand“ rückt immer tiefer in die bürgerliche Gesellschaft vor, brennt sich immer tiefer in die Arbeiterklasse ein. Die Linkspartei akzeptiert diesen Vormarsch des autoritären Staates und weigert sich, die autoritären Tendenzen zu problematisieren. Der „Corona-Notstand“ wird an einigen Punkten gelockert und gleichzeitig an anderen Punkten verschärft. Es gibt Lockerungen bezüglich der geimpften Lohnarbeiter und Verschärfungen bezüglich der ungeimpften Lohnarbeiter, d.h. der „Corona-Notstand“ spaltet immer mehr die Lohnarbeiterklasse. Diese Entwicklung liegt in dem bürgerlichen Klassencharakter des „Corona-Notstandes“. Der „Corona-Notstand“ ist kein neutraler, klassenübergreifender Notstand, sondern weist einen bürgerlichen Klassencharakter aus und ist notwendig gegen die Arbeiterklasse gerichtet. Es gibt keinen „progressiven“ und keinen „reaktionären“ Notstand, sondern der Notstand im Kapitalismus ist immer reaktionär. Wer Illusionen in einen „progressiven“ Notstand hat, ist objektiv nichts anderes als ein getarnter Reaktionär. Die eiserne Logik des Notstands drängt auf die konkrete Realisation, welche nicht sofort erfolgen muß, sondern sich Zeit lassen kann. Es ist also nicht so, daß der „Corona-Notstand“ vormals „progressiv“ war und dann einfach in einen „reaktionären“ Notstand umschlug, sondern er war von Natur aus immer reaktionär. Es ist nicht möglich, den „Corona-Notstand“ zu befürworten und seine Hände in Unschuld zu waschen, es ist nicht möglich, seinen Pelz zu waschen, ohne sich dabei naß zu machen. Weiterhin ist es nicht möglich, sich gegen die konkrete Repression des Notstandsstaates auszusprechen, aber den „Corona-Notstand“ an sich zu verteidigen, denn es gibt keine chinesische Mauer“ zwischen dem Notstand an sich und der konkreten Realisation des Notstandes selbst. Nur der bürgerliche Staat entscheidet über den Notstand und damit ist nur er der Souverän, und keine naiven Untertanen, die sich einbilden, sie wären der (Notstands-)Staat. Der Notstandsstaat entscheidet souverän über den Notstandsstaat selbst, d.h. die herrschende Klasse entscheidet im Klassenkampf gegen die Arbeiterklasse über den Notstand. Auch der „Corona-Notstand“ ist ein Resultat des Klassenkampfes und markiert die Offensive des Kapitals gegen die Arbeiterklasse. In einer Offensive der Arbeiterklasse kann sich die herrschende Klasse nicht in einen Notstand retten, in einen bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), sondern die letzte Rettung der Bourgeoisie vor der proletarischen Revolution ist dann die Volksfront. Wer in den Notstand einsteigt, muß bis an Ende des Notstands gehen. Es ist irrational, wenn politische und soziale Kräfte, die sich für den „Corona-Notstand“ eingesetzt haben nun aus dem Notstand ganz oder partiell aussteigen wollen, weil er ihnen „zu einseitig“ vorkommt. Ein Notstand ist immer die Carte blanche für die Exekutive, welche nun die Vollmacht hat, ohne Kontrolle schalten und walten zu können. Aus einem Notstand kann man nicht mehr ohne weiteres aussteigen. Wer die Carte blanche vergibt, der trägt die Verantwortung dafür, was der Notstand unter der Arbeiterklasse anrichtet, der liefert die Arbeiterklasse und sich selbst den Notstand der herrschenden Klasse aus. Die Unterstützer des Notstandsstaates tragen auch die Verantwortung dafür, wenn der „Corona-Notstandsstaat“ den ungeimpften Lohnarbeitern die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vorenthält. Der „Corona-Notstandsstaat“ kommt nicht vom rechten Weg ab, sondern im Gegenteil zieht die notwendigen Konsequenzen aus dem „Corona-Notstand“. Ist erst einmal der Notstand verkündet, ist die materielle Basis für eine mögliche Radikalisierung des Notstandes gelegt. Der Notstand kann sich selbst radikalisieren, sich verselbständigen. Wer A sagt, muß auch B sagen. Es muß mit der Notstandslogik gebrochen werden und das geht nur durch den Bruch mit dem ganzen Notstand. Es können nicht nur einzelne Momente aus dem Notstand beseitigt werden, sondern nur der ganze Notstand selber. Wer dem „Corona-Notstand“ zustimmt, stimmt notwendig all seinen konkreten Momenten zu. Der Notstand wird durch die „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ begründet und jedes vereinzelte Moment des Notstandes kann mit der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ legitimiert werden. Es ist unmöglich, einzelne Momente des Notstandes vom Notstand selbst zu isolieren und nur ganz bestimmte, aber nicht alle, Momente des Notstandes zu kritisieren. Es gilt alles oder nichts.

Ebenfalls reicht es nicht, nur den Notstand abzulehnen, nicht aber die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, welche die materielle Basis für den Notstand sind. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bringen den bürgerlichen Staat mit seinem möglichen Notstand erst hervor. Einen Kapitalismus ohne Notstand gibt es nicht. Nicht der Notstand ist das zentrale Problem, sondern der Kapitalismus selbst. Auch das demokratisch-parlamentarische Klassenregime der Bourgeoisie ist immer die Klassendiktatur der Bourgeoisie über die Arbeiterklasse. Ein Notstand spitzt die soziale Klassendiktatur der Bourgeoisie über die Arbeiterklasse nur politisch zu. Der Notstand des Kapitals gegen die Arbeiterklasse kann nur dann beseitigt werden, wenn das Proletariat seine eigenen proletarischen Doppelherrschaftsorgane schafft, welche dem kapitalistischen Produktionsverhältnis und dem bürgerlichen Staat antagonistisch gegenüberstehen, was die Zerschlagung des bürgerlichen Staates zur Folge hat.

Eine revolutionäre Lösung ist der einzige Ausweg aus einer sich derzeit vertiefenden Krise des Kapitalismus. Die „Corona-Krise“ war nur der Anfang einer sich entwickelnden Systemkrise des Kapitalismus. Ein Zurück zu einer Situation, wie vor der „Corona-Krise“ ist nicht mehr möglich. Seit der „Corona-Krise“ verschärfen sich die Klassenkämpfe deutlich, eine tiefe soziale und politische Spannung liegt über dem Kapitalismus und äußert sich in einer großen Anzahl von Demonstrationen, Streiks, Revolten und Wahlen, die keine eindeutigen Ergebnisse bringen und damit eine stabile Regierungsbildung erschweren. In diesen Situationen greift die Bourgeoisie auf den Notstand zurück, um so zumindest eine Friedhofruhe zu erzwingen. Nur wegen einer Pandemie greift keine Bourgeoisie auf den Notstand zurück. Es sind die Klassenspannungen und damit auch die internationalen ökonomischen und politischen Spannungen, welche die Bourgeoisie in den Notstand treiben. Diese sozialen Spannungen verdinglichen sich in den inflationären und deflationären Tendenzen der Akkumulation und finden ihren Ausdruck in den internationalen Spannungen. Die tendenzielle Negation des NATO-Paktes durch den Pazifik-Pakt AUKAS als ein Moment der Neuformierung des US-Imperialismus drückt den Zusammenprall von deflationären und inflationären Tendenzen der Akkumulation aus. Die Widersprüche zwischen den inflationären und deflationären Tendenzen der Akkumulation eskalieren und lokalisieren sich geographisch in Ostasien. Das chinesische Kapital befeuert einmal die inflationären Tendenzen, da die chinesische Akkumulation im Rahmen der SARS-Corona-Pandemie im Vergleich zu den Metropolen nur kurz stillgelegt wurde; der Produktionsapparat konnte schnell wieder auf einen höheren Auslastungsgrad gefahren werden, doch das Kapital der Rest der Welt kommt nicht so schnell hinterher, so daß dann inflationäre Tendenzen gefördert werden. Gleichzeitig jedoch kommen mit der tiefen Krise eines großen chinesischen Immobilienkapitals deflationäre Tendenzen in China und der Welt auf. Der US-geführte Pazifik-Pakt AUKAS ist eine politische Reaktion auf die konkrete Entwicklung des chinesischen Kapitalismus und zielt auf die Kontrolle der Seehandelswege, auf denen das chinesische Kapital seine Rohstoffimporte und Warenexporte abwickeln muß. Es geht damit auch um die politische Modifikation der Rohstoffpreise. Das extreme Schwanken der Rohstoffpreise zwischen den Polen Deflation und Inflation zeigt die inneren Probleme der Kapitalverwertung auf und äußert sich gegenwärtig auch politisch in der Eskalation der Widersprüche zwischen den USA und China in der Pazifik-Region. So entschlossen, wie der US-Imperialismus in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gegen den japanischen Imperialismus vorging, ihn Ende der dreißiger Jahre von den strategischen Rohstoffen abschnitt und so den japanischen Angriff auf die USA provozierte. Entweder hätte der japanische Imperialismus vor dem US-Imperialismus ohne einen einzigen Schuß kapitulieren müssen oder aber den Angriffskrieg wagen. Der US-Imperialismus wartete auf den Angriff des japanischen Imperialismus, um dann nach innen mobilisieren zu können. Nach der inneren Mobilisierung des US-Imperialismus gegen den „japanischen Feind“ konnte der US-Imperialismus seine überlegene Macht ausspielen. Auf diesen alten historischen Pfaden wandelt heute der US-Imperialismus. Der US-Imperialismus versucht China von See her von der Rohstoffversorgung und von den Exportmöglichkeiten abzuschneiden. China versucht mit dem Projekt Seidenstraße zu kontern, d.h. seine Rohstoffversorgung und seine Exportmöglichkeiten über den Landweg in Richtung Westen und Süden zu sichern. Daraufhin antwortet der US-Imperialismus mit einer Einkreisungsstrategie und versucht einen politisch-militärischen Ring per Land und per See um China zu ziehen. Um diesen eisernen US-Ring zu durchbrechen, ist China gezwungen, mit dem russischen Imperialismus ein Bündnis einzugehen. Das pazifische AUKAS-Bündnis ist nur ein Moment in der Einkreisungspolitik des US-Imperialismus gegen China. Über diese Strategie versucht der US-Imperialismus China in die Knie zu zwingen oder zum Krieg zu provozieren. Es geht damit um die Kontrolle der Rohstoffpreise. Die Entwicklungsrichtung der Rohstoffpreise ist derzeit ein Resultat des Kräftemessens zwischen dem US-Imperialismus und China als den zwei feindlichen Zwillingsbrüdern der Akkumulation von Kapital, auch ein Kampf zwischen Gläubiger und Schuldner im Weltmaßstab. Dabei gerät der deutsche Imperialismus zwischen die Fronten, wird zwischen den USA und China lavieren müssen und versuchen, über eine verschärfte Deflationspolitik auf dem Rücken der Arbeiterklasse die etwaigen Verluste zu kompensieren. Dies wäre dann auch eine indirekte Auseinandersetzung mit dem US-Imperialismus und China, denn für eine direkte Auseinandersetzung ist der deutsche Imperialismus noch nicht stark genug. Schon wird der Ruf nach einer neuen Agenda 2010 nach den Bundestagswahlen laut. Im Hartz IV-System laufen bereits große Kürzungen vor den Bundestagswahlen. Da viele Hartz IV-Empfänger resigniert haben, brauch die kollektive Einheitspartei der BRD auf diese auch keine Rücksicht zu nehmen. Schon vor den Bundestagswahlen macht die Bourgeoisie klar, wohin es nach den Bundestagswahlen geht. Der Notstandsstaat steht dafür schon bereit.

Die real existierende Massenunzufriedenheit wird vermittels des „Corona-Notstandes“ auf die autoritäre „Corona-Politik“ umgeleitet. Im Feld der „Corona-Politik“ reproduziert sich die soziale Massenunzufriedenheit in verzerrter, entfremdeter Form. Statt das Übel an den Wurzeln zu packen und die „soziale Frage“ zu thematisieren, wird die „Corona-Politik“ thematisiert und zwar als fremd gegenüber der „sozialen Frage“, was die Lohnarbeiterklasse tief spaltet. Die „Corona-Politik“ des bürgerlichen Staates dient der Abschreckung auch in anderen politischen Bereichen und somit als allgemeines Zeichen für die Arbeiterklasse, ohne die anderen politischen Bereiche überhaupt zu erwähnen. Damit steht die „Corona-Notstandspolitik“ in Inhalt und Form auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen für Verzicht, Befehl und Gehorsam und geht über ihr enges Feld hinaus. Die „Corona-Notstandspolitik“ strukturiert das gesamte Feld des Klassenkampfes in ihrem Sinn um. Aus diesem Grunde wird auch die „soziale Frage“ derzeit vom Kapital negiert, denn sie kommt konkret im Moment von „unten“ aus der kapitalistischen Gesellschaft. Das Kapital wird die „soziale Frage“ nur dann diskutieren, wenn sie konkret in die verschiedenen Phasen der Rekonstruktion der Verwertungsbedingungen integriert werden kann, wenn die Initiative vom Kapital ausgeht und nicht von der Arbeiterklasse. Derzeit ist die Arbeiterklasse nicht in der Lage, das Kapital zur Diskussion der „sozialen Frage“ zu zwingen. Die stumme Massenunzufriedenheit reicht nicht aus, um das Kapital zu materiellen Zugeständnissen zu zwingen. Erst wenn die soziale Massenunzufriedenheit aktiv wird, ist das Kapital bereit, sich mit der „sozialen Frage“ auseinanderzusetzen. Die stumme Massenunzufriedenheit der Arbeiterklasse führt dazu, daß sich die mittleren und höheren Schichten der Arbeiterklasse nach vorne drängen und das politische Vakuum, welches die Inaktivität der Arbeiterklasse hinterläßt, zu füllen und zwar mit ihren eigenen Klasseninteressen als Puffer zwischen den beiden antagonistischen Klassen. Statt der „sozialen Frage“ werden dann „Menschheitsfragen“ thematisiert, wie „Klimawandel“ etc, völlig losgelöst von der kapitalistischen Gesellschaft, welche in einem engen Zusammenhang mit der Neuzusammensetzung des Kapitals stehen, mit neuen Verwertungsfelder des Kapitals im Rahmen einer „grünen“ Ökonomie, welche auf die Ökonomisierung der Rohstoffnutzung setzt, weil die Rohstoffe nicht vor Ort sind und die Transportwege aufgrund der innerimperialistischen Konkurrenz nicht mehr garantiert werden können. Die Neuzusammensetzung des Kapitals im Rahmen einer Ökonomisierung des Rohstoffeinsatzes ist der zentrale Satz des Kapitalismus in seiner multipolaren Epoche. An der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erscheint dies in der „Menschheitsfrage Klimawandel“ bzw. als „grüner Kapitalismus.“

Der neoliberale Weltmarkt unter der Hegemonie des US-Imperialismus garantierte den „freien Welthandel“ und damit für die Metropolen nicht nur den Export von Fertigwaren, sondern auch den Import den Rohstoffen. Mit dem Protektionismus des multipolaren Weltmarktes entstehen imperialistische Blöcke und damit ist der ungehinderte Zugriff auf die Rohstoffe, vor allem strategische Rohstoffe, nicht mehr möglich. Es setzt objektiv erzwungen eine Tendenz zur Autarkie ein, zur Autarkie der imperialistischen Blöcke. Damit muß die Rohstoffbewirtschaftung, die Rohstoffverarbeitung, neu organisiert werden. Es folgt eine Substitution von Rohstoffen, vor allem von Energierohstoffen, weg von den fossilen Energierohstoffen, hin zu erneuerbaren Rohstoffen (erneuerbare Biokraftstoffe aus Holz, Getreide, etc, wie auch Windkraft oder Solarenergie). Der „grüne Kapitalismus“ ist der „grüne Imperialismus“ des multipolaren Weltmarktes. Die politischen Aktionen des mittleren und höheren Kleinbürgertums verschaffen diesem „grünen Kapitalismus“, bzw. „grünen Imperialismus“ die notwendige Massenlegitimation. Damit ist die gegenwärtige Mobilisierung des Kleinbürgertums für den „grünen Kapitalismus“ eine Mobilisierung für den „grünen Imperialismus“, konkret für einen „grünen deutschen Imperialismus“. Die Etablierung des „Corona-Notstandes“ und einer „Corona-Deflationspolitik“ ist der erste Schritt in eine „grüne Deflationspolitik,“ die notfalls mit Hilfe eines „grünen“ Notstandes umgesetzt wird. Es geht um die qualitative Absenkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse unter dem Label des „Klimaschutzes“ und des „Umweltschutzes“, zuvor unter dem Label des „Gesundheitsschutzes“ bezüglich der SARS-Corona-Pandemie. „Klimaschutz“, „Umweltschutz“, „Gesundheitsschutz“ beziehen sich alle auf abstrakt-allgemeine „Menschheitsfragen“ und lassen die kapitalistisch organisierte Gesellschaft mit ihren sozialen Klassen außen vor. Damit verdinglicht „Klimaschutz“, „Umweltschutz,“ „Gesundheitsschutz“ zu ideologischen und materiellen Waffen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse im Sinne einer technokratischen neoliberalen Alternativlosigkeit. Real geht es der Bourgeoisie bei ihren „Menschheitsfragen“ nur um den kapitalistischen „Klimaschutz“, den kapitalistischen „Umweltschutz“, den „kapitalistischen „Gesundheitsschutz,“ also „Klimaschutz“, „Umweltschutz“ und „Gesundheitsschutz“ nur innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, d.h. es geht nur um die Neuzusammensetzung des Kapitals. Ein umfassender „„Klimaschutz“, „Umweltschutz“, „Gesundheitsschutz“ setzt einen revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen voraus. Es ist die Sache der Arbeiterklasse, diese Dinge zu realisieren. Damit sind „Klimaschutz“, „Umweltschutz“, „Gesundheitsschutz“ Fragen des Klassenkampfes, weil sie in der Produktionssphäre ihre Wurzeln haben und keine „Menschheitsfragen“. Während das Kapital, wie das Kleinbürgertum „Menschheitsfragen“ stellt, stellt das Proletariat die Klassenfrage. Es steht die „Menschheitsfrage“ gegen die Klassenfrage. Nur über die Klassenfrage läßt sich die „Menschheitsfrage“ lösen. Das Kapital setzt die „Menschheitsfrage“ als Angriff gegen die Klassenfrage. Der „grüne Kapitalismus“, d.h. der „grüne Imperialismus,“ ist die ideologische Form der Neuzusammensetzung des Kapitals gegen die Arbeiterklasse und setzt auch real auf den Notstandsstaat, um den Widerstand der Arbeiterklasse zu brechen.

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In der „Corona-Krise“ wurde der Notstand durchgesetzt und die Massen an diesen gewöhnt, wie vor allem an die „Corona-Deflationspolitik“. Das Erbe der „Corona-Krise“ sind Deflationspolitik und Notstand. Die Deflationspolitik endet nicht mit der „Corona-Krise“ und es ist offen, ob auch der „Corona-Notstandsstaat“ mit der „Corona-Krise“ endet. Sollte sich noch Widerstand herausbilden, kann der Notstandsstaat sehr schnell wieder aktiviert werden. Das Kapital schuf eine „Neue Normalität“ und wird nicht dulden, daß die Arbeiterklasse wieder in ihre „alte Normalität“ zurückfällt. Die Neuzusammensetzung des Kapitals gegen die Arbeiterklasse ist konkret die „Neue Normalität“ der Ausbeutung; der multipolare Kapitalismus ist die „Neue Normalität“, d.h. der autoritäre Kapitalismus ist die „Neue Normalität“ und dieser erscheint in der Form des „grünen Kapitalismus“ des „grünen Imperialismus und die „Corona-Krise“ ist der Bruch in diese „Neue Normalität“. Die „Corona-Krise“ und der „Corona-Notstandsstaat“ stellen nur die Brücke in den multipolaren Weltmarkt dar; der Bruch in den multipolaren Weltmarkt vollzieht sich in der Desintegration des neoliberalen Weltmarktes, in dem Zusammenbruch der Lieferketten und auch in der schweren Krise der Energieversorgung. Hier kann die Form des Notstandsstaates wechseln, weg vom „Corona-Notstand“, hin zum Wirtschafts- und Energienotstandsstaat, welcher in der Form des „Corona-Notstandsstaates und/oder in der Form des „Klimanotstandsstaats“ erscheint. Das Ziel ist nicht der permanente Notstand, sondern die Zurichtung und Abrichtung der Ware Arbeitskraft, der kollektiven Arbeiterklasse, für den multipolaren Produktionsprozeß. Gelingt es dem bürgerlichen Staat, die Arbeiterklasse real unter den neuen multipolaren Produktionsprozeß zu subsumieren, ist ein Notstand nicht mehr nötig, denn dann wird der Notstand ein neuer Normalzustand- die neue „Normalität“. Dies ist ein historischer Prozeß der seine Höhen und Tiefen hat und findet erst dann seine Realisation, wenn der multipolare Weltmarkt in einem neuen Hegemon überwunden wurde. Eine einfache Rückkehr zu der „Normalität“, wie vor der „Corona-Krise“, wird es nicht geben. Es mag vielleicht zeitweise Annäherungen an die alte neoliberale Normalität geben, die dann wieder durch multipolare und damit autoritäre Entwicklungen unterbrochen werden. Die „Neue Normalität“ ist das permanente Pendeln zwischen „alter neoliberaler Normalität“ und neuer „multipolarer Normalität“, zwischen einem parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Staat und dem bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), denn auch ein Ende der „Corona-Krise“ schafft nur Raum für die „Nach-Corona-Krise“, dann erst beginnt die „Corona-Krise“ vollständig durchzuschlagen, wenn gleichzeitig die Austerität wieder in den Vordergrund rückt.

Die Bundestagswahlen gehen in diese Richtung. Es gab einen Rechtsruck, aber keine Mehrheit von CDU/CSU, FDP und AfD. Aber es gibt auch keine Mehrheit für eine Linkskoalition aus SPD, Grüne und Linkspartei. Es wird schwierig eine stabile Regierung zu bilden. Dies wird eine Zeit dauern. Theoretisch ist auch eine Minderheitenregierung möglich. Eine Zersplitterung des Parlaments macht den Weg für einen Notstandsstaat frei. Der „Corona-Notstand“ ist der erste Schritt. Das Scheitern der Linkspartei an der fünf Prozent-Hürde ist die Konsequenz aus der opportunistischen Notstandspolitik der Linkspartei. Es ist nur den Direktmandaten zu verdanken, daß die Partei in Fraktionsstärke wieder in den Bundestag einziehen kann.

Die Ausblendung der „sozialen Frage“ aus dem Wahlkampf, wie auch die Ausblendung des Corona-Notstandes, macht deutlich, daß die kollektive Einheitspartei weiterhin ihre Austeritätspolitik durchführen wird. Diese beiden Themen sind Tabu und wurden deshalb nicht thematisiert und führt dazu, daß die unteren Schichten der Lohnarbeiterklasse der Wahl und dem politischen Prozeß im allgemeinen fernbleiben. Für die untersten Schichten der Lohnarbeiterklasse ändert keine Wahl etwas. Der Massenarbeiter hat nur weitere Angriffe auf sein Reproduktionsniveau zu erwarten.

  1. Der proletarische Weg

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung und international organisiert

-Arbeiterkontrolle der Produktion

Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner neofaschistischen Organisationen

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Grafikquelle :

Oben      —   PEGIDA Demonstration Dresden 2015-03-23

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4.) von Oben     —       Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer (1896)

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Unten          —     Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin am 29. August 2020.

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Schland – Deine Stiftungen

Erstellt von Redaktion am 3. Oktober 2021

Deutschlands parteinahe Stiftungen:
honoriert für die Nähe zur Macht

Bertelsmann Corporate Center Gütersloh 2011.jpg

Galten  Stiftungen im Volk je als etwas anderes als eine staatlich legitimierte Steuerumgehungen?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Johannes Schillo

Die Bundestagswahl 2021 ist gelaufen. Die Volkssouveränität trat für einige Sekunden beim Besuch der Wahlkabine in Erscheinung und das freiheitlichste Regime, das es je auf deutschem Boden gab, brachte die Legitimation „unseres“ Staates wieder einmal reibungslos über die Bühne – nämlich, wie Kritiker des Wahlvorgangs respektlos resümieren, die „Indienstnahme der Regierten für die Ermächtigung des Herrschaftspersonals“.

Auf diese „Sternstunde der Demokratie“ sind kritische Beiträge vor der Wahl verschiedentlich eingegangen (vgl. Scharf links, 27.8. http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[swords]=cechura&tx_ttnews[tt_news]=78089&tx_ttnews[backPid]=65&cHash=1fffd64027Telepolis, 19.9. https://www.heise.de/tp/features/Bundestagswahl-2021-Was-nicht-gewaehlt-werden-kann-und-was-jetzt-schon-feststeht-6195679.html). Dabei kam auch eine besondere Einrichtung der bundesrepublikanischen Politik zur Sprache, die nicht zuletzt für die Stabilität des hiesigen Parteiensystems sorgt und daher von einem populistischen Newcomer wie der AfD argwöhnisch beäugt, aber auch gerne selber in Anspruch genommen wird: die so genannten parteinahen Stiftungen (vgl. Scharf links, 1.9. http://www.scharf-links.de/46.0.html?&tx_ttnews[swords]=Schillo&tx_ttnews[tt_news]=78130&tx_ttnews[backPid]=65&cHash=cbcd6b9925).

Zu diesem Institut hier – im Nachgang zur Wahl und als Ausblick auf die erneute Etablierung eines stabilen Parteiensystems – einige sachdienliche Hinweise.

Gut geschmierte Apparate

Parteinahe Stiftungen sind Einrichtungen, die den politischen Parteien in Deutschland nahestehen, aber aus rechtlichen Gründen von ihnen getrennt sind. Die ältesten auf sozial- bzw. christdemokratischer Seite sind die Friedrich-Ebert- und die Konrad-Adenauer-Stiftung (wobei die CSU noch einen eigenen e.V. besitzt). Die FDP hat auch schon länger ihre Friedrich-Naumann-Stiftung, und in den 1990er Jahren kamen die Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Linke und die Heinrich-Böll-Stiftung für die Grünen hinzu.

Ein besonderer rechtlicher Rahmen für diese Institute und ihre Förderung aus öffentlichen Mitteln besteht interessanter Weise nicht. Das ist bemerkenswert angesichts eines Fördervolumens, das mittlerweile jährlich dreistellige Millionenbeträge erreicht und in den letzten Jahren eine stark steigende Tendenz aufweist. „So stiegen die Zuwendungen des Bundes an die politischen Stiftungen von 295 Mio. Euro im Jahr 2000 um 43,5 % auf 423,2 Mio. Euro im Jahr 2011. Von 2005 bis 2014 stiegen die Etats insgesamt um fast 50 % (zum Vergleich, Etatsteigerung Bundeshaushalt: 14 %). 2017 stieg der Betrag weiter auf 581,4 Mio. Euro.“ (Wikipedia)

Seit dem Amtsantritt von Angela Merkel als Bundeskanzlerin im Jahr 2005 haben die politischen Stiftungen laut Die Welt (12.12.2018) bis zu Beginn der letzten Legislaturperiode 5,6 Milliarden Euro erhalten – eine Entwicklung, die immer wieder Proteste einschlägiger NGO‘s hervorrief. „Die Finanzierung der Stiftungen verschlingt dreimal mehr Steuergeld als die staatliche Parteienfinanzierung“, monierte z.B. der Präsident des Steuerzahler-Bundes.

Die AfD war übrigens seinerzeit mit einer lauten Kritik an diesem „wenig durchschaubaren Finanzierungsgeflecht“ (Die Welt) angetreten und hält die Vorwürfe in ihrem Wahlprogramm verbalradikal aufrecht. Mittlerweile hat sie aber auch eine eigene Stiftung namens „Desiderius-Erasmus“ gegründet und meldet gleichfalls Ansprüche an, die nach der bisherigen parlamentarischen Regelung beim zweiten Einzug in den Bundestag auch erfüllt werden müssten – wenn dem nicht mit einem neuen Gesetz (zum Stiftungsrecht, zur Demokratieförderung…) ein Riegel vorgeschoben wird.

Eine gesetzliche Reglung ist übrigens eine alte Idee des Steuerzahler-Bundes, der (wie die Weizsäcker-Kommission aus den 1990er Jahren) ein spezielles Stiftungsgesetz forderte: „Für alle Bereiche der Politik existieren gesetzliche Regelungen zu Anspruch, Umfang, Verwendung und Kontrolle von Steuermitteln – ob für Abgeordnete, Fraktionen oder Parteien.“ Daher sei es nicht akzeptabel, „dass nur die Stiftungen in einem rechtsfreien Raum finanziert werden – und das mit Steuergeld.“ Ähnliche Kritik kam vom Anti-Korruptions-Verein Transparency International.

Ein rechtsfreier Raum?

In einem rechtsfreien Raum findet die Finanzierung jedoch nicht statt. Nach eine Klage der Grünen, die anfangs, wie später die AfD, die Praxis einer ungerechten, indirekten Parteienfinanzierung monierten, entschied das Bundesverfassungsgericht (BVG) im Juli 1986, dass es hier im Prinzip nichts zu beanstanden gibt:

2019-12-09 Verleihung LeibnizRingHannover im HCC (532).JPG

„Die Vergabe öffentlicher Mittel zur Förderung politischer Bildungsarbeit an parteinahe Stiftungen setzt von den Parteien rechtlich und tatsächlich unabhängige Institutionen voraus, die sich selbständig, eigenverantwortlich und in geistiger Offenheit dieser Aufgabe annehmen. Diese müssen auch in der Praxis die gebotene Distanz zu den jeweiligen Parteien wahren.“ (BVG https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv073001.html)

Eine solche Distanz – die ganz einfach durch die Gründung eines eigenen e.V. herzustellen ist – sei Stand bei den etablierten Stiftungen. Deren Tätigkeit hat sich dem BVG-Urteil zufolge „weitgehend verselbständigt und einen hohen Grad an Offenheit gewonnen. Einzelne mißbräuchliche Maßnahmen der Stiftungen rechtfertigen nicht die Annahme, es handle sich bei den Globalzuschüssen um eine verdeckte Parteienfinanzierung.“

Die globalen Geldzuweisungen aus verschiedenen Ministerien (die übrigens nicht die einzige staatliche Finanzierungsquelle darstellen, da zahlreiche Sonderprogramme existieren) werden auf dieser Rechtsgrundlage vorgenommen, wobei die Aushandlung der konkreten Summen den im Parlament vertretenen Parteien überlassen ist. Und das hat verfassungsmäßig seinen korrekten Grund.

Wofür Parteien da sind

Die hiesige demokratische Herrschaft gestattet laut ihrem Grundgesetz den regierten Bürgern die politische Meinungs- und Willensbildung und erhebt sie damit aus dem Status des Untertanen in den des Staatsbürgers – so das einhellige Lob aller Instanzen und Akteure, die mit staatsbürgerlicher Erziehung befasst sind. Das müssen selbst die schärfsten Kritiker zugeben, eine freie Meinung über politische Belange wird hierzulande als unveräußerliches Grundrecht gewährt. Man muss bei der Meinungsfreiheit allerdings, wenn öffentlicher Gebrauch von ihr gemacht wird, darauf achten, dass kein Missbrauch mit ihr getrieben wird. Dazu hat ja die liberalste Demokratie (https://www.heise.de/tp/features/Was-das-liberalste-Deutschland-das-es-je-gab-alles-nicht-aushaelt-6184038.html), die es je auf deutschem Boden gab, in letzter Zeit einige Klarstellungen beigebracht.

Aber es ist nicht bloß das private Räsonieren erlaubt: Im Prinzip kann jeder, der will, auch seine eigene Partei gründen, wenn er sich durchs unverbindliche Äußern seiner persönlichen Meinung oder durch die Abgabe seiner Stimme in die Hände der Befugten nicht befriedigt sieht. Diese Möglichkeit wird auch von Verfechtern des Status quo gerne ins Spiel gebracht, um die kritischen Analysen zur hochgelobten „Sternstunde der Demokratie“ zu kontern. Das ist zwar ein schwacher Konter – am aktiven Wahlrecht gibt es also nicht viel hochzuhalten, man muss gleich zum passiven übergehen –, aber es stimmt ja:

„Erlaubt ist eine an eigenen Interessen und Urteilen orientierte Einmischung in Staatsangelegenheiten, sogar in organisierter Form und mit dem Ziel, wirksam zu werden. Das Grundgesetz lässt politische Parteiungen im Volk zu, Polemik und Werbung für abweichende Meinungen darüber, was der Staat tun und bewirken soll. Immerhin riskiert die Herrschaft damit Entzweiung in ihrem Volk, das im Parlament doch ‚als ganzes‘ vertreten sein soll, und dass organisierte Unzufriedenheit das Vertrauen der Regierten in die Sachwalter des Gemeinwesens untergräbt. Mit dem ‚Parteienprivileg‘ sind derlei Aktivitäten freilich nicht bloß lizenziert, sondern zugleich auf den rechten Weg verwiesen.“ (Gegenstandpunkt 3/21, „Das Grundgesetz“, https://de.gegenstandpunkt.com/)

Zum rechten Weg führt nämlich das Grundgesetz mit Artikel 21 (1) hin: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen…“

Damit ist auch schon der privaten Meinungsbildung der Weg gewiesen. Wenn‘s politisch wird, ist sie nicht mehr reine Privatsache. Da gibt es privilegierte Akteure, die ein entscheidendes Wörtchen mitzureden haben, die den Willen der Bürger formen und den Bildungsprozess auf die richtige Schiene setzen.

Der Zusammenschluss, um die betreffende Willensbildung zu betreiben, ist zwar frei, bewegt sich aber in einem gesetzlichen Rahmen. Das vorgeschrieben Ziel besteht in der Ermächtigung von Volksvertretern, deren Ehrgeiz sich darauf richtet, die Organe der Staatsgewalt zu leiten und diese Aufgabe in der Ausfüllung von Ämtern, die die Verfassung mit genauen Kompetenzzuweisungen ausgestattet hat, zu erledigen. Damit das nicht missverstanden wird, haben die Verfassungsväter und -mütter als Erstes dekretiert, dass die innere Verfassung der Parteien selbst als ein solches Ermächtigungsverfahren zu gestalten ist. Die Satzung des Staates vertraut erst einmal darauf, dass das rechte Procedere wie von selbst auch das rechte Ergebnis hervorbringt. Dabei lässt sie es aber nicht bewenden. Damit die impliziten Festlegungen nicht missverstanden werden, gibt es auch noch eine explizite Verbotsandrohung.

Der zweite Satz von Artikel 21 GG lautet nämlich: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“

Und wofür nicht

Von dieser Verbotsdrohung machen die regierenden, staatstragenden Parteien im Fall des Falles auch Gebrauch und lassen vom Verfassungsgericht störende Konkurrenten aus dem Verkehr ziehen – wie im berühmten Fall des KPD-Verbots von 1956. Dazu hat jetzt übrigens der Historiker Josef Foschepoth, fast 70 Jahre später, die Studie „Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg“ (2., aktualisierte Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, 2021) vorgelegt, die sogar mit einem Preis „für herausragende Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Juristischen Zeitgeschichte“ ausgezeichnet wurde. Sie macht in einem „umfangreichen Dokumentarteil die bislang unter Verschluss gehaltenen hochbrisanten Dokumente erstmals der Forschung und der Öffentlichkeit zugänglich“, wobei Foschepoth, ausgewiesener Fachmann für den Überwachungsstaat, Marke BRD, zu dem Schluss kommt, das Verbot (samt jahrzehntelangen Folgeprozessen bis in die 1970er Jahre) sei selber verfassungswidrig gewesen.

Na ja, im Pulverdampf des Parteienstreits können solche übereifrigen Richtersprüche schon einmal vorkommen. Dem Geist der Verfassung widersprechen sie nicht. Die will ja gerade die staatstragende Rolle der Parteien absichern. Und die Erlaubnis des Verfassungsgerichts, neben der großzügigen Direktfinanzierung der Parteien (Personal- und Sachkosten, Wahlkampfkostenerstattung etc.) eine indirekte zuzulassen, stellt gewissermaßen die positive Fassung der Verbotsdrohung dar.

Parteien, die zum zweiten Mal den Einzug in den Bundestag schaffen, können in den Genuss dieser zusätzlich Finanzierung für ihren verselbständigten geistigen Überbau gelangen. Sie haben eben – unter den Augen der überkommenen staatstragenden Parteien, der zuständigen Ämter und der wachsamen Vierten Gewalt, der Medien – vier Jahre lang bewiesen, dass sie die Belange der Nation im Blick haben. Mit dem Antritt zur Wahl ist zwar eigentlich für jede Partei klargestellt, dass sie sich um die Ausgestaltung der feststehenden Ämter zu kümmern hat und mit den darauf bezogenen Angeboten auch die Wählerschaft betören muss – denn warum und womit sollte sie sonst um Wählerstimmen buhlen?

Aber sicher ist sicher, sonst benutzt noch eine Partei das Parlament als Tribüne für irgendwelche sachfremden Anliegen und trägt nichts Positives zum „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“ (GG) bei. Darauf gilt es aufzupassen. Bevor Gerichte tätig werden, entscheidet z.B. schon ein Bundeswahlleiter darüber, wer zur Kandidatur überhaupt zugelassen wird. Und wenn (junge) Parteien mit ihrer Parlamentsarbeit ihre Politikfähigkeit praktisch unter Beweis gestellt haben, wird das honoriert.

Machtpolitik – im Innern und Äußeren

Die Gründung der politischen Stiftungen in der Adenauerära, so informiert die Bundeszentrale für politische Bildung (https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/politische-bildung/193401/politische-stiftungen?p=all), „war eine Reaktion auf die Erfahrungen der Zeit der Weimarer Republik und ihres Scheiterns. Den Parteien war es damals nicht gelungen, die Mehrheit der Bürger/-innen von der Demokratie und ihren Werten zu überzeugen… Mit dem Aufbau der politischen Stiftungen nach 1945 war vor allem die Hoffnung verbunden, einen Beitrag zur Stabilisierung der jungen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland zu leisten.“

Die Stiftungen nennen als ihre Hauptaufgabe neben der Vermittlung politischer Bildung (inklusive Bereitschaft zum politischen Engagement) die „Wissenschaftsförderung“. Durch politische Forschung und Beratung seien Grundlagen politischen Handelns zu erarbeiten sowie der Dialog und Wissenstransfer zwischen Wissenschaft, Politik, Staat und Wirtschaft zu vertiefen. Als offizielle Aufgaben werden neben der Bildung der Bevölkerung im In- und Ausland die Begabtenförderung und die Entwicklungszusammenarbeit angeführt. Diese Aufgaben liegen nach dem BVG-Urteil im öffentlichen Interesse.

Ihre Abarbeitung hat dabei eine beachtliche Reichweite. So liegt eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) aus dem Jahr 1998 vor, die die politischen Stiftungen als „diplomatische Hilfstruppen“ bezeichnet (dazu eine kritische Analyse von Matthias Rude https://www.hintergrund.de/politik/welt/instrumente-deutscher-machtpolitik/). Sie betreiben demnach eine „Nebenaußenpolitik“, geschickt verpackt als zivilgesellschaftliche Aktivität. Eine Praxis, die hiesige Politiker & Journalisten bei russischen oder chinesischen Versuchen ähnlichen Kalibers sofort als hinterlistige staatliche Machenschaft durchschauen!

Die FDP kann in ihrem aktuellen Wahlprogramm sogar unter dem Stichwort „Liberale Demokratien gegen Desinformation und Einflussnahme schützen“ beides im selben Atemzug vortragen – die Anprangerung der heimtückischen Desinformationsmaßnahmen auswärtiger Mächte und die Forderung, der eigenen verdeckten Einflussnahme freie Bahn zu schaffen:

„Gegen verdeckte Parteienfinanzierung aus dem Ausland muss auf europäischer Ebene einheitlich vorgegangen werden. EU-Kommission und Europäischer Auswärtiger Dienst müssen die Mitgliedstaaten beraten und eine Beeinflussung der Willensbildungsprozesse und Wahlen in demokratischen Staaten aus autokratisch regierten Ländern verhindern. Deutschland muss sich durch aktive Diplomatie, eine Bündelung der Zuständigkeiten bei den zuständigen Nachrichtendiensten sowie die Arbeit der politischen Stiftungen besser schützen.“ (Nie gab es mehr zu tun https://www.fdp.de/sites/default/files/2021-06/FDP_Programm_Bundestagswahl2021_1.pdf)

Laut der DGAP-Studie geht es den Stiftungen darum, im Ausland „politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Eliten, denen eine besonders wichtige Rolle bei der Etablierung demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen zukommt, zu fördern“. Dies sei ein Ziel, das „die regierungsoffizielle Außenpolitik aufgrund einer auch durch fundamentale völkerrechtliche Normen gebotenen Zurückhaltung kaum in vergleichbar direkter Weise“ verfolgen könne. Der Punkt mit der „gebotenen Zurückhaltung“ ist natürlich ein Witz – angesichts von zwei Dutzend Jahren deutscher militärischer Einmischung im Fall angefeindeter Regime vom Balkan bis zum Nahen Osten!

Aber die – formal – substaatliche Einflussebene hat auch ihre Relevanz, speziell was die Neugründung oder den Aufbau von Parteien (siehe Ukraine, siehe Russland) angeht. In den Richtlinien des Auswärtigen Amtes heißt es über die Stiftungen ganz banal, sie trügen „zur Vorbereitung und Flankierung der deutschen Außenpolitik bei“. Die DGAP-Experten wollen zwar nicht „hinter allen möglichen wichtigen Entwicklungen und Veränderungen in anderen Staaten eine geheimdienstähnliche ,invisible hand‘ der Stiftungen vermuten“, aber dass sie an außenpolitischen Weichenstellungen entscheidend mitgewirkt und sich faktisch zu einem bedeutsamen, „wenn auch wenig sichtbaren und kaum schlagzeilenträchtigen“ Element deutscher Außenpolitik entwickelt haben, sei nicht zu bestreiten.

Gorbatschow in Gütersloh 1992.jpg

Für die Wissenschaftler ein Beleg, dass deutsche Machtpolitik – was sich als Bedenken, aber auch mit Stolz vortragen lässt – „nicht der Vergessenheit anheimgefallen“ ist. Ein „Beitrag zur Stabilisierung“ der BRD, wie die Bundeszentrale hervorhebt, wird auf diese Weise im Innern wie im Äußern allemal auf den Weg gebracht. Und das muss man sich eben etwas kosten lassen.

Und was bedeutet das für die Linke bzw. Die Linke?

Zunächst heißt das, dass die AfD mit ihrer Erasmus-Stiftung gute Chancen hat (aus der FDP wurde schon Einverständnis signalisiert), demnächst mit zweistelligen Millionenbeträgen im rechtsradikalen Überbau mitzumischen – falls dem nicht mit einer Extremismusklausel o.Ä. ein Riegel vorgeschoben wird. Fatal wäre es aber, wenn sich Linke der Forderung anschließen würden, die Staatsmacht sollte den Extremismus-Hammer auspacken!

Welche Vorschläge kursieren sonst? Die von der Linken unterstützte Kampagne „Kein Geld für die AfD“ (taz, 22.9. https://taz.de/AfD-nahe-Erasmus-Stiftung/!5797924/) greift die Idee einer wissenschaftlichen Evaluierung auf, mit der die Tätigkeit der politischen Stiftungen überprüft werden soll. Leitfragen müssten hier lauten: Was hat es mit den angeblich „qualitativ hochwertigen Angeboten“ auf sich? Wird wirklich auf wissenschaftlicher Grundlage gearbeitet? Oder findet nur ein ideologisches Aufpimpen des jeweiligen Parteistandpunkts statt, mit der Konsequenz, dass sich der deutsche Nationalismus im Glanze seines geistigen Traditionsbestandes – Rechtsausleger inbegriffen – sonnt?

„Die Politischen Stiftungen“, so versichern diese in einem gemeinsamen Grundsatzpapier von 2011, „verpflichten sich seit jeher zu einer hohen Qualität ihrer Angebote, die … in einem permanenten Evaluationsprozess weiterentwickelt wird“. Aber hätte das wirklich Bestand, wenn die einschlägigen Aktivitäten von einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission untersucht würden? Schon bei der Wahl der Stiftungspatrone, die den Bezugspunkt für die Pflege des geistigen Erbes darstellen, tun sich da Zweifel auf. Ebert – der die Monarchie zu retten versuchte, Adenauer – der einen autoritären Staat aufbauen wollte, Naumann – ein Pionier des deutschen Imperialismus und Militarismus: Das sollen wichtige Orientierungspunkte für die „Wissenschaftsförderung“ sein?

Bei Böll liegt die Sache natürlich anders. Dass sich die Grünen auf diesen alten Pazifisten berufen, wäre eigentlich ein Fall von Störung der Totenruhe. Im Blick auf Wissenschaftlichkeit passt da schon eher der von der AfD herangezogene Erasmus von Rotterdam. Dieser Mann verkörperte im Hin und Her von Humanismus & Reformation paradigmatisch den akademischen Opportunismus, der im christlichen Abendland seine Heimat hat. Passenderweise hat die EU ihn zum Schutzpatron ihres Wissenschaftleraustauschs ernannt: Wo Gelehrte treu ihren Dienst an der Macht leisten, lässt diese sich beim Aufwand für Kost & Logis der innereuropäischen Wanderjahre nicht lumpen.

Wenn es aber wirklich um unabhängige Wissenschaft ginge, müsste man einzig Rosa Luxemburg gelten lassen: die Frau, die etwa mit ihrer Schrift über die „Akkumulation des Kapitals“ Wichtiges zur Kritik des Imperialismus beigebracht und so die theoretische Grundlage für eine Auseinandersetzung mit den deutschen Katastrophen der letzten 100 Jahre – vom Kolonialismus über zwei Weltkriege bis zum heutigen, aggressiven Globalisierungsdiktat – gelegt hat. Hier wäre natürlich zu überprüfen, ob die Luxemburg-Stiftung in ihren Aktivitäten auch immer diesem antiimperialistischen Auftrag nachkommt!

Eine solche Prüfung könnte zudem nachsehen, welche wissenschaftlichen Standards die Ebert-Stiftung etwa bei ihrem Archiv der Arbeiterbewegung oder die Böll-Stiftung bei ihren Analysen zum Kampf gegen rechts einhält. Im Einzelnen soll hier den Ergebnissen nicht vorgegriffen werden. Nur: Es besteht der Verdacht, dass eine solche Kommission gar nicht mit unabhängigen Wissenschaftlern besetzt würde, sondern nur mit solchen, die der Regierung genehm sind. Deshalb müsste die Linke wohl gleich die Einrichtung einer weiteren Kommission fordern, die die Unabhängigkeit der ersten überprüft…

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Grafikquelle :

Oben      —   Bertelsmann Corporate Center in Gütersloh

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Unten      —         Mikhail GorbachevReinhard Mohn and Liz Mohn in the foyer of the Bertelsmann Foundation

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Wenn Politik nicht lohnt

Erstellt von Redaktion am 1. Oktober 2021

Lokaljournalismus in Deutschland

File:120613 Doppelleben Artwork.pdf

Bekommen Leser-Innen hier nicht den Eindruck, das Regionalzeitungen den Lobbyismus über der Politik für wichtiger halten, als ihre Arbeit vor Ort ? Vier Journalisten in drei Parteien reicht zum Nachdenken aus.

Von Christoph Schmidt-Lunau

Die Landeskorrespondenten von drei großen Regionalzeitungen wechseln gleichzeitig als Sprecher in Ministerien. Das ist kein Zufall.

Gleich drei Landtagskorrespondenten großer Regionalzeiten beziehen in diesen Tagen ihre Büros in den Ministerien der neuen Landesregierung aus SPD, Grünen und FDP. Die Jahreshauptversammlung der Landespressekonferenz Anfang September geriet so zu einer kleinen Abschiedsfeier: Carsten Zillmann (Rhein-Zeitung), Ulrich Gerecke (AZ) und Florian Schlecht (Trierischer Volksfreund) wechseln mit ihrer landespolitischen Expertise ins Regierungslager. „Schwierig“ – so kommentiert CDU-Landtagsfraktionschef ­Christian ­Baldauf diese Personalrochade, die in Rheinland-Pfalz für reichlich Diskussionsstoff sorgt. „Wer möchte jetzt noch Hintergrundgespräche mit Journalisten führen, wenn auf diese Weise der anderen Seite Inhalte bekannt werden, die eigentlich vertraulich, ‚unter drei‘, gesagt wurden?“, sorgt sich Oppositionsführer Baldauf.

Schwerer wiegt indes der Verlust publizistischer Kompetenz der Regionalzeitungen. Vier Verlage haben das Land faktisch in Bereiche aufgeteilt, in denen sie sich kaum noch Konkurrenz machen. Das Rhein-Main-Gebiet mit Rheinhessen, Wiesbaden und Darmstadt dominiert die Allgemeine Zeitung mit ihren lokalen Titeln, im Rheinland und an der Untermosel die Koblenzer Rhein-Zeitung, in Trier und auf der Eifel der Volksfreund, schließlich im Süden Die Rheinpfalz.

Drei Korrespondenten, die sich mit profilierter und gelegentlich kritischer Bericht­erstat­tung einen Namen gemacht haben, wechseln die Seiten. Bleibt als einzige Korrespondentin der vier großen Regionalzeitungen Karin Dauscher von der Rheinpfalz, die auch Vorsitzende der Landespressekonferenz ist. Als Betroffene will sie zu den Vorgängen nicht öffentlich Stellung nehmen, ebenso wenig die neuen Pressesprecher.

Arbeitsverdichtung aber keine angemessene Bezahlung

„Wir beobachten schon länger mit Sorge das Ausbluten des Journalismus, den Wechsel von Kolleginnen und Kollegen in Pressestellen und in die Kommunikationsberatung“, sagt dazu Paul Eschenhagen vom ­Deutschen Journalisten-Verband (DJV). „Diese Entwicklung mag zusammenhängen mit den Arbeitsbedingungen, vor allem in den Printmedien. Dort werden Stellen eingespart, das führt zur Arbeitsverdichtung bei nicht angemessener Bezahlung“, so Eschenhagen zur taz. „Lokal- und Regionalzeitungen sind für viele Menschen nach wie vor das wichtigste Medium, aus dem sie ihre Informationen über das Umfeld und ihre Orientierung beziehen. Die Medienhäuser müssen die Bedingungen so gestalten, dass Journalisten gerne für sie arbeiten und bleiben, bei angemessener Bezahlung und geregelten Arbeitszeiten“, so der DJV-Sprecher.

Die Printmedien stehen tatsächlich unter enormem Druck. Weil die Auflagen schrumpfen und die Vertriebs- und Papierkosten steigen – bei rückläufigen Erlösen aus Anzeigen –, sparen sie beim Personal. Die wenigsten JournalistInnen im Lokaljournalismus werden nach Tarif bezahlt. Gleichzeitig müssen die Verlage Onlineangebote entwickeln, es wird im Schichtdienst gearbeitet. Der Redaktionsschluss ist abgeschafft. Von KorrespondentInnen wird erwartet, dass sie rund um die Uhr ansprechbar sind. „Wenn Kolleginnen in dieser Situation ein gutes Angebot bekommen und es annehmen, kann man es dem Einzelnen sicher nicht übel nehmen“, so der DJV-Sprecher Eschenhagen.

Von einem „Kampf mit ungleichen Mitteln“ spricht dagegen der Chefredakteur der Rhein-Zeitung Lars Hennemann. Er sieht die Ausweitung der Pressestellen und der Abteilungen für die sozialen Medien kritisch. Jede Verbandsgemeinde habe inzwischen einen Pressesprecher, von den Ausweitungen der PR-Abteilungen in den Regierungen ganz zu schweigen. „Bei dem Wettbewerb um kompetente Leute können wir gegen die Gehälter und die so­zia­le Absicherung im öffentlichen Dienst nicht ankommen“, sagt er der taz. So bedauerlich der Abgang des Korrespondenten auch sei, er habe bereits einen kompetenten Nachfolger gefunden, teilt er mit. AZ-Chefredakteur Friedrich Roeingh spricht von einem normalen Vorgang und versichert, die vakante Stelle werde nahtlos wieder besetzt.

„Ein Wechsel kann auch für neuen Wind sorgen.“

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —        Plakat „Doppelleben – Der Film“

Author DWolfsperger       /      Source      :       Own work        /     Date      :     01.08.2012

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Rechte Medienkritik :

Erstellt von Redaktion am 27. September 2021

Die sanfte Gehirnwäsche, aber Mutti wars nicht

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Hannes Sies

Die Buchautoren Klaus Kunze und Gerd Hachmöller üben harte Kritik am Medienmainstream -von Rechts. Hachmöller sieht Merkel von den Medien grundlos für Masseneinwanderung belobigt, was sie der Dämonisierung durch die AFD zum Fraß vorwarf. Kunze, der Rainer Mausfeld ungeniert für rechte Zwecke missbraucht, sieht die AFD medialer Verteufelung ausgesetzt, weil man einen imaginierten „gerechten Volkszorn“ über Masseneinwanderung auf einen ideologischen „Kampf gegen Rechts“ umlenken will.

Bertelsmann-Star-Publizist Hachmöller täuscht mit „Mutti wars nicht“ eine Satire vor, verteidigt aber in Wahrheit seine geliebte Bundeskanzlerin, Kunze verteidigt eher die AFD. Aber beide nutzen ungeniert linke Medienkritik für ihre Zwecke, besonders bei Kunze heißt das: Zur Attacke auf alles, was er für „Links“ hält, darunter nach seiner grotesk rechtsverschobenen Politgeometrie auch ARD, ZDF und DLF. Hachmöller wie Kunze kreisen in ihrer Medienkritik wie auch in ihrem politischen Denken um die Migrantenfrage. Keinen von beiden interessiert es, dass in unserer mächtigsten Wirtschaftsnation Europas Hartz-IV-Kinder am Monatsende hungrig zur Schule gehen müssen und Kleinrentner die Mülltonnen nach Dosenpfand durchwühlen.

Der Ex-Flüchtlingslager-Chef Hachmöller betont sogar wiederholt, wie gut es uns doch bei „Mutti“ gehe. Dabei vergleicht er wohl zynisch die soziale Absicherung, die Privilegierte wie er selbst genießen, mit dem Elend der Herkunftsstaaten von Flüchtlingen. Dass Angela Merkels Bundesrepublik mehrfach von UNO-Gremien gerügt wurde, weil sie durch krass ungerechte Reichtumsverteilung die sozialen Rechte der Ärmsten hierzulande verletzt, darunter besonders Asylsuchende, weiß Hachmöller angeblich nicht. Auch um das Sozialstaatsgebot unserer Verfassung wissen scheinbar weder er noch Kunze, dessen Pamphlet sehr an den rechten Kulturkampf der Trump-Fans erinnert, wie es Angela Nagle beschrieben hat.

AFD-Fan Kunze plündert Mausfelds kritische Analysen

Für seine Medienkritik muss Kunze peinlicherweise hauptsächlich zu Analysen von Rainer Mausfeld greifen, des, wie Kunze denn doch irgendwo kleinlaut zugibt, „linken Psychologen“. Davor hatte Kunze schon vielfach über linke Sozialwissenschaftler abgelästert, über Alt-68er, die nach ihrem Soziologie- oder Psychologie-Studium an marxistisch verseuchten Universitäten im Marsch durch die Institutionen die Rundfunkanstalten besetzt hätten, um von dort aus den Deutschen ihre nationale Identität weg zu manipulieren. Seine oft halbseitenlangen Mausfeld-Zitate, die ARD-Propagandamethoden entlarven sollen, hat Kunze kunstvoll um Mausfelds Sozial- und Gesellschaftskritik herum ausgeschnitten, damit sie zu seiner stramm konservativ-reaktionären Weltsicht passen. Als Quelle gibt Kunze einen Vortrag von Mausfeld an und nur listig eingerückt in dessen Datierung und so kaum als Buchquelle erkennbar, „-http://www.scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=76502&cHash=7cdb044af9Angst und Macht“, vielleicht aus Angst, dass seine rechte Leserschaft sich diese Originalquelle besorgt und daraus klüger wird als ihm, Kunze, recht wäre.

Kunze sieht sich angeblich als Opfer einer Art stalinistischer Diktatur, die von „den Linken“ bei ARD & ZDF ausgeübt wird: „Fünf Finger habe ich an jeder Hand. Ich kann mich jederzeit der Realität meiner Beobachtung versichern.“ So leitet er sein Pamphlet ein, „Die sanfte Gehirnwäsche: Wie die öffentlich-rechtlichen Medien uns umformen“, also mit einem Verweis auf Orwells „1984“. Im Klassiker „1984“ wird der Protagonist am Ende durch Folter gezwungen, die ihm vorgehaltenen Finger einer Hand falsch zu zählen, wegen seines brutal „gewaschenen“ Gehirns.

Die dem gegenüber „sanfte Gehirnwäsche“ verpasst man uns heute, so Kunze, durch Verunglimpfung rechtsradikaler Positionen, Kunze: „Der von den Staatsmedien geprägte Begriff Corona-Leugner paßte viel zu gut zu „Klima-Leugner“ oder „Holocaust-Leugner“, als daß sie ihn durch Fakten in Frage stellen ließen. Mit solchen Begriffen erzeugen unsere Medien die rechte -pardon: die linke Stimmung.“ (S.13)

Am Ende seiner Corona-skeptischen Tiraden wird Kunze auch noch im Tonfall eines Predigers das Panier der Klima-Leugner schwenken („Eiszeiten und Warmzeiten werden kommen und gehen… Glaubt nicht den falschen Propheten!“, S.179). Was den Holocaust angeht, ist der studierte Jurist Kunze weniger deutlich, wohl wissend, dass Leugnung hier strafrechtlich verboten ist. Kunze empört sich aber darüber, dass man sich als Deutscher 1945 „nicht besiegt, sondern befreit“ gefühlt haben könnte: „Auf die Idee muß man erst mal kommen.“ (S.15) Ein wirklicher Gegner des Hitler-Faschismus wäre im Gegensatz zu Kunze leicht auf diese Idee gekommen, wobei unklar bleibt, ob ein unbelehrbarer Anhänger Hitlers heute die feigen Verbrechen des Holocaust leugnen oder, schlimmer noch, weiterhin gutheißen würde. Mit den Opfern der Faschisten zeigt Kunze jedenfalls kein Mitleid, sorgt sich dafür umso mehr um die „Elendszüge deutscher Flüchtlinge von 1945“. Das Mitleid mit unseren damals vertriebenen Landsleuten „beuten Medien-Manipulateure schamlos aus“, und zwar durch den „Mißbrauch der Metapher ‚Flüchtling’“ für Menschen, die Kunze auch „Bevölkerungsüberschuss afrikanischer Staaten“ nennt. Kunze sieht, „wie wohlgenährte, kräftige und fröhliche junge Männer an Deck ihres ‚Flüchtlingsschiffes‘ im Mittelmeer kreuzen und zu ihren Lieben daheim mit ihren Mobiltelefonen Kontakt halten“ und ist verstimmt über diese „Wohlstandstouristen“ und über die „staatliche Flüchtlings-Metaphorik“, die „unsere Tränendrüsen“ stimulieren soll (S.21). Kunze betreibt zynisch-verlogene Verharmlosung realen Flüchtlingselends auf dem Mittelmeer, wo Tausende auf der verzweifelten Flucht ihr Leben verlieren.

Hachmöller verteidigt Merkel gegen Kunze

Hachmöllers Buchtitel ist schlau gewählt: „Mutti wars nicht“, dass lässt vermutlich viele Käufer glauben, sie bekommen jetzt eine satirische Abrechnung mit „Mutti“ Merkels Politik. Doch weit gefehlt! Der Untertitel führt listig-zweideutig weiter aufs Glatteis: „Populäre Legenden & kollektive Irrtümer über Angela Merkel, Flüchtlingspolitik und Europa.“ Wird hier von rechts Kritik geübt, an Merkels Flüchtlingspolitik? An der Öffnung der Grenzen in der Krise 2015, an der „unkontrollierten Masseneinwanderung“ (wie Kunze es nennt)? Im Gegenteil. „Mutti“ wars wirklich nicht -so Hachmöller. Die Medien haben es ihr nur angehängt, die Einwanderung 2015 ist eben so passiert. Hachmöller will damit Merkel vor allem gegen Kritik von Rechts verteidigen -gegen Leute wie Klaus Kunze.

Gerd Hachmöller wettert gegen Rechtsradikale, zumindest soweit diese seine Bundeskanzlerin für die erhöhte Einwanderung von 2015 verantwortlich machen. „Merkel wars nicht“ ist seine These, weil sie die Grenzen nicht geöffnet hat: Die waren schon offen, keiner hätte anders handeln können, Schuld waren die Umstände, die Rechtslage und insbesondere die anderen EU-Länder bzw. das außenpolitische Versagen Berlins (was somit dem SPD-Außenminister angehängt wird).

Die Medien aber waren Schuld, dass man Merkel als Galionsfigur der neuen deutschen „Willkommenskultur“ 2015 hinstellte. Merkel hätte einfach nur „richtig eingeschätzt, dass jeder Versuch, die vielen Flüchtlinge im Herbst noch an der Grenze von der Einreise nach Deutschland abzuhalten, zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.“ Merkel habe „die Rechtslage in der EU richtig beurteilt, zumindest wurde ihr bis heute in diesem Zusammenhang kein Rechtsbruch nachgewiesen. Und sie hat intensiv auf Maßnahmen hingewirkt, die notwendig waren, um den Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland langfristig zu begrenzen.“ (S.56)

Dies hält Hachmöller Pegida-Demonstranten entgegen, die gestützt auf Mediendarstellungen behaupten, „dass Angela Merkel eine Umvolkung plane“, womit sie „von der AFD oder Querdenkern dämonisiert wird“ (S.14). Kunze fürchtet tatsächlich, die Medienmanipulation hätte die Deutschen dazu gebracht, sich freiwillig „austauschen zu lassen“ (S.122) und sieht „eine massive Welle medienerzeugten Hasses gegen die AfD“, die erst jüngst durch eine „neue Corona-Massenhysterie“ abgelöst wurde (S.140).

SPIEGEL-Autor Hachmöller gegen Pro Asyl

Der studierte Wirtschaftsgeograf Hachmöller, der hier die Medien für ihre unkluge Merkel-Darstellung kritisiert, ist heute SPIEGEL-Kolumnen- und SPIEGEL-Bestseller-Autor. Er arbeitete für die EU, war ab 2013 Coach für Flüchtlingshelfer und wurde 2015 Chef einer Flüchtlings-Notunterkunft. „Die Blicke der ersten Familie, die mitten in der Nacht erschöpft aus dem Bus stieg und deren Eltern zwei kleine Kinder auf den Armen trugen, werde ich nie vergessen“, beschreibt er im besten Relotius-Reportagestil seine Arbeit. Er hatte damals das Gefühl, bei „etwas Historischem“ dabei zu sein, erfuhr von den Ankommenden viel Dankbarkeit, aber die „Anspruchshaltung einiger Flüchtlinge“ störte ihn. Während viele dankbar waren, „beschwerten sich einzelne schon nach wenigen Stunden über unbekannte Zimmernachbarn, unpassende Kleidung… zu dünne Decken“ usw. „Und das, obwohl die Verhältnisse in unserem Camp zwar nicht luxuriös, aber doch deutlich besser waren als alles, was diese Menschen auf ihrer mehrwöchigen Flucht bisher erlebt hatten.“ (S.17) Die Migranten sollten sich schleunigst an das kalte deutsche Klima gewöhnen und auch sonst tritt Lagercoach Hachmöller übertriebener Rücksicht für fremde Sitte entschieden entgegen, macht als Gegner von Merkels Politik immer wieder die NGO „Pro Asyl“ aus. Verfehlungen seiner Kollegen, die andernorts als Flüchtlingsbetreuer oder -bewacher Lagerbewohner schikanierten und sogar mit rassistischer Gewalt Schlagzeilen machten, thematisiert Hachmöller nicht.

Migrants at Eastern Railway Station - Keleti, 2015.09.04 (8).jpg

Dafür grenzt Hachmöller sich von rassistischer Propaganda gegen „muslimische Messerstecher“ ab: „Die AFD kommuniziert seit Jahren wiederholt, dass sich hierzulande Frauen aus Angst vor Gewaltkriminalität und Vergewaltigung ’nicht mehr auf die Straße trauen‘. Dass sich AFD-Frauen in Deutschland nicht mehr auf die Straße trauen, ist bedauerlich. Oder auch nicht.“ (S.129) Danach folgen halbwegs plausible Statistiken, die belegen, dass „das Leben durch den Flüchtlingszuzug in den letzten Jahren nicht gefährlicher geworden“ ist. Erhöhte Kriminalitätsraten ließen sich durch überwiegende junge männliche Flüchtlinge erklären -die Gruppe sei auch bei Deutschen krimineller, was Medien oft verschweigen würden.

Rechtsruck durch Migrations-Medienhype

Fazit: „Wir müssen uns fragen, ob nicht die Medien in Deutschland dazu beigetragen haben, dass Teile der AFD-Propaganda von so vielen Bundesbürgern verinnerlicht wurden.“ (S.136) Was eine gestiegene Terrorgefahr angeht, kann man Hachmöller wohl glauben, dass „Organisationen wie der IS auch andere Mittel“ haben als über die Balkanroute einzusickern. Aber „…als indirekte Folge der Flüchtlingseinwanderung ist jedoch eine ganz spezielle Terrorgefahr gewachsen: die des Rechtsterrorismus.“ (S.139) Insbesondere Deutschland habe eine hohe Zahl rechtsextremer Gewalttaten zu beklagen, die NSU-Mordserie, Halle 2019, Hanau 2020 -wofür Hachmöller die Medien zwar nicht explizit in die Verantwortung nehmen mag. Aber er schreibt:

„Natürlich muss man dem Begriff ‚Lügenpresse‘ entschieden entgegentreten. Aber tatsächlich haben die deutschen Medien auch ein Stück weit zum Entstehen dieses schrecklichen Begriffes beigetragen, wenn bewusst ein einseitiges Bild der Zuwanderung sowie eine Verengung der Verantwortlichkeiten auf eine Person transportiert wurde. Es fördert den Rechtsextremismus, wenn die Medien weiterhin der Legende anhängen, die Zuwanderung seit 2015 ginge auf Angela Merkel zurück.“ (S.154)

Hachmöller sieht sich selbst als Mann der Mitte zwischen den Extremen der AFD rechts und Pro Asyl links, wobei letztere mit ihren Forderungen nach Asylrechts-Ausweitung angeblich dasselbe versucht, wie die AFD: „die deutsche Zuwanderungspolitik sturmreif zu schießen“. (S.154) Mit dieser Gleichsetzung von Rechtsextremen mit Pro Asyl liegt Hachmöller genau auf Mainstream-Linie, wo auch bei jeder Gelegenheit versucht wird, AFD und Linke in eine Ecke zu stellen. Was die Medienkritik angeht bleibt der Merkel-Anhänger und Bertelsmann-Medienarbeiter weit hinter Kunze zurück. Hachmöller ist weitgehend mit den Medien einverstanden, krittelt nur hie und da an Falschdarstellungen herum, die Merkel zur Heldin der Flüchtlingsrettung machten. Dass dies damals in einer Hype dieser Stimmungen nur aus Regierungstreue der Staatssender geschah, die ihre Kanzlerin bejubeln wollten, kommt ihm nicht in den Sinn. Wie und warum die Medien diese oder jene Weltsicht verbreiten konnten? Hachmöller denkt darüber nicht weiter nach -Kunze erweist sich hier als weniger flacher Kritiker, wenn auch leider mit extremem Rechtsdrall.

Kunze verbiegt Mausfeld

Klaus Kunze will tiefer gehen und liest sogar nach -beim ideologischen Todfeind, den Linken (wirklich linken Linken, nicht den angeblichen ARD-Alt-68igern). Dort entdeckt er Enthüllung und Kritik an der ARD-Wehling-Affäre und zieht mit diesen Erkenntnisse hämisch über die ÖRR (die Öffentlich-Rechtlichen) her. Die Sozio-Linguistin Elisabeth Wehling hatte 2017 in einem geheimen „Framing-Manual“ der ARD erklärt, wie sie sprachlich ihre Zuschauer manipulieren könne. Eigentlich hatte die geschäftstüchtige Dr.Wehling der ARD nur für 90.000 Euro alten Propaganda-Wein in neuen neuro-kognitiven Schläuchen angedreht, was bei Kunze zu einer diabolischen Geheimlehre aufgeblasen wird, denn ein Studienschwerpunkt Wehlings sei „die nationalsozialistische Propaganda“ gewesen (S.29). Deren Wirksamkeit kennt Kunze immerhin sogar aus dem Klassiker „LTI -Die Sprache des Dritten Reiches“ von, wie er ihn lapidar benennt, „Romanist Victor Klemperer“ (S.18); seine rechte Leserschaft soll wohl nicht wissen, dass der mutige Jude Klemperer mit diesem Werk aus seinem Kellerversteck heraus seinen massenmörderischen Nazi-Verfolgern intellektuell die Stirn bot.

Lobend sieht Kunze dagegen die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann (S.74, 165), obgleich die in jungen Jahren von Goebbels Propaganda-Ministerium in die USA geschickt wurde, um die PR-Methoden von Edward Bernays zu studieren. Bernays kennt Kunze aber nur von seiner Mausfeld-Lektüre her, dessen Einsichten, etwa zu Manipulation durch Angst, er sich hanebüchen zurechtbiegt: „Bei Angstwellen vor einer Klimakatastrophe, vor ‚Haß und rechtsextremer Gewalt‘ oder vor dem Corona-Virus dürfen wir immer spontan fragen: Wem nützt diese konkrete Angst? … Wessen Macht stabilisiert sich darin, wenn Menschen massenhaft die Gebote aus dem Klima-Katechismus befolgen, aus Rechtsextremismusfurcht nicht mehr ‚wir Deutsche‘ auszusprechen wagen…?“ (S.137 f.).

Dabei verwickelt sich Kunze, ohne es selbst zu merken, in Widersprüche. Einerseits bekämpft er wütend das Schüren von Furcht vor Rechtsextremen durch „die Linken“, die dabei Hitler zum Satan umfunktionieren: „Wenn gerade nichts Aktuelles vorliegt, heißt der Oberteufel -nun wir kennen ihn alle. Schaltet man an einem beliebigen Tag durch die Sender, taucht er immer irgendwo auf auf und verliert zum hunderttausendsten Mal seinen Krieg.“ (S.124)

Klaus Kunze und Adolf Hitler

Adolf Hitler. Diesen Namen spricht Kunze nicht gerne aus, ob aus Scham über verlorene Weltkriege oder feige Massenmorde an wehrlosen Zivilisten, bleibt dabei unklar. Schämen sollen sich seiner Meinung nach auch die „Linken“ für die Geschichte des deutschen Faschismus, weil, so trompetet er mit einer alten Propagandalüge von CSU-Pate F.J.Strauß, der Nationalsozialismus ja auch nur eine Art Sozialismus gewesen sei.

Ein Widerspruch ist dabei, dass Kunze die Verteufelung von Hitler überhaupt stört. Denn somit wären für den täglich medial von den vielen „Linken“ in den Sendern beleidigten Weltkriegsverlierer doch die Nazis auch Linke gewesen. Kunzes Meinung nach tobte in Deutschland „nach dem 1.Weltkrieg die geballte propagandistische Wucht zweier sozialistischer Konkurrenzbewegungen“: Der „internationalistischen Kommunisten und der Nationalsozialisten… Dabei erstrebten die einen Klassengleichheit, die anderen Rassengleichheit“ (S.151).

Leider erkennt Kunze trotz seitenweise abgeschriebener Zitate von Wehling und Mausfeld über Manipulation durch Framing und Sprachformung nicht diese Möglichkeit: Man hatte damals dem völlig wesenfremden Nazi-Faschismus den „Sozialismus“ nur angehängt, um die Menschen zu täuschen und evtl. um später einmal den echten Sozialismus durch eben diese Gleichsetzung diffamieren zu können. Kunze erkennt nicht (oder tut wenigstens so) den fundamentalen Unterschied eines Strebens nach Klassengleichheit durch gerechtere Verteilung von Macht und Reichtum zum biodarwinistischen Streben nach Rassengleichheit. Dies erstrebten die Nazis durch feigen Massenmord an angeblich „Fremdrassigen“ und postulierten damit die biologische Ungleichheit, fanatisiert bis zum Ausschluss von Juden aus der „menschlichen Rasse“ im Holocaust.

Die Gleichsetzung der Verbrechen des kapitalistischen Hitler-Faschismus mit jenen Stalins ist daher verfehlt, zumal beim Totalitarismus Stalins noch der verzweifelte Abwehrkampf gegen aggressive kapitalistische Großmächte und nicht zuletzt die seit 1922 aufkeimende faschistische Gefahr zu bedenken ist. Von Faschismus-Theorie oder -Debatte weiß Kunze aber rein gar nichts, daher auch nicht etwa von Ishay Landas neueren Analysen:

„Nazis und Sozialisten gelten heute manchen als Brüder im Geiste. Liberale stellen sich dagegen gern als ultimative Gegner des Faschismus dar. Aber historisch betrachtet ist das Gegenteil der Fall, wie der israelische Geschichtsprofessor Ishay Landa zeigt. Landa weist anhand vieler Beispiele nach, dass Faschisten und Antiliberale wie Hitler oder Spengler den Liberalismus nicht vollständig ablehnten, sondern im Namen von Wirtschaftsliberalismus, Elitedenken und Survival-of-the-fittest Front gegen politischen Liberalismus und soziale Demokratie machten. Deshalb können Faschisten bis heute Teile des liberalen Bürgertums von ihrer Sache überzeugen.“ (Klappentext)

Kunze widerlegt Habermas?

Wer glaubt, es könne nicht peinlicher werden, irrt: Sein intellektuelles Stalingrad erlebt Kunze beim Versuch, Habermas zu widerlegen und überhaupt das ganze „Linke“, also „die Diskurstheorie, den Dekonstruktivismus oder den Genderismus“. Die sind ihm ein Graus, denn sie erklären „alle menschlichen, sozialen und gesellschaftlichen Begriffe und Vorstellungen zu nichts als Produkten kultureller Konstruktion, die… unverbindlich sind“ (S.175). Ein rotes Tuch ist für Kunze die Frankfurter Schule und Habermas‘ Diskurstheorie, dabei hat Kunze, trotz Lektüre des rechtsintellektuellen Medienprofessors Norbert Bolz, nur leicht widerlegbare Polemik zu bieten:

„Ehe, Pflicht, Solidarität, Tugend oder Verbrechen… Die Diskurstheorie löst alle diese Vorstellungen auf wie Zucker in Wasser: vielleicht süß, jedenfalls aber unverbindlich… Daß Eltern ihre Kinder schützen, Verwandte solidarisch handeln und daß Mord abscheulich ist, macht kein Rechter erst von einem gesellschaftlichen Diskurs oder Konsens abhängig.“ (S.173)

Also was? Keine lange Debatte -Kopf ab? Zurück zu Pappi? Und gib deinem Neffen den Millionen-Masken-Deal? Aber Eltern sind eben manchmal Päderasten, eines Mordes Beschuldigte sind oft unschuldig und Nepotismus ist nicht „solidarisch“, sondern Korruption.

Kunze wetterte selbstgefällig: „Unsere Staatsmedien können nicht besser sein als die Halb- und Viertelbildung ihrer Macher.“ Gleiches gilt jedoch auch für sein eigenes Machwerk. Und wenn er sein „Weltbild eines Patrioten, Konservativen oder Rechten“ damit gegen vaterlandslose Linke verteidigt, von „Ulrich von Hutten haben solche Leute vermutlich noch nie gehört.“ (S.161), irrt er vielleicht. Schon Friedrich Engels stellte den wackeren Rittersmann in seinem Aufbegehren gegen die Feudalfürsten neben Martin Luther und Thomas Müntzer. Der sozialistische Aufbau-Verlag der DDR ehrte Hutten mit entsprechenden Publikationen.

Klaus Kunze: Die sanfte Gehirnwäsche: Wie die öffentlich-rechtlichen Medien uns umformen, Wirtschafts- und Verbands-PR GmbH, Hamburg 2020, 190 S.

Gerd Hachmöller: Mutti wars nicht. Populäre Legenden & kollektive Irrtümer über Angela Merkel, Flüchtlingspolitik und Europa, Goldegg Vlg., Berlin 2021, 176 S.

Ishay Landa: Der Lehrling und sein Meister: Liberale Tradition und Faschismus, Dietz Verlag Berlin 2021.

Hutten. Müntzer. Luther. Werke in zwei Bänden, Aufbau-Verlag Berlin/Weimar 1982.

Rainer Mausfeld, (2019). Angst und Macht: Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien. Frankfurt/M.: Westend Verlag, 128 S., 14,-Euro

Urheberecht
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Grafikquellen      :

Oben          —    Bundesarchiv B 145 Bild-F087611-0001, Berlin, Staatsakt Rohwedder, Merkel, Rönsch.jpg1991

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2.) von Oben        —        Live on Friday, the 4th of September, 2015. Fornoon. Budapest, at Eastern Railway Station. Entrance of the Metro Line, square in front of the Railway Station, Passage under the Baross square. Migrants at Eastern Railway Station.

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Meinung – Bettina Gaus

Erstellt von Redaktion am 26. September 2021

Wahlkampf ohne Außenpolitik –
Der Rest der Welt hat keine Wahl

File:U-Boot S184 U34 (Submarine, 2007).jpg

Eine Kolumne von Bettina Gaus

Wer wie auf welche Kinderfragen geantwortet hat, scheint in diesem Wahlkampf ums Kanzleramt wichtiger zu sein als die Weltlage außerhalb Deutschlands. Schade eigentlich: Da gäbe es einiges zu besprechen.

Welche persönliche Beleidigung muss in einem Wahlkampf hingenommen werden, welcher Werbespot ist noch tragbar, welcher geschmacklos und – Eilmeldung, Eilmeldung! – welche neuen Umfragen gibt es, die den allgemeinen Trend bestätigen oder ein bisschen widerlegen? Alles nette Fragen mit einem gewissen Unterhaltungswert, aber angesichts dessen, was sich im Rest der Welt derzeit abspielt, ist es doch erfreulich, dass der endlos erscheinende deutsche Wahlkampf nun bald vorbei ist. Vielleicht interessiert sich dann wieder jemand für Außenpolitik. Zeit wäre es.

US-Präsident Joe Biden ist freundlicher – oder besser: leutseliger – als sein Vorgänger Donald Trump, verbindlicher im Ton und mitfühlender. Was allerdings keine hohe Hürde ist, sondern für die Mehrheit der Weltbevölkerung gilt und gar nichts über den politischen Kurs der Vereinigten Staaten besagt. Und da zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Ähnlichkeiten zwischen der früheren und der gegenwärtigen Regierung in Washington größer sind als vielerorts vor den US-Präsidentschaftswahlen erhofft worden war.

Kein Krieg, aber eine Spaltung

Gerade einmal einen Monat ist es her, dass die USA beim Abzug aus Afghanistan die Nato-Verbündeten mit mangelnder Kooperationsbereitschaft brüskierten, da folgte der nächste Eklat: Die Vereinigten Staaten haben gemeinsam mit Australien und Großbritannien eine indopazifische Sicherheitsallianz ausgerufen – was dazu führte, dass Frankreich ein schon sicher geglaubtes U-Boot-Geschäft durch die Lappen ging. Das will Australien nun lieber mit den neuen Partnern durchziehen.

Paris reagierte prompt, und rief seine Botschafter aus Washington und Canberra zurück, ein zwischen Verbündeten ziemlich – nun ja: ungewöhnlicher Schritt. Üblicherweise tun Staaten gut daran, ihre Befestigungsanlagen zu überprüfen, wenn ein Verhältnis erst einmal derart zerrüttet ist. Nun droht selbstverständlich kein Krieg innerhalb der Nato. Aber eine Spaltung: durchaus.

Und der ganze Ärger wegen – Australien? Australien? Ist das nicht dieses ferne, unerreichbare Gebiet hinter den sieben Bergen? Nicht mehr, längst nicht mehr. Die strategische Bedeutung des Kontinents für die USA ist erheblich gewachsen, seit die Vereinigten Staaten um ihren Platz als unangefochtene Weltmacht kämpfen müssen. Und der Ausgang dieses Kampfes angesichts des wachsenden Einflusses von China offen ist.

Maischberger - 2016-12-14-7439.jpg

»America first«, Amerika zuerst: Die Losung war wenig diplomatisch gewählt und verstärkte weltweit den berechtigten Verdacht, Donald Trump sei im eigenen Interesse zu jeder Rücksichtslosigkeit bereit. Biden hätte das so nie formuliert. Aber er handelt entsprechend.

Die Ohnmacht der Europäer

Übrigens sind auch in Südostasien die Reaktionen auf die neue indopazifische Sicherheitsallianz gespalten, einige Staaten fürchten einen Rüstungswettlauf in der Region. Das ist allerdings für die europäischen Nato-Partner allenfalls ein schwacher Trost. Denn ihnen wurde ein weiteres Mal die eigene Ohnmacht vor Augen geführt – sie können derzeit wenig mehr tun als Protestnoten im Weißen Haus abzugeben und zu hoffen, dass der Pförtner sie wenigstens weiterleitet.

Quelle         :           Spiegel-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —          U-Boot U34 der Bundesmarine bei der Auslaufparade des 823. Hafengeburtstages in Hamburg am 13. Mai 2012.

Author Gerhard kemme      /       Source       —      Own work      /      Date       —    13 May 2012

This file is made available under the Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

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Unten        —       Maischberger, Sendung vom 14. Dezember 2016. Produziert vom WDR. Thema der Sendung: „Wutbürger gegen Gutmenschen: Verliert die Demokratie?“ Foto: Bettina Gaus („taz“-Journalistin)

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D. – Wohnen & Co enteignen

Erstellt von Redaktion am 22. September 2021

Radikales Ziel, realistischer Weg

Mietenwahnsinn demonstration Berlin 2021-05-23 113.jpg

Von Erik Peter

Am 26. September wird in Berlin über die Vergesellschaftung von 240.000 Wohnungen abgestimmt. Wie wurde ein linkes Thema zur Massenkampagne?

An einem trüben, regnerischen Nachmittag wenige Tage vor der Wahl stehen Kasper, Josi und Jonas vor dem „Langen Jammer“, einem 340 Meter langgezogenen Wohngebäude in der Ringsiedlung Siemensstadt in Berlin-Spandau. Die drei haben sich lilafarbene Westen übergestreift, auf Brust und Rücken ist der Aufdruck Deutsche Wohnen & Co enteignen zu lesen. Sie sind durch die halbe Stadt gefahren, um hier ganz im Nordwesten bei Haustürgesprächen für den Volksentscheid zu werben, der Berlin verändern und dessen Strahlkraft weit über die Stadt hinaus reichen soll.

Jonas Becker, ein 29-jähriger Volkswirt, der sich seit einem Jahr engagiert, hat stapelweise Flyer und Türanhänger mitgebracht und eine Karte, auf der all die Häuser markiert werden, die von den Ak­ti­vis­t*in­nen besucht werden. Mit 3.600 Wohnungen ist die Siemensstadt, die vor knapp einhundert Jahren im Stile der Moderne für die Ar­bei­te­r*in­nen der Siemenswerke errichtet wurde, die größte Siedlung der Deutschen Wohnen – des größten privaten Players auf Berlins Wohnungsmarkt.

Becker verteilt die Materialien und teilt die Gruppe auf, um sich das Haus von zwei Seiten vorzunehmen. Er selbst, der täglich für die Kampagne arbeitet, zieht alleine los. Spaß sei dabei nicht mehr sein erster Antrieb – „mittlerweile muss es sein“. Die Gespräche sind für Becker „demokratische Aufklärungsarbeit“, viele Wäh­le­r*in­nen wüssten noch immer nicht, dass sie am 26. September die Wahl haben zwischen „Ja“ und „Nein“, dass sie abstimmen können über die Vergesellschaftung der Bestände aller privaten Konzerne mit mehr als 3.000 Objekten in der Stadt – insgesamt etwa 240.000 Wohnungen von einem Dutzend Unternehmen. Dabei allerdings steht kein konkretes Gesetz zur Abstimmung, sondern ein Appell an den Senat, selbst ein Vergesellschaftungsgesetz auf den Weg zu bringen.

Dass es zu dem Volksentscheid kommt, geht auf die Arbeit von mehr als 2.000 Aktiven in 16 Kiezteams zurück, die im Frühjahr zu Pandemiezeiten über 350.000 Unterschriften gesammelt haben, mehr als doppelt so viele, wie benötigt wurden. Zugleich ist das die Unterstützung von mehr Menschen, als die SPD bei ihrem Wahlsieg in Berlin 2016 an Wäh­le­r*in­nen hatte. Dabei grenzt das Vorhaben an eine Revolution: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik soll der Grundgesetzartikel 15 zur Anwendung kommen, der die Vergesellschaftung von „Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln“ gegen Entschädigung regelt, auf dessen Grundlage also ganze Wirtschaftsbereiche in Gemeineigentum überführt werden können.

Ein Gesicht der Kampagne

Im Kampagnenbüro auf dem Dragonerareal in Kreuzberg, einem ehemaligen Kasernengelände, sitzt Rouzbeh Taheri zwischen Bergen von gelben Werbemitteln. Der 47-Jährige ist seit den ersten Überlegungen zu einem Enteignungsvolksbegehren vor vier Jahren eines der Gesichter der Kampagne. In diesen Wochen arbeitet er in Vollzeit auf einer aus Spenden finanzierten halben Stelle.

Er koordiniert, beantwortet Fragen am Telefon und in 18 Telegram-Gruppen, bestellt Materialien, macht Pressearbeit, nimmt an sechs Sitzungen pro Woche und mindestens einer öffentlichen Veranstaltung teil. Taheri weiß, wie Wahlkampf funktioniert. 2006 leitete er die Kampagne der Wahlalternative (WASG), die in Berlin trotz bundesweiter Kooperation gegen die damalige PDS antrat. Diese hatte zuvor in der rot-roten Regierung 65.000 Wohnungen verkauft, die später an die Deutsche Wohnen übergingen.

Taheri ist erschöpft, sehnt sich nach dem Wahlabend. Einerseits. Andererseits lodert es in ihm: „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die großen Konzerne angegriffen werden und ihnen ihre wirtschaftliche Machtgrundlage genommen wird.“ Er sieht die Bedeutung weit über Berlin hinaus: „Wenn wir Erfolg haben, wird das weltweit Nachahmer finden.“ In Betracht kämen „alle Bereiche der öffentliche Daseinsvorsorge, alle Quellen, die Menschen brauchen, um würdig leben zu können“.

Wie aber konnte es so weit kommen? Wie wurde aus einer Idee, die in kleinen Zirkeln von Mieterinitiativen und linken Gruppen kursierte, die erfolgreichste Massenkampagne, die Berlin je gesehen hat? Taheri hat schon häufiger darüber nachgedacht und muss dennoch wieder ein paar Momente überlegen: „Unser Ziel ist radikal, aber unser Weg ist realistisch.“

Mietenwahnsinn demonstration Berlin 2021-05-23 102.jpg

Richtige Zeit, richtige Stadt

Mit einem Volksentscheid blieben sie streng auf dem legalistischen Weg; versetzen dem System einen Schlag mit seinen eigenen Mitteln. Taheri sagt: „Die objektive Grundlage war die Existenz einer starken Mieterbewegung und das schlechte Image der Deutschen Wohnen.“ Dazu kam der subjektive Faktor, „ein paar Leute, die gesagt haben, wir machen das jetzt, und das auch durchgezogen haben“. Für die Kampagne sei es „die richtige Zeit und die richtige Stadt“ gewesen.

Bei Jonas Becker in der Siemensstadt geht die erste Wohnungstür auf und nach einem knappen „Interessiert mich nicht“ gleich wieder zu. Becker aber lässt sich nicht entmutigen, geduldig und freundlich arbeitet er sich durch die teils renovierungsbedürftigen Treppenhäuser. Sobald eine Tür aufgeht, sagt er: „Hallo, ich bin Jonas und mache Wahlkampf für Deutsche Wohnen enteignen.“

Eine Frau mittleren Alters schaut erst skeptisch, dann greift sie nach dem Flyer: „Ick nehm dit erst mal.“ Becker fragt sie nach ihrer Wohnsituation: „Ganz okay“, antwortet sie, die Deutsche Wohnen habe alle bestehenden Strukturen mit Hausmeistern und Technikern übernommen; auch die Mieterhöhungen seien nicht dramatisch. Aber grundsätzlich seien die steigenden Mieten schon ein Problem. Dann sagt sie: „Aber Enteignungen kosten ja och.“ Becker entgegnet: „Wir kaufen ja nicht, wir enteignen. Und die Entschädigung zahlen wir aus den Mieteinnahmen.“

Quelle         :       TAZ -online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —       Mietenwahnsinn Demonstration durch Tiergarten und Schöneberg am 23. Mai 2021.

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Unten       —       Mietenwahnsinn Demonstration durch Tiergarten und Schöneberg am 23. Mai 2021.

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IPCC – – Klimabericht

Erstellt von Redaktion am 20. September 2021

1,5 Grad sind möglich

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Von Luisa Neubauer und Carla Reemtsma

Der neue Klimabericht ist ein Report über politisches Versagen in historischem Ausmaß. Die Frage ist, was wir als Gesellschaft jetzt daraus machen.

Es ist nicht mal mehr eine Überraschung. Über 40 Jahre lang hat die Politik die Warnungen der Wissenschaft ignoriert und jetzt verkündet diese, dass ihre Warnungen nun Wirklichkeit sind. Wir haben uns in eine Welt hin­­ein­emittiert, die heißer und gefährlicher ist als das, was seit mindestens 100.000 Jahren auf dem Planeten los war. Man hat die Ozeane versauert, die Atmosphäre verstopft und Gletscher zum Schmelzen gebracht. Zusätzlich präsentiert der Weltklimarat in seinem neuen Bericht Erkenntnisse über das, was uns in diesem Jahrzehnt erwarten könnte, und verfeinert Berechnungen über die wenige Zeit, die bleibt, um das Schlimmste zu verhindern.

In den nächsten Tagen wird man viel über den prognostizierten Meeresspiegelanstieg sprechen, die zu erwartenden Extremwetterlagen und die Emissionsbudgets, man wird Wis­sen­schaft­le­r:in­nen hören, deren schlimmste Erwartungen übertroffen wurden. Im Kern aber ist der neue Klimabericht keine Zusammenfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern ein Report über politisches Versagen in historischem Ausmaß. Man hat es schlicht verpasst, die skizzierte planetare Extremsituation zu verhindern. Man hat die ökologische Zerstörung erst möglich gemacht, indem man Warnungen ignoriert und Wissenschaft degradiert hat.

Für uns, Aktivistinnen einer Generation, die aller Voraussicht nach noch das Jahr 2080 erleben wird, ist das eine skurrile Situation. Man fragt uns freundlich, wie wir den neuen Bericht finden, und wir antworten fernsehtauglich und ruhig. Aber innerlich beben und wüten wir. Seit Jahren kämpfen wir für ein Ende der ökologischen Krisen, seit Jahren erklären politische Vertreter uns, dass wir doch ein bisschen mehr Geduld und etwas weniger schlechte Laune haben sollen – und seit Jahren überschlagen sich die Hiobsbotschaften über den Zustand unserer Welt und die Perspektiven unserer Zukunft. Und diesen Sommer kommt alles zusammen, die Klimakrise auf dem Höhepunkt, die Wissenschaft auf einem Tiefpunkt. Wir haben Angst um Zukunft, um Gegenwart, um unsere Hoffnung. Und was tut ihr jetzt, ihr Mächtigen in Politik und Wirtschaft? Was, verdammt, tut ihr?

Im schlimmsten Fall bedienen sich jetzt alle Beteiligten bewährter Routinen: Regierungsmitglieder versprechen eilig, dass man sich künftig besonders anstrengen werde. Vergangenheitsverteidigende Politiker, die seit Jahrzehnten die Klimakrise herunter-, und die Interessen der fossilen Industrien hochspielen, werden aus diesem Report herauslesen, dass es sich gar nicht mehr lohnt, sich ins Zeug zu legen für 1,5 Grad. Einige werden sagen: „Wir haben es euch doch gesagt“, und verschweigen, dass man es womöglich hätte so sagen müssen, dass es auch wirklich ankommt. Wir werden melancholische Gespräche darüber erleben, dass man jetzt auch nicht mehr überrascht ist, weil das Klima halt immer schlechter wird. So wie die Haut faltig wird, nutzt sich auch der Planet im Lauf der Jahre ab. Und nach ein paar Tagen passiert etwas anderes in der Welt, man wendet sich ab und der Bericht verschwindet in der Masse erschreckender Erkenntnisse.

Vielleicht kommt diesmal aber auch alles anders. Vielleicht entscheiden sich die Parteien infolge der Hochwasserkatastrophe und des neuen IPCC-Berichts, ihre Wahlprogramme zu überarbeiten, um der Klimakatastrophe in vollem Umfang zu begegnen. Vielleicht sprechen sich breite politische Mehrheiten für einen vorgezogenen Kohleausstieg, das Ende von Nord Stream 2 und ein Moratorium für neue fossile Projekte aus. Vielleicht werden wir überrascht von einer politischen Landschaft, die sich entscheidet, mit dem Report so umzugehen, als würde es wirklich um alles gehen. Vielleicht.

Consequences of the floodings in Ahrweiler, Germany.15.jpg

Ein Vielleicht reicht aber nicht. Die Politik des fossilen Weiter-so wird nicht von Katastrophen oder drastischen Berichten geändert werden. In den letzten 40 Jahren war Politik ja auch ohne Klimabewusstsein möglich. Das wiederum ging, weil Machterhalt und die Motivation, das Klima zu bewältigen, sich bisher nicht gegenseitig bedingt haben. Das ging, weil Politiker befreit von jedem Verständnis über die ökologische Krise Karrieren verfolgen konnten.

Ändern können dies nur Menschen, die das nicht mehr mitmachen. Die sich organisieren, auf der Straße, in Institutionen, aus allen Generationen und allen Ecken des Landes. Weil sie ihre Zukunftsperspektiven nicht allein an die Möglichkeit knüpfen wollen, dass eine Politik, die 40 Jahre Katastrophe und Berichte ignoriert hat, nun von selbst auf die Idee kommt, die größte Katastrophe der Menschheit auch als solche zu behandeln.

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Jakob BlaselDetlev GantenLuisa Neubauer, Maja Göpel, Eckart von Hirschhausen, Gregor Hagedorn, Karen Helen Wiltshire, Volker Quaschning and Holger Michel (from left to right) at the presentation of the #Scientists4Future statement on March 12, 2019 in Berlin

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Berliner Stadtgespräch

Erstellt von Redaktion am 10. September 2021

Armut in Deutschland – No money, no Zins

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Von Ambros Waibel

Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht die Vermögensbildung durch Niedrigzinspolitik gefährdet. Und erzielt so einen Propagandaerfolg.

Vor ein paar Jahren kursierte im Freundeskreis eine Liste. Es ging darum, was man noch unternehmen kann, wenn gar kein Geld mehr da ist: also zum Beispiel sich in die Bibliothek setzen (soweit keine Pandemie das verhindert) oder gar ein Buch ausleihen (soweit die Ausweisgebühr bezahlt ist).

Für viele Menschen ist das Total-­abgebrannt-Sein nur eine Phase, die zum Erwachsenwerden dazugehört und auf die man im gesetzteren Alter sentimental zurückblickt. Für andere ist die Dauerpleite Lebensbegleiter. Zu den Promis dieser Kategorie gehört etwa der Dichter Dante ­Alighieri, dessen siebenhundertsten Todestags wir, wie es der Zufall will, nächste Woche am 14. September gedenken können. Dante spricht, in den höchsten denkbaren Höhen, also im Paradies angekommen, davon, wie versalzen die einem von den Reichen hingeworfenen Brotbröckchen schmeckten und welch bitterer Weg es sei, als ewiger Bittsteller die Treppen anderer erst hoch- und dann wieder hinuntersteigen zu müssen.

Deutschland ist bekanntlich eine Klassengesellschaft. Deswegen ist Hellhörigkeit angesagt, wenn ein von den Arbeitgebern finanzierter Thinktank sich in einer Studie plötzlich Sorgen um ärmere Haushalte macht. Erstellt hat die diese Woche erschienene Studie „Der ­Einfluss der EZB-Geld­politik auf die Vermögensverteilung in Deutschland“ das In­sti­tut der deutschen Wirtschaft (IW), herausgegeben wurde sie von der Stiftung Familienunternehmen.

Das IW ist im Nebenberuf übrigens auch zuständig für die arbeitgeberfinanzierte Propagandaorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die INSM fiel jüngst durch ihre mindestens geschmacklose, wenn nicht „antisemitische Anspielungen in Kauf“ nehmende – so der Berliner Anti­semitismusbeauftragte Samuel ­Salzborn – Negativkampagne gegen die Grünen im Wahlkampf auf.

Keine Vereinigung netter Mittelständler

In der Studie kommen die Verfasser zu dem Schluss, die niedrigen Zinsen im Euroraum erschwerten den „Vermögensaufbau und die Altersvorsorge für diejenigen Haushalte, die aufgrund ihrer niedrigen Einkommen und niedrigen Vermögen auf risikoarme Anlageformen angewiesen sind“. Oder noch mal anders formuliert: „Nachteile ergeben sich vor allem für Haushalte, die nicht in eine Immobilie investiert haben beziehungsweise konnten und ihre Vermögensanlage über Zinsprodukte gestalteten.“

Hellhörigkeit ist angesagt, wenn ein Arbeitgeber-Thinktank sich um die Armen sorgt

Da die aus solchen Sätzen generierte und unbeschwert durch die Medien schwingende Botschaft die ist, dass die EZB schuld daran sei, wenn „arme“ Familien kein Vermögen aufbauten oder kein Häuschen mehr bauen könnten, muss noch nachgetragen werden, dass es sich bei der Stiftung Familienunternehmen mitnichten um eine Vereinigung netter Mittelständler handelt, sondern um eine – selbstverständlich gemeinnützige – Lobbyorganisation von Superreichen, die unermüdlich gegen Mindestlohn und höhere Erbschaftsteuern kämpft.

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Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

Wenn wir nun zu den einleitenden Worten zurückkehren, dann ist zumindest eines klar: Wer kein Geld hat, bekommt auch keine Zinsen drauf. „Das reichste Zehntel in Deutschland verfügt über 67,3 Prozent des gesamten Nettovermögens. Für den großen Rest der Bevölkerung bleibt also wenig übrig, und die ärmere Hälfte besitzt fast nichts“, kommentierte Ulrike Herrmann in der taz die 2020er-Zahlen des – zu einem Großteil öffentlich finanzierten – Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

Wem nichts zum Sparen bleibt, wer wie sehr viele Menschen nichts hat außer Kleidung, ein paar Haushaltsgeräten und, wenn es gut läuft, einem zur Hälfte abbezahlten Auto oder, wenn es schlecht läuft, einem zu bedienenden Kredit – wem es so ergeht, der wird der EZB eher dankbar sein müssen, dass sie durch den Niedrigzins wenigstens den Arbeitsmarkt am Laufen hält. Die lockere Geldpolitik stütze Wirtschaft und Konjunktur und sorge so für eine Verringerung der Arbeitslosigkeit und höhere Einkommen: Zu diesem Schluss kommt jedenfalls die Notenbank selbst. Von der Senkung der Arbeitslosenquote profitiere das einkommensschwächste Fünftel der Haushalte in besonderem Maße.

Worum es eigentlich geht

Quelles        :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben        —       Karl Marx, The Prophet

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Das globale Agrarsystem

Erstellt von Redaktion am 4. September 2021

–  Wahnsinn mit Methode

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

von Tomasz Konicz

Die Autodestruktivität der globalen Mehrwertmaschine kommt gerade bei der unmittelbaren Verwertung der Ökosysteme voll zur Entfaltung. Der kapitalistische Produktivitätsextremismus, bei dem alle betriebswirtschaftliche Rationalität dem irrationalen Selbstzweck uferloser Kapitalverwertung unterworfen ist, wird somit erst bei einem genaueren Blick auf die globale Nahrungsmittelindustrie in seiner vollen Monstrosität sichtbar. Der Spätkapitalismus bringt eine regelrecht inzestuöse, im höchsten Maße labile und krisenanfällige Agrarindustrie hervor, die den kommenden klimabedingten Erschütterungen der Nahrungsmittelversorgung der Menschheit nicht gewachsen ist – und diese eher noch verstärken wird (konkret 4 und 5/2013).

Zum einen stellt die scheinbare Wahl zwischen Produkten im Supermarkt größtenteils eine Illusion dar. Kaum etwas trügt so sehr wie die Vielfalt der Waren, die die Sinne des Konsumenten beim Gang durch einen Supermarkt überflutet, denn die der kapitalistischen Wirtschaftsweise inhärente Tendenz zur Ausbildung von Monopolen oder Oligopolen – das logische Endziel der Marktkonkurrenz – ist trotz all der Bauernhofromantik, die sich auf vielen Lebensmittelverpackungen findet, auch bei der Nahrungsproduktion längst voll entfaltet. Nahezu alle Zweige der Agrar- und Lebensmittelbranche werden von einigen wenigen Großkonzernen beherrscht, die maßgeblich die Produktionsverhältnisse und informellen „Spielregeln“ in ihren Marktsektoren bestimmen.

Die aus den Konzentrationsprozessen resultierende Form der oligopolistischen Konkurrenz ist für das Gros der Marktsubjekte durch eine neofeudale Abhängigkeit von wenigen Giganten charakterisiert, deren Produktions- und Preisvorgaben den Charakter von Marktgesetzen angenommen haben. Das gilt auch für den deutschen Einzelhandel, der nahezu vollständig von fünf Konzernen beherrscht wird: der Schwarz-Gruppe (Kaufland, Lidl), Aldi, Edeka, Rewe und Metro. Mit ihrer Marktmacht können diese Großkonzerne nicht nur inländische, sondern auch international agierende Zulieferer massiv unter Druck setzen. Der Weltmarktführer in der Branche sitzt allerdings in den Vereinigten Staaten: Walmart hat mit zwei Millionen Angestellten und einem Umsatz von mehr als 500 Milliarden US-Dollar (2017) inzwischen die Dimensionen einer kleinen Volkswirtschaft erreicht.

Die Folgen dieser weit fortgeschrittenen Oligopolbildung sind selbst dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aufgefallen, das 2011 in seiner Studie „Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel: Hersteller sitzen am kürzeren Hebel“ vor dem zunehmenden „Missbrauch der Marktmacht“ durch die wichtigsten deutschen Lebensmitteleinzelhänder warnte. (diw-econ.de/downloads/konzentration-im-lebensmitteleinzelhandel-hersteller-sitzen-am-kuerzeren-hebel/) Bei derart ausgeprägter Marktkontrolle sei die Belieferung dieses Einzelhandelsoligopols für die Hersteller „unverzichtbar“. Die Beziehungen zwischen Händlern und Herstellern seien folglich von „einem deutlichen Ungleichgewicht zulasten der Hersteller geprägt“, erklärten die Autoren. Dabei falle es schwer, zwischen den „handelsüblichen Drohungen“ und einem „Missbrauch einer bestehenden Nachfragemacht“ zu unterscheiden.

Der zunehmende Druck, Preise und Kosten zu senken, fördert die Verschärfung der ohnehin brutalen Arbeits- und Produktionsbedingungen in der gesamten Produktionskette der Lebensmittel- und Agrarbranche. Mit der fortschreitenden Kapitalkonzentration verschwinden zugleich die Nischen, in die ein Ausweichen möglich wäre. Die Lebensmittelhersteller geben den Kostendruck an ihre Zulieferer weiter, die wiederum möglichst niedrige Preise beim Kauf von Agrarrohstoffen durchsetzen wollen. Wie hoch das Erpressungspotential inzwischen ist, illustriert die globale Verwertungskette beim Kaffee. Den rund 25 Millionen Kleinbauern und Landarbeitern, die im Kaffeeanbau beschäftigt sind, stehen fünf internationale Händler gegenüber, die 55 Prozent des Marktes kontrollieren, sowie drei Röstfirmen, deren Marktanteil circa 40 Prozent beträgt.(konkret 5/2013)

Ähnliche, mitunter noch stärker ausgeprägte Konzentrationsprozesse sind in nahezu allen Wirtschaftszweigen abgeschlossen, in denen mit dem Anbau, der Verarbeitung oder der Distribution von Nahrungsmitteln Kapital verwertet wird. In den USA kontrollieren vier fleischverarbeitende Unternehmen rund 84 Prozent aller Schlachtkapazitäten, vier große Geflügelzüchter haben den globalen Markt der Tiergenetikindustrie unter sich aufgeteilt, beim Saatgut beträgt der Marktanteil der Top-10-Konzerne 74 Prozent, bei Düngemitteln sind es 55 Prozent, bei Pestiziden 90 Prozent. Der globale Handel mit Soja und Getreide wird von vier Konzernen abgewickelt, die 74 Prozent Marktanteil erreichen. Die meisten dieser Marktführer streben inzwischen nach einer „vertikalen Integration“ ihrer Verwertungstätigkeit, bei der die Kontrolle aller Produktionsschritte vom Acker bis zur Supermarkttheke forciert wird. Der Biotech- und Chemieriese Syngenta produziert nicht nur Pestizide und Saatgut, er lässt auch Gemüse anbauen und ist im landwirtschaftlichen Kreditgeschäft tätig. Der weltgrößte Getreidehändler Cargill lässt ebenfalls Landwirte auf Kredit produzieren, er stellt zudem Nahrungs- und Futtermittel her und beliefert über seine Tochtergesellschaften direkt die Supermärkte.

Die scheinbare Vielfalt der Waren in den Supermärkten trügt aber nicht nur hinsichtlich der Anbieter. Auch die bunten Produktverpackungen täuschen nur darüber hinweg, dass die Insassen der spätkapitalistischen Tretmühle längst mit einem Einheitsfraß abgespeist werden, der von einer perversen, auf bloße Profitmaximierung orientierten Rationalisierung hervorgebracht wird. So wurde im Gefolge der Konzentrationsprozesse bei den Tierzüchtern (neuerdings als „livestock genetics“ bezeichnet) die Anzahl der Zuchtlinien bei allen Nutztierrassen drastisch vermindert, während die Populationen der einzelnen Rassen einander genetisch immer ähnlicher werden. Ein Zuchteber oder Zuchthahn kann Millionen von Nachkommen haben.

Zumeist kommen dabei sogenannte Hybride zum Einsatz. Hierbei handelt es sich um besonders „leistungsfähige“ Kreuzungen von Inzuchtlinien (Bruder-Schwester-Verpaarung), die über Dutzende von Generationen auf die Ausbildung bestimmter Merkmale selektiert wurden. Der führende britische Züchter Genus PLC bietet etwa Hybridzüchtungen beim Schwein an, beim amerikanischen Saatgutkonzern Pioneer entwickelten sich neben dem feilgebotenen Hybridmais auch Hybridhühner zum Verkaufsschlager. Für die Züchter hat dieses Inzuchtsystem den Vorteil, dass ihre hybriden „Waren“ immer wieder nachgekauft werden müssen, da die als „Heterosis-Effekt“ bezeichneten Eigenschaften der Hybride bei ihren Nachkommen sukzessive verlorengehen.

Von den „livestock genetics“ werden nur diese Hybride oder die Samen der entsprechenden männlichen Zuchttiere verkauft, während die reinrassigen Zuchtlinien wie ein Staatsgeheimnis gehütet und unter Verschluss gehalten werden. Die hierdurch ausgelöste genetische Homogenisierung der Nutztierpopulation führte dazu, dass inzwischen Millionen von Rindern, Schweinen oder Hühnern nur noch die genetische Vielfalt einer Population von weniger als hundert Tieren aufweisen.

Chemiegetriebene Landwirtschaft

Dem Profitstreben wird alles geopfert, auch die Gesundheit der Kunden. Wenn die Profite stimmen, wird auch krebserregendes Gift verscherbelt. Erst nach der Akquisition Monsantos durch den deutschen Bayer-Konzern sind dessen diesbezügliche Umtriebe ab 2018 in den Fokus der US-Justiz geraten – dies vor dem Hintergrund der zunehmenden handelspolitischen Spannungen zwischen den USA und der EU.

In einer Reihe spektakulärer Prozesse entschieden US-Geschworenengerichte Ende 2018 und Anfang 2019, dass das glyphosathaltige Pestizid Roundup der Bayer-Tochter Monsanto krebserregend sei. Überdies stufte das internationale Krebsforschungsinstitut Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend“ ein – im Gegensatz zum Bundesinstitut für Risikobewertung, das keine diesbezüglichen Anhaltspunkte sehen wollte. (swr.de, 28.03.2019) Eine weitere Untersuchung stellte fest, dass vor allem Anwender von Glyphosat wie Landwirte oder Landarbeiter ein um 41 Prozent erhöhtes Risiko für Lymphdrüsenkrebs aufwiesen.(theguardian.com, 14.02.2019) Zugleich existiert eine Reihe von Studien, die zwischen 2012 und 2016 von Chemiekonzernen in Auftrag gegeben wurden und die kein Krebsrisiko konstatieren. Diese „Industrie-Studien“ wurden aber von Behörden genutzt, „um über die Zulassung des Ackergifts zu urteilen“. Es handle sich bei diesen Auftragsstudien und Gutachten de facto um „gekaufte Wissenschaft“, schreibt bund-naturschutz.de in „Glyphosat und Krebs: Gekaufte Wissenschaft“.

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Das umstrittene Pestizid Glyphosat ist der weltweit meistverkaufte chemische Unkrautvernichter, der zudem im Verdacht steht, das globale Insektensterben (sueddeutsche.de, 25.09.2018) mitzuverursachen. Der dramatische Rückgang der Insektenpopulation, deren Kollaps katastrophale Folgen für die Ernährungsgrundlage der Menschheit zeitigen würde, wird gerade durch die auf Chemie, Monokulturen und Überdüngung setzende kapitalistische Agrarindustrie maßgeblich verursacht („Das große Insektensterben: Warum verschwinden die Insekten?“, bund.net). Nach Dekaden exzessiven Einsatzes chemischer „Schädlingsbekämpfungsmittel“ setzt nun das große Sterben der „Schädlinge“ ein, die Grundlage vieler Nahrungsketten sind – auch der menschlichen. Glyphosat als Symbol dieser zerstörerischen „chemiegetriebenen Landwirtschaft“ generiert auch einen Großteil der Gewinne der von Bayer aufgekauften US-Tochter, worauf die taz aufmerksam machte (20.03.2019).

Dabei stellt das Vorgehen der US-Justiz gegen die Bayer-Tochter Monsanto ohnehin eine Ausnahmeerscheinung dar, die im Ruf steht, einen Nebenkampfplatz der deutsch-amerikanischen Handelskriege darzustellen. Für gewöhnlich setzen Agrarmultis ihre Interessen innerhalb des spätkapitalistischen Politikbetriebs durch. Der legislative und juristische Kampf der amerikanischen Umweltbewegung gegen die Agrarlobby resultierte in den Dekaden bis zu den Bayer/Monsanto-Prozessen de facto in einer Kette von Niederlagen, in deren Gefolge der amerikanische Agrarsektor bereits in jene neofeudale Abhängigkeit von den Gentechkonzernen geführt wurde, wie sie sich nun auch in Europa immer stärker abzeichnet.

Die Saatgutmultis waren in der Lage, „Patente“ auf Pflanzen, auf die Kreationen ihrer Gentechnik-Labors legislativ durchzusetzen. Daraufhin nutzten sie das „Copyright“ auf ihre patentierten Genpflanzen, um mittels kostspieliger Klagen renitente Bauern auszuschalten und Monopole zu errichten. Maßgeschneiderte Gesetze sorgen dafür, dass gerade Monsanto Landwirte, deren Felder mit genetisch veränderten Sojabohnen kontaminiert wurden, wegen Patentverletzungen auf Schadensersatzleistungen verklagen kann. Einen Ausweg aus diesen langwierigen, ruinösen Gerichtsauseinandersetzungen bot der Konzern den Landwirten an: den Umstieg auf ihre Gen-Sojabohnen. Die legislativ flankierte Erpressungsstrategie war äußerst erfolgreich. Während Monsanto bei der Sojaproduktion in den USA inzwischen den Marktanteil von 90 Prozent hält, stiegen zugleich die Kosten für den Anbau von Soja zwischen 1995 und 2011 um 325 Prozent.

Wachstumswahn und Wasserkrise

Nicht nur der Mensch, auch die Natur ist dem Kapital nur Mittel zum zerstörerischen Selbstzweck uferloser Akkumulation. Der Raubbau an den natürlichen Ressourcen, den das Kapital effizient organisiert, führt zu schweren ökologischen Krisen wie der extremen Wasserkrise des Jahres 2019 in weiten Teilen Indiens. Die größten fossilen Wasservorräte befinden sich hauptsächlich in den USA, Indien und China, wo sie einem regelrechten Raubbau ausgesetzt sind. „In Indien und China gehen die Wasserspiegel heute bereits um 1,5 Meter pro Jahr zurück. Im indischen Punjab muss man schon 100 Meter tief bohren, um noch Wasser zu finden“, warnte schon 2008 der damalige Nestlé-Chef Brabeck in einem NZZ-Interview (23.3.08). Besonders verheerend sei die Produktion sogenannter Biotreibstoffe: „Um 1 Liter Bioethanol zu produzieren, brauchen Sie 4000 Liter Wasser! Wasser ist das grössere Problem als der CO2-Ausstoss. Wir zapfen heute schon nicht nur die erneuerbaren, sondern auch die fossilen Wasservorräte an. Diese fossilen Vorräte wurden wie das Erdöl vor Millionen von Jahren geschaffen … die großen Produzenten bewässern ihre Felder heute fast alle künstlich.“

Auch in den Zentren des Weltsystems werden die Ökosysteme buchstäblich „leergepumpt“. Der Zu- und Abflussbereich des Colorado River z.B. erstreckt sich über die US-Bundesstaaten Colorado, Utah, Arizona, Nevada und Kalifornien, bevor der Fluss infolge übermäßiger Wasserentnahme im sandigen Flussbecken Baja Californias versickert, ohne seine Mündung im Golf von Mexiko zu erreichen. Die rapide schwindende Wassermenge des Colorado spielt eine zentrale Rolle für die Landwirtschaft, die Elektrizitätsgewinnung und die Trinkwasserversorgung im Südwesten der USA und in Teilen Kaliforniens. Das Wasser des Flusssystems versorgt rund 40 Millionen Menschen in der Region, es dient zudem zur Bewässerung von 1,6 Millionen Hektar Agrarfläche.

Eine satellitengestützte Untersuchung förderte zutage, dass rund 75 Prozent des Wassers, das dem Colorado-Flussbecken in den vergangenen neun Jahren entnommen wurde, aus dessen Grundwasserreservoiren stammten. Zwischen Dezember 2004 und November 2013 verlor das Flussbecken des Colorado rund 64 Kubikkilometer Wasser. Rund drei Viertel dieses gigantischen Wasserverlustes – 50 Kubikkilometer – gehen auf die Grundwasserentnahme zurück (nature.com, 25.07.2014, konkret, 09/2014).

Das Agrarsystem lebt in diesem wichtigen Anbaugebiet gewissermaßen „auf Pump“ von der Vergangenheit, indem fossile Wasserreserven, die in Jahrmillionen akkumuliert wurden, in einem erdgeschichtlichen Wimpernschlag der Kapitalverwertung geopfert werden. Das größte Problem bei der Grundwasserentnahme in der Region besteht darin, dass vollkommen unklar ist, wie lange sie noch fortgesetzt werden kann.

Insbesondere im Südwesten wird dieser agrarische Extraktivismus durch die lang anhaltende „Dürre“ verschlimmert, von der auch der wichtige Landwirtschaftssektor Kaliforniens betroffen ist (theatlantic.com, 18.12.2018).

Die Farmer im kalifornischen Central Valley setzen weiterhin auf bewässerungsintensive Anbaumethoden und Feldfrüchte, obwohl die Agrarregion insgesamt dabei sei, „sich in die Wüste zurückzuverwandeln“, wie Slate (14.5.14) in einem Hintergrundbericht 2014 bemerkte. Während an den Straßenrändern des Central Valley Schilder mit Stoßgebeten um Regen zu finden seien, müssten die Farmer der Region nun „wichtige Entscheidungen“ treffen – zumeist entscheide dabei das Geld. Wenn man vor die Wahl gestellt werde, wasserhungrige Fruchtbäume am Leben zu erhalten, die den zehnfachen Profit pro Hektar bringen, oder Gemüse zu pflanzen, dann falle die Entscheidung leicht, wenn man „seine Profite maximieren will“. Deswegen würden in diesem Jahr im Central Valley viele Gemüsefelder brachliegen, während die Farmer sich bemühten, die lukrativen Fruchtbäume zu retten.

Monströse Fleischfabriken

Die pervertierte „Rationalität“ der Lebensmittelindustrie tritt bei einem Blick hinter die Fassaden der Fleischproduktion und Verarbeitung in voller Perversion zutage. In den gesamten Vereinigten Staaten gib es inzwischen nur noch 13 riesige Schlachtfabriken. Das größte Schlachthaus der Welt, die Smithfield Hog Processing Plant in North Carolina, verarbeitet 32.000 Schweine pro Tag, während seine Kläranlage eine mittlere Stadt versorgen könnte (rollingstone.com, 14.12.2006). Die Arbeitsbedingungen sind so miserabel, dass Smithfield seine Arbeitskräfte aus einem Radius von mehr als 100 Kilometern im verarmten amerikanischen Süden zusammenkarren muss und überdies verstärkt „illegale“ mexikanische Einwanderer rekrutiert.

Europas Hähnchen und Puten, die inzwischen in Rekordzeit gemästet werden, können kaum noch laufen, da ihre Brüste dermaßen überzüchtet sind, dass die „hybriden“ Tiere ihr Gewicht schlicht nicht tragen können. Bewegung wäre diesen geschundenen Kreaturen ohnehin kaum möglich, da nach Ablauf der Mastzeit – die sich dank Überzüchtung binnen der vergangenen 50 Jahre von 90 auf 30 Tage reduziert hat – im Schnitt 20 Hähnchen auf einem Quadratmeter untergebracht sind.

Eine Existenz in ihrer eigenen Scheiße fristen hingegen die US-Rinder, die in den CAFOs (Concentrated Animal Feeding Operations) durch widernatürliches Maisfutter möglichst schnell zur Schlachtreife gebracht werden sollen. Die Fläche pro Rind ist so klein, dass die Tiere knietief in ihren Exkrementen stehen müssen.

Auch in Deutschland expandiert die Fleischbranche weiter, wobei der Lohnkahlschlag und die Prekarisierung der Arbeit seit der Einführung der Agenda 2010 dazu beigetragen haben, diesen Sektor mit billigen Arbeitskräften zu versorgen. Gigantische Tierfabriken mit bis zu 90.000 Schweinen oder 500.000 Masthähnchen beflügeln die Exportoffensive der deutschen Fleischindustrie. Die Anzahl der Schweinehalter ist seit 2001 um 70 Prozent, die der Hähnchenmäster um 50 Prozent zurückgegangen – bei gleichzeitigem Anstieg der Nutztierpopulation.

Die in Turbomastanlagen zur Schlachtreife gebrachten Tiere sind einer Tortur ausgesetzt, bei der ihre elementarsten natürlichen Bedürfnisse dem Kostenkalkül geopfert werden. Von den rund 60 Millionen Schweinen, die in Deutschland pro Jahr gemästet und geschlachtet werden, landet etwa ein Drittel, also 20 Millionen, im Müll. Die mit Antibiotika vollgepumpten Tiere werden im künstlichen Dämmerlicht gehalten, damit sie sich möglichst wenig bewegen und in 180 Tagen ihr Schlachtgewicht von 90 Kilogramm erreichen. Aufgrund der daraus resultierenden Verhaltensstörungen beißen sich die Schweine oft gegenseitig die Schwänze ab – weswegen man dazu übergegangen ist, diese schon den Jungtieren abzuschneiden und den ausgewachsenen Tieren die Eckzähne abzuschleifen.

File:Toennies Fleisch.jpg

Zwischenfazit: Wir bekommen von der Lebensmittelindustrie einen bunt verpackten, genetisch homogenisierten Einheitsfraß vorgesetzt, der aus gefolterten Nachkommen überzüchteter Inzesttiere und genetisch modifizierter Pflanzen geformt wird. Hinzu kommt noch der übliche Cocktail aus Antibiotika und Chemie, der dieses widerwärtige System funktionsfähig erhält. Es ist ein ungesunder, massenhaft zu ernährungsbedingten Krankheiten führender und auf höchstmögliche Kapitalverwertung optimierter Fraß, der mit einem größtmöglichen Ausstoß an Treibhausgasen einhergeht. Rund 31 Prozent der Klimagasemissionen schreibt der Weltklimarat IPCC direkt der kapitalistischen Landwirtschaft und der veränderten Landnutzung zu. Verarbeitung, Transport, Kühlung, Erhitzung, Zubereitung und Entsorgung von Lebensmitteln hinzugerechnet ergibt, dass über 40 Prozent aller Emissionen davon abhängen, wie wir uns ernähren und Landwirtschaft betreiben.

Der Mensch als Müllhalde

Das besondere Merkmal des Lebensmittelsektors ist, dass die Nachfrage in diesem Bereich nicht völlig wegbrechen kann und selbst in Krisenzeiten ein Mindestumsatz garantiert ist. Wir müssen essen. Somit ist der menschliche Körper der faktische Endpunkt der Produkte, die bei der Verwertung des Kapitals im Lebensmittelsektor ausgestoßen werden. Und die Aufnahmekapazität dieses Körpers ist sehr flexibel. Das bringt für die Lebensmittelbranche eine Reihe von Vorteilen, die zwecks Renditemaximierung oder schlichten Betrugs ausgenutzt werden. Generell eignen sich Lebensmittel, die in den menschlichen Körper gelangen, gut dazu, verseuchte oder mangelhafte Rohstoffe profitträchtig und kostengünstig verschwinden zu lassen. Das kontaminierte Zeug ist dann erstmal weg. Der menschliche Körper ist für das Kapital ein perfekter Müllschlucker, in dem die Ergebnisse einer katastrophalen Nahrungsproduktion billig entsorgt werden können.

Auch hier ist die explizit kriminelle Handlung nur die letzte Konsequenz der legalen Praktiken der Lebensmittelindustrie, die ihre „Kundschaft“ zu Abfallhalden ihrer Verwertungsprozesse zugerichtet hat. Der Verwertungsprozess des Kapitals speit längst Produkte aus, die durch den exzessiven Einsatz von Fett, Zucker, Salz und Chemie Absatz wie Profite dauerhaft zu sichern versuchen. Die Konditionierung fängt inzwischen im Kindesalter an: „Mit Obst und Gemüse lässt sich nur wenig Profit machen – mit Junkfood und Softdrinks schon mehr. Es lohnt sich ganz einfach nicht, gesunde Produkte ans Kind zu bringen“, erläuterte Anne Markwardt von der NGO Foodwatch in einem Interview (presseportal.de/pm/50496/2215224). So nehmen Kinder inzwischen im Schnitt nur noch die Hälfte der empfohlenen Menge an Obst und Gemüse zu sich, während die tägliche Zuckerdosis mit 200 Prozent weit übertroffen wird. Die Folge: Seit den Neunzigern ist der Anteil fettleibiger Kinder um 50 Prozent gestiegen, ein Prozent aller Kinder leidet unter Diabetes.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung formuliert das so: „In einem Industrieland wie Deutschland wird die Hauptlast der Krankheiten und Beschwerden von einer kleinen Zahl chronischer Krankheiten verursacht, die allesamt in Zusammenhang mit ungünstigen Ernährungsgewohnheiten und einer unkritischen Auswahl von Lebensmitteln stehen.“ Bezeichnend ist die rasche Zunahme von Diabetes in den vergangenen Jahren: In der BRD stieg die Anzahl der Diabeteserkrankungen von 5,3 Millionen im Jahr 2000 auf 7,3 Millionen im Jahr 2007 (konkret 04/2013).

Dieser Anstieg ernährungsbedingter Erkrankungen ist insbesondere in den Vereinigten Staaten auf die krisenbedingten Verelendungstendenzen zurückzuführen, da sich immer weniger Menschen eine gesunde und ausgewogene Ernährung leisten können und deswegen den Kalorienbedarf mit klima- und gesundheitsschädlichem Fast Food und Fertiggerichten zu decken versuchen. In den USA wurde seit Krisenausbruch der Begriff der Rezessionsfettleibigkeit bei Kindern geprägt, da diese oft von ihren Eltern mit Billiglebensmitteln ernährt werden müssen. Der Anteil fettleibiger US-Bürger stieg von 19 Prozent 1997 über 26 Prozent 2007 auf 35 Prozent im Jahr 2010. Mississippi, der US-Bundesstaat mit der höchsten Armutsrate und dem niedrigsten Einkommensniveau, weist auch das höchste Aufkommen von Adipositas-Erkrankungen auf. Holmes County wiederum ist einer der ärmsten Landkreise Mississippis – dort wird mit einer Adipositas-Rate von 42 Prozent der US-weite Rekordwert erreicht. Die Lebenserwartung in Holmes County liegt mit 65 Jahren rund zehn Jahre unter dem US-Durchschnitt.

Der wichtigste Faktor, der die Existenz der spätkapitalistischen Lebensmittelindustrie überhaupt ermöglicht, sind die Agrarsubventionen, mit denen bevorzugt große Agrarunternehmen in den USA und Europa überschüttet werden. Dabei fließen die Subventionen kaum an die Produzenten (Kleinbauern), die sie durchaus brauchen könnten. 20 Prozent der größten Agrarbetriebe in der EU erhalten 80 Prozent der Subventionen. In der BRD erhalten die größten landwirtschaftlichen Unternehmen, die nur 1,5 Prozent der Gesamtempfänger ausmachen, 30 Prozent der Beihilfen.

Die USA und die EU subventionieren die Ausfuhren ihrer Agrarprodukte in all die Regionen des Globalen Südens, die sich aufgrund ihrer sozioökonomischen Marginalisierung, ihrer extremen Verschuldung oder ihrer willfährigen Herrschercliquen nicht mit Schutzzöllen dagegen wehren können. Die Europäische Union verwendet etwa Teile ihres Agrarhaushalts für die Förderung von Exporten, die mittels Dumpings die kleinbäuerliche und von Subsistenzwirtschaft geprägte Agrarstruktur insbesondere in Afrika zerstören.

Freihandelsterror …

Diese Subventionspolitik geht einher mit der Oktroyierung von Freihandelsabkommen in der Peripherie des Weltsystems, die dem subventionierten Frankensteinfraß der USA und der EU neue Absatzmärkte öffnen. Mehr als zehn Jahre lang bemühte sich die EU, mit möglichst vielen afrikanischen Ländern langfristige Freihandelsabkommen (EPA – Economic Partnership Agreement) abzuschließen, um diese in ein möglichst enges ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis zu manövrieren. Diese neoimperiale EU-Strategie zielt vor allem auf die Sicherung des Zugangs zu den Rohstoffen einer Region ab, in der auch China und die USA verstärkt aktiv sind.

Die langfristige Strategie Brüssels erinnert an das Vorgehen eines Drogendealers: Nachdem die EU etlichen „Entwicklungsländern“ ab dem Jahr 2000 einen erleichterten Zugang auf den europäischen Binnenmarkt eingeräumt hatte, bildeten diese entsprechende ökonomische Verflechtungen mit Europa aus – gerade bei Agrarprodukten. Diese wachsenden afrikanischen Abhängigkeiten verschafften Brüssel erst den Hebel, mit dem der afrikanische Widerstand gegen die weitgehende Öffnung seiner Märkte für die gnadenlos überlegene europäische Konkurrenz gebrochen werden konnte. Mitte 2013 hat Brüssel in übler neokolonialer Manier etlichen afrikanischen Staaten ein Ultimatum (africa-eu.com, 15.11.2013) gestellt: Entweder sie unterzeichnen die EPA bis Oktober 2014 oder es werden ihnen sämtliche Handelserleichterungen mit der EU gestrichen.

Das Diktat führte zum durchschlagenden Erfolg: Am 10. Juli 2014 kapitulierten die Regierungen der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (Ecowas) und leiteten den Ratifizierungsprozess des EPA ein. Es folgten die sieben Mitgliedsstaaten der Southern African Development Community (SDAC) und schließlich Kamerun.. Einzig Kenia versäumte es zuerst, die Deadline des Weißen Mannes einzuhalten, sodass die Strafzölle der EU den Exportsektor des Landes voll trafen und Hunderttausende von Arbeitsplätzen gefährdeten. Der einzige Ausweg für Kenia bestand darin, das Freihandelsabkommen zu unterschreiben, was „die Regierung in Nairobi in diesem ungleichen Duell mit der mächtigen EU auch tat“ (wienerzeitung.at, 14.12.2018). Laut EPA muss Afrika seine Märkte zu 83 Prozent für europäische Waren öffnen, während Schätzungen zufolge nur zehn Prozent der in Afrika hergestellten Waren tatsächlich international wettbewerbsfähig sind. Es sei „frustrierend“, so Francisco Marí, Handelsexperte der NGO Brot für die Welt, als NGO mittels Spenden Agrarentwicklungsprogramme in Afrika zu realisieren, nur um wenig später festzustellen, dass dies im Endeffekt vergebens sei, weil die hochsubventionierten EU-Agrarprodukte den afrikanischen Agrarsektor zerstörten.

Diese pessimistischen Prognosen sind durch eine Vielzahl ähnlich gelagerter Beispiele aus der Vergangenheit nur zu gut begründet. Seit geraumer Zeit haben die Zentren des Weltsystems den „Freihandel“ vor allem dazu genutzt, ihre agrarische Überschussproduktion in der Peripherie zu entsorgen. Ein Symbol für diese rücksichtslose Exportpolitik, die unzähligen afrikanischen Kleinbauern die Lebensgrundlagen entzieht, stellt das mit Chemie und Subventionen vollgepumpte europäische Hühnerfleisch dar, das jahrelang die Märkte Westafrikas – etwa Ghanas – übrschwemmte (deutschlandfunk.de, 14.11.2018). In den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts deckte der ghanaische Agrarsektor rund 80 Prozent des Geflügelbedarfs des westafrikanischen Landes – 2013 waren es nur noch zehn Prozent (dw.com, 17.01.2014). Mit absoluten Dumpingpreisen wurde in den späten 90er-Jahren die einheimische Geflügelzucht vom Agrobusiness verdrängt, um hiernach die Preise anzuheben.

Die monströsen und hocheffizienten deutschen Hühnerfleischfabriken etwa erreichen eine Überproduktion von 25 Prozent gegenüber der Binnennachfrage („Hähnchenblase“), sodass ein enormer Exportdruck entsteht, der sich in massiv ansteigenden Ausfuhren in die Peripherie entlädt. Besonders heftig leiden südafrikanische Geflügelproduzenten unter der deutschen Exportoffensive. Deutsche Hähnchenfabriken konnten ihre Ausfuhren nach Südafrika zwischen 2010 und 2013 um 625 Prozent steigern, sodass die Branche in Südafrika „vor dem Kollaps“ stehe und rund 100.000 Arbeitsplätze bedroht seien. Seit 2010 habe die EU ihre Geflügelfleischexporte nach Afrika „um knapp zwei Drittel gesteigert“ und somit „die Geflügelwirtschaft in vielen afrikanischen Ländern mit ihren Dumpingpreisen binnen weniger Jahre vernichtet“, resümierte Spiegel-Online (17.1.2014).

Eine ähnliche Politik betreibt die EU bei Milchprodukten, wo industrielles Milchpulver aus Europa oftmals die lokalen Milchproduzenten verdrängt, und beim Fischfang, der durch das Abfischen der lokalen Gewässer durch europäische Fabrikschiffe für Einheimische kaum noch möglich ist. Mit mehr als einem Dutzend afrikanischer Staaten unterhält die EU sogenannte „Partnerschaftsabkommen“, die den EU-Fabrikschiffen das Abfischen der dortigen Bestände erlauben. Es sind Peanuts, die Brüssel an die korrupten Regime dieser verarmten Länder zahlen muss, um deren Gewässer ausplündern zu können. Brüssel schließe damit „Abkommen mit den korruptesten Staaten dieser Welt“, kritisierte die schwedische Grünen-Politikerin Isabella Lövin, die Mitglied des Fischereiausschusses des Europäischen Parlaments war. Die EU exportiere ihr Überfischungsproblem schlicht nach Afrika (zeit.de, 02.04.2012). Und es sind diese Abkommen, die den lokalen Fischern die Lebensgrundlage entziehen.

… und Land Grabbing

Jeder Student der Volkswirtschaftslehre bekommt im Proseminar eingetrichtert, dass in der Marktwirtschaft steigende Preise zu steigenden Investitionen führen. Somit würde die segensreiche unsichtbare Hand des Marktes auch die drohende Hungerkrise lösen, indem die Kapitalzuflüsse in den Agrarsektor dessen Produktivität erhöhten. Tatsächlich setzte nach dem Ausbruch der Lebensmittelkrise von 2007/08 eine wahre Investitionsflut insbesondere in die agrarischen Regionen des Globalen Südens ein – aber diese Kapitalströme zementieren Hunger, Marginalisierung und Elend in der „Dritten Welt“. Die zuvor subsistenzwirtschaftlich bewirtschafteten Agrarflächen werden beim immer stärker um sich greifenden Land Grabbing (Aneignung von Land durch Konzerne und Investmentgesellschaften) im Globalen Süden schließlich direkt in die Weltmarktproduktion inkorporiert. Immer öfter bedeutet dies, dass auf den ehemaligen kleinbäuerlichen Subsistenzflächen nun genetisch modifizierte Futterpflanzen für jene höllischen Fleischfabriken angebaut werden, die den Ruin der kleinbäuerlichen Landwirtschaft beförderten und befördern.

Die Explosion der Weltmarktpreise für Nahrungsmittel zwischen 2008 und 2012 führte nicht nur zu Hungerunruhen und Klimaaufständen, sondern auch zur größten Landnahme seit dem Ende des Kolonialismus. Konzerne und staatliche wie private Investmentfonds aus Schwellen- und Industriestaaten kaufen vor allem in Afrika riesige Agrarflächen auf, um dort Lebensmittel oder Nutzpflanzen für ihre heimischen Märkte anzubauen. Laut dem Weltagrarbericht (weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/landgrabbing.html) umfassten diese „Landakquisitionen für ausländische Nutzung“ eine Gesamtfläche von knapp 41 Millionen Hektar, wobei nur neun Prozent dieser Investitionen der direkten Lebensmittelproduktion dienten. Rund 38 Prozent seien für „Pflanzen bestimmt, die nicht der menschlichen Ernährung dienen“ und zu Tierfutter oder „Biosprit“ verarbeitet würden. Auf den restlichen Flächen würden sogenannte „Flex Crops“ angebaut, die sowohl zu Benzin wie zu Nahrung verarbeitet werden könnten (rund 15 Prozent), oder die Flächen werden durch Mischanbau ausgebeutet.

Der Großteil dieses Landraubs in der Peripherie des Weltsystems hat sich im 21. Jahrhundert vollzogen, da seit dem Jahr 2000 rund 26,7 Millionen Hektar Land den Besitzer in diesem Zusammenhang wechselten. Dies entspreche einer „Fläche so groß wie das Vereinigte Königreich und Slowenien zusammen“, heißt es im Weltagrarbericht. Der am stärksten betroffene Kontinent sei Afrika, da hier rund 10 Millionen Hektar aufgekauft worden seien. Die Nichtregierungsorganisation Oxfam kommt sogar auf eine Fläche von 33 Millionen Hektar, die im Zuge des Land Grabbing im 21. Jahrhundert aufgekauft wurde, „knapp die Hälfte dieser Landgeschäfte betrafen Afrika“. Hinzu komme, dass viele Landgeschäfte „im Geheimen abgeschlossen“ worden seien, es also eine hohe Dunkelziffer gebe.

Zechausee im Naturschutzgebiet Restloch Zechau (Mai 2012)

Dabei können diese Plantagen, auf denen Afrikaner höchstens als Tagelöhner geduldet werden, die Ausmaße europäischer Kleinstaaten erreichen. China lässt auf unvorstellbaren 2,8 Millionen Hektar Land im Kongo Palmöl zur Gewinnung von Biotreibstoff anbauen (tagesspiegel.de, 07.05.2012). Allein dieser Deal umfasst ein Gebiet, das einem Sechstel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Großbritanniens entspricht. Europäische Produzenten derartiger „Biotreibstoffe“ haben in Afrika rund 3,9 Millionen Hektar Land gepachtet oder erworben. Saudi-Arabien und andere Golfstaaten konzentrieren sich auf Ostafrika. Einer der reichsten Männer der Welt, der saudische Scheich Mohammed al-Amoudi, investiert zwei Milliarden US-Dollar, um in Äthiopien 500.000 Hektar Land aufzukaufen. Dort werden Lebensmittel und Blumen für den saudischen Markt produziert. Während Millionen Äthiopier von Lebensmittelhilfen abhängig sind, gab die Regierung drei Millionen Hektar der besten Flächen zur langjährigen Verpachtung frei. Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten, die zumeist Subsistenzlandwirtschaft betreibt, wird enteignet und vertrieben (theguardian.com, 14.04.2014).

Letztendlich produziert Europa – gemeinsam mit den anderen Zentren des Weltsystems – die anschwellenden Fluchtbewegungen in der Peripherie, die in der verzweifelten und mörderischen Massenflucht über das Mittelmeer kulminieren. Wo sollen denn die Millionen ökonomisch überflüssiger Lohnabhängigen Afrikas ein Auskommen finden, ihre Arbeitskraft vermittels Lohnarbeit auf Märkten reproduzieren, wenn die rücksichtslose Interessenpolitik der EU die Märkte Afrikas systematisch zerstört? Von einem breiten Sektor agrarischer Weiterverarbeitung, von einer afrikanischen (Klein-) Industrie träumt südlich des zu einem Massengrab verkommenen Mittelmeers niemand mehr. Die Zentren des Weltsystems tun alles, um jedwede nennenswerte wirtschaftliche Konkurrenz in der Peripherie auszuschalten und diese Regionen zu abhängigen Rohstofflieferanten zuzurichten.

Selbst in der Landwirtschaft, dem einzigen Sektor, in dem afrikanische Produkte zumindest theoretisch auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wären, wird Afrika durch ein Zusammenspiel gnadenloser europäischer Wirtschaftspolitik und des permanent anwachsenden Produktivitätsvorsprungs der europäischen Agrarindustrie an die Wand gedrückt. Die Effekte der europäischen „Entwicklungspolitik“ in Afrika, die immer öfter nur noch als Türöffner zur Realisierung knallharter wirtschaftlicher Interessen fungiert, werden somit durch die rücksichtslose, quasi neoimperiale Wirtschaftspolitik Europas zerstört.

Es ist gerade diese Zangenbewegung aus neoimperialistischer Machtpolitik der Zentren und ungebremster, marktvermittelter Vernichtungskonkurrenz, die in Afrika ökonomisch „verbrannte Erde“ hinterlässt: Regionen, in denen kaum noch Kapitalverwertung in nennenswertem Ausmaß vonstattengeht.

Die einzige Chance, die den betroffenen Menschen in der „Dritten Welt“ verbleibt, besteht in der verzweifelten Flucht in die kapitalistischen Kernländer. Mehr als eine Million mexikanischer Kleinbauern hat nach der 1994 erfolgten Einführung des Freihandelsabkommens Nafta ihre Lebensgrundlage verloren, weil die US-Agrarindustrie Mexiko danach mit billigem Mais überflutete. Ein großer Teil dieser Menschen rackert inzwischen als „illegale“ und geduldete Tagelöhner im amerikanischen Agrar- und Lebensmittelsektor zu Löhnen und unter Arbeitsbedingungen, die US-Bürger nie akzeptieren würden. Auch der gigantische Cluster von gemüseproduzierenden Gewächshäusern in der südspanischen Region Almería (aufgrund seiner Ausdehnung auf 350 Quadratkilometern auch als „andalusisches Plastikmeer“ bezeichnet) kann die unschlagbar günstigen Preise für sein Plastikgemüse nur dank der gnadenlosen Ausbeutung afrikanischer Arbeitsmigranten erreichen. Rund 22.000 von ihnen schuften dort unter brutalen Bedingungen für einen Hungerlohn in 32.000 Plastikplanengewächshäusern, um die jährliche Erntemenge von 2,8 Millionen Tonnen Obst und Gemüse einzubringen.

Damit schließt sich der Kreislauf: Der an der barbarischen und ökologisch desaströsen Überproduktion von Chemiefraß erstickende Agrarsektor im nördlichen Zentrum des kapitalistischen Weltsystems formt mittels subventionierter Agrarexporte die Landwirtschaft im Globalen Süden nach seinem Ebenbild; der Süden aber liefert nun die Rohstoffe und Arbeitskräfte für die weitere Verwertung in den Fleischfabriken und Gemüseimitate ausspeienden Plastikwüsten Europas und der USA.

Dies auf maximale Ausbeutung von Mensch und Natur geeichte kapitalistische Agrarsystem verbrennt die natürlichen Ressourcen der Welt, um den irrationalen Selbstzweck der Wertverwertung aufrechtzuerhalten. Es ist aufgrund des Aufbaus genetisch inzestuöser, „geschlossener Systeme“ im hohen Grade krisenanfällig, es zerstört mit der globalen Insektenpopulation auch unsere Existenzgrundlage, es treibt immer mehr Menschen in ernährungsbedingte Krankheiten, und es zerstört die landwirtschaftlichen Strukturen in der Peripherie des Weltsystems, die von der kommenden Klimakrise besonders schnell und hart betroffen sein wird. Es liegt somit offen auf der Hand: Das spätkapitalistische Agrarsystem ist ein perfekter Krisenverstärker, der für einen großen Teil der globalen Emissionen von Treibhausgasen verantwortlich und den kommenden klimabedingten Lebensmittelkrisen nicht gewachsen ist.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Die Vollgeld Initiative

Erstellt von Redaktion am 1. September 2021

Von den Banken und unseren Geldern

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Lobbyscheinchen für Politiker-Innen

Von  Jimmy Bulanik

Das Wirken von Banken hat viel Leid über die Menschen weltweit gebracht. Es bestehen Unterschiede zwischen einer real existierende Menge an Bargeld. Der Gegenwert des Bargeld ist nicht gedeckt durch physische Werte wie das Ergebnis humaner Wertschöpfung. Beispielsweise in Form von Einfamilienhäusern. Deshalb gibt es global mehr Schulden und erheblich mehr Derivate als Bargeld. Bankenrettungen auf Kosten von Menschen waren der Fall gewesen. Selbst der Euro als Währung wurde in Gefahr gebracht. Diese Gefahr besteht weiterhin. Zum Nachteil von Menschen welche sich in der Europäischen Union befinden.

Die Schweiz hat sich etwas einfallen lassen. Die Vollgeld Initiative mit der Internetwebseite Vollgeld Initiative. Die Wirkung soll sein das der soziale Frieden stabilisiert werden, dadurch das die Ökonomie und dessen Geldhandel gerecht werden soll. Bargeld und ein tatsächlicher Gegenwert sollen einhergehen. So stehen Leute mit ihrem Stand in Zürich vor der Nationalbank und werben für ihre Idee. Eine Volksabstimmung steht der Schweiz bevor. Die Personen in den Banken stehen vor der Frage wie sie künftig handeln wollen. Bei einer zerbrechenden Ökonomie können diese zwar ihren Lebensmittelpunkt verlagern, allerdings nicht die Welt in der sie leben.

Auch die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland können mit einem geringem Aufwand ihre Situation verbessern. Indem sie ihr Privatkonto bei einer Bank haben welche von ihrer Rechtsform her eine Genossenschaftsbank ist. Dort werden Genossenschaftsanteile erworben und ein Mensch ist somit Miteigentümerin, Miteigentümer dieser Bank.

Beispiele dafür sind die GLS Bank oder die Ethik Bank welche den Miteigentümerinnen und Miteigentümern kein Filialnetz bietet.

Genossenschaftsbanken welche ihren Miteigentümerinnen und Miteigentümern ein Filialnetz bieten sind: die Sparda e.G. West oder die Volksbank welche allesamt einen kostenfreien Umzugsservice für das neue Konto bieten. So bleiben alle Vorteile bestehen, inklusive dem Girokonto ohne Gebühren.

Nützliche Links im Internet:

Max von Bock – Wie funktioniert Geld

www.youtube.com/watch?v=0VAJY0Oq6K8

Vollgeld Initative

www.vollgeld-initiative.ch

GLS Bank

www.gls.de/privatkunden

Ethik Bank

www.ethikbank.de

Sparda eG West

www.sparda-west.de

Volksbank

www.volksbank-eg.de

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Zensur oder was ?

Erstellt von Redaktion am 12. August 2021

Spiele als das  wahren Opium des Volk ?

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Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Täglich könnte man sich stundenlang darüber aufregen, dass und wie Kinder und Jugendliche durch Videospiele fehlgeleitet und von der sie real umgebenden Welt abgelenkt werden, ganz zu schweigen von den Milliardenbeträgen, die einige wenige Anbieter damit weltweit machen. Nachdem solche Spiele in Europa und in USA entstanden sind, könnte man meinen, dass es in diesen Ländern vernünftige Regeln gäbe, um Kinder und Jugendliche vor Verherrlichungen von Mord und Totschlag, Sex und Crime, Waffengewalt und schrägen Geschichtsdarstellungen bis hin zu zweifelhaften Ideen und Idealen zu schützen. Rein theoretisch gibt es bei uns ein Jugendschutzgesetz, das aber nicht verhindert, dass man sich am PC oder Handy alles anschauen kann, was man will. Spiele sind zum wahren Opium geworden.

Typisch für unsere Scheuklappensicht gibt es jetzt in der westlichen Welt einen Aufschrei wegen einer Zivilklage der Staatsanwaltschaft Peking gegen den größten chinesischen Anbieter Tencent, weil dessen „youth mode“ (Einstellungen für Jugendliche) auf der App WeChat nicht den Chinesischen Jugendschutzgesetzen entspricht. Dieser Aufschrei ist nur eine schräge Stimme mehr in der Kakophonie des Geschreis gegen China bei allen nur erdenklichen Gelegenheiten in den Bereichen Kultur, Politik, Wirtschaft, Menschenrechte etc. Er macht überdeutlich klar, wie wir verzweifelt versuchen, unsere vermeintliche westliche Superiorität gegenüber neuen Mitspielern in der Weltpolitik zu verteidigen, ohne die eigenen Schwächen zu sehen oder gar auszumerzen, bevor wir andere kritisieren oder gar diskriminieren.

In diesem Fall sollten die westlichen Schreihälse eigentlich wissen, dass es auch bei uns Eltern gibt, die sich bitter über das Manipulationsmonopol großer Internet-anbieter beklagen und sich nichts sehnlicher wünschen als eine wirksame Kontrolle durch den Staat. Korrupte Politiker und käufliche Wissenschaftler halten aber Tor und Tür weit offen für den hemmungslosen Zugriff geldgieriger Anbieter auf unsere Kinder und Jugendlichen. Pecunia non olet (Geld stinkt nicht), gleichgültig ob es mit den Latrinen im alten Rom seinerzeit oder durch die Sucht und Verschuldung unmündiger Menschen heutzutage gescheffelt wird.

Und dann der nächste Hammer für westliche Kapitalisten und Besserwisser: Tencent will sich der Sicht des Staates beugen und das Spielen z.B. mit ‚Honor of Kings‘ für Minderjährige auf eine Stunde am Tag und zwei Stunden an Feiertagen begrenzen und auch Zahlungen über WeChat durch Kinder unter 12 Jahren ablehnen. Eltern im Westen können da nur eifersüchtig bis neidisch staunen. Wer lebt da eigentlich in welchem Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Wer hat bei uns jemals gesehen, dass ein Unternehmer freiwillig auf Riesengewinne aus Rücksicht auf gesellschaftlichen Belange verzichtet?

Also wohl doch keine Zensur sondern eher nur gesunder Menschenverstand. Ein Beispiel mehr dafür, dass man gerade bei dem seit 40 Jahren unaufhaltsam auch mit kräftiger Unterstützung westlicher Unternehmen aufstrebenden China immer auch den kulturellen Hintergrund mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Regeln, Bildung seit Konfuzius sehen muss, selbst wenn uns westliche Vorurteile, gesteuerte Medienberichte oder auch nur geistige Trägheit da oft die Sicht versperren.

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Allianz-Chef in der Kritik

Erstellt von Redaktion am 5. August 2021

Die Arroganz des Erfolgs

Allianz CEO Oliver-Baete meets PM Modi.jpg

Wirtschaft oder Politik – Ist es nicht die erste Aufgabe aller Institutionen ihre Angestellten gut zu versorgen?  Was zählen denn da noch  die Bürger-Innen?

Ein Kommentar von Martin Hesse

Oliver Bäte treibt die Allianz seit Jahren zu Rekordgewinnen – und spricht gern von gesellschaftlicher Verantwortung. Ein eigentlich kleiner Skandal zeigt nun, wie wenig Kundeninteressen dabei zählen.

Ende 2019 wählte das »Handelsblatt« den Versicherungsmanager Oliver Bäte zum Manager des Jahres. Er habe nicht nur Rekordgewinne geliefert, sondern es auch geschafft, die Allianz auf digital umzukrempeln und zugleich den Markenkern des Konzerns – »Kompetenz, Integrität und Stabilität« – zu wahren, hieß es in der Laudatio. Kompetenz heiße für Bäte, nur Produkte und Leistungen anzubieten, mit denen sich das Unternehmen wirklich auskenne. Integrität bedeute für ihn, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Aktionärs- und Kundeninteressen zu wahren. Und Stabilität sei das Fundament für Kundenvertrauen.

Vertrauen verloren

Natürlich ist das ein ebenso übliches wie heuchlerisches Spiel: Ausgerechnet Profi-Investoren – und um solche handelte es sich vorwiegend bei den sogenannten Structured-Alpha-Fonds der Allianz – sind schnell mit Klagen bei der Hand, wenn eine ihrer Wetten schiefgeht. Wer nach einer Überrendite von zehn Prozent giert, wie sie die Allianz versprach, muss sich des hohen Risikos bewusst sein.

Aber so einfach liegt der Fall hier offenbar nicht. Der Konzern soll von seinen eigenen, in den Fondsstatuten festgeschriebenen Anlageregeln abgewichen sein. Die Vorwürfe sind ernst zu nehmen, jetzt ermittelt neben der amerikanischen Börsenaufsicht auch das US-Justizministerium (DoJ). Die Allianz weist die Vorwürfe zurück, der Ausgang der juristischen Auseinandersetzungen ist offen.

Schon jetzt ist jedoch klar, dass die Allianz mit Bäte an der Spitze Fehler gemacht hat. Bäte hat für die Allianz das Motto »simplicity first« ausgerufen. Das ist seine Art, den Grundsatz 1 des Markenkerns (»Kompetenz«) in einen seiner geliebten Anglizismen zu übersetzen. Die strittigen Fonds aber sind alles andere als simpel, und womöglich haben die Allianz-Leute das Produkt, das sie verkauft haben, nicht richtig verstanden.

Ganz sicher aber hat die Allianz-Führung um Bäte das Problem unterschätzt. Deshalb musste sie jetzt, da Schadensersatzklagen über sechs Milliarden Dollar aufgelaufen sein sollen und eine Strafe durch das DoJ nicht ausgeschlossen werden kann, eine Gewinnwarnung aussprechen. Der Aktienkurs stürzte ab, Markengrundsatz 3 (»Stabilität«) ist in Gefahr, das Vertrauen der Investoren hat Bäte erst einmal verloren.

Quelle        :           Spiegel-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   The CEO-Designate Allianz Group of Germany, Mr. Oliver Baete calls on the Prime Minister, Shri Narendra Modi, in New Delhi on January 16, 2015.

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»Gewerkschaftssozialismus«

Erstellt von Redaktion am 4. August 2021

Oder warum manche linke Gewerkschafter gegen das Grundeinkommen sind.

http://www.archiv-grundeinkommen.de/material/pk/PK-6-finanzierbarL-v.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Karl Reitter

Die Auseinandersetzung um politische Themen kann verschiedene Formen annehmen. Es können Argumente und Gegenargumente ausgetauscht werden, wobei jede Seite hofft, die besseren und treffenderen zu haben. Es kann aber auch die Frage gestellt werden, warum bestimmte Gruppen so hartnäckig bestimmte Positionen vertreten. Es kann also auch darum gehen, die Anderen zu verstehen und deren Auffassungen nachzuvollziehen. Dieser kleine Text ist Resultat einer online Diskussion, die ich mit einem Mitglied der deutschen Linkspartei und Gewerkschaftsfunktionär zum Thema Grundeinkommen führen konnte. Warum in aller Welt, fragte ich mich, ist dieser Gewerkschafter so vehement gegen das Grundeinkommen? Was löst diese unduldsame Ablehnung aus? Wer materialistisch denkt weiß, Argumente fallen nicht vom Himmel, sie reflektieren die gesellschaftliche Position der jeweiligen SprecherInnen. Ich habe also versucht, mich in den politischen Alltag einesGewerkschaftsfunktionärs hineinzudenken, um die Antwort auf die gestellten Fragen zu finden.

Gewerkschaftsfunktionäre sind permanent mit direkten VertreterInnen des Kapitals konfrontiert, sei es auf betrieblicher Ebene, sei es auf der Branchenebene. Es geht um Lohnhöhen, Arbeitszeitregelungen, betriebliche Sozialleistungen, es geht darum, Kündigungen zu verhindern oder für die Betroffenen erträglich zu machen. Dann geht es auch um Vergünstigungen für die Belegschaft, um den günstigen Betriebsratskredit und um die verbilligte Kur im Gewerkschaftsheim. Da sie immer wieder Aug‘ in Aug‘ mit VertreterInnen des Kapitals am Verhandlungstisch sitzen, muss es so scheinen, als wären sie an der unmittelbaren Front des Klassenkampfes engagiert. In ihren Händen läge also das materielle Schicksal der Klasse. Sie wissen um das Machbare, um die Möglichkeiten und die Grenzen bei Verhandlungen. Wie soll in diesen Auseinandersetzungen das Grundeinkommen Thema sein? Welche Funktion hat die Forderung nach dem Grundeinkommen, wenn etwa darüber verhandelt wird, ob es nur eine prozentuelle Lohnerhöhungen oder zugleich um eine Mindesterhöhung geht – keine.

Aber füllen Lohnverhandlungen tatsächlich das Zentrum des Klassenkampfes aus? Überlegen wir: In der rauen Wirklichkeit der kapitalistischen Verhältnisse vertreten Gewerkschaftsfunktionäre angesichts der neoliberalen Umwälzungen der Arbeitswelt immer nur kleine und sehr kleine Teile der Klasse. Die prekär Beschäftigten, die Scheinselbstständigen, die modernen StücklohnarbeiterInnen, die Erwerbsarbeitslosen, die in Ausbildung Befindlichen, die SaisonarbeiterInnen, die LeiharbeiterInnen und nicht zuletzt die halblegal und illegal Beschäftigten, mithin die Mehrheit der Klasse, wird durch diese je spezifischen Verhandlungen nicht oder nur teilweise erfasst. Auf betrieblicher Ebene funktioniert gewerkschaftliche Vertretung in Mittel- und Großbetrieben in vielen Branchen noch ganz gut, in Klein- und Kleinstbetrieben sieht die Welt ganz anders aus. Auch in den großen Betrieben bewirken die rechtlich unterschiedlichen Arbeitsverträge (Angestellte vs. ArbeiterInnen, LeiharbeiterInnen vs. Stammbelegschaft usw.), dass Verhandlungen kaum alle Lohnabhängigen gleichermaßen betreffen. Natürlich wissen das die Gewerkschaftsfunktionäre, nur welche Konsequenzen soll man schon daraus ziehen, wenn man etwa Verhandlungen mit VertreterInnen der chemischen Industrie zu führen hat? Unmittelbar erstmals keine.

Schwerwiegender als die Tatsache, dass in gewerkschaftlichen Verhandlungen niemals die gesamte Klasse eingebunden sein kann, wirkt der Umstand, dass sich offenbar in den Augen der Funktionäre der »eigentliche« Klassenkampf auf die von der Gewerkschaft abgedeckten Themen zusammenzieht. Bei aller Kritik an Lenin, die Limitationen des »trade-unionistischen« (gewerkschaftlichen) Bewusstseins hat er korrekt erkannt. Klassenkampf umfasst selbstredend weit mehr als die Auseinandersetzung um Löhne und Arbeitszeiten, genau genommen kann kein Bereich des sozialen Daseins ausgeklammert werden. Vor allem kann der gewerkschaftliche Kampf die »Elementarform Ware« (Marx) nicht thematisieren, sondern setzt diese als gegeben voraus. Was meint diese Aussage? Die kapitalistische Produktionsweise beruht darauf, alles zur Ware zu machen. Zwei Warenmärkte sind aus der Perspektive der ArbeiterInnenklasse besonders prekär und grauslich: Der Wohnungsmarkt und der Arbeitsmarkt. Gegen den entgrenzten Wohnungsmarkt gibt es zahlreiche politische Initiativen, auch die KPÖ hat eine solche gestartet. Gegen das entgrenzte zur Ware-Werden der Arbeitskraft weist das Grundeinkommen die Perspektive. Warum reagieren linke Gewerkschaftsfunktionäre so unterschiedlich auf beide Orientierungen, die sich unmittelbar gegen den Warenstatus richten? Nun, die Kosten für den Wohnraum sind Ausgaben, das fällt sozusagen nicht in die Kompetenz der Gewerkschaften. Ein Grundeinkommen ist hingegen wie der Arbeitslohn eine Einnahme. Für die angemessenen Einkünfte der (arbeitsfähigen) Massen hält sich jedoch die Gewerkschaft für zuständig. Mögen viele linke Gewerkschaftsfunktionäre den Wohnungskämpfen mit Sympathie gegenüberstehen, das Grundeinkommen dringt sozusagen in ihr Revier ein. Für Einkünfte der Massen seien sie und sonst niemand zuständig.

File:Grundeinkommen statt Existenzangst BGE Berlin 2013.jpg

Basierend auf diese Kompetenzzuschreibung und der Vorstellung, im Zentrum der Klassenauseinandersetzung zu stehen – denn was sei schon elementarer als Löhne und Arbeitsbedingungen? – kann eine Perspektive erwachsen, die ich »Gewerkschaftssozialismus« nennen möchte. Versetzen wir uns nochmals in die Situation der Verhandlungen und der Konflikte mit den VertreterInnen des Kapitals. Da werden gute Löhne gefordert, da wird um Arbeitszeitverkürzung gestritten und es werden Sozialleistungen angemahnt; das Kapital verweigert, sabotiert, droht mit Abwanderung und Betriebsschließungen. Da muss doch der Wunsch entstehen, diese andere Kapitalseite gäbe es gar nicht mehr, das Kapital sei endlich entmachtet. Der Klassengegner könnte nicht mehr am Verhandlungstisch sitzen, da er enteignet und somit machtlos wäre. Das Eigentum an Produktionsmittel sei in der Hand des Staates, nun könnten all jene Forderungen, um die man seit Jahren oftmals vergeblich ringt, endlich verwirklicht werden. Endlich gute Löhne wirklich für alle, endliche verkürzte Arbeitszeit, endlich eine breite Palette von Sozialleistungen und statt Mitbestimmung in homöopathischen Dosen wirkliche Betriebsdemokratie. Die gewerkschaftlichen Forderungen werden zu einem umfassenden Gesellschaftsentwurf entgrenzt und mit Sozialismus identifiziert. Welche Funktion soll das Grundeinkommen in diesem »Gewerkschaftssozialismus« erfüllen? Wahrscheinlich wäre es zielführender mit alle jenen, die meinen, im Kapitalismus sei das Grundeinkommen eine Illusion und im Sozialismus überflüssig, nicht über das Grundeinkommen, sondern über ihr Sozialismusverständnis als gute Arbeitsgesellschaft für alle zu diskutieren.

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Oben       —       Mehr als 2.000 Teilnehmer demonstrieren für ein Bedingungsloses Grundeinkommen auf der BGE-Demonstration am 14. September 2013 in Berlin

Basic Income Demonstration in Berlin

Author stanjourdan from Paris, France
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Laschet uns beten

Erstellt von Redaktion am 3. August 2021

Gyros statt Glamour

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Von Bernd Müllender

Der junge Armin Laschet. Kasperlespieler und Chorknabe, Ministrant im Dom und Bischofsgymnasiast: Über Armin Laschets katholische Herkunft und seine Netzwerke in Aachen.

Armin Laschet muss ein sehr umtriebiger Schüler gewesen sein. „Der hat ständig Infobriefe verfasst und war quasi der Informationsminister der Schule.“ Das erzählt Markus Reissen, der mit dem Kanzlerkandidaten der Union fünf Jahre lang bis zum Abitur gelernt hat. „Der Armin war engagiert, politisch immer sehr ehrgeizig, belesen und argumentativ schon als Jugendlicher richtig fit.“

Ein wenig war Laschet mit 18 oder 19, gerade in die CDU eingetreten, auch ein Blender oder anders gesagt, damals schon Politiker: „Wenn der mal weniger Bescheid wusste“, sagt Markus Reissen, „kriegte er es rhetorisch immer so rübertransportiert, dass alle dachten: Wow, der Armin, der hat es aber drauf.“

Äußerlich? Nichts Besonderes, sagt Reissen. Das hieß 1980/81: normal lange Haare. Armin Laschet, das zeigen Bilder von damals, trug eine Art Pilzkopf. Die braunen Haare hingen in den Nacken, vorne ragten die Fransen bis über die Augenbrauen, dazu Grübchen, spitzbübisches Lächeln, immer adrett gekleidet. Ein Sonnyboy, der um seine Wirkung weiß. „Auffällig klein“, so wie heute, sei der Schüler Armin damals nicht gewesen, sagt Reissen, „vielleicht war er früh ausgewachsen.“

Laschets Motto lautete schon ganz früh: „20 Prozent Sein, 30 Prozent Schein, 50 Prozent Schwein.“ So berichtet in der Laschet-Biografie „Der Machtmenschliche“ sein Jugendfreund Heribert Walz. Ein anderer Mitschüler aus der Oberstufe, Wolfgang Offermann, heute Öffentlichkeitschef bei der Aachener Caritas, erzählt: „Der Armin hat sich gern politisch gestritten“; zwar „fair, authentisch und beziehungsfähig, aber selten nachdenklich“. Stattdessen habe er „immer linientreu das Programm von Helmut Kohl mitgetragen“. Und: „Armin hatte eine klare Karriereplanung, das war immer spürbar.“

Schon im Bundestagswahlkampf 1982/83 war Armin Laschet mit 21 Vorredner bei dem Auftritt von Helmut Kohl in Aachen. Wie der frühere Bundeskanzler wird auch Laschet heute unterschätzt, und beide sorgen durch sprachliche Schönfärberei für ungewollte Komik: Kohl hatte nach einem Wahldebakel kundgetan, die CDU habe „eine Niederlage errungen“.

Laschet sah im März 2021 nach den zwei CDU-Desastern bei Landtagswahlen unter seiner neuen Parteiführung auch Positives: Die AfD sei „auf dem sinkenden Ast“.

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Armin Laschet wurde im Jahr 1961 drei Tage nach Aschermittwoch im katholischen Marienhospital der Bischofsstadt Aachen geboren. Der Kindergarten war katholisch, die Grundschule auch. Er war Messdiener im Dom, half in der Pfarrei und sang damals, Stimmlage Tenor, in einem katholischen Chor. Diesen beehrte er auch, weil er für Mitsängerin Susanne schwärmte, die Tochter des Chorleiters.

Der Besuch des weltlichen Rhein-Maas-Gymnasiums um die Ecke seines Elternhauses war fast schon eine unchristliche Zäsur. In der 9. Klasse blieb Armin Laschet sitzen und wechselte auf das Bischöfliche Pius-Gymnasium. Dort schmiss er bald die Karnevalssitzungen, spielte Theater und organisierte Benefizkonzerte. 1981, bei seiner Rede des Abijahrgangs, sprach er sich für Mädchenzugang an die Jungenschule Pius aus.

Die Kaderschmiede

Das Pius-Gymnasium ist so etwas wie Aachens Kaderschmiede. Es liegt im Südviertel, gleich neben dem Ortsteil Burtscheid, wo Laschet aufwuchs und mit seiner Frau bis heute lebt. Im Südviertel residieren die Reichen der Stadt, Nachfahren der alteingesessenen Industriedynastien oder Familien, die in den Nachkriegsjahren durch Grenzschmuggel mit Belgien zu Vermögen kamen. Stolz war man in Aachen in den 70er Jahren auf die höchste Porsche-Dichte Deutschlands.

Das Pius, sagt Mitschüler Offermann, „war schon zu unserer Zeit klar in der Hand der Jungen Union, von den Elternhäusern her und der Schulleitung, eine große Blase, kirchlich und politisch.“ Inzwischen hat das Pius das viel ältere Kaiser-Karls-Gymnasium als Eliteschule der Stadt abgelöst. Man erlebt das heute – wenn, stets nacheinander, die traditionellen Gottesdienste der Abiturklassen im Dom stattfinden: Erst ist das KKG dran, Eltern und SchülerInnen leger bis schick gekleidet; danach das Pius: Garderobe feierlich bis protzig.

Auf Armin Laschets Schule haben viele heute bekannte Leute ihr Abitur gemacht: etwa WDR-Fußballreporter Stephan Kaußen oder Karl Schultheiß, seit Jahrzehnten Strippenzieher der Aachener SPD. Auf dem Pius erwarb auch Thomas Kemmerich das Zeugnis der Reife, der FDP-Politiker, der sich im Februar 2020 von der AfD zum Kurzzeitministerpräsidenten in Thüringen wählen ließ.

Auch Aachens langjähriger CDU-Oberbürgermeister Marcel Philipp (2010 bis 2020), Sohn des noch langjährigeren deutschen Handwerkspräsidenten Dieter Philipp (1994 bis 2020), lernte auf dem Pius. Philipp junior zog sich im Vorjahr mit 49 Jahren nach Gerüchten über seine Ehe beziehungsweise eine angebliche homosexuelle Beziehung sowie Beförderungsmauscheleien aus der Politik zurück. Bei der Kommunalwahl 2020 wurde seine Partei in Aachen von einem grünen Tsunami weggespült. Sogar in Laschets Wohnbezirk Burtscheid, bis dato eine Bastion katholisch-schwarzen Denkens, holte eine Grüne das Ratsmandat.

Pius-Mitschüler Markus Reissen war in der Oberstufe Schülersprecher, Laschet einer seiner Stellvertreter. Gemeinsam belegten sie Leistungskurse in Geschichte und Englisch. „Wir waren beide katholisch engagiert und ja, damals fast ein bisschen befreundet.“ Ähnlicher katholischer Hintergrund, aber politisch weit auseinander, sagt Reissen, seit vielen Jahren bei der Katholischen Hochschulgemeinde Referent für Interreligiösen Dialog. „Gewählt habe und hätte ich den Armin nie.“ Im Geschichtsunterricht hätten sie sich „oft gestritten“ und sogar „richtig gezofft, wenn es um die Bundeswehr ging“, sagt Kriegsdienstverweigerer Reissen. Armeefreund Laschet wurde ausgemustert, er hatte Rücken.

Laschet verkauft sich als überzeugter Europäer. Ostbelgische Großeltern passen da gut. Der Opa optierte nach dem Krieg 1918 im wallonischen Nachbardorf Hergenrath für Deutschland, sonst wären die Laschets kaum nach Aachen gekommen. Nach Recherchen seiner Familie stammt Armin Laschet in etwa 50. Generation direkt von Kaiser Karl ab (den er zudem bewundert, wie auch Konrad Adenauer).

Sozialer Aufstieg

Laschet ist Bergmannssohn; Papa Heinz war Steiger auf der Steinkohlezeche Grube Anna im benachbarten Alsdorf. Während des Lehrermangels Anfang der 60er Jahre schulte er nach einem Konzept des damaligen CDU-Kultusministers Paul Mikat auf Quereinsteigerpädagoge um. Nachts schuftete Mikater Heinz Laschet unter Tage, tags machte er Fortbildung, wurde Lehrer, dann Leiter einer katholischen Grundschule. Eine Aufsteigerfamilie, alle vier Kinder studierten. Bis heute kommt der jetzt 86-Jährige regelmäßig zum Abendessen ins Haus von Sohn und Schwiegertochter.

Inwieweit Armin Laschets Vaterliebe psychologisch seine RWE-hörige Kohlepolitik beeinflusst, kann nur er selbst wissen. 2008 sagte er in einem Interview mit dem Magazin log-in der Gesellschaft für Informationstechnologie (mit Sitz in Aachen): „Lügen geht nicht. Aber wie man die Wahrheit verpackt, das ist ein weites Feld.“ Im Herbst 2018 schob seine NRW-Landesregierung den Mangel an Brandschutz der Baumhäuser im Hambacher Wald vor, um für RWE mit Tausenden PolizistInnen zu räumen. Später entpackte Laschet die Wahrheit, nicht ahnend, dass seine Worte auf einer CDU-Mitgliederversammlung heimlich mitgeschnitten wurden, die später per Twitter viral gingen: „Ich brauchte einen Vorwand, sonst kann man doch nicht tätig werden.“ Heute behauptet er kühn, Retter des Hambi zu sein.

Im Interview 2008 gab Armin Laschet einige private Dinge preis. Frage: „Können Sie beim Nichtstun nichts tun?“ Antwort: „Nein. Ich mache immer etwas nebenher. Selbst in die Badewanne nehme ich mir etwas zu lesen mit. Nichts zu tun – das gibt es bei mir eigentlich nicht.“ – Stört Sie das? „Nein.“ – Vollkommenes irdisches Glück? „Sonntagabend.,Tatort‘. Gyros. Weißbier.“

Laschet mag die Fälle aus Köln und Dortmund (klar, Nordrhein-Westfalen). 2020 durfte er mal in einem „Tatort“ mitspielen, die Rolle war ihm auf den Leib geschrieben: Ministerpräsident NRW.

Das Gyros holt Armin Laschet bis heute bei Joannis, in der Burtscheider Taverne Lakis. Burtscheid ist in seinem Kern ein kleinbürgerlich-biederer Stadtteil, die Laschets wohnen am Rande in einer Reihenhaussiedlung. In der kleinen Fußgängerzone trinkt der Kandidat gelegentlich ein Bier in der Burtscheider Quelle.

Dort bestellte er während des Lockdowns manchmal auch das Abendessen für die Familie: „Immer gutbürgerliche Küche“, berichtet eine Mitarbeiterin. Gegenüber, vor dem Abteitor unter roten Ziegeln, gibt Laschet gern seine Fernsehinterviews.

Die ZDF-Hitparade

Ulrike Overs kennt Armin Laschet noch aus der Burtscheider Grundschule. „Mit dem kleinen Armin verbinde ich meine Kindheit. Im Grundschulalter haben wir Kasperlestücke ausgearbeitet, Armin voran, und dann haben wir es den anderen Kindern vorgespielt. Wir sind im Pfarrkarneval aufgetreten, sehr kreativ alles.“ Und, sie lacht kurz: „Armin hatte einen Kassettenrecorder und ein Mikrofon, das war etwas Besonderes damals. Da haben wir die,ZDF-Hitparade‘ nachgespielt und nachgesungen, Jürgen Marcus oder Roy Black.“ Heute ist Laschet mit Peter Maffay befreundet.

„Der kleine Armin“, sagt Ulrike Overs, „war immer sehr offen und nie abgehoben.“ Abgehoben, ein Neunjähriger? „Doch, das geht. Glauben Sie mir, als Sozialpädagogin kann ich das beurteilen.“ Abgehoben also nicht, aber gewalttätig: Mit acht hat Armin seine spätere Frau mal verprügelt, wie diese neulich in einer Talkshow berichtete. Zu ihrer Mutter habe sie danach gesagt: „Das ist der ekelhafteste Junge, den ich kenne.“

Der Ekel verflog. Susanne, die erst Verprügelte und später Angebetete im Chor, erlag 1976 Armins Avancen. Da war Laschet 15. Die beiden heirateten 1985. Chorleiter Heinz Malangré wurde sein Schwiegervater.

Vom Juristen zum Chefredakteur

Das war beruflich der Durchbruch. Laschet konnte im Aachener Katholikenbiotop richtig durchstarten: Denn Malangré, gestorben 2017, war in Aachen ein einflussreicher Industrieller, Verleger und ebenfalls Herzblutkatholik. Zu seinem verlegerischen Portfolio gehörte auch die Kirchenzeitung des Bistums, wo Schwiegersohn Armin gleich nach dem Jurastudium (Abschluss nur 1. Staatsexamen) junger Chefredakteur wurde. Dann übernahm er die Verlagsleitung des katholischen Einhard Verlags – geschäftsführender Gesellschafter blieb: der Schwiegervater. Während des Studiums war Armin Laschet Mitglied zweier farbentragender katholischer Verbindungen, der Aenania München und Ripuaria Bonn.

Quelle      :       TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Armin Laschet beim Programmausschuss der CDU Rheinland-Pfalz am 23. Januar 2021.

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In Memoriam HPG :

Erstellt von Redaktion am 2. August 2021

Das Wirtschaftswachstum beruht auf Pump

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von  Red. /   

Hanspeter Guggenbühls Kritik am Konsumrausch, der auf Verschuldung und Ausbeutung der Natur gründet, ist so aktuell wie eh und je.

Red. Als Teil unserer Serie im Gedenken an Hanspeter Guggenbühl veröffentlichen wir seinen nur leicht gekürzten Vortrag, den er vor zehn Jahren im Rahmen der Marienberger Klausurgespräche im Südtirol hielt. Ein Jahr zuvor hatte er zusammen mit Urs P. Gasche das Buch «Schluss mit dem Wirtschaftswachstum – Plädoyer für eine Umkehr»* veröffentlicht.

Spätestens im Alter von 20 Jahren hören Menschen auf zu wachsen. Katzen schon früher. Im wirtschaftlichen Denken hingegen ist Wachstum weiterhin das Mass aller Dinge. „Die Wirtschaft braucht stetiges und dauerhaftes Wachstum.“ Kein Tag vergeht, ohne das Mitglieder von Regierungen, Parlamenten oder Wirtschaftsverbänden diese Botschaft verkünden.

Dazu vorerst eine kleine Geschichte: Ein Mann verkauft auf dem Wochenmarkt Äpfel so billig, dass er bei jedem verkauften Kilo zehn Euro-Cent drauflegt. Die Konkurrentin am andern Marktstand erklärt ihm, mit dieser Preisgestaltung werde er schnell Pleite gehen. „Nein, nein“, antwortete der Marktmann fröhlich, „ich mache mein Geschäft mit dem Umsatz, nicht mit der Marge.“

In den meisten Industriestaaten ist dieser Witz vom Markt leider kein Witz: Die Umsätze der Volkswirtschaften, gemessen am Brutto-Inlandprodukt BIP, sind in den letzten Jahren stets gewachsen. Gleichzeitig verbuchten die Staatshaushalte wachsende Defizite. Wären die Staaten Marktfahrer, wären sie schon lange Konkurs. Doch die Staaten konnten einfach zusätzlichen Kredit aufnehmen. Damit kurbelten sie das Wachstum ihres Umsatzes weiter an. Und die Nationalbanken druckten zusätzliches Geld und senkten die Leitzinsen.

Eine wachsende Wirtschaft, so würde man meinen, nutzt ihr Wachstum, um die Schulden zu senken. Doch die Realität ist umgekehrt. Die Staaten nehmen zunehmende Verschuldung in Kauf, um das Wachstum der Wirtschaft zu fördern.

Die meisten Staaten – und damit die Steuerzahlenden – subventionieren die Energie, den Verkehr, die Fischerei und die Landwirtschaft. Und sie stützen mit Fördergeldern, Abwrackprämien und weiteren staatlichen Konjunkturprogrammen die Wirtschaft. Resultat: Verkehr, Energieverbrauch und das Bruttoinlandprodukt wachsen. Und damit wächst auch der Leerlauf.

Die Katze beisst sich gleich zweimal in den Schwanz

Dazu ein Beispiel: Deutschland unterstützt einerseits den Abbau der Kohle mit jährlich zwei Milliarden Euro. Subventioniert wird in Deutschland – und allen andern Staaten – auch die Atomenergie. Denn die maximale Summe, mit der die Betreiber die Risiken ihrer Kernkraftwerke versichern müssen, beträgt maximal 2,5 Milliarden Euro, in den meisten Staaten weniger. Andererseits belastet Deutschland die Stromproduktion aus Kohle, Gas und Atomenergie mit einer Abgabe. Der Ertrag dieser Abgabe wird verwendet, um die kostendeckende Einspeisevergütung für Strom aus Wind- und Solarkraftwerken zu finanzieren. Resultat: Mit subventioniertem Kohle- und Atomstrom … subventioniert der Staat Wind- und Solarstrom … um damit subventionierten Kohle- und Atomstrom zu ersetzen. Da beisst sich die Katze gleich zweimal in den Schwanz.

Finanzieller Schuldenberg für kommende Generationen

Das Resultat der Verschuldungswirtschaft: Die Verschuldung der USA, Japan und der EU-Staaten summiert sich auf Aberbillionen. In den meisten Industriestaaten wuchsen die Staatsschulden prozentual – zum Teil sogar absolut – stärker als das Bruttoinlandprodukt. Mit anderen Worten: Das Wachstum basiert auf Pump, auf Verschuldung. Ohne die massive Staatsverschuldung würde die Wirtschaft in vielen Industriestaaten schon seit langem nicht mehr wachsen.

Wollten die USA, Japan und Europa ihre Schulden tilgen, um ihren Nachkommen einen schuldenfreien Staatshaushalt zu überlassen, müssten die Menschen dort über ein Jahr lang schuften, ohne einen Cent zu verdienen. Oder umgekehrt betrachtet: Die westlichen Industriestaaten haben das Wachstum von mehr als einem Jahr bereits vorgeholt. Irgendwann müssen sie dieses vorgeholte Wachstum wieder abstottern. Bei Ratenzahlung ergäbe das in den nächsten zehn Jahren ein BIP-Verzicht von je zehn Prozent. Doch leider sind wir nicht nur grosse Schuldner, sondern auch noch säumige Ratenzahler.

Die Folge: Mit unserem subventionierten Wachstum hinterlassen wir den nächsten Generationen einen wachsenden Schuldenberg.

Aber nicht nur finanzielle Schulden.

Ausgebeutete Natur für kommende Generationen

Wir rauben den späteren Generationen auch immer mehr natürliches Kapital. Also Naturschätze, die der Planet Erde unter gütiger Mithilfe der Sonne während Tausenden, ja Millionen von Jahren gebildet hat. Die Erdölvorräte zum Beispiel, die wir ausbeuten, wachsen nicht nach. Das Gleiche gilt für die Wiesen und Felder, die wir mit Beton versiegeln. Oder die Fischbestände, die wir dezimieren.

Das Wachstum unserer Wirtschaft gründet also auch auf einer wachsenden Verschuldung gegenüber der Natur. Das belegen die Studien des Schweizers Mathis Wackernagel über den „ökologischen Fussabdruck“: Die Welt verbraucht heute rund ein Drittel mehr natürliche Ressourcen, als die Natur regenerieren kann.

Global ist der ökologische Fussabdruck also grösser als die ökologische Kapazität. National aber gibt es grosse Abweichungen vom globalen Durchschnitt: Wirtschaftlich reiche Staaten leben auf viel grösserem Fuss als arme. Das bedeutet: Wir müssen den Naturverbrauch nicht nur reduzieren, sondern die kleinere Menge auch neu verteilen.

Wenn alle so leben würden wie wir…

Wenn alle Menschen – Afrikanerinnen, Inder und Chinesen – genau so lebten, wie wir, was wäre dann? Dann würde „die Plünderung des Planeten“, vor der Herbert Gruhl schon vor 50 Jahren warnte, noch viel schneller voranschreiten.

In den Entwicklungs- und Schwellenländern wächst heute die Wirtschaft noch stärker als die Staatsverschuldung. Zum Teil wächst sie sogar ohne Finanzschulden. China zum Beispiel ist zum grössten Gläubiger der USA geworden. Aber auch in China oder Indien basiert das Wachstum auf der Ausbeutung von Naturkapital. Und weil in den Schwellen und Entwicklungsländern mehr Menschen leben als in den westlichen Industriestaaten, führt dieses Wachstum die Menschheit noch schneller an die Grenzen. Oder in den Crash.

Damit kommen wir zurück auf eine einfache Wahrheit, die der amerikanische Ökonom Kenneth E. Boulding vor Jahrzehnten schon mit folgenden Worten zugespitzt haben soll: „Wer in einem endlichen Raum an unendliches Wachstum glaubt, ist entweder ein Verrückter – oder ein Ökonom.“

Die Kritik am stetigen Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung ist nicht neu. Ich sehe drei Phasen der Wachstumskritik.

1. Ökologische Wachstumskritik

Die erste war auf die Natur fokussiert. Sie begann 1972. Damals veröffentlichte der Club of Rome den Report „Die Grenzen des Wachstums“, verfasst vom Ehepaar Donella und Denis Meadows.

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Dieser Report zeigte: Wenn Wirtschaft und Bevölkerung prozentual gleich weiter wachsen wie in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, dann stossen wir irgendwann an ökologische Grenzen. Sie illustrierten das mit Exponentialkurven, die wir heute alle kennen.

Ein Beispiel: Wenn der Konsum von Waren und Dienstleistungen nur schon um zwei Prozent pro Jahr wächst, ergibt sich eine Verdoppelung innerhalb von 35 Jahren. In 70 Jahren haben wir bereits eine Vervierfachung. In 105 Jahren ist der Konsum acht Mal so gross wie heute. Stellen Sie sich das einmal vor: Acht Mal mehr Häuser, Autos und Strassen als heute. Oder acht Mal mehr Handys, Fernsehsender und Betreuungstage im Irrenhaus. Das ist irrwitzig.

Bei einem 7-prozentigen Wachstum erreichen wir die Verdoppelung bereits in zehn Jahren – zum Beispiel in China. Wobei es Leute gibt, die bekommen auch von 10 Prozent den Hals nicht voll. Der Zürcher „Tages-Anzeiger“ zum Beispiel berichtete im August 2010, dass Chinas Industrie im Juli „nur um 13,4 Prozent“ gewachsen sei, also weniger als die 13,7 Prozent im Monat davor. Und der Titel unter dieser Hiobsbotschaft: „Chinas Konjunkturdaten enttäuschten.“ Nein, der „Tages-Anzeiger“ ist kein Witzblatt, sondern ein nationales Leitmedium.

Kommen wir zurück zu Meadows Grenzen des Wachstums: Im Jahr 1972 waren diese ökologischen Grenzen noch weit weg. Die Menschheit hatte damals also noch Zeit, um die Entwicklung sanft umzulenken. Seither sind wir einigen Grenzen nähergekommen. Ein Beispiel: Wir haben seit 1972 mehr Erdöl verbraucht als alle Generationen zuvor. Dieses Öl wächst nicht nach.

In den 1970er-Jahren verbrauchte die Menschheit weltweit noch weniger Ressourcen, als die Natur regenerieren konnte. Seither hat unser ökologischer Fussabdruck diese Schwelle überschritten, bis heute wie erwähnt um rund einen Drittel. Meadwos erklärte im Jahre 2008: „1972 hätten wir das Problem des Wachstums noch nachhaltig lösen können. Heute bleibt nur noch die Möglichkeit, die Bevölkerung und den Konsum pro Kopf zu reduzieren.“

Wachstumsgrenze dank technischem Fortschritt aufgehoben?

Gelegentlich kommt der Einwand: Wirtschaftliches Wachstum sei monetär, werde also in Geldwerten gemessen. Darum bedeute Wirtschaftswachstum nicht automatisch mehr Verbrauch von natürlichen Ressourcen. Wir könnten die Effizienz des Naturverbrauchs steigern, also mehr mit weniger machen. Diese Aussage prägt auch die Debatte über den „Green New Deal“. Die Autoren von Weizsäcker und Lovins boten uns in ihrem Buch schon vor Jahren den „Faktor vier“ an – und teilten im Untertitel diesen Effizienzfaktor salomonisch: „Doppelter Wohlstand bei halbiertem Naturverbrauch.“ Andere sagen: Wir stossen nicht an die Grenzen des Wachstums, weil diese Grenzen dank technischem Fortschritt stetig wachsen.

Das stimmt zum Teil: Wir können heute mit einer Energiesparlampe mit einem Fünftel an Elektrizität gleich viel Licht machen wie mit einer Glühlampe. Auch Fahr- und Flugzeuge haben ihre Energieverbrauch gesenkt.

Das Wachstum frisst die grössere Effizienz

Aber – es stimmt eben nur zum Teil. Denn die Effizienzgewinne wurden und werden in den meisten Bereichen überkompensiert durch die wachsenden Mengen. Oder noch kürzer. Das Wachstum frisst die Effizienz: Das zeigen Vergleiche zwischen der Entwicklung des realen Bruttoinlandprodukts und der Entwicklung von Energieverbrauch und Abfallmenge – also von zwei zentralen Indikatoren für den Naturverbrauch: Wächst das Bruttoinlandprodukt, so wächst tendenziell auch der Verbrauch von Energie und Rohstoffen, und damit gibt es auch mehr Müll. Die Entkoppelung von Wachstum und Naturverbrauch, die schon in den 1970er-Jahren beschworen wurde, ist nicht eingetreten.

Folgender kleiner Exkurs zeigt die Zwiespältigkeit des wohlklingenden und durchwegs akzeptierten Begriffs der Effizienz:

Mehr Effizienz wird vor allem in der Produktion angestrebt und durchgesetzt. Mehr Effizienz oder mehr Produktivität in der Produktion heisst, mit gleicher Arbeitsmenge oder in gleicher Arbeitszeit mehr produzieren. Oder mit weniger Arbeit gleich viel produzieren.

Effizienzsteigerungen gibt es auch in den Produkten. Neuere Produkte bieten die gleiche Leistung mit weniger Energie- oder Rohstoff-Input. Beispiel: Laptops brauchen bei gleicher Leistung weniger Strom und weniger Material als Tischcomputer. Energiesparlampen erbringen die gleiche Lichtleistung mit dreimal weniger Stromverbrauch gegenüber Halogenlampen.

Das Problem ist nur: Effizienzgewinne in der Produktion und in Produkten werden re-investiert zur Steigerung der Menge; in der Fachsprache heisst das „Rebound“. Die steigende Menge an Produkten wiederum lässt sich nur absetzen, wenn wir im Konsumbereich die Effizienz ständig vermindern. Denn je mehr Produkte wir kaufen oder besitzen, desto weniger intensiv oder effizient nutzen wir die einzelnen Produkte. Beispiel: Das Zweitauto entwertet das Erst-Auto, die Zweitwohnung den Haupt-Wohnsitz, das i-Phone die E-Mail, etc. Mit anderen Worten: Je mehr Güter und Dienste wir haben, desto weniger haben wir im Einzelnen davon. In der ökonomischen Fachsprache bezeichnet man diesen Zusammenhang als „Gesetz des abnehmenden Grenznutzens“.

Der wachsende und damit ineffizientere Konsum wiederum steht im Widerspruch zur ökologischen Forderung, den Verbrauch an natürlichen Ressourcen zu vermindern.

Suffizienz als Ausweg aus der Wachstumsspirale 

Was also ist zu tun? Um Ökonomie und Ökologie miteinander zu versöhnen, braucht es nicht nur eine effizientere Produktion und effizientere Produkte. Sondern es braucht auch eine Mengenbegrenzung im Konsum. Auch dazu gibt es ein Fremdwort: „Suffizienz“. Zu Deutsch „Genügsamkeit“. Genügsamkeit wird oft mit „Verzicht“ übersetzt. Doch der Begriff tönt nicht attraktiv, ist nicht sexy. Wer Verzicht verlangt, gewinnt keine Mehrheiten.

Es ist attraktiver, von der Steigerung der Effizienz auch im Konsumbereich zu reden, also von „mehr Konsumeffizienz“. Das heisst: Mit weniger Konsumgütern gleich viel Genuss erzeugen.

Das Problem ist nur: Wenn alle Konsumentinnen und Konsumenten ihre Effizienz so steigern würden, wie das die Produzenten und ihre Produkte tun, dann riskiert die Wirtschaft respektive die herrschende Wirtschaftsordnung zusammenzubrechen. Was zeigt: Wer das ökologisch belastende Wachstum der Wirtschaft begrenzen will, muss auch die herrschende Wirtschaftsordnung in Frage stellen.

2. Ökonomische und gesellschaftliche Wachstumskritik

Die zweite Phase der Wachstumskritik ist die ökonomische oder gesellschaftliche. Soziologen, Glücksforscher und auch einige Ökonomen erkannten, dass Wachstum nicht hält, was es verspricht:  Ab einem gewissen Niveau bringt zusätzliches Wachstum weder mehr Glück noch mehr Lebensqualität. Wachstum löst auch die Probleme nicht, die es vorgibt zu lösen. Beispiele: Das Wachstum der Wirtschaft hat weder Hunger noch Armut noch Arbeitslosigkeit beseitigt. Weiteres Wachstum ist auch kein taugliches Rezept, um die Renten zu sichern. Und vor allem – und nochmals: Stetiges Wachstum auf einem begrenzten Raum lässt sich auf Dauer nicht durchhalten.

3. Finanzielle Wachstumskritik

Gegenwärtig stecken wir in der dritten Phase: Das Wachstum lässt sich nur noch auf Pump aufrechterhalten. Erstens weiterhin auf Pump der Natur. Zweitens auf zunehmend finanzieller Verschuldung. Damit gerät nicht nur die Ökologie aus dem Gleichgewicht. Labiler wird auch das Finanzsystem. Davon zeugen die sich wiederholenden Verwerfungen am Kapitalmarkt. Blasen entstehen und platzen. Das weitete sich 2008 zu einer globalen Finanzkrise aus. Einige Banken machten Pleite. Andere haben nur überlebt, weil die Staaten sie stützten, indem sie sich zusätzlich verschuldeten. Und diese Verschuldung stützten ihre Nationalbanken mit der Aufblähung der Geldmenge.

Die meisten Ökonomen sagen: Stetiges und dauerhaftes Wirtschaftswachstum ist notwendig um das Wohlergehen der Gesellschaft zu sichern. Wer das Wachstum kritisiert, ist für diese Ökonomen ein Utopist oder ein Spinner.

Zwei gegensätzliche Utopien

Meine Antwort darauf: Es mag vielleicht eine Utopie sein, zu meinen, das Wachstum der Wirtschaft – ihr Wachstumsdrang und Wachstumszwang – lasse sich stoppen. Aber viel utopischer ist, zu meinen, das Wachstum lasse sich auf Dauer durchhalten. Denn die Fortsetzung des heutigen Wachstums führt unweigerlich in den ökonomischen oder ökologischen Kollaps. Wenn der ökonomische vorher kommt, lässt sich der ökologische vielleicht verhindern oder mindern. Doch der wirtschaftliche und soziale Preis, den die Menschheit bei einem globalen Wirtschaftskollaps zahlen muss – dieser Preis ist sehr hoch und die Folgen sind unermesslich schmerzhaft.

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Damit stellt sich die zentrale Frage: Wie gelangt man von einer Wachstumsgesellschaft ohne grössere wirtschaftliche und soziale Krisen in eine Gleichgewichts-Wirtschaft? Das kann Ihnen heute kein Mensch sagen. Aber es ist dringend notwendig, dass sich die Politik, die Wissenschaft und die Wirtschaft diese Frage endlich stellt. Und dass Politik, Hochschulen, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltorganisationen mit vereinter Kraft nach Lösungen suchen. Denn eine freie Marktwirtschaft, die zum Wachstum gezwungen ist, ist nicht frei.

Der Ausweg aus der Wachstumszwangs-Wirtschaft ist kein Spaziergang. Aber:

Je länger wir versuchen, das Wachstum mittels wachstumsfördernden Subventionen und Verschuldung aufrecht zu halten, desto schwieriger und schmerzhafter wird der Ausweg aus der Wachstumsfalle.

Ansätze für eine Umkehr

In unserem Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr»* wurden einige Schritte in eine neue Richtung bereits im Jahr 2010 skizziert:

  • Das Wachstum der Bevölkerung stoppen. Das ist leichter gesagt als getan. Im Buch steht diese Forderung am Schluss der Vorschläge. Die Zunahme der Bevölkerung ist zwar ein wesentlicher Treiber des Naturverbrauchs. Aber nicht der gewichtigste. Gewichtiger ist der Konsum. Denn der materielle Konsum pro Kopf ist seit dem zweiten Weltkrieg global und auch in den meisten Staaten stärker gewachsen als die Zahl der Köpfe.
  • Eine ökologische Steuerreform, welche die Gratisnutzung und damit die Plünderung der Natur sukzessive vermindert.
  • Wachstumsfördernde Subventionen und Mengenrabatte sind abzuschaffen. Mengenrabatte gibt es zum Beispiel im Energie- und Verkehrskonsum in Form von Fixkosten oder Grundgebühren.
  • Es gilt, die Arbeitszeit zu verkürzen und Teilzeitarbeit zu fördern, um die Produktion zu senken. Den Druck, mehr zu arbeiten, lässt sich mit einem existenzsichernden Grundeinkommen vermindern.
  • Der von der Realwirtschaft abgekoppelte Kapitalmarkt («Finanzcasino») muss zurückgestutzt werden.
  • Das Verursacher-Prinzip muss bei den Preisfestsetzungen durchgesetzt werden.
  • Besteuerung grosser Erbschaften, um die Renten auch ohne Wirtschaftswachstum sichern zu können.

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Oben        —         Karikatur von Gerhard Mester zum Thema Energiespeicher und Konkurrenzbedingungen Erneuerbarer Energien.

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Digitalisierung ohne Frauen

Erstellt von Redaktion am 29. Juli 2021

Gerade dort müsste aber ein Reformprozess ansetzen

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Von Kati Ahl und Daniel Dettling

Der Bildungssektor zeigt, welche Faktoren Frauen bei digitalen Themen weiterhin behindern. Wie viele Talente sind unerkannt geblieben, weil es an positiven Vorbildern und an der geistigen Offenheit fehlte?

Der dritte Gleichstellungsbericht der Bundesregierung ist ein Alarm- und Fragezeichen: Nur 16 Prozent aller Beschäftigten in der Informatikbranche sind weiblich!? Dabei sind Frauen mindestens gleich begabt und qualifiziert. Das Interesse an digitalen Themen muss früher geweckt werden, schon in den Schulen und Kitas.

Noch immer beträgt der Gender-Pay-Gap in den IT-Berufen 7 Prozent. Der Frauenanteil bei den Beschäftigten im Verhältnis zur ersten Führungsebene liegt bei 5:1 und der Teilzeitanteil bei 19 Prozent (Männer: 5 Prozent).

Der Bildungssektor offenbart wie kein anderer, wo wir beim Thema Digitalisierung stehen. 73 Prozent der Lehrkräfte in Deutschland sind weiblich, in den Grundschulen ist der Anteil sogar noch höher. Die technische Betreuung und IT-Administration werden dagegen fast ausschließlich von den männlichen Lehrkräften erledigt, ebenso die Entwicklung von Softwarelösungen für Schulen. In der Edutech-Branche gibt es nur ein einziges weibliches Start-up.

Im Grundschulalter entscheiden sich Rollenbilder, Vorbilder und Geschlechterstereotype. Das Thema steckt voller Fallstricke und Annahmen darüber, wie das Gehirn genderspezifisch gebaut sein möge, und am Ende, wer eine Benachteiligung zu verantworten habe. Die Annahmen darüber prägen die Gestaltung unserer Realität.

Wir alle sind gefragt, bestehende Glaubenssätze mutig infrage zu stellen. Das fängt mit der Sprache an, und das hört bei der Ökonomie nicht auf: Der Fachkräftemangel in technischen Berufen ist gravierend. Das soziale Argument: Fast die Hälfte der Bevölkerung wäre abgeschnitten von der digitalen Entwicklung der Zukunft. Und individuell: Wie viele Talente sind unerkannt geblieben, weil es an positiven Vorbildern, überhaupt an der geistigen Offenheit fehlte? Nicht jede junge Frau hat das Standing einer Ada Lovelace, die schon im frühen 19. Jahrhundert das Potenzial der Informatik erkannte und das erste Computerprogramm entwickelte, ohne Zugang zu Bibliotheken und gegen den sozialen Druck als Mathematikerin.

Frauen müssen von Digitalisierung profitieren, sich mehr zutrauen und diese aktiv mitgestalten. Für eine französische Studie zum Lernverhalten von Mädchen und Jungen wurde zwei Lerngruppen dieselbe Aufgabe erteilt, einmal gerahmt als mathematisches Rätsel und das andere Mal als Zeichenaufgabe. Mädchen lösten die Aufgabe als Zeichenaufgabe sehr gut und besser als die Jungen. Bei der Matheaufgabe schnitten sie deutlich schlechter ab. Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen sind also nach wie vor relevant für die Leistungen. Das muss nicht nur Eltern von Töchtern nachdenklich stimmen. Wie kommen Mädchen und junge Frauen besser in die Ausbildungen und Studiengänge von MINT? Die Zuschreibungen wirken auch andersherum: Jungen Kindern wären deutlich mehr männliche Erzieher und Grundschullehrer zu wünschen.

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Was ist zu tun, wie könnte eine Agenda „Digitalisierung für Frauen“ aussehen? Zunächst: Digitalisierung muss von Frauen mitgestaltet werden! Programmier- und Entwicklerszene beantworten mit Frauen Fragen wie: Welche Aspekte interessieren Frauen besonders? Wie müsste das technische oder naturwissenschaftliche Angebot oder Projekt oder der Studiengang gedacht werden, damit sich Frauen dort als erwünschte und mitgedachte Person fühlen? Es geht darum, digitale Angebote in diversen, genderuntypischen und interdisziplinären Gruppen zu entwickeln.

Drei Vorschläge, wie Frauen zu aktiven Gestalterinnen der Digitalisierung werden: Erstens: Gestaltet digitale Angebote endlich für die, die sie nutzen sollen! Katarina Blind ist eine junge Designerin, die während ihres Abiturs die bayerische Lernplattform Mebis neu gestaltet hat. Sie sagt: „Die Priorität meiner Arbeit liegt auf leicht nutzbar. Es ist mir wichtig, dass es schön aussieht – aber das Wichtigste dabei ist, dass man es gut nutzen kann.“ Ihre Generation sei schließlich eine, die täglich Apps wie Tiktok nutzt. Und wenn die schon Mebis nicht verstünden, dann sei da etwas falsch. Frauen wollen ein Angebot, das im Layout mit intuitiver Handhabbarkeit daherkommt. Und das nutzt letztlich allen UserInnen.

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Die EU und das zu viele Geld

Erstellt von Redaktion am 26. Juli 2021

Achtung! Sie verlassen den West-Sektor!

Von Norbert Mappes-Niediek

Die EU teilt sich scheinbar in den liberalen Westen und den rechten homophoben Osten. Doch dieses Bild ist zu simpel!

Wenn man anschaut, welche Länder den Protestbrief gegen Ungarns LGBTQ-Gesetz unterschrieben haben, ist das Bild eindeutig. Hier ein kompaktes Gebiet von Schweden bis Italien, dort ein kompaktes Gebiet von Polen bis Bulgarien, deren Regierungen nicht unterschrieben haben. Osten gegen Westen: Das ist exakt die Bruchlinie, die Viktor Orbán mit seinem Gesetz ziehen wollte.

In Brüssel dagegen wurden konfliktträchtige Ost-West-Unterschiede über lange Zeit weg­gebetet – bis Orbán mit sicherem Instinkt alle zum Bekenntnis zwang. „Leider kann ich nicht allein, und auch nicht mit anderen Mitgliedsstaaten, sagen: Ihr gehört raus!“, sagte entnervt der niederländische Premier Mark Rutte, an Ungarn gewandt, nach dem turbulenten Gipfel Ende Juni. Und über Orbán resignierend: „Er ist schamlos. Also macht er weiter.“

Was haben wir uns mit der Osterweiterung bloß eingehandelt? Das wurde nie ehrlich besprochen. Bis zur Erweiterung der EU um acht exkommunistische Staaten 2004 und drei weitere in den Jahren danach galt das Narrativ, „Mitteleuropa“ sei bloß ein „gekidnappter Westen“, wie der tschechische Schriftsteller Milan Kundera es ausgedrückt hätte. Der Amerikaner Jeffrey Sachs, Spiritus Rector der Transformation der Neunzigerjahre, verglich seine Arbeit mit der eines Bildhauers, der nur die Schlacken des Kommunismus wegschlagen müsse, um die makellose Skulptur einer demokratisch-liberalen Gesellschaft freizulegen.

Dreißig Jahre nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist von diesem Narrativ nicht viel übrig. Mit fleißigem Zutun Orbáns bildet sich gerade ein neues Ostbild heraus – ebenso wirkmächtig wie das alte. Und genauso schief. Im aktuellen Bild vermischen sich zwei alte und ein neues: das von rückständigen, patriarchalischen Nationen, das mit den vom Kommunismus versehrten Gesellschaften und schließlich das neue vom modernen Rechtspopulismus, der in autoritär strukturierten Ländern den idealen Nährboden finde und nun von Osten nach Westen ziehe.

Schaut man sich die Ost-West-Kontroverse um LGBTQ genauer an, fällt das Bild rasch auseinander. Historisch ist Homophobie keine östliche Spezialität, im Gegenteil. Die großen „Skandale“ um Sex unter Männern wurden in England und Deutschland aufgeführt – von Oscar Wilde bis zu Bundeswehr-General Kießling in den 1980er Jahren. Weiter östlich wurde das Thema nie so wichtig genommen. Einen Strafrechtsparagraphen hat es etwa in Polen so wenig gegeben wie in Frankreich oder Italien. Schon 1957 wurde Sex zwischen erwachsenen Männern in der DDR straffrei, 1961 in Ungarn und im Jahr darauf endgültig auch in der Tschechoslowakei. Großbritannien dagegen war erst 1967 so weit, die Bundesrepublik 1969 und Österreich 1971. Noch in den Siebzigerjahren bekamen zwei Männer in Prag oder Warschau leichter ein Hotelzimmer als in München oder Köln.

Erst nach dem Jahr 2000 wurde aus dem Streit um die Gleichstellung von Schwulen und Lesben, um eingetragene Partnerschaft und Homo-Ehe ein ost-westlicher Kulturkampf mit hohem Mobilisierungspotenzial – der erste seit 1989. Konservativen Widerstand gab es auch im Westen. Aber nur im Osten erhitzte der Krieg um die Gay-Pride-Paraden mehr als ein Jahrzehnt lang die Gemüter. Den blutigen Auftakt gaben Hooligans in Belgrad, als sie unter dem Ruf „Töte, töte, töte den Schwulen“ Dutzende Teilnehmer krankenhausreif schlugen. „Sei intolerant, sei normal!“, schrieb eine bulgarische Partei auf ihre Wahlplakate. Eine polnische Politikerin wollte sogar die „schwulen“ Teletubbies verbieten lassen.

Die homophobe Bewegung – die im Übrigen ihren Höhepunkt überschritten hat – kam in dem Moment auf, als im Osten das Gefühl um sich griff, benachteiligt zu werden. Mehr als ein Jahrzehnt lang war man nach 1989 als Nation erzogen, belehrt, gegängelt worden, musste nachholen, aufschließen, seine „Hausaufgaben“ machen. Brav hatte man alles gemacht. Jetzt sei man mit dem Westen gleich auf, dachte man. Aber schon kam die nächste Herausforderung, und sie griff viel tiefer als je eine kommunistische Regierung getan hatte. Familie war ja bis 1990 immer der Freiraum gewesen. Im Privaten galten noch die „natürlichen“ Verhältnisse, da war das Volk bei sich. Die Reformer unter den Kommunisten, die das beharrende Volk sonst doch ständig mit Neuerungen, Umdeutungen, Kampagnen nervten, hatten das begriffen. Vor sensiblen Themen wie Sexualität und Familie machten sie Halt.

Den Kick aber gibt der homophoben Bewegung die symbolische Ebene. Im Verhältnis zum Westen, der sich als gebender, spendender Teil inszeniert, wird der Osten zur passiven Empfängerin gemacht – mit einem Wort: zur Frau. Dreißig Jahre lang Objekt unaufhörlichen westlichen „Mansplainings“ zu sein, ist für jede patriarchalische Gesellschaft eine Kränkung. Homophobie ist das Gegengift: Schwul ist der Westen, hier bei uns sind die ganzen Männer zu Hause. Der Hass treffe die Schwulen, „weil sie für Passivität stehen“, analysiert der Berliner Sexualforscher Martin Dannecker. Schwule lassen „es mit sich machen“.

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Auch das Bild vom typisch östlichen Rechtspopulismus ist schief. Erste Triumphe erzielte die neue Strömung vor bald zwanzig Jahren in Frankreich, als Marine Le Pens Vater es in die Stichwahl gegen den Präsidenten Jacques Chirac schaffte. Den Gipfel ihrer Macht und Bedeutung erreichte sie in den USA mit Donald Trump. Mit Hingebung autoritär tritt die neue Rechte in Osteuropa vor allem in Russland auf. In Polen steht tiefer Konservatismus im Vordergrund, in Ungarn nationalistische Ideologie, in Tschechien ein extremer Neoliberalismus. Das Bild hat viele Facetten.

Überall aber profitiert die Rechte von der Ratlosigkeit der Linken und Liberalen. Denn die haben nur das Ziel weiter dem sichtlich schleudernden Westen nachzueifern. Das Gefühl der Benachteiligung ist den Gesellschaften im Osten Europas tief eingeschrieben. In der Geschichte hat immer der Westen die Maßstäbe gesetzt, heimlich auch in der kommunistischen Zeit. Im Ergebnis landete man bestenfalls immer auf Platz zwei. Die Transformation der 1990er Jahre hat das Gefühl noch verstärkt: Der Westen hat den Osten gekauft. Auch wenn es unter dem Strich zu beider Wohl geschah: Das Gefälle war damit zementiert.

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Oben     —     View to East-Berlin 14 November 1989

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KOLUMNE – AUFRÄUMEN

Erstellt von Redaktion am 25. Juli 2021

Kleine Leute vom All aus noch kleiner

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Von Viktoria Morasch

Wenn die Reichen anteilig mehr Geld für die Kosten von Corona aufbringen sollen, reicht es am Ende vielleicht nicht mehr für den Weltraumtourismus. Die Armen! Ich bleibe derweil entspannt und verdränge das Thema Rente

Ehrlich gesagt, dachte ich, dass ich mal Geld haben würde. Hat nicht geklappt. Ich habe Kulturwissenschaften studiert, eine Ausbildung gemacht für eine systemrelevante Branche, die im Sterben liegt – und heute arbeite ich bei der taz. Das heißt: Ich werde höchstwahrscheinlich kein Haus besitzen, keine Wohnung, vielleicht nicht mal ein Auto. Altersarmut scheint unausweichlich, deshalb verdränge ich das Thema Rente. Ich bin eine von sehr vielen – und wir sind alle ziemlich entspannt.

Es ist Sommer, die schönste Zeit im Jahr! Ein paar Tage habe ich noch für die Steuererklärung. Ich werde meine popeligen Texthonorare ordentlich eintragen in die absolut nutzerfreundlichen Felder der elektronischen Steuererklärung. Ich werde den Tag fürchten, an dem sich das Finanzamt zurückmeldet, aber ich werde versuchen, ruhig zu bleiben. Ich werde mich freuen, wenn die Hafermilch reduziert ist und die Biobananen an der Supermarktkasse als Chiquitas durchgehen.

Ich lese Zeitung. „Deutsche sind reicher denn je“, „Deutsche haben sieben Billionen“, steht da. Schön für die Deutschen, denke ich und wundere mich, weil doch Wirtschaftskrise war. Oder sind mit „die Deutschen“ etwa nur eine Handvoll Leute gemeint, und der Rest hat eher weniger als mehr? Für diese Info fehlte wahrscheinlich der Platz. Kein Grund sich aufzuregen! Und wenn man aus den 7 Billionen einen komplett sinnlosen Durchschnittswert berechnet, der nichts über die Verteilung des Geldes aussagt, sieht das Ganze auch hübsch aus. Das Handelsblatt sagt: „Steigende Zahl von Millionären in Deutschland: Für eine Neid­debatte gibt es keinen Grund“. Das beruhigt mich.

Ausgeglichen, wie ich bin, schaue ich abends Nachrichten. Milliardäre fliegen jetzt ins Weltall. Einer sogar in einem gigantischen Penis. Toll! Ich finde es richtig, dass die gebührenfinanzierten „Tagesthemen“ zweieinhalb Minuten ihrer Sendung dafür hernehmen, das Werbematerial aus dem All von Richard Branson zu zeigen. Die sogenannten kleinen Leute (vom All aus noch kleiner) wollen wissen, wie er sich fühlt. Branson richtet sich im Video an die nächste Generation, einfach nett, der Typ: „Wenn wir das hier können, was werdet ihr dann erst schaffen?“, fragt er. Und ich glaube, so könnte es klappen mit dem 1,5-Grad-Ziel.

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Und Jeffrey Bezos? Bedankt sich nach seinem Flug ins All bei den Amazon-Mitarbeiter*innen und -Kund*innen, die haben schließlich dafür bezahlt. Bei so einem coolen Arbeitgeber braucht es keine Gewerkschaft. Und wer ihn nicht mag, kann ja eine lustige Petition im Internet unterschreiben, die fordert, dass Bezos im All bleibt.

Quelle          :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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VERKABELTER OZEAN

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2021

Die Geopolitik der Datenströme

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von Charles Perragin und Guillaume Renouard

Im Jargon der deutschen Wehrmacht hieß der riesige Betonklotz „Martha“. Heute verbirgt sich der von den Nazis nie vollendete U-Boot-­Bunker unter einer rostroten Verkleidung. Jahrzehntelang war der Koloss am Rande des Hafens von Marseille verwaist. Nach der Landung der Alliierten in der Provence im August 1944 diente er kurzzeitig als Militärgefängnis. Danach war Schluss.

Bis vor Kurzem interessierten sich noch ein paar Einheimische für den Bau und speziell für die von deutschen Kriegsgefangenen hinterlassenen Wandzeichnungen. Doch heute ist der alte Bunker nicht mehr zugänglich. Seit dem 11. Juli 2020 betreibt hier das Unternehmen Interxion unter dem Namen „MRS 3“ eines ihrer riesigen Rechenzentren.

„Da können Sie leider nicht rein. Hier ist die Hardware für extrem sensible Cloud-Plattformen untergebracht, für die wir seitenlange Geheimhaltungsvereinbarungen abgeschlossen haben“, erklärt uns Unternehmenschef Fabrice Coquio vorweg. Der alte Bunker wird zwar zivil genutzt, aber abgesichert und überwacht wie ein militärischer Sperrbezirk. Das Ungetüm von Marseille ist die Endstation für 14 Glasfaser-Seekabel, über die riesige Datenmengen aus der ganzen Welt übermittelt werden.

Die Kunden von Interxion sind IT-Giganten wie Google, Amazon und Face­book, aber auch Anwaltskanzleien, der lokale Wasserversorger und diverse Telekommunikationsanbieter. Und der französische Staat, erzählt Coquio: „Dass sich die europäischen Staaten offen für die privaten Betreiber von Netzinfrastruktureinrichtungen interessieren, ist relativ neu.“ Die Betonung liegt auf „offen“, denn die staatlichen Geheimdienste interessieren sich schon seit den 2000er Jahren für das Netz der Seekabel, über das praktisch die gesamte interkontinentale elektronische Kommunikation läuft.

Beim Anblick der am Kreuzfahrt-Terminal vertäuten Riesenschiffe kann man sich kaum vorstellen, dass der Marseiller Hafen ein Spionagenest ist. Doch genau dies belegen die Dokumente, die der Whistleblower Edward Snowden dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel zugespielt hat. Demnach hat der US-Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) im Februar 2013 einen Computervirus in die Administrations- und Verwaltungszentrale des Seekabels SEA-ME-WE 4 geschleust. Über dieses Kabel verläuft die Telefon- und Internetkommunikation zwischen dem Knotenpunkt Marseille und Nordafrika, der Golfregion sowie Südost­asien, weshalb Marseille für die NSA einen der wichtigsten Abfangpunkte der Welt darstellt.1

„Anfangs wurde das Abfangen von Daten, die über Seekabel übermittelt werden, mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet“, erläutert Dominique Boullier vom Pariser Institut d’études politiques. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ging es darum, „an neuralgischen Punkten massenhaft Daten abzuzapfen, um bei einem entsprechenden Vorfall die Spur gegebenenfalls bis zu den Schuldigen zurückverfolgen zu können.“

In den letzten zwanzig Jahren hat sich dann unter Führung Washington das Ensemble der „Five Eyes“ entwickelt. Seitdem fangen die Geheimdienste der USA, Großbritanniens, Kanadas, Aus­traliens und Neuseelands mittels Sonden, die weltweit an den großen Seekabel-Anlandestellen positioniert sind, die durch die Kabel übermittelte Kommunikation ab, und zwar mit Hilfe der Betreiberunternehmen.

„Die Amerikaner zapfen heute alle Kabel an“, sagt ein hochrangiger Vertreter eines französischen Telekommunikationsanbieters, der anonym bleiben will. „In Frankreich haben wir ihr Routersystem Cisco getestet. Wie sich dann zeigte, gelangte ein Teil der abgehenden Daten mysteriöserweise in die USA.“ Die US-Geheimdienste schöpfen nicht nur massenhaft Daten ab, sie unternehmen auch nachrichtendienstliche Operationen, die sowohl auf staatliche Stellen als auch private Unternehmen zielen.2

Ähnlich emsig sind die britischen Geheimdienste. Der für die Telekommunikationsüberwachung zuständige Nachrichtendienst Government Communications Headquarters (GCHQ) hat 2012 Kabel angezapft, um Cookies von Mitarbeitenden des belgischen Telekommunikationsbetreibers Belgacom abzugreifen, das unter anderem die EU-Behörden zu seinen Kunden zählt.3

Seit 2011 spähen die Briten auch die Kunden von Orange aus, wie 2014 in Frankreich publik wurde. „Damals hatten die britischen Nachrichtendienste das französische Telekommunikationsunternehmen Iliad im Verdacht, mit dem israelischen Mossad zu kooperieren“, berichtet ein Insider, der anonym bleiben möchte: „Der GCHQ konnte über Orange die Schwankungen der Datenströme in den Kabeln messen und so ermitteln, ob zwischen Frankreich und Israel Verhandlungen im Gange waren, etwa über ein Handelsabkommen, eine Kooperationsvereinbarung oder eine gemeinsame Operation.“ Ein solches Vorgehen sei mittlerweile für viele Staaten üblich.

Nach den Enthüllungen von Edward Snowden reagierten die euro­päi­schen Länder empört – allen voran Frankreich. Dabei betreibt die mit der NSA kooperierende französische Regierung seit 2008 ein eigenes Programm zur Überwachung der über Seekabel laufenden internationalen Kommunikation.4 Laut Snowden hat der französische Auslandsgeheimdienst DGSE seine Zusammenarbeit mit dem GCHQ seit 2009 verstärkt, um „das massive Abhören fortzusetzen, wobei die Verschlüsselungssysteme privater Anbieter geknackt wurden“.

Zwischen 2008 und 2013 wurden mit tätiger Mithilfe von Orange fünf Kabel abgehört. Und das war nur der Anfang. „Welcher Staat mischt heute nicht direkt bei seinen Telekommunikationsunternehmen mit?“, fragt Sébastien Crozier, Vorsitzender der Gewerkschaft CFE-CGC bei Orange. „Als Netzbetreiber hat man künftig zu akzeptieren, dass man eine Funktion im Rahmen der nationalen Souveränität ausübt.“

Und das ohne klaren rechtlichen Rahmen und ohne jede Kontrolle, wie Jean-Marie Delarue erläutert, der früher der Commission nationale de contrôle des interceptions de sécurité (Nationaler Ausschuss zur Kontrolle von Sicherheitsüberwachungen) vorsaß: „Die Seekabel dienen der internationalen Kommunikation und fallen somit unter den hoheitlichen Bereich. In Frankreich hatten wir noch nie die Möglichkeit, das Vorgehen der DGSE in Bezug auf die Kabel zu kontrollieren. Das Nachrichtendienstgesetz von 2015 hat daran nichts geändert.“

Das sei nicht nur in Frankreich so: „Die nach der Snowden-Affäre in den OECD-Staaten erlassenen Geheimdienstgesetze machen das Abfangen von Daten leichter“, erklärt Sébas­tien ­Crozier. „Also nehmen diese Praktiken zu.“

Nicht nur die digitale Kommunikation, auch die Finanzströme und der Zugriff auf Daten in der Cloud sind auf die Seekabel angewiesen. Wenn ein Staat die globalen Informationsflüsse kontrolliert, gewinnt er damit immensen geowirtschaftlichen Einfluss. Besonders gut haben das die Chinesen verstanden.

Einem Bericht des US-Kongresses zufolge ist es ihnen am 8. April 2010 gelungen, 18 Minuten lang E-Mails von oder an Adressen des US-Senats, des Verteidigungs- und des Handelsministeriums sowie der Weltraumbehörde Nasa auf chinesische Server umzulenken. Und im Juni 2019 kam heraus, dass ein erheblicher Teil des europäischen Datenverkehrs der französischen Telekommunikationsanbieter Bouygues Telecom und SFR zwei Stunden lang nach China umgeleitet worden war.

Die Volksrepublik drängt ihre Staatsunternehmen sogar direkt dazu, die Kontrolle über strategische Netz­infra­struktur zu übernehmen. „Dank China Mobile, China Telecom und China Unicom hat der chinesische Staat in den asiatischen Konsortien eine starke Stellung“, erläutert der Politikwissenschaftler Félix Blanc, der zur Verwaltung und Kontrolle von Seekabeln forscht. Der allgemeine Trend zur Verlagerung des Internetdatenverkehrs nach Asien habe Staaten wie China, Thailand und Singapur veranlasst, noch stärker auf die Kabelnetze zu setzen: „Seit 2010 gehen pro Jahr durchschnittlich 9 Prozent der Investitionen in diesen Bereich, zwischen 1987 und 2010 war es lediglich 1 Prozent.“

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Auch jenseits von Asien interessiert sich China für Projekte von geostrategischer Bedeutung. So bezieht sich die Konzession für das pharaonische Projekt des Nicaraguakanal, das der chinesische Unternehmer Wang Jing plant, auch auf die Verlegung von Internetkabeln.5 Ein weiteres Beispiel ist die erste chinesische Glasfaserkabelverbindung zwischen Frankreich und Asien namens Pakistan and East Africa Connecting Europe (Peace), die Europa über Marseille mit Ostafrika und Südasien verbindet. Zwischen 2016 und 2019 waren chinesische Unternehmen an einem Fünftel aller Kabelprojekte beteiligt. Mehr als 50 Prozent davon waren Projekte jenseits des Südchinesischen Meers, die meisten davon in Schwellenländern.

Washington sieht dies mit Argwohn, erklärt Félix Blanc: „2013 hatten die Vereinigten Staaten bereits die Verlegung eines transatlantischen Kabels zwischen New York und London verhindert, an der sich das chinesische Unternehmen Huawei Marine beteiligen wollte.“

Und 2020 verhinderte die Federal Communications Commission (FCC) den Plan von Google und Facebook, Los Angeles über ein Seekabel mit Hongkong zu verbinden. Die Internetgiganten mussten nachgeben. Offiziell beschuldigte die US-Regierung das dritte Mitglied des Konsortiums, das Hongkonger Unternehmen Pacific Light Data Communication, mit dem chinesischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Doch Sébastian Crozier vermutet, dass damit vor allem der Finanzplatz Hongkong geschwächt werden sollte, dessen Verflechtungen mit der Börse von Schanghai immer enger werden.

Beim Kabelprojekt Peace hat die US-Administration direkten Druck auf Paris ausgeübt. Im Oktober 2020 traf Peter Berkowitz, Leiter des politischen Planungsstabs im US-Außenministerium, mit Beratern von Staatspräsident Macron und Experten des französischen Außen- und Verteidigungsministeriums zusammen. Berkowitz brachte einen Report mit, der vor Chinas weltpolitischen Ambitionen warnte und die Bedeutung von Seekabeln sowie die damit verbundenen Spionagerisiken betonte – über die man in Washington ja bestens Bescheid weiß.

Über die eigentlichen Interessen der USA sagt Paul Triolo vom Beratungsunternehmen Eurasia Group deshalb: „Die Cloud ist amerikanisch. Microsoft oder Amazon brauchen nichts zu fürchten, solange ihre Konkurrenten in Europa Outscale oder OVH heißen. Alibaba und Tencent sind da schon eine andere Nummer.“

Dieses Motiv mag auch erklären, warum die US-Regierung schon 2018 Australien dazu gedrängt hat, dem chinesischen ICT-Giganten6 Huawei die Finanzierung der Verlegung eines Kabels zwischen Sydney und den Salomonen zu untersagen. Solche Einmischungen entsprechen dem Programm, das Trumps Außenminister Mike Pompeo „The Clean Network“ (Sauberes Netz) getauft hatte. Zu den Instrumenten der „Säuberung“ gehören: Verbote von chinesischen Betreibern wie China Telekom oder bestimmten Apps innerhalb der USA, Reduzierung der in chinesischen Clouds gespeicherten Daten, und eben die „Reinhaltung“ des Kabelnetzes durch Ausschluss chinesischer Akteure.

Um Pekings Einfluss einzudämmen, setzt Washington selbst auf Mittel der Spionage. So hat der neuseeländische Geheimdienst 2015 im Auftrag der NSA ein durch das chinesische Konsulat in Auckland verlaufendes Telekommunikationskabel angezapft.7

Für China ist die Netzinfrastruktur ein Mittel zur Durchsetzung lebenswichtiger Interessen. Das Riesenland hat 20 Prozent der Weltbevölkerung zu ernähren, verfügt aber nur über 10 Prozent der globalen Ackerflächen. Deshalb finanziert Peking „technologische Infrastruktureinrichtungen außerhalb seines Staatsgebiets, um Zugang zu Rohstoffen und insbesondere zu Lebensmitteln zu gewinnen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Stacia Lee von der Universität Washington. Sie verweist auf die Investition von China Unicom in ein Telekommunikationskabel zwischen Kamerun und Brasilien, die China als Gegenleistung Fischereirechte verschafft hat.

Diese Kabelstrategie fördert aber auch die Exporte chinesischer Digitaltechnologie ins Ausland. Auf diese „digitale Seidenstraße“ verweist Jean-Luc Vuillemin, der im Vorstand von ­Orange für die internationalen Kommunika­tions­netze des Konzerns verantwortlich ist. Wie Vuillemin berichtet, hat Peking jüngst die Verlegung von drei teilweise durch Google finanzierten Kabeln verhindert, die Hongkong mit Japan, Singapur und den Philippinen verbinden sollten.

Die Infrastruktur der Glasfaser-Telekommunikation taugt nicht nur als Überwachungs- und Unterdrückungsinstrument – wie etwa während des Arabischen Frühlings 2011, als die Regime in Syrien und Ägypten Kabel kappten. Sie dient auch als Instrument wirtschaftlicher Einflussnahme. Aufgrund dieser Doppelfunktion ist das Glasfasernetz zu einem zentralen geopolitischen Faktor geworden – vergleichbar mit den Telegrafenleitungen im 19. Jahrhundert, deren Prototypen seit 1852 die Börsen von Paris, London und New York verbanden.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts errichtete die Eastern Telegraph Company unzählige Verbindungen, zunächst zwischen Großbritannien und seinen afrikanischen und asiatischen Kolo­nien, dann auch nach Südamerika, Australien und zur nordamerikanischen Westküste. 1892 gehörten dem Unternehmen zwei Drittel der weltweiten Telegrafenkabel.

Der Verlauf der modernen Internet-Seekabel orientiert sich immer noch an den Telegrafentrassen des britischen Empires. Schon damals ermunterte die britische Regierung ausländische Kabelverlegungsunternehmen dazu, ihre Leitungen an den Küsten des Empires anzulanden, um sie überwachen zu können.

Quelle           :   LE MONDE diplomatique-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Annual mean sea surface silicic acid from the World Ocean Atlas 2001. It is plotted here using a Mollweide projection (using MATLAB and the M_Map package).

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Flut in Westdeutschland

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2021

Was die Freiheit wirklich bedroht

Rathausstraße Hochwasser (1).jpg

Von Malte Kreutzfeldt

Einschränkungen für den Klimaschutz werden von vielen als Zumutung empfunden. Doch ein Weiter-so hat viel schlimmere Folgen, wie man jetzt sieht.

Es sind erschütternde Bilder und Nachrichten, die uns aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz erreichen. Über 100 Tote, abgeschnittene Orte, eingestürzte Häuser, Milliardenschäden – eine solche Unwetter-Katastrophe war für viele in Deutschland bisher kaum vorstellbar.

In einer solchen Situation geht es zuerst darum, den Betroffenen unmittelbar zu helfen, bei der Rettung ebenso wie beim anschließenden Wiederaufbau. Doch ebenso wichtig ist es, alles zu tun, um vergleichbare Katastrophen in Zukunft so weit wie möglich zu verhindern. Und dazu gehört neben besserem Hochwasserschutz in den betroffenen Regionen vor allem, den Kampf gegen den Klimawandel zu beschleunigen.

Eine solche Forderung ist keineswegs respektlos gegenüber den Opfern, wie manche kritisieren. Respektlos wäre es vielmehr, die Ursachen zu ignorieren und so weiterzumachen wie bisher.

Denn auch wenn ein einzelnes Wetterphänomen nie unmittelbar auf den Klimawandel zurückgeführt werden kann, gibt es klare Belege dafür, dass die menschengemachte Erderhitzung die Wahrscheinlichkeit von extremen Starkregen-Ereignissen deutlich erhöht, weil warme Luft mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann.

Die Folgen des Klimawandels sind nun ganz nah

Zudem bleiben Hoch- und Tiefdruckgebiete durch das veränderte Klima wohl länger an einem Ort, was einerseits zu Überschwemmungen und andererseits zu langer Trockenheit führen kann. Wis­senschaft­le­r*in­nen warnen seit Jahrzehnten vor genau der Entwicklung, die jetzt eintritt.

In vielen Teilen der Welt haben die Auswirkungen des Klimawandels – ob Starkregen, Dürreperioden oder Stürme – schon länger tödliche Konsequenzen. Doch in Deutschland schienen diese Folgen des CO2-Ausstoßes bisher weit weg zu sein; hier konnte man sich vor der Klimakrise weitgehend sicher fühlen. Das hat sich nun auf grausame Weise geändert.

Was derzeit im Westen des Landes passiert, macht dabei schlagartig klar, wie realitätsfern viele Debatten in Deutschland bisher gelaufen sind. Ob Tempolimitsteigende Benzinpreise, Ölheizungsverbot oder weniger Fleisch und Flugreisen: Es ist der Kampf gegen die Klimakrise, der im Wahlkampf von vielen als ein Angriff auf die Freiheit dargestellt wird.

Dabei ist es umgekehrt. Nachdem das Verfassungsgericht kürzlich schon gefordert hatte, dass bei politischen Entscheidungen auch die Freiheit der künftigen Generationen berücksichtigt werden muss, zeigt sich nun, dass die Klimakrise auch die Freiheit in der Gegenwart bedroht: Durch Wetterextreme, die Leben und wirtschaftliche Existenzen auslöschen und die Infrastruktur ganzer Regionen zerstören.

Eine Chance für die deutsche Klimapolitik

Quelle         :          TAZ-online         >>>>>            weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Hochwasserschäden (Juli 2021) in der Rathausstraße Hagen. Die Keller der Wohnhäuser links und des Rathauses rechts standen unter Wasser.

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G8 – Gipfel in Genua 2001

Erstellt von Redaktion am 16. Juli 2021

Was bleibt, ist das Trauma

Von Daniel Kretschmar

Die Proteste zum G8-Gipfel in Genua 2001 waren für die einen Aufbegehren gegen die neoliberale Neuaufteilung der Welt, für die anderen war es linker Straßenterror. Geblieben ist das Entsetzen über die Brutalität gegenüber Ak­ti­vis­t*in­nen, Be­ob­ach­te­r*in­nen und Jour­na­lis­t*in­nen und das Schweigen der Täter – bis heute.

Seattle, Prag, Göteborg und dann Genua. Gipfel der Welthandelsorganisation, dem Weltwährungsfonds, der EU, der G8 – und die Proteste dagegen. Stocknagelplaketten am Wanderstab der Globalisierungskritik der Jahrtausendwende. Symbole der physischen Konfrontation mit der globalen Macht durch die Multi­tude, eine internationale und internationalistische Bewegung. Anschub für so unterschiedliche aktivistische Ansätze wie die von Attac, Indymedia oder das Peoples Global Action Network. Für die einen Orte des Aufbegehrens gegen die neoliberale Neuaufteilung der Welt und die gnadenlose Niederschlagung jeder widerständigen Regung, für die anderen Straßenterror linker Gewaltgruppen.

Der Mythos des „Black Block“, einer gesichtslosen, aggressiven Masse, die ohne Sinn und Verstand einfach alles kurz und klein schlägt, erlebte seine Renaissance, wie auch das Bild des faschistischen Bullen als Schläger des Kapitals. Realität und Erinnerung werden zu kontrastreichen Karikaturen – paradoxerweise umso mehr, als diese Erinnerungen von so vielen geteilt wird.

Unmaskiert 

Mit geschätzt 300.000 Menschen übertraf die Teilnahme an den Gegenveranstaltungen zum G8 in Genua vom 18. bis 22. Juli 2001 selbst die kühnsten Erwartungen der Organisator*innen. Eine Vielzahl von Diskussionsveranstaltungen, Workshops, Konzerten und Demos sollten das Treffen der offiziellen Weltelite in der italienischen Hafenstadt am Fuße des nordwestlichen Zipfels des Apennin begleiten. Zunächst ging der Plan sogar auf. Manu Chao, selbst Gründungsmitglied von Attac und Unterstützer der mexikanischen Zapatisten jener Tage, gab ein umjubeltes Konzert am Abend des 18. Juli. Tags darauf folgten Zehntausende dem Aufruf antirassistischer und migrantischer Initiativen und zogen in einer friedlichen Demonstration durch die oft engen Straßen der Stadt, zum Teil am meterhohen Sperrzaun zur „roten Zone“ entlang. Auf der anderen Seite des Walls fanden die Beratungen des Gipfels im Palazzo Ducale statt.

Einige Verhaftungen und kleinere Scharmützel zwischen Polizei und Teil­neh­me­r*in­nen des Gegengipfels blieben nicht aus, sind vor allem im Vergleich zu den Ereignissen der folgenden Tage aber wahrlich nicht der Rede wert. Für den Einsatz gegen Pazifist*innen, Sans-­Papier-Aktivist*innen, An­hän­ge­r*in­nen der Entschuldung von Schwellen- und Entwicklungsländern und Strei­te­r*in­nen für eine 0,1-prozentigen Finanztransaktionssteuer schienen die in Alarmbereitschaft stehenden Panzer der Carabinieri und die im Hafen sta­tio­nier­ten mobilen Flugabwehrraketenbatterien dann doch etwas übertrieben.

Die Hochrüstung vor Ort war einer regelrechten Hysterie geschuldet, die sich bis zu einer bizarren Gewaltlust der gastgebenden Regierung Berlusconi steigerte. Befeuert war die durch die Auseinandersetzungen beim EU-Gipfel nur einen knappen Monat zuvor. In Göteborg hatte die schwedische Polizei erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg scharfe Munition eingesetzt und dabei mehrere Personen verletzt, eine davon lebensgefährlich. Militanzfragen wurden nicht erst ab da kontrovers diskutiert, letztlich immer mit dem Ziel, verschiedenen Aktionsformen jeweils ihren Raum zu geben und damit diversen Protest zu ermöglichen, sowohl inhaltlich als auch in der Praxis.

Überhaupt war das allgemeine Aggressionsniveau seit der „Battle of ­Seattle“, den Protesten gegen den Gipfel der Welthandelsorganisation 1999, mit jedem weiteren Gipfeltreffen allseitig spürbar gestiegen. Im Vorfeld des Genua-Gipfels wurde eine quasi­mili­tä­rische Invasion von Heerscharen an Brandstiftern und Bombenlegern herbeihalluziniert, sogar von geplanten Anschlägen mit aidsverseuchten Blutbeuteln war die Rede. Die Freizügigkeit des Schengenraums endete an den Grenzübergängen zu Italien. Auf Betreiben des deutschen Innenministers Otto Schily (SPD) wurden Reiseverbote gegen mutmaßliche Gewalttäter verhängt.

Während des Gipfels war die lokale Polizeiführung praktisch außer Dienst gestellt, in der Genueser Einsatz­zen­tra­le übernahmen die Kommandostrukturen des italienischen Innenministeriums die Kontrolle. Gianfranco Fini, Vorsitzender der postfaschistischen Alleanza Nazionale (AN) und stellvertretender Ministerpräsident unter Berlusconi, war mehrfach vor Ort. Filippo Ascierto, ebenfalls Abgeordneter der AN und in der Einsatz­zen­tra­le zugegen, wird nach dem Gipfel die unheilvolle Drohung gegen die globalisierungskritischen Ak­ti­vis­t*in­nen aussprechen: „Sie werden nicht ruhig schlafen, denn wir werden sie holen. Einen nach dem anderem.“ Schon am 20. Juli 2001 holten sie Carlo Giuliani.

Unter Masken

Dem Genoa Legal Forum, ein Zusammenschluss engagierter Anwält:innen, ist eine minutiöse Rekonstruktion des Verlaufs der Ereignisse zu verdanken, die zum Tod des 23-Jährigen führten. Nachdem Einheiten der Carabinieri eine Straßenschlacht mit den Ak­ti­vis­t*in­nen Tute Bianchi provoziert hatten, kam Giuliani bei den anschließenden Auseinandersetzungen ins Visier des 20-jährigen Wehrdienstleistenden Mario Placanica. Noch am Tatort behaupteten Ordnungskräfte, Giuliani sei von einem geworfenen Stein getötet worden. Später wurde von Notwehr seitens Placanicas gesprochen. Dessen Freispruch im Jahr 2003 schließlich wurde damit begründet, sein in die Luft abgegebener Warnschuss wäre von einem Steinwurf so abgelenkt worden, dass die Kugel Giuliani getroffen habe.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Brennendes Auto in der Via Montevideo, 20. Juli 200Ares Ferrari – Immagine messa a disposizione da w:it:Camillo

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Merkels gelehrige Schüler

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2021

Die Grünen setzen auf Mitte und Konsens.

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Von Stefan Reinecke

Leider ist ihnen so im Wahlkampf die Fähigkeit zur Verteidigung abhanden gekommen.

Die Grünen erleben derzeit ein Déjà-vu. Die Bundestagswahl rückt näher – und das erwartet gute Ergebnis ferner. So wie 2013. Damals wollten im Juli noch 15 Prozent grün wählen, im September tat dies nur etwas mehr als die Hälfte. So eine gefühlte Niederlage rollt auch jetzt auf Baerbock und Habeck zu.

Damals gab es drei Gründe für das bescheidene Ergebnis. Konservative Medien entfachten eine Kampagne gegen den Veggie-Day und entwarfen das Zerrbild einer Verbotspartei, die den Deutschen die Wurst auf dem Teller nicht gönnt. Zudem hatte die Partei ein Steuerkonzept vorgelegt, das Teile der eigenen, besser verdienenden Klientel ein paar Tausend Euro im Jahr gekostet hätte. Das enthüllte die Bigotterie des grünen Wählermilieus, das soziale Gerechtigkeit hoch schätzt, solange man nicht selbst mehr zahlen muss. Hinzu kam eine mit hysterischen Obertönen geführte Debatte um grüne Toleranz für Pädophile in den 1980er Jahren, die das grüne Image demontierte, moralisch immer auf der richtigen Seite zu stehen. Ein paar Tage vor der Wahl wurde auch noch der Spitzenkandidat Jürgen Trittin mit Kindesmissbrauch assoziiert. Dass es dafür keinen Grund gab, zählte nicht. Es demolierte die Glaubwürdigkeit in ähnlicher Weise wie es nun die Affäre um das Copy-paste-Buch und den aufgemöbelten Lebenslauf von Annalena Baerbock tun.

Die Ähnlichkeiten zwischen 2013 und heute fallen ins Auge. Auch vor acht Jahren war der Zeitgeist eigentlich grün: Feminismus, Postnationalismus und Gleichberechtigungspolitik, allesamt mit den Grünen verknüpfte Ideen, waren keine Minderheiten- und Nischenprogramme mehr. Öko war Bestandteil des Lebensstils der kulturell herrschenden Klasse, die in den angesagten Vierteln der Großstädte wohnt und definiert, was gesellschaftlich als gutes, moralisch intaktes Leben gilt (und was nicht). Die Grünen sind die authentische Vertretung dieses Milieus.

Doch im Säurebad des Wahlkampfs wirkte und wirkt die Partei überfordert und unsouverän. 2013 brauchte sie viel zu lang, um zu begreifen, dass sie selbst die Pädo-Vorwürfe entschlossen aufklären muss. Heute versucht die Grünen-Spitze die Vorwürfe gegen Baerbock mit rhetorischem Kanonendonner („Rufmord“) und folgendem Schweigen zu verdrängen. Die Grünen scheinen wie Bill Murray in der Komödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Sie gewinnen glanzvoll Umfragen, aber nicht die Wahl. Warum? Haben sie nichts gelernt? Oder das Falsche? Zuviel vom Richtigen?

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Die Koalitionen in den Landesverbänden mit der CDU werden den Grünen das Genick brechen, da sie dort ihre Glaubwürdigkeit verkauft haben.

Die Niederlage 2013 war ein Wendepunkt für die Partei. Der Parteilinke Trittin wurde abgesägt, die Taktik neu justiert. Die Umverteilungsideen wurden danach verwässert, Verbotsforderungen sorgsam vermieden. Habeck und Baerbock haben die verwitterten Grenzmarkierungen der Ex-Alternativen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft niedergerissen oder, vielmehr, beiseite geschoben. Sie haben den Patriotismus für die Grünen reklamiert, halten die CDU für den Fixstern deutscher Politik und wollen unbedingt mit der Union regieren. Manche Grüne haben dieses Bündnis diskursiv solide ummauert. Es sei geradezu gefährlich, eine Mitte-Links-Regierung zu bilden, weil sich Union oder die FDP an der Seite der AfD in der Opposition womöglich radikalisieren könnten. Dann drohe Gefahr: Trump, Brexit, Le Pen. Dieses Argument klingt ehrenwerter, als es ist. Im Klartext heißt es, dass bei Wahlen nur die Frage entschieden wird, mit wem die Union regiert. Das ist ein fast schon nordkoreanisches Verständnis von Demokratie.

Die Grünen haben aus der Niederlage 2013 drei Schlussfolgerungen gezogen: Links und rechts gibt es nicht mehr. Nie mehr Dagegen-Partei sein. Und, am wichtigsten: Wir besetzen die Mitte und verbünden uns mit der Wirtschaft. Annalena Baer­bock verkündet einen „Pakt mit der Wirtschaft“ und stellt milliardenschwere Staatshilfen für den klimaneutralen Umbau der Industrie in Aussicht. „Die Klimakrise ist entscheidend für unsere Wettbewerbsfähigkeit in den Zukunftsmärkten“ – das hat nicht Christian Lindner, sondern Baerbock gesagt.

Diese Strategie knüpft durchaus an eine grüne Basiserzählung an, die Rudi Dutschke schon 1979 skizzierte. Ökologisch gedacht stehe das Gattungsinteresse im Zentrum und die Klassenfrage in der zweiten Reihe. Beim Kampf sozialer Gruppen um Einfluss, Anerkennung und Geld geht es in erster Linie um den Konflikt. Ökologie – und besonders der drängende klimaneutrale Umbau der Ökonomie – ist ein konservatives Ziel, in dem Konflikte nur unvermeidliche Hindernisse auf dem Weg zum gesellschaftlichen Konsens sind. „Die Dekarbonisierung unseres Wirtschaftens bedarf breiter Bündnisse – von Bewegungen über Gewerkschaften und Unternehmen bis hin zu Verabredungen mit den demokratischen Gegnern“, sagt Jürgen Trittin.

So haben die Grünen eine alles überwölbende Harmonieerzählung entwickelt, die das eigene Machtstreben nach 16 langen Oppositionsjahren mit höheren Zielen verzahnt. Die neue grüne Botschaft lautet: Wir sind die Mitte, unaggressiv und freundlich. Wir sind individualistisch, aber nicht zu sehr, anders, aber nur ein bisschen. Das zwischen Biedermeier und Sperrmüll-Ästhetik oszillierende Wohnzimmer mit oranger Couch, das den digitalen Parteitag möblierte, bebilderte dieses Konzept.

Die zweite Botschaft lautet: Wir tun das Nötige, aber es wird nicht wehtun. Man kann die Welt retten, darf aber trotzdem Dosenbier trinken und SUV fahren, bei Tempo 130 natürlich. Volkspädagogik und Elitenkritik sind vorbei. Beides würde die Befriedung der Mitte, den Weg zur Macht und den konfliktreduzierten Umbau der Wirtschaft stören. Mit dem Versprechen „Wir tun niemandem was“ soll der Goldschatz für die Bundestagswahlen gehoben werden: die Merkel-WählerInnen.

Vor lauter Konsens-Denken ist den Grünen die Anpassung an das, was ist, zur zweiten Natur geworden. Sogar die grüne Jugend denkt lieber zwei Mal nach, wie scharf sie Kretschmann kritisieren darf, wenn der in der Coronakrise Verbrennerautos subventionieren will. Vom Rebellischen der Frühzeit ist nichts geblieben, außer der Frisur von Toni Hofreiter. In Hessen haben die Grünen aus Loyalität zur CDU das Ja zum NSU-Untersuchungsausschuss verweigert – ein zu wenig wahr genommener Skandal.

Quelle       :         TAZ-online            >>>>>            weiterlesen

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Oben     —     PEGIDA Demonstration Dresden 2015-03-23

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Taiwan-Politik der USA

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2021

«Die Taiwan-Politik der USA erhöht das Risiko eines Weltkriegs»

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Der Westen sollte an der Fiktion der «Ein-China-Politik» festhalten, warnt Politologie-Professor Peter Beinart.

Im Stillen unternehmen die USA Schritte, die Beziehungen zu Taiwan zu «normalisieren». Im letzten Sommer löschten die Demokraten die Bezeichnung «Ein-China» von ihrer Plattform, im Januar war ein Vertreter Taiwans zum ersten Mal zu einer Inauguration eines US-Präsidenten eingeladen. Im April kündigte die Administration von Joe Biden an, die jahrzehntealten Beschränkungen der Kontakte zwischen der US-Administration und der taiwanesischen Regierung zu lockern.

«Diese Politik erhöht das Risiko eines katastrophalen Krieges», erklärt Peter Beinart, Professor der politischen Wissenschaften von der City University in New York. In der «New York Times» fordert er Biden auf, Taiwan weiterhin militärisch zu unterstützen, jedoch an der jahrzehntelangen «Ein-China-Doktrin» festzuhalten. Diese «Fiktion» habe sich bewährt und den beiden Grossmächten USA und China erlaubt, ihr Gesicht zu wahren. Die «Ein-China-Politik» trage in einer der gefährlichsten Regionen der Welt seit Jahrzehnten dazu bei, Frieden zu bewahren.

Die Ein-China-Fiktion

Die Ein-China-Politik, eine Prämisse und Fiktion, die im Kalten Krieg entstanden ist, geht davon aus, dass es nur ein China gibt. Alle Staaten, die mit der Volksrepublik China diplomatische Beziehungen aufnehmen möchten, müssen dies anerkennen und dürfen deshalb nicht gleichzeitig mit Taiwan diplomatische Beziehungen aufnehmen.

Diese Politik ist deshalb Fiktion, weil es sehr wohl noch die Republik China gibt. Sie umfasst Taiwan und einige Inseln. Doch diese unabhängige Republik wird nur von ganz wenigen Ländern auf der Welt anerkannt. «Indem die USA ihre Beziehungen zu Taiwan nicht offiziell gestalten, kann China daran festhalten, dass eine friedliche Wiedervereinigung möglich ist. Und es gibt China einen Grund, nicht militärisch zu intervenieren», sagt Beinart.

Eine militärische Intervention sei mehr als eine theoretische Möglichkeit, denn in China besagt seit 2005 ein Gesetz, dass eine Unabhängigkeitserklärung von Taiwan ein Kriegsgrund wäre. Offiziell sagen die USA nicht, wie sie im Fall eines Einmarsches der Volksrepublik in Taiwan reagieren würden. Es gibt Rufe nach formelleren Zusicherungen.

Genau das kritisiert Beinart. Seine Kernaussage:

«Unabhängig davon, ob die USA offiziell versprechen, Taiwan zu verteidigen: Es ist äusserst leichtsinnig zu glauben, dass die USA Beijing provozieren können, indem sie die Ein-China-Politik rückgängig machen und gleichzeitig drohen, ein Eingreifen Chinas militärisch zu verhindern.»

Peter Beinart in der New York Times

Leichtsinniges Abweichen von der Ein-China-Politik

Leichtsinnig wäre das Abweichen von der «Ein-China-Politik» deshalb, weil jede glaubwürde Abschreckung sowohl der Macht wie des Willens bedarf. Und bei beiden gebe es Fragezeichen.

  • Das chinesische Festland ist 180 Kilometer von Taiwan entfernt, während Honolulu 8000 Kilomenter entfernt ist. US-Flugzeugträger sind vom nahen Festland aus relativ leicht angreifbar.
  • Während die Volksrepublik im Rahmen der sino-amerikanischen Beziehungen Taiwan klar als Problem Nummer eins betrachtet, mag das Washingtoner Establishment zwar einen Kriegseintritt der USA an der Seite Taiwans befürworten, im Land selbst ist aber eine weit verbreitete Skepsis zu spüren.

An der Ein-China-Politik festhalten bedeute nicht, Taiwan fallenzulassen. Das Land ist ein demokratisches Lehrbeispiel und die Beziehungen zum Westen allgemein und zu den USA im Besonderen sind eng. Doch als kleines Land im Schatten einer Supermacht verfüge Taiwan nur über einen geringen aussenpolitischen Spielraum. «Die USA würden Mexiko auch nie erlauben, eine Militärallianz mit Peking einzugehen», illustriert Beinart den Sachverhalt.

Taiwan diente mit Hilfe der USA als Rückzugsort

Die «Ein-China-Politik» hat eine Geschichte. Im Jahr 1682 hatte die von den Mandschuren gegründete Qing-Dynastie die Insel Taiwan zum ersten Mal unter die Kontrolle des Festlandes gebracht. 1912 wurde in China eine Republik ausgerufen. Nachdem 1949 die Kommunisten unter der Führung von Mao Zedong nach der japanischen Besetzung China einigten und unter ihre Gewalt brachten, zog sich Chiang Kai-Shek mit seinen Anhängern und der Hilfe der USA nach Taiwan zurück.

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Seither stellte sich die Volksrepublik stets auf den Standpunkt, dass Taiwan als abtrünnige Provinz zu China gehöre, und versucht, die Ein-China-Politik international durchzusetzen.

Immer mehr Staaten – die Schweiz schon 1950 – brachen die offiziellen Beziehungen zu Taiwan ab und anerkannten die Volksrepublik. 1971 ging die chinesische UNO-Mitgliedschaft von der Republik China (Taiwan) an die Volksrepublik über. 1979 brachen die USA ihre diplomatischen Beziehungen mit Taiwan ab und nahmen offizielle Beziehungen zur Volksrepublik auf.

Doch in der Praxis wird der taiwanesische Pass allgemein anerkannt, Wirtschafts- und Kulturbüros von Taiwan arbeiten in aller Welt wie Botschaften und stellen die internationale Vernetzung sicher. Die militärische Zusammenarbeit mit den USA ist eng.

Die Ein-China-Politik ist somit eine Fiktion, ein diplomatisches «So-tun-als-ob». Aber diese Fiktion sei sehr wirkungsvoll, sagt Beinart. Sie habe Taiwan Frieden, individuelle Freiheit und Prosperität gebracht. China andererseits könne an der Vorstellung festhalten, dass Taiwan ein Teil Chinas sei. Würde der Westen Taiwan offiziell als unabhängiges Land anerkennen, wäre dies für Beijing ein Kriegsgrund. Deshalb solle Biden von seiner «äusserst unbesonnenen» Taiwan-Politik Abstand nehmen.

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Mitarbeit: Daniel Funk

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Oben        —     „Base 801760 (B01335) 1-92.“ Relief shown by shading. Available also through the Library of Congress Web site as a raster image.

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Glyphosat-Verbrechen

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2021

Ein neuer Akt im Glyphosat-Verbrechen

Glyphosat Tötet!.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von CBG

Unlautere Methoden bei Zulassungsstudien

Der Toxikologe Siegfried Knasmüller, Professor vom „Institut für Krebsforschung“ in Wien, hat große Mängel in den Glyphosat-Studien festgestellt, die im Jahr 2017 zur Zulassungsverlängerung des Herbizids innerhalb der EU führten. Als „ein Desaster“ bezeichnete er die von der jetzigen BAYER-Tochter MONSANTO und anderen Herstellern eingereichten Untersuchungen gegenüber dem „Spiegel“. Von den 53 Arbeiten, die der Forscher analysierte, sieht er nur vier Prozent als zuverlässig an und 32 Prozent als teilweise belastbar. 64 Prozent hingegen entsprechen ihm zufolge nicht den gängigen wissenschaftlichen Standards. Das „Bundesinstitut für Risiko-Bewertung“ (BfR) hatte während des Genehmigungsverfahrens die Federführung bei der Begutachtung der Studien von BAYER & Co. Er kritisierte die Risiko-Aufsicht deshalb sehr scharf: „Wie derart fehlerhafte Berichte von Zulassungsbehörden wie dem BfR akzeptiert werden konnten, ist mir ein völliges Rätsel“, so der Toxikologe.

Unter den 53 Untersuchungen finden sich laut Knasmüller kaum wirkliche Krebs-Studien. Die meisten widmen sich der potenziellen Gen-Toxizität von Glyphosat, was lediglich Hinweise auf eine karzinogene Wirkung gibt. Noch dazu hat die Industrie diese Tests vornehmlich am falschen Objekt vorgenommen. Sie wählte Knochenmark-Zellen, die viel weniger Aufschluss über eine mögliche Krebs-Gefahr geben als Leberzellen. Zudem kam bei keiner einzigen der Arbeiten die „Comet Assay“-Technik zur Anwendung, die einen genaueren Aufschluss über DNA-Schädigungen gibt. Damit nicht genug, entdeckte der Wissenschaftler in den Versuchsreihen methodische Mängel wie die Verwendung einer zu geringen Zahl von Zellen oder Bakterien-Stämmen.

„Die Unternehmen haben mal wieder Fake Science abgeliefert. Damit versuchten sie einmal mehr das gesundheitsgefährdende und umweltschädliche Glyphosat als ungefährlich darzustellen. Dabei zeigen die firmen-internen Unterlagen von MONSANTO, die bei den Entschädigungsklagen als Beweise dienten, genau, dass sie selbst wissen, wie gefährlich dieses Pestizid-Gift ist“, stelltt Marius Stelzmann von der Coordination gegen BAYER-Gefahren (CBG) fest.

In den Prozessen hatten die Anwält*innen dem Gericht eMails von MONSANTO-Beschäftigten vorgelegt, in denen es beispielsweise hieß: „Glyphosat ist OK, aber das formulierte Produkt verursacht den Schaden.“ Und als eine Auftragsstudie zur Gentoxizität des Herbizids nicht das gewünschte Ergebnis erbrachte, wechselte der Konzern einfach den Forscher: „Wir müssen jemanden finden, der sich mit dem gen-toxischen Profil von Glyphosat wohlfühlt und einflussreich bei den Regulierungsbehörden ist.“

Nach Ansicht der CBG stellt der Befund Knasmüllers auch das jüngst vorgelegte positive Votum der „Bewertungsgruppe für Glyphosat“ (AGG) in Frage, das im Rahmen der EU-Prüfung auf Zulassungsverlängerung erfolgte. Das Gremium hatte kein „chronisches oder akutes Risiko“ ausgemacht. Die europäische Lebensmittelbehörde EFSA erteilte daraufhin einen Freifahrtschein: „Eine Einstufung für Keimzell-Mutagenität, Karzinogenität oder Reproduktionstoxizität war nicht gerechtfertigt.“

Adbusting kritisiert Phrarma-Unternehmen für Insektensterben 01.jpg

Weltmeister für Gift und Gas – da war doch was ?

„Diese Bewertung stützte sich auf unwissenschaftliche Studien, wie jetzt erwiesen ist. Ganz offensichtlich greifen BAYER & Co. in ihrer Profitgier auf unlautere Methoden zurück. Sie bringen mit Glyphosat wissentlich Krankheit und Tod über die Menschen und ruinieren Umwelt und Klima. Die Politik an den Lobby- und Korruptionsfäden der Konzerne gibt sich blind und duldet diese kriminellen Machenschaften. Das muss umgehend beendet werden. Glyphosat muss endlich vom Markt! BAYER muss haften! Die Opfer müssen entschädigt werden! Die Verantwortlichen gehören hinter Gitter!“, so Stelzmann abschließend.

Urheberecht
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Oben        —   Protestbanner aginst the use of Glyphosat in the German wine village Bremm Mosel

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Berliner Stadtgespräch

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2021

Die Freiwilligenarmee

Befolge nur die Befehle

Von Daniel Kretschmar

Am 1. Juli 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Seitdem gibt es Recruitingkampagnen anstatt der Ladung zur Musterung und seltene sichtbare Momente des Militärs.

Die Ladung zur Musterung war für Generationen junger Männer ein einschneidendes Erlebnis. Der Brief vom Kreiswehrersatzamt mit dem Termin und amtlicher Sanktionsdrohung bei Nichterscheinen, die spätere Einberufung, im Falle der Kriegsdienstverweigerung eine bisweilen recht zudringliche Anhörung, verdeutlichten vor allem eines: Macht über Körper und Zeit. „Bürger in Uniform“ hieß das. Im Zweifelsfall hatte die Uniform aber Vorrang, es galt das Soldatengesetz. Das sich schon seit 1990 ankündigende, dann aber doch recht plötzliche Ende der Wehrpflicht vor zehn Jahren war deshalb ein großer Gewinn an individueller Freiheit. Die Frage, welchen Zweck die Bundeswehr nach dem Kalten Krieg hat, bleibt dabei bis heute seltsam unbeantwortet.

Als der damalige Verteidigungsminister Guttenberg im Mai 2010 bei einer Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg eine Abschaffung der Wehrpflicht kontemplierte, rührte das am Markenkern von CDU und CSU. Von Horst Seehofer bis zu Angela Merkel ging man sofort auf Distanz, „als Partei der Bundeswehr“ sage man selbstverständlich ja zur Wehrpflicht. Innerhalb weniger Monate drehte sich die Stimmung in der Unionsspitze jedoch komplett. Die letzten Wehrpflichtigen der Bundeswehr rückten im Januar 2011 ein. Seit dem 1. Juli 2011 ist die Wehrpflicht zwar formal nicht abgeschafft, aber ausgesetzt.

Vorgeblich ging es dabei um die Erfüllung von Sparvorgaben. So ist der Verteidigungsetat in den vergangenen Jahren „nur“ um mehr als 20 Prozent gestiegen. Nicht zuletzt schlagen die Rekrutierungskosten heftig zu Buche. Statt muffigen Kreiswehrersatzämtern werben heute generische „Karrierecenter“ um den freiwilligen jungen Nachwuchs. Dazu kommen zahllose Teilnahmen an Berufsorientierungsmessen, Infoveranstaltungen und Besuchen an Schulen. Allein für Werbemittel, Anzeigen und dergleichen werden mehr als 30 Millionen Euro im Jahr ausgegeben.

Vorausgegangen waren dem abrupten verteidigungspolitischen Wandel von 2011 zwei Jahrzehnte der Sinnsuche. Mit dem Wegfall des Ostblocks löste sich die wichtigste Begründung für eine große stehende Armee inklusive Wehrpflicht auf. Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU, 1992–98) ist eng mit dem strategischen Kurswechsel verbunden, von einer reinen Verteidigungsarmee zu einem vollwertigen NATO-Partner, inklusive bewaffneter „Out-of-area-Einsätze“. In kleinen Schritten, immer auf Sicht fahrend, begleitet lediglich vom Protest der Linkspartei und bis zum endgültigen Einknicken der Grünen 1999 im Kosovokrieg durch Querschläger von deren linkem Flügel, wurde die deutsche Armee fit für den internationalen Kampfjet-Set gemacht.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Die Wehrpflichtigenarmee war so bereits Ende der 1990er nurmehr eine Illusion. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer bewegte sich konstant bei knapp 150.000 im Jahr. Die sogenannte Wehrgerechtigkeit, also die Einberufung aller tauglichen Männer im wehrfähigen Alter, fand sowieso mangels Bedarfs schon längst nicht mehr statt. Presseberichte machten die Runde über gelangweilte Wehrdienstleistende, die mit offensichtlich nutzlosen Tätigkeiten oder gänzlich beschäftigungslos in den Kasernen ihre Zeit totschlugen. Weniger politische, moralische und juristische Auseinandersetzungen, sondern alltagspraktische Erfahrung zeigte, dass es keinerlei Rechtfertigung mehr dafür gab, halbe Kinder zwangsweise in Uniformen zu stecken und ihnen wertvolle Lebenszeit mit der Ausbildung an tödlichen Waffen zu stehlen.

Nicht ganz so klar entwickelte sich die generelle Zielvorstellung der deutschen Verteidigungspolitik. Als Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) 2002 erklärte: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“, war das zwar eine markige Zustandsbeschreibung, schließlich ging es um den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, aber eben keine nachhaltig begründete Strategie.

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DIE PAZIFISCHE NATO?

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2021

KOMMT EINE PAZIFISCHE NATO?

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Von Martine Bulard

Um die Macht Chinas zu begrenzen und dessen geopolitische Ambitionen zu kontern, werkelt Washington an einem neuen Sicherheitsbündnis in der Großregion, die als „Indopazifik“ definiert wird. Allerdings können sich viele der umworbenen Staaten einen Bruch mit Peking gar nicht leisten.

Was die französische Militärpräsenz im Asien-Pazifik-Raum betrifft1 , so könnte man (frei nach Molière) fragen: „Was haben wir nur auf dieser Galeere zu suchen?“ In dieser Region hat Frankreich laut Konteradmiral Jean-Mathieu Rey, dem Kommandeur der französischen Streitkräfte in Asien und Ozeanien, insgesamt 7000 Soldaten, 15 Kriegsschiffe und 38 Flugzeuge dauerhaft stationiert.

Von Ende März bis Anfang Juni dieses Jahres wurde das dortige Aufgebot durch den nuklear angetriebenen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ und das Atom-U-Boot „Émeraude“ verstärkt, wie auch durch weitere Kampfflugzeuge (darunter vier Rafale-Jets und ein A330-Tankflugzeug), und die amphibische Operationseinheit „Jeanne d’Arc“, mit dem Hubschrauberträger „Tonnerre“ und der Tarnkappenfregatte „Surcouf“. All diese Einheiten waren an einer Reihe gemeinsamer Militärübungen mit den USA, Australien, Japan und Indien beteiligt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Paris sein Arsenal in dieser Region vorführt. Schon im April 2019 hatte eine französische Fregatte die Taiwan-Straße durchfahren und damit eine Kon­tro­verse mit Peking ausgelöst, aber nie zuvor war die Militärpräsenz derart massiv. Neu ist jedoch vor allem, dass Präsident Emmanuel Macron das Ganze als Beitrag zu einer „indopazifischen Achse“ darstellte2 , die gegen China gerichtet ist.

Das hat er im Mai 2018 bei einem Besuch in Australien ganz klar formuliert: „China ist dabei, Schritt für Schritt seine Hegemonie aufzubauen. Es geht nicht darum, Ängste zu schüren, sondern der Realität ins Auge zu schauen.“ Falls der Westen nicht geschlossen handle, werde er zu seinem Leidwesen bald erfahren, dass dieser Hegemon „unsere Freiheiten und unsere Chancen beschneidet und wir klein beigeben müssen“.3 Die höchst reale Hegemonie der USA in dieser Region dagegen scheint Macron nicht als Problem zu sehen.

Gemeinsame Manöver im Golf von Bengalen

Entsprechend dieser Sichtweise verwandelte sich Frankreich still und leise und ohne jede innenpolitische Debatte von einer „indopazifischen Macht“, als die es sich – mit Verweis auf seine Überseegebiete Neu-Kaledonien und Französisch-Polynesien – gern definierte, zu einem Machtfaktor der von den USA angeführten „indopazifischen ­Achse“. Das ist eine bedeutsame semantische Verschiebung, wie aus einem Strategiebericht des US-Verteidigungsministerium vom Juni 20204 hervorgeht. Hier wird die vollzogene Wende ausdrücklich begrüßt, denn sie mache Frankreich in dieser Region zu einem ebenso wichtigen Militärpartner der USA wie Japan, Australien oder Singapur.

Bevor „Indopazifik“ zu einem US-amerikanischen Ordnungskonzept wurde, hatte der Begriff schon verschiedenen Herren gedient. Geprägt wurde er 2006 von Gurpreet S. Khurana, dem Direktor des indischen Thinktanks National Maritime Foundation, und zwar als „das den Pazifik und den Indischen Ozean umfassende Meeresgebiet“.5 Zu einem politischen Begriff wurde „Indopazifik“ erst, als er in Tokio von Premierminister Shinzo Abe und dessen Nachfolgern aufgegriffen wurde. Dort beobachtete man mit Sorge, wie China zur globalen Wirtschaftsmacht aufstieg und mit den USA ins Geschäft kam, die zum größten Abnehmer chinesischer Produkte wurden.

Die Japaner fürchteten vor allem, von einem „ChinAmerika“-Duo an den Rand gedrängt zu werden. Sie sahen ihr Land stets als Washingtons Brückenkopf in Asien und waren entsprechend begeistert, als sie 2007 erstmals zusammen mit den USA, Indien, Japan, Aus­tralien und Singapur ein gemeinsames Manöver im Golf von Bengalen abhalten konnten. Doch das neue Bündnis, das in Tokio als „Bogen der Freiheit“ gefeiert wurde, hatte nicht lange Bestand.

Zehn Jahre später tauchte die „indo­pazifische Achse“ dank Donald Trump erneut aus der Versenkung auf. 2018 benannte der republikanische Präsident – mit seinem untrüglichen Gespür für PR-Effekte – das Oberkommando  der  US-Truppen  in  der  Region von „US Pacific Command“ (Pacom) in „US Indo-Pacific Command“ (Indopacom) um. Anschließend initiierte er den Quadrilateralen Sicherheitsdialog (Quad) – eine informelle Allianz mit militärischer Dimension, der Austra­lien, die USA, Indien und Japan angehören. Worauf das alles hinauslief, stand im Gesetz über den Verteidigungshaushalt für 2019, das der Kongress im August 2018 verabschiedete: Demnach sei es „die oberste Priorität der Vereinigten Staaten, dem Einfluss Chinas entgegenzuwirken“.6

Diese Zielvorgabe war ganz nach dem Geschmack der neoliberalen Regierungschefs und der Ultranationalisten, die mittlerweile in den Partnerstaaten der Allianz an der Macht waren. In Australien war das sozialdemokratische Intermezzo beendet; in Japan wurde Präsident Shinzo Abe wiedergewählt, der die Gründung des Quad voran­getrieben hatte. Und in Indien kam der Hindunationalist Narendra Modi ans Ruder, der Trump noch mit großem Pomp zu einem Staatsbesuch empfangen hatte, bevor dieser das Weiße Haus verließ.

Doch der Kurs der USA blieb auch nach der Abwahl Trumps weitgehend derselbe. Joe Biden setzte die Politik seines Amtsvorgängers fort, wenn er auch weniger hektisch agiert und größeren Wert auf die Verteidigung der Menschenrechte und ein kohärentes Vorgehen legt. Auch Biden betrachtet China als „strategischen Rivalen“ und den Quad als das zentrale politische und militärische Instrument für den asiatisch-pazifischen Raum.

Am 12. März, keine zwei Monate nach seinem Amtsantritt, lud der neue US-Präsident die Staats- und Regierungschefs der drei Quad-Partner zu einer Videokonferenz. Zum Abschluss bekannten sich Biden, Morrison, Modi und Suga Yoshihide in einer gemeinsamen, sehr allgemein gehaltenen Erklärung zu der Vision einer „freien, offenen, inklusiven und gesunden Region, die in demokratischen Werten verankert und frei von Zwang ist“.7

Sofort nach dieser Beschwörung eines „freien und offenen Indopazifiks“, wie die offizielle Formel lautete, machten sich US-Außenminister An­tony Blinken und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in die Region auf, um die Abmachungen zu konkretisieren. Die Reise führte sie am 16. März auch nach Südkorea, das die Allianz zu einem Format namens „Quad+“ erweitern soll, das auch für weitere asiatische Länder und sogar für europäische Staaten wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland offen sein könnte.

Dieser Plan zielt darauf ab, „ein sternförmiges Bündnis unter Führung der USA zu ‚multilateralisieren‘“, wie es die Politologin Chung Kuyoun von der südkoreanischen Kangwon National University formuliert.8 Andere Experten sehen Parallelen zur Nato, die 1949 zu Beginn des Kalten Kriegs aus der Taufe gehoben wurde und bis heute besteht. Sie sprechen sogar von einer möglichen geografischen Ausweitung des atlantischen Bündnisses, sozusagen von der Geburt einer kleinen Schwester – also einer „asiatischen Nato“ gegen die „chinesische Diktatur“.

Die Hypothese ist durchaus nicht abwegig. Der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses hat in einem Bericht zur Vorbereitung des Brüsseler Treffens der Nato-Außenminister am 23. und 24. März die „wichtigsten Prioritäten“ der Allianz aufgelistet. Die müsse insbesondere auf „die potenziellen sicherheitspolitischen Herausforderungen reagieren, die China und seine zunehmende Investitionstätigkeit in Europa darstellen“.9 Hier wird also in einem Atemzug die Gefahr durch chinesische Raketen wie für die eigenen wirtschaftlichen Interessen beschworen und beides natürlich unter der Flagge der Freiheit, mit der die Repräsentanten der Nato unentwegt herumwedeln.

Allerdings ist der indische Pre­mier­minister nicht gerade als untadliger Vorkämpfer der Freiheit bekannt. Das heutige Unionsterritorium Jammu und Kaschmir, dem die Regierung Modi ihren Autonomiestatus entzogen hat, steht unter der Knute des Militärs; viele Oppositionelle wurden verhaftet, gefoltert oder gar getötet.10 Die indischen Muslime werden durch das herrschende Staatsbürgerschaftsrecht diskriminiert; Demonstrationen gegen diese Zustände werden immer wieder unterdrückt. Es ist das alte Lied: Bei Verbündeten der USA nimmt man die Menschenrechte nicht so wichtig wie bei ihren Gegnern.

So sieht es auch Dennis Rumley, Professor an der Universität von Curlin (Australien) und Ko-Autor eines Buchs über „Aufstieg und Wiederkehr des Indopazifiks“.11 Für Rumley hat das Indopazifik-Projekt wenig mit moralischen Werten und viel mit dem „sich derzeit vollziehenden globalen Wandel“ zu tun. Demnach erleben wir gerade den „Übergang in eine neue bipolare Welt USA – China“.

Chinas setzt auf seine ­Wolfskriegerdiplomatie

In den USA selbst sowie in den Ländern ihrer Einflusssphäre „haben viele regelrecht Angst vor diesem Übergang“. In China dagegen „wünschen sich viele diesen Übergang herbei und fordern, dass er bei weltpolitischen Entscheidungen berücksichtigt wird“. Die diametral entgegengesetzten Sichtweisen beeinflussten das Verhalten beider Seiten – was zum Beispiel dazu führen, könne, dass „die chinesische Haltung als aggressiv wahrgenommen wird“.

Die ausgesprochen offensive „Wolfs­kriegerdiplomatie“ (wolf ­warrior diplomacy), die sich in chinesischen Diplomatenkreisen breitmacht, wirkt diesem Eindruck nicht gerade entgegen. Vielmehr scheint sich China grundsätzlich von jener Zurückhaltung zu verabschieden, die seine Diplomatie in den Jahrzehnten vor 2000 ausgezeichnet hat.

Peking stockt seinen Militärhaushalt Jahr für Jahr weiter auf. Vor allem modernisiert es seine Marine im Eiltempo, während es laut und deutlich seine Ansprüche im Südchinesischen Meer anmeldet. Die umfassen inzwischen die gesamten Paracel-Inseln und das Spratly-Archipel, wo China sieben Riffe zu künstlichen Inseln aufgeschüttet hat, auf denen Dual-Use-Infrastrukturen (für zivile und militärische Zwecke) entstehen. Und die chinesische Küstenwache ist seit Februar 2021 durch ein neues Gesetz zu offensiveren Operationen ermächtigt. Seitdem kommt es immer häufiger zu Zwischenfällen mit japanischen, vietnamesischen und philippinischen Schiffen.

„Es gibt Streitigkeiten um die Inseln im Chinesischen Meer; das ist bedauerlich“, räumt ein ehemaliger chinesischer Diplomat in Europa ein, wobei er sich allerdings auf die offizielle These von den „historischen Rechten Chinas“ beruft. „Wir brauchen Ankerpunkte im Chinesischen Meer, um uns zu schützen – nicht um unsere Nachbarn anzugreifen“, argumentiert der Ex-Diplomat und verweist darauf, dass ein Kommandeur der US-Marine 2014 (laut einem Report des US Navy Insti­tute) erklärt hat, die chinesischen Häfen und Handelswege seien „sehr exponiert und leicht zu blockieren“. Dieser hohe Offizier habe vorgeschlagen, „entlang unserer gesamten Küstenlinie einen Gürtel von Seeminen zu legen, um bei Bedarf das Land abriegeln zu können“.

Das Szenario ist glaubhaft und das zitierte Dokument existiert.12 Doch Angst ist selten eine gute Ratgeberin. Falls die Verbündeten der USA tatsächlich einmal China den Zugang zum offenen Meer mittels einer militärischen Blockade verwehren sollten, wird Peking seine Sicherheitslage mit einer Politik der vollendeten Tatsachen, durch die es sich schon jetzt von einem Teil seiner Nachbarn entfremdet, schwerlich verbessern können.

Auch in der Taiwanfrage wird China mit aggressivem Auftreten nicht viel ausrichten. Peking betrachtet die Insel als eine seiner Provinzen und beruft sich dabei auf das „Ein-China-Prinzip“, das seit den 1970er Jahren von den Vereinten Nationen und fast allen Ländern der Erde anerkannt wird.

„Die Sezession ist ausgeschlossen, aber die Eingliederung ist nicht vordringlich“, sagt dazu unser Ex-Diplomat. Ob die chinesischen Machthaber das auch so sehen, ist ungewiss. Allerdings ist die Zahl der Verletzungen des Luftraums von Taiwan exponentiell angewachsen. Peking hat über der Taiwan-Straße tausende Luftoperationen angeordnet, die der offiziellen See- und Luftraumgrenze (von 12 Seemeilen oder 22,2 Kilometern) auf beiden Seiten der Meerenge gefährlich nahe kamen und sie bisweilen überschritten.

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Weniger bekannt sind die Luftraumverletzungen vonseiten der USA, die sich als Wächter der Weltmeere aufspielen. Allein im ersten Halbjahr 2020 wurden mehr als 2000 Flugbewegungen der U.S. Air Force registriert, die kürzlich ein mobiles Radarsystem auf den Penghu-Inseln installiert hat – nicht einmal 150 Kilometer von Festlandchina entfernt.13 Es wäre naiv zu glauben, dass diese Anlagen nur dem Schutz Taiwans dienen.

Fest steht, dass Chinas Strategie der Stärke bei seinen Nachbarn Unruhe auslöst, was Washington zu seinem Vorteil nutzt. Dabei will man vor allem das militärische Potenzial verstärken, das laut Admiral Philip Davidson dem chinesischen unterlegen ist. Der derzeitige Indopacom-Kommandeur sieht die Zeit gekommen, die Erste US-Flotte wiederauferstehen zu lassen, die von 1946 bis 1973 im westlichen Pazifik operiert hatte.

Davidson unterstützte bei einer Anhörung im Kongress einen auf Trumps Marinestaatssekretär Kenneth Braithwaite zurückgehenden Plan, der einen neuen US-Stützpunkt auf den Palau-­Inseln vorsieht. Dabei gibt es über die ganze Region verteilt bereits hunderte US-Basen, vor allem in Japan, wo beinahe 55 000 US-Soldaten stationiert sind, in Südkorea (28 500), auf Hawaii (42 000) und auf Guam.

Indien verspricht sich eine Schlüsselrolle

2020 beliefen sich die Militärausgaben der USA auf 778 Milliarden Dollar; das ist etwa das Dreifache der 252 Milliarden Dollar, die China für sein Militär aufwendet. Der chinesische Militäretat ist damit der zweitgrößte der Welt, doch in Peking hat man noch das Beispiel der Sowjetunion in Erinnerung, die im Rüstungswettlauf mit Washington ihre Existenz aufs Spiel setzte. Diesen Irrweg will man nicht beschreiten. China wendet nach den Berechnungen des Internationalen Friedensforschungsinstituts Sipri in Stockholm 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär auf – die USA dagegen 3,7 Prozent.14

Die Rüstungsausgaben des Pentagons machen allein 39 Prozent des weltweiten Militärbudgets aus, womit die USA nach wie vor mit großem Vorsprung an der Spitze liegen. Hinzu kommt, dass ihre Streitkräfte weit mehr praktische Erfahrungen haben, weil sie – im Gegensatz zur chinesischen Armee – permanent an Militäroperationen beteiligt sind. Es ist wahrlich eine paradoxe Situation: Die Amerikaner verdächtigen die Chinesen ständig kriegerischer Absichten, während sie selbst in allen Ecken der Welt militärisch aktiv sind.15

Ihr neuer Tummelplatz ist der Indopazifik. Dessen Grenzen haben sich allerdings verschoben: Sie reichen heute vom Westpazifik bis zu den Küsten Ostafrikas, wobei unter Barack Obama die USA nicht dazugehörten, während sie unter Trump zum Teil des indopazifischen Raums erklärt wurden. Inzwischen gilt der Indopazifik als „Teil der Nachbarschaft der USA“, so Rumley, und die gelte es genauso zu verteidigen wie den eigenen Hinterhof im Sinne der traditionellen Monroe-Doktrin.

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Monopolmacht Wirtschaft

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2021

CORONA als entwickelter STAMOKAP

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Von Wilma Ruth Albrecht

„Aufgrund der im Ersten Weltkrieg in Deutschland zu beobachtenden Interessenverstrickung zwischen Staat und Wirtschaft sieht Lenin in seiner 1917 erschienenen Schrift „Staat und Revolution“ das Wesen des Stamokap in der totalen Verschmelzung der Monopolmacht der Wirtschaft  mit der Regierungsmacht zu einem sich wechselseitig bedingenden einheitlichen Machtkomplex.“[1]

(1) Dass das Finanzkapital das entwickelte kapitalistisch verfasste Wirtschaftssystem dominiert, ökonomische Monopolisierungs- und politisch-militärische Expansionsprozesse fördert, weiß man schon länger als hundert Jahre – etwa seit John A. Hobson: Der Imperialismus (1902), Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital (1910) oder Wladimir I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917).

Dieser Einfluss des Finanzkapitals auf die Realwirtschaft erfolgte zunächst über Banken.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Einfluss der Banken und Versicherungen durch den der Investitionsagenten (Fonds, Vermögensgesellschaften), die gegenwärtig die Aktienmärkte beherrschen, ergänzt. Es bildete sich ein Finanzmarkt-Kapitalismus (Paul Windolf, 2005) und eine Finanzoligarchie (Albrecht, 2020) heraus. Damit ging einher, dass die Produktion nicht mehr (nur oder allein) auf den zeitlich festgelegten Zinssatz des vorgeschossenen (fiktiven) Kapitals der Banken ausgerichtet wurde; sondern auf das Anlageverhalten zur Profitmaximierung und Renditensicherung der Investmentbanken und -fonds. Da Investitionen dieser Institutionen in die Realwirtschaft kurzfristiger erfolgen können, wird das Wirtschaftssystem schnelleren Entscheidungen ausgesetzt, damit auch verletzbarer.

Ebenfalls bekannt ist, dass unter den Akteuren des Finanzmarktkapitals, zwischen seinen Märkten (Aktiengesellschaften, Banken, Versicherungen, Investmentfonds, Ratingagenturen sowie Vermögensverwaltungen) und dem Staat sowohl enge Verflechtung als auch Konkurrenz herrscht. Dies ergibt sich aus dem ökonomischen Zwang zur Unternehmens bezogenen Profitrealisierung. Er nötigt auch zu immer stärker werdenden machtpolitischen Einfluss von Industrie- und Finanzkonzernen mittels Lobbyismus (wie auch schon Jahrzehnte bekannt in seiner institutionalisiertenForm z.B. über Conseil on Foreign Relation [1921], Atlantikbrücke [1952], Bilderberg-Konferenz [1954], World Economic Forum [1971], Trilaterale Kommission [1973], Group of Thirty [1978]) auf Staat und Gesellschaft. Der Staat wird vom gesamtgesellschaftlichen Interessenvermittler und Agent fürs Kapital zu einem ökonomischen und polit-sozialen integralen Bestandtteil des Kapitals selbst: Die Herrschaft des Staatsmonopolistischen Kapitalismus (STAMOKAP) bildet und etabliert sich.

Seit den 1980er Jahren, nachdem es schon in den 1970ern mit der Aufhebung der Goldbindung des USA-Dollars, der keynsianistischen Staatsverschuldungs-politik zur Überwindung zyklischer Wirtschaftskrisen und der Ablösung des politischen Kolonialismus durch den wirtschaftlichen gekommen war, gelang es dem Finanzkapital ausgehend vom anglo-amerikanischen Raum (Thatcherismus 1979-1990; Reaganomics 1981-1993), mehr und mehr das Staatshandeln kaum verdeckt zu korrumpieren, um staatliche oder gemeinwirtschaftliche Tätigkeitsfelder zu privatisieren und staatliche Regulierungen auszuhebeln. Dies war auch möglich wegen der zunehmenden Staatsverschuldung, die mit einer Abhängigkeit vom internationalen Finanzmarkt einhergeht.

Diese Ausweitung des Finanzmarktsektor und die Ausbildung zunehmend parasitärer Geschäftsfelder und Sektoren führte auch zu erhöhter Krisenanfälligkeit seit Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts: 1998: Zypernkrise, 2000: Dotcom-Blase, 2007/8: US-Hypothekenkrise und Weltfinanzkrise, 2009: Griechenlandkrise, 2011: Eurokrise, Herbst 2019: Einbruch des Repomarktes und März 2020: weltweiter Finanzeinbruch (Ernst Wolff 2020[2]) Diese Krisen im Finanzsystem beinhalten das Potential eines Zusammenbruchs des gesamten Weltfinanz- und damit Weltwirtschaftssystems (Krall, Otte, Friedrichs, Wolff, Kaufmann/Muzzupappa, 2020[3]). Auch gefährden sie die Macht der Herrschenden, wenn offensichtlich wird, dass die Rettung des Finanzsystems zu einer tiefgreifender Ausplünderung und Verarmung breiter Volksmassen führen muss. Denn die Regierungen der großen Wirtschaftsräume hatten Schulden aufgenommen, um einen Großteil der privaten „faulen“ Finanzanleihen zu garantieren und das Finanzsystem zu stützen. „So verdoppelten sich die weltweiten Staatsschulden zwischen 2007 und 2019 auf 70 Billionen US-Dollar. Staatliche und private Schulden addiert, erreichten 2019 den Rekord von 255 Billionen US-Dollar. Das entsprach über 320% der Weltwirtschatfsleistung. Und bedeutet: Die globale Wirtschaftsleistung war noch stärker durch Kredit vorfinanziert und dadurch aufrecht erhalten worden.“ (Kaufmann/Muzzupappa, 2020)

Unter dem Deckmantel der Corna-Krise konnte nicht nur der Zusammenbruch des Finanzsystems; sondern auch seine Rettung mit Milliarden Steuergeldern versteckt werden. Allein die EU schüttete 2020 für ihre Mitgliedsländer 500 Mrd. Euro an Zuschüssen und 250 Mrd. Euro an Darlehn aus (Europäische Kommission: Eurostat/Statista), hinzu kommen allein für die BRD 2020 haushaltswirksame Maßnahmen von 353,3 Mrd € und Garantien von 819,7 Mrd. €. (BMF) und eine Aussetzung der Schuldenbremse mit einer Schuldenüberschreitung im Bundeshaushalt von 164,2 Mrd. €. (BMF).

(2) Mit der Rettung des Finanzsystems soll zugleich aber auch der digital-finanzielle-Komplex gestärkt werden. Deshalb beinhalten die sog. Coronahilfen auch immer Förderung der Digitalisierung in jedweder Form. Dieser digital-finanzielle Komplex besteht aus (a) den Digitalgiganten Amazon, Google, Mikrosoft, Netflix, Apple, (b) den Wallstreet-Banken ergänzt um USB-Schweiz, Deutsche Bank und HSBC-Bank sowie (c) den größten Vermögensverwaltungen Blackrock, Vaneguard u. a. Diese gelten jetzt schon jetzt durch die Politik der „Lockdowns“ als die Profiteure der Corona-Krise.

Einher mit der Krise ging und geht die Erschließung von Geschäfts- und Profitfelder im Bereich neuer Technologien wie im Energiesektor, bei der weiteren Digitalisierung, innerhalb von Computer-, Multimedia- und Telekommunikation sowie von mathematisierter Wissenserschließung und -vermarktung für Waren und Dienstleistungen. Hierzu gehört auch das Geschäftsfeld der Biotechnologie mit eigener Medizintechnik und (vorsorgenden) Gesundheitstechnologie.

Eingang Technisches Museum.jpg

Unter Biotechnologie versteht man die Form von marktbezogener Wissenschaft, die sich mit der Nutzung von Enzymen, Zellen und Kleinorganismen und deren technologischen Anwendung beschäftigt. Ziel sind Diagnosemethoden und Heilverfahren auf der Basis chemischer Verbindungen.

Moderne biotechnische Verfahren kommen im 20. Jahrhundert im Kontext der Chemieindustrie auf und umfassen mikrobielle und enzymische Umwandlung organischer Stoffe. Mit der Klärung von Struktur und Wirkungsweise der Desoxyribonukleinsäure (DNA) und den damit einhergehenden Möglichkeiten der Beeinflussung bis Veränderungen des Erbgutes startete 1990 das Humangenomprojekt mit dem Ergebnis der Entschlüsselung und Sequenzierung des menschlichen Genoms. Darauf baut Gentechnik, Gentherapie und Stammzellenforschung auf, mit deren Hilfe rekombiniert hergestellte Proteine der Pharmazie zugänglich gemacht wurden.

Das Marktvolumen dieser biotechnischen Unternehmen (Pflanzen-, Tier- und Menschenbereich) erreichte 1999 ein Nettovolumen von 10 Mrd. US-Dollar. Eine spezielle Untergruppe in der Biotechnologie stellt die sogenannte „Rote Biotechnologie“ mit ihren gentechnischen Anwendungsbereichen für den Menschen dar. In der sog. Coronakrise erlangte sie mit mRNA (messenger ribonucleic acid)-Impfstoffen besondere Bedeutung als einsträngige Säure mit genetischen Informationen.

(3) Im Zusammenhang mit der weltweiten Coronahysterie 2020/2021 wurde für die Arzneimittelindustrie und speziell für Impfstoffhersteller ein ungeheuer großer Markt aufgeschlossen, zumal propagiert wurde, dass die gesamte Menschheit (B. Gates) und in Deutschland fast die gesamte Bevölkerung (A. Merkel) geimpft werden solle und auch müsse. Deshalb schätzt das Finanz- und Analyseunternehmen „Morningstar“ für 2021 ein zu erwartetes Umsatzvolumen von 67 Mrd. US-D für Covid-19-Impfstoffe (Der Umsatz der Rüstungsindustrie umfasste 2019 166 Mrd. US-D).

(4) Zwei dieser Biotech-Unternehmen sollen etwas näher betrachtet werden: BioNTech und CUREVAC.

Biontech (=Biopharmaceutical New Technologies) mit dem Ziel der Entwicklung von Medikamenten auf mRNA-Basis für die Krebstherapie wurde 2008 mit staatlicher Unterstützung gegründet. Vorausgegangen war die erfolgreiche Teilnahme der am Unternehmen beteiligten Forscher an der vom ganzdeutschen Bundesministeriums für Forschung und Technologie initiíerten Gründungsoffensive Biotechnologie 2005, um diesen Sektor nach dem Zusammenbruch des „Neuen Marktes“ Anfang der Nullerjahre wieder zu beleben. Unter den 58 zu fördernden Projekten befand sich auch eines zur Krebsbekämpfung der Medizinischen Klinik der Universität Mainz. Im Zusammenhang mit diesem Projekt kam es zur Unternehmensgründung. An ihr beteiligt waren die die Onkologen Christoph Huber (*1944), Ugar Sahin (*1965), die Ärztin Özlem Türeci (1967) sowie als Kapitalgeber die Zwillingsbrüder Andreas und Thomas Strüngmann (*1950); diese stiegen mit 180 Mio US-Dollar ins Unternehmen ein. Die Strüngmann-Brüder kamen aus einem Elternhaus, das vormals die Generika-Firma Durachemie (1950) und 1986 die Generika-Firma HEXAL (Holzkirchen in Bayern) besaß. Nach dem Verkauf dieser Firma 2005 an die Schweizer NOVATIS-Gruppe für 7,5 Mrd. US-Dollar stiegen die Brüder in die Exklusivgruppe der Welt-Milliardäre auf. 2003 gründeten sie die Stiftung „Frankfurt Institut for Advanced Studies“, ein public-private-partnership-Projekt mit der Universität Frankfurt, der Max-PlanckGesellschaft etc. und eben BioNTech. Nach der Gründungsphase 2008-2013, begann 2014-2018 die Zeit der Kommerzialisierung mit erweiterter Forschung, Patentanmeldungen und Publizierung; so dass 2019 der Börsengang an der Nasdaq als BNTX mit 150 Mio US-Dollar erfolgte. Es kam zu einer Kooperation mit J.P.Morgan, Merrill Lynch, UBS, SBB, so dass die Bewertung des Unternehmens rasch auf 3,1 Mrd. US-Dollar stieg. Ebenfalls 2019 fand eine Kooperation mit der Gates-Foundation statt.

Mit der Corona-Krise ging im März 2020 eine Zusammenarbeit mit Pfizer und Forsun Pharma (Shanghai) einher. Sie führte zur Entwicklung des Covid-19-Impfstoffes Tozinameran. Im September erhielt BioNTech-Pfizer von der BRD- Fördermittel in Höhe von 325 Mio. Euro und einen Kredit der Europäischen Zentralbank [EZB] (als von 19 Staaten der Europäischen Union [EU], der sogenannten Eurozone) von 100 Mio. Euro. Im Dezember 2020 erfolgte die vorläufige Zulassung des Impfstoffes, der zunächst überteuert zu 54,08 Euro je Impfdosis den Regierungen angeboten wurde.

Das Unternehmenkonsortium BioNTech plant bis 2023 in Singapur eine Produktionsanlage für mRNA-Impfstoffe und Therapeutika mit einer Kapazität von 100 Mio Impfdosen pro Jahr und einem Umsatz von 5 Mrd. US-Dollar. Auch die anderen Covid-Impfstoffentwickler erhöhen ihre Produktionskapazitäten – sei es durch neue eigene Produktionsstätten, sei es durch Zusammenarbeit mit fremden in- und ausländischen Herstellern von Impfstoffen und Arnzeimittel: die EU hat zu Jahresbeginn 2021 2,3 Mrd. Impfdosen bestellt, darunter 600 Mio bei BioNTech-Pfizer, 405 Mio bei Curevac, 400 Mio bei Astrazeneca und 400 Mio bei Johnson&Johnsen (so der der stern 1. 2. 2021); denn es gilt, etwa 80% der EU-Bevölkerung durchzuimpfen.

Das biopharmazeutische Unternehmen Curevac wurde 2000 aus einem akademischen Forschungsprojekt (Biologie, Chemie, Immunologie) der Universität Tübingen heraus gegründet von Günther Jung (*1937), Hans-Georg Rammensee (*1953), Igmar Hoerr (*1968), Florian von der Mülbe und Steve Pascolo (*1970) und von der Landesregierung Baden-Württemberg durch Bereitstellung von universitären Laborräumen und -materialien gefördert. 2003 wurde in Tübingen eine internationale Konferenz zu mRNA-Heilmethoden durchgeführt und das Biologiezentrum Tübingen mit 18 Mitarbeitern eingerichtet. 2006-2014 finanzierte Dietmar Hopp (*1940, Mitgründer der IT-Firma Systemanalyse und Programmentwicklung [SAP]) mit seiner „Dievini Hopp BionTech Holding“ Curevac zunächst mit 80 Mill. Euro; 2012 hielt Hopp 90% des 145 Mio Euro umfassenden Kapitals, im Februar 2015 engagierten sich auch die Bill und Melinda Gates Stiftung mit 46 Mio Euro und Böhringer Ingelheim mit 35 Mio Euro an diesem Unternehmen; 2016 kamen als weitere Investoren die L-Bank (Ba-Wü) und die Baden-Württembergische Versorgungsanstalt für Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte mit 26,5 Mill. Euro hinzu, 2017 der US-Pharmakonzern Elly&Co mit 45 Mio und die EIB mit 75 Mio Euro. Allerdings scheiterte 2017 das Vorhaben der Entwicklung eines mRNA-Krebs-Impfstoffs. Im Mai 2018 wurde der US-Manager Daniel B. Menichella Vorsitzender des Aufsichtsrates von CureVac. Im Februar 2019 wieder traf Cepi, die Impfallianz der Gates-Stiftung, eine Vereinarung in Höhe von 34 Mio US-Dollar mit Curevac über die Entwicklung von Impfstoffen. Mit der Corona-Krise sprudelte geradezu das Geld: zum Beispiel beteiligte sich im Juni 2020 die BRD über die KfW mit 300 Mio. Euro und erlangte einen 23% Anteil am Unternehmen, im Juli 2020 unterzeichneten Curevac und der britische Pharma-Konzern GlaxoSmithKlein einen Kooperationsvertrag über die Entwicklung von Impfstoffen auf mRNA-Basis über 150 Mio. Euro, im September 2020 erhielt das Unternehmen öffentliche Fördermittel in Höhe von 252 Mio Euro für die Entwicklung von Impfstoffen gegen Corona. Zuvor ging das Unternehmen im August an die US-Börse Nasdaq, wo es mit 2,3 Mrd. US-Dollar bewertet wurde. Aktien-Haupteigentümer sind „Dievini Hopp BioTech Holding“ mit 49,5%, KfW mit 17% und Glaxo mit 18,5%.

Diese beide Firmengeschichten verdeutlichen: Sie entwickelten sich als sogenannte start-ups erst als Großinvestoren einen profitablen Markt zu erkennen glaubten, etwa um die Jahre 2018/19, der Staat sich mit Steuermitteln auch finanziell beteiligte und das Produkt, hier Impfungstoff, auch institutionell abgesichert werden konnte.

In einem Interview in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ 23. 2. 2021) erzählte der Curevac-Mitgründer Igmar Hoerr unter anderem, dass er und Florian von der Mülbe ursprünglich einen Masernimpfstoff entwickeln wollten, jedoch für diesen „Cent-Markt“ keine Investoren fanden: „Wir waren damals unterwegs Geld einzusammeln. Und wenn wir mit Impfstoffen für Infektionskrankheiten gekommen wären, hätte uns niemand Geld gegeben. Wir waren durch den Markt gezwungen.“ (SWR aktuell 11. 12. 2020) Deshalb orientierten sie sich auf einen Massenimpfstoff zur Tumortherapie. 2003 sei es zu einem Treffen mit Friedrich von Bohlen aus der Krupp-Familie, selbst ein Biotech-Gründer, gekommen. Zu diesem Treffen habe er den Schweizer Investmentbanker Chris Tanner mitgebracht. Nach der Präsentation ihres biotech-start-up habe von Bohlen gemeint: „Herr Hoerr, wenn das wirklich klappt, werden Sie einen Millionenmarkt haben. Ihre Firma wird eine Revolution auslösen.“ Deshalb investierte von Bohlen 2004 in Curevac und gewann auch Dietmar Hopp (SAP), der dabei war, selbst eine Biotech-Holding aufzubauen, als weiteren Financier. Beide erkannten, dass langfristig gesehen mit mRNA-Methoden, die anregen könnten, jedes Protein im Körper zu produzieren, die „molekulare und digitale Transformation der Medizin“ (Business Insider 28. 10. 2020) eingeleitet und ein weltweiter neuer Markt erschlossen werden würde. Hopp wiederum stellte die Verbindung zu Bill Gates, den die Junggründer in Paris trafen und der sich 2015 an der Firma beteiligte, her. Auch zum TESLA-Chef Elon Monk bestehen Verbindungen im Zusammenhang mit dem Vorhaben, mRNA-Drucker für die individualisierte Krebstherapie herzustellen.

Angesichts dieser Marktaussichten intervenierten die deutschen Biotech-Unternehmen BioNTech und Curevac auch erfolgreich bei der Bundesregierung Merkel und der EU, um die Forderung der Biden-Administration, die Impfstoffpatente offen allen Staaten zur Verfügung zu stellen, zurückzuweisen. Von Bohlen erklärt: „Zum ersten Mal in der Biotech-Geschichte kommen zwei oder drei (erfolgreiche) Firmen nicht aus den USA. […] Wenn die Firmen alle Amerikaner wären, glaube ich nicht, dass sie [die US-Amerikaner] diesen Vorschlag gemacht hätten.“ (The Irish Times 19. 5. 2021)

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Schließlich wird die im Zusammenhang mit Corona geführte agressive Impfstoffkampagne auch als Türöffner für weitere Geschäftsfelder betrachtet. So teilte von Bohlen im angeführten Interview mit, er habe mit „Molecular Health“ eine Datenbank gegründet, die auf „molekularer Ebene den biologischen Prozess im Körper analysiert und aufzeichnet, um Krankheiten an gezielte Medikamente anzugleichen“ (The Irish Times 19.5.2021).

(5) Am Beispiel der Biotech-Technologie lässt sich exemplarisch der sogenannte „wissenschaftlich-technische Transformationsprozess“ im STAMOKAP nachzeichnen. Hier geht es nicht allein um die Durchdringung des Staates durch Monopole und die damit einhergehende Unterordnung von Politik und Gesellschaft unter Monopolinteressen, sondern der Staat agiert eigenständig, um über Förderung von Innovationen den Gesamtprozess der Kapitalakkumulation in Gang zu halten. Dabei bildet sich folgendes Muster heraus: Staatliche Förderung von zumeist von Hochschulforschern gegründeten start-up-Unternehmen ? Beteiligung privater Geldgeber ? Einstieg verschiedener internationaler Investoren ? Börsengang ? Erschließung neuer Märkte sowohl mithilfe massiven staatlichen Finanzförderung als auch in politischer Hinsicht ? nationale Erprobungsphase ? internationaler Konkurrenzkampf der Unternehmen und Staaten um neue Märkte. Und die makabre Ironie des Gesamtvorgangs: infolge der Staatsinitiative am Beginn dieses Prozesses erscheint es schlichten Gemütern als handelte es sich um sozialistische Maßnahmen.

Über alle Description oder Prozessbeschreibungen hinaus lassen sich zwei Grundzüge als Muster analytisch erkennen: einmal handelt es sich um reale sozioökonomische und organisationssoziologische Entwicklungen im letzten Jahrzehnt der globalen Bipolarität, den 1980er Jahren, die den erheblich angestiegenen wirtschaftlichen und politischen Machtballungen[4] entsprechen; und zum anderen bildete sich in den 1980er Jahren im finanzkapitalistisch entwickelten Westen ein mehrstufiges Verfahren zum Investitionsprozess heraus (mit in Deutschland besonders wirksamen staatsinterventionistischen), das anfänglich in kleinen Einheiten, oft Projekten, und zunehmend als start up begann und schließlich nach Übernahmen durch finanzstarke Gruppierungen zu global tätigen Unternehmen mit global finanzoligarchischer Dominanz führte.

(6) In diesem Kurzbeitrag wurde aufgezeigt, dass es sich bei der Erschließung des Geschäftsfeldes Biotechnologie zusammen mit Medizin- und Gesundheitsvorsorgetechnik um ein langfristiges Projekt handelt, das viel Kapital sei es aus öffentlichen Steuermitteln sei es von Anlage suchenden Privatinvestoren aufsaugt. Vor allem Privatinvestoren erwarten Gewinn auf ihr vorgeschossenes Kapital. Und auch wenn das Finanzkapital wild spekuliert … Profite lassen sich letztlich nur in der Realwirtschaft erzielen. Und da das ursprüngliche Ziel von BioNTech und Curevac, ein Krebsmittel auf mRNA-Basis zu entwickeln, nicht erreicht wurde, es überhaupt offen bleibt, die Krebskrankheit ausrotten zu können, kam die sogenannte Corona-Pandemie mit seinem „dummen Virus“ (Hoerr) wie bestellt, um mit dem relativ einfach herzustellenden mRNA-Impfstoff gegen Covid 19 Renditeerwartungen zu erfüllen. Immerhin kostete eine Impfstoffdosis von Biontec 12 €, von Curevac 10 €, von Moderna 14,69 €, von AstraZeneca 1,78 € und von Johnsen&Johnsen 6,44 € (Business Insider 18. 12. 2020). Allerdings sind dafür Massenimpfungen erforderlich. Insofern liegen Merkel und Gates richtig wenn sie fordern, dass nicht nur ganz Deutschland, sondern die ganze Welt geimpft werden müsse.

[1] Wirtschaftslexion 24. Ausgabe 2020;

http://www.wirtschaftslexikon24.com/d/stamokap/stamokap.htm

[2] Ernst Wolff; Finanz-Tsunami. Wie das globale Finanzsystem uns alle bedroht. Edition e. wolff 2017, 192 S.

[3] Stefan Kaufmann; Antonella Muzzupappa, Crash Kurs Krise. Wie die Finanzmärkte funktionieren. Eine kritische Einführung. Berlin: Bertz+Fischer, 2020, 175 S.

[4] Immanuel Wallerstein et.al., Dynamics of Global Crisis. London: Macillan, 1982, 248 p.; James S. Coleman, The Asymmetrical Society. New York: Syracuse University Press, 1982, xii/191p.

Wilma Ruth Albrecht ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.) mit Arbeitschwerpunkten aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie veröffentlichte zuletzt Max Slevogt 1868-1932 (Hintergrund Verlag 2014), PFALZ & PFÄLZER. LeseBuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (Verlag freiheitsbaum 2014) sowie ihr vierbändiges Werk ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza 2016-2019). Der Beitrag schließt an an meine Aufsätze Finanzoligarchie (in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 91/2020: 72-79) und Krisenhaft beschleunigter Epochenbruch? (in: soziologie heute 77/2021: 10-14). Korrespondenzadresse dr.w.ruth.albrecht@gmx.net ©Autorin (2021)

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Oben  —   Die „Schöpfer“ des Marxismus-Leninismus: Marx, Engels, Lenin und Stalin (Demonstration zum 1. Mai 1953, Ost-Berlin)

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Nestlé muss aufräumen

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2021

Nestlé: Schon wieder Ärger in Vittel

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Quelle      :        INFOsperber CH.

von  Tobias Tscherrig /   

Unweit der Abfüllanlage von Nestlé Waters in Vittel kommen immer mehr wilde Deponien mit verrotteten Plastikflaschen zum Vorschein.

Der multinationale Nahrungsmittelkonzern Nestlé mit Sitz in Vevey und die französische Gemeinde Vittel im Département Vosges: Das ist keine Liebesgeschichte. Immer wieder stand der Nahrungsmittelkonzern in der Kritik, weil der Wasserspiegel in der Region seit Jahren sinkt. Die Schuldigen waren rasch gefunden: Nestlé Waters und eine industrielle Käserei pumpen das Wasser ab. Im Fall von Nestlé wird es in Flaschen gefüllt und unter der Marke «Vittel» verkauft.

Die Aufregung um den sinkenden Grundwasserspiegel schlug vollends in Empörung um, als eine Pipeline gebaut werden sollte, mit der die Einwohnerinnen und Einwohner von Vittel mit Wasser aus den umliegenden Gemeinden versorgt werden sollten. Aufgrund des grossen Drucks musste das Projekt begraben werden, Nestlé verpflichtete sich, die geförderte Wassermenge zu reduzieren.

Zusätzlich gab es eine Klage wegen angeblich illegaler Wasserentnahmen und einen Prozess gegen eine lokale Mandatsträgerin wegen illegaler Bevorzugung zugunsten des Nahrungsmittel-Konzerns. Französische und luxemburgische Medien berichteten in grossen Reportagen über ein «System der Einflussnahme», das sich der Konzern in Vittel aufgebaut haben soll.

Klage gegen Whistleblower

Danach kehrte etwas Ruhe ein, die negativen Schlagzeilen um die Geschäftstätigkeiten von Nestlé in Vittel verschwanden aus den grossen französischen Medien. Doch seit Ende April steht dem Nahrungsmittelkonzern weiterer Ärger ins Haus. Die Umweltschutzorganisationen «Eau 88» und «France Nature Environnement» publizierten Bilder, die unweit der Abfüllanlage von Nestlé Waters in Vittel aufgenommen wurden. Darauf sind unzählige verrottete Plastikflaschen zu sehen, die aus dem Boden ragen. Die grossen Medien in Frankreich berichteten prominent über das Thema.

Erst war die Rede von zwei wilden Deponien, die ein Whistleblower entdeckt und gemeldet hatte. Der betreffende Whistleblower, ein ortsansässiger Landwirt, soll daraufhin gemäss Umweltschutzorganisationen von einer Nestlé-Tochtergesellschaft wegen Einbruch und Sachbeschädigung mit einer Klage belegt worden sein. Der Landwirt sei von der Gendarmerie einvernommen worden. Er habe sich auf den Standpunkt gestellt, dass es keinen Einbruch gegeben habe, da das Tor offen gewesen sei. Auch sei kein Schaden entstanden. Das Loch, das man gegraben habe um die unterirdische Deponie zu erreichen, habe man anschliessend wieder aufgefüllt. Zusätzlich habe der Landwirt in einer eidesstattlichen Erklärung gesagt, dass «Nestlé den Standort seiner Mülldeponien immer gekannt hat.»

Erst waren es zwei, jetzt neun wilde Deponien

Inzwischen ist die Zahl der wilden Deponien auf insgesamt neun gestiegen. Die zusätzlichen sieben belasteten Standorte hatte Nestlé selbst bekanntgegeben.

Vier der betroffenen Standorte sollen mit Kunststoffabfällen belastet sein, fünf Standorte mit Bauschutt. Die Deponien sollen aus den 60er- und 70er-Jahren stammen: Damals begann Vittel, von Glas- auf Plastikflaschen umzusteigen. Nestlé Waters wurde 1969 Aktionär der «Société des Eaux de Vittel», bestreitet gemäss französischen Medien aber jegliche Beteiligung an den wilden Deponien: «Wir waren zu diesem Zeitpunkt nicht Mehrheitsaktionär und hatten keine Kenntnis von diesen Deponien.»

Trotzdem verlangen französische Umweltschutzorganisationen die rückstandslose Sanierung der betroffenen Gelände.

Nestlé muss aufräumen

Der Nahrungsmittelkonzern aus der Schweiz hat sich in der Zwischenzeit dem öffentlichen Druck gebeugt: «Nestlé Waters hat sich verpflichtet, diese historischen Abladeplätze zu sanieren und die von den Behörden validierten Empfehlungen umzusetzen», sagte eine Sprecherin gegenüber dem «Beobachter». Obwohl diese Deponien aus einer Zeit stammen würden, als Vittel noch nicht zu Nestlé gehört habe.

Aber Nestlé bleibt auch nicht viel anderes übrig, als zu reagieren und den Image-Schaden zu begrenzen. Mit dem sogenannten Agrivair-Programm, das nach Nestlé-Angaben dafür sorgen soll, «die Qualität der Wasserressourcen in der Gegend von Vittel zu schützen», rühmt Nestlé die Zusammenarbeit zwischen Nestlé Waters Frankreich und dem französischen Nationalen Institut für Landwirtschaftliche Forschung, spricht von «25 Jahren Innovation im Dienste der Umwelt» und erklärt, dass Agrivair eine zukunftsorientierte, innovative Landnutzung geschaffen habe, welche die ökonomischen Aktivitäten und den Schutz der Biosphäre in Einklang bringe.

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Auf welche Höhen ihr Aktienpaket unterdessen angewachsen ist, bleibt im Dunkeln.

Zwar geht es bei «Agrivair» in erster Linie um den Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln von Landwirtinnen und Landwirten und die damit einhergehende Gefahr einer Verschmutzung des Grundwassers, was sich natürlich negativ auf das Nestlé-Geschäft in Vittel auswirken würde. Aber wer sich den Schutz der Biosphäre auf die Fahnen schreibt, muss auch die historischen Altlasten im eigenen Vorgarten entfernen. Vor allem auch, da Plastik Grundwasser verschmutzen kann.

«Recycling funktioniert nur, wenn alle mitmachen»

Dann schreibt Nestlé auf der eigenen Internetseite, PET-Flaschen seien «nachhaltiger als ihr Ruf». Das Ziel von Nestlé Waters sei es, global bis 2025 mindestens 50 Prozent recycletes Material einzusetzen. «Klar, dass Recycling nur funktioniert, wenn alle mitmachen», mahnt Nestlé und schreibt von der Kreislaufwirtschaft, zu der es gehöre, dass «Abfälle verwertet und enthaltene Rohstoffe wiederverwendet werden.» Nestlé setze sich durch gezielte Projekte dafür ein, dass «PET-Flaschen auf der ganzen Welt über Mülltrennung und nationale Sammelsysteme richtig entsorgt werden.»

Vor dem Hintergrund derartiger Sätze ist klar, dass Nestlé nicht anders kann, als die Altlasten im eigenen Vorgarten zu entsorgen. Alles andere würde weitere und deutlichere Negativ-Meldungen mit sich bringen. Inzwischen hat sich Nestlé Waters gemäss einem Bericht von «Le Temps» verpflichtet, für die Sanierung von vier ehemaligen Kunststoffdeponien zu zahlen.

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Oben        —       Critérium du Dauphiné 2013 : quatrième étape en contre-la-montre à Villars-les-Dombes. Arrivée au Parc des oiseaux.

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Menschenrechte+Tagesschau

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2021

Menschenrecht nach Tagesschau-Maß

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Würde und Ansprüche des georgischen Spargelstechers zählen weniger als der Schmutz an seinen Arbeitsstiefeln

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

In Wahlkampfzeiten wie diesen fällt sie besonders ins Auge: unsere gnadenlose deutsche Rechthaberei, gekleidet in hehren Anspruch gegenüber anderen Staaten und deren Regierungen. Menschenrechte! Ihre Beachtung müsse besonders von Russland und China gefordert und mit transatlantischer Sanktions-Gewalt durchgesetzt werden, belehren uns die herrschenden Parteien, voran die NATO-oliv-Grünen, während westliches Militär beide Länder einkreist. Die Tagesschau vermeldet es brav (1) und vermeidet jegliche Einordnung. „Wir“ sind schließlich immer die Guten, vor unserer eigenen Tür ist allemal bestens gekehrt.

Vergessen die Warnung des Philosophen und Aufklärers Jean-Jacques Rousseau:

Nehmt euch vor diesen Kosmopoliten in Acht, die in ihren Schriften aus weiter Ferne Pflichten herholen, deren Erfüllung sie in Bezug auf ihre eigene Umgebung verächtlich zurückweisen. Ein solcher Philosoph liebt die Tataren, um dessen überhoben zu sein, seine Nachbarn zu lieben.“ (2)

Wir haben uns längst an die Besessenheit gewöhnt, mit der die Berliner Politdarsteller und ihre Durchlauferhitzer in den Mainstreammedien lautstark die Wahrung der Menschenrechte fordern, mit Blick nach Moskau oder Beijing. Geradezu klassisch die Tagesschau-Berichterstattung über das Treffen der NATO-Spitzen unter ihrem US-Anführer Joe Biden. (3) Von NATO-Plänen für eine offensive „Neuausrichtung“ auf China und Russland war da die Kraftmeierei; die militanten und aggressiven Vertreter des Wertewestens versuchten dem friedenswilligen Rest der Welt einmal mehr weiszumachen, dass Drohungen, Bezichtigungen, Hochrüstung und aggressive Propaganda Ausdruck erfolgversprechender Diplomatie seien – weil dahinter eine gute Sache stehe.

Unsere „Verfassung im Kleinen“, der Grundgesetz-Artikel 20, definiert Deutschland als föderale Demokratie, als Rechtsstaat und Sozialstaat. (4) Auch die Präambel sowie die Artikel 1, 9 und 25 verpflichten uns zum Frieden und zum Respekt vor den Menschenrechten weltweit. (5) Wie wenig das Grundgesetz noch die Realität unseres Gemeinwesens formt, könnte uns allerdings bereits ein Blick auf unsere 2,6 Millionen in Armut lebenden Kinder lehren. Weiterhelfen könnten auch eine gründliche Befassung mit den menschenfeindlichen Umtrieben unserer Geheimdienste oder das Nachdenken über die völkerrechtswidrigen, nicht von den UN gedeckten Bundeswehr-Auslandseinsätze. Ganz zu schweigen von deutscher Mitwisserschaft und direkter Mittäterschaft bei den zahllosen extralegalen Hinrichtungen und Massakern der USA (per Drohnen zum Beispiel).

Heuchelei ist deutsche Staatsräson

Auf der Suche nach dem Verbleib der Menschenrechte im NATO-Einflussbereich wäre zudem ein Blick ins Schatzkästlein der USA angeraten: Todesstrafe und grausame Hinrichtungsmethoden, vollkommene Rechtlosigkeit im Foltergefängnis Guantanamo, rassistische Übergriffe der US-Polizei gegen die eigenen Bürger, anarchische Wahlverfahren, unzählige Kriegsverbrechen in allen Ländern, die von der US-Soldateska heimgesucht wurden (6) … Davon, dass ARD-aktuell die Erinnerung an all diesen Schrecken in uns wachhielte, kann keine Rede sein. Schon gar nicht, wenn wieder mal Kanzlerin Merkel oder Außenminister Maas die deutsche Bündnistreue zum „Partner“ USA beschwören. Erst recht erweisen Tagesschau-Sendungen sich nicht als informativ bezüglich der systematischen Menschenrechtsverletzungen in „befreundeten“ Ländern wie Kolumbien, Saudi-Arabien oder Israel. (7)

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Mit dem deutschen Menschenrechtsverständnis ist es wahrlich nicht weit her. Das lässt sich am „Lieferkettengesetz“ aufzeigen, das kürzlich vom Bundestag beschlossen wurde. (8) Es ist ein Musterbeispiel für die bei uns übliche „Werte“- Heuchelei. Politiker und Journalisten der tonangebenden Medien hatten die Schamlosigkeit, dieses Gesetz als ersten Schritt zu humanen Produktionsverhältnissen, zur Bekämpfung der Kinderarbeit und der an Sklaverei grenzenden Unterdrückungsstrukturen in aller Welt auszugeben. (9) Es ist jedoch kaum mehr als eine Beruhigungspille für engagierte Gutmenschen. Es tastet die vom Westen geschaffenen Ausbeutungsverhältnisse nicht an. Dem kapitalistischen Profitstreben setzt es keine Grenzen. Es erstrahlt jedoch im typischen Berliner Glamour „so tun, als ob.“ Exakt nach Lehrbuch „1984“, präziser noch nach Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. (10)

Ungewöhnliches Eingeständnis

Der Tagesschau ist zugute zu halten: Im Fall „Lieferkettengesetz“ hat sie sich manchmal als bedingt kritischer Begleiter des Gesetzgebungsverfahrens erwiesen. Manchmal.

Im Handel und der Produktion verletzen Unternehmen im Zuge der weltweiten Wertschöpfungs- und Lieferketten immer wieder grundlegende Menschenrechte. Dazu zählen Kinderarbeit, Ausbeutung, Diskriminierung und fehlende Arbeitsrechte. …“ (11)

Die Redaktion lässt mit dieser Formulierung immerhin den Rückschluss zu, dass auch deutsche Unternehmen sich der Menschenrechtsverletzung schuldig machen. Leider konkretisiert sie das nicht weiter, Namen nennt sie nicht. Dass Konzerne wie Siemens, Bayer, BASF und Daimler zwecks Verhinderung möglicher Menschenrechtsverletzungen einem konkreten Regelwerk unterzogen und ihre ausländischen Produktionsstätten und Zulieferer stärker überwacht werden müssten, wird nicht thematisiert. (12) Soviel Mut vor Fürstenthronen und Geldsäcken war denn doch wieder nicht bei ARD-aktuell.

Die Anonymität der deutschen Menschenrechtsverletzer in Industrie und Handel bleibt gewahrt. Der Wahlbürger soll keine konkrete Vorstellung davon erhalten, dass und wie unsere Begüterten ihre Sklavenhaltung gestalten. Schon Karl Marx wusste:

Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn …, für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert …“ (13)

Namen sind Nachrichten. Deshalb führt ARD-aktuell in ihren Beiträgen nur solche Firmen auf, die sich mit den Regelungen des Lieferkettengesetzes aus unterschiedlichen Gründen einverstanden erklärt haben: Tchibo, Ritter Sport, Nestlé Deutschland und Hapag Lloyd. Die können das nun werbend für sich nutzen.

Die hohe Kunst der Manipulation

Dass das Lieferkettengesetz auch diesen „Edlen“ nicht allzu viel Menschenfreundlichkeit abverlangt, haben Lobbyisten, Kanzlerin Merkel und Wirtschaftsminister Altmaier sichergestellt. Es mag ja sein, dass Arbeits- und Sozialminister Heil und Entwicklungshilfeminister Müller ursprünglich Besseres und echte Veränderungen erreichen wollten. Unbeirrbarkeit und Standfestigkeit bewiesen beide aber nicht. Konsequenz: Wenn deutsche Firmen die Rechte der im Ausland Ausgebeuteten verletzen, wenn sie Leben und Gesundheit dieser Ärmsten gefährden oder ihre natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, dann brauchen sie auch weiterhin keinen Schadenersatz zu leisten.

Hinsichtlich ihrer ausländischen Kooperationspartner in der Lieferkette haben unsere Unternehmer ohnehin keine gravierende Sorgfalts- und Überwachungspflicht zu erfüllen. Staatliche Kontrollinstanzen sind zwar vorgesehen, doch ob sie effizient arbeiten können und werden, steht in den Sternen. Das Lieferkettengesetz gilt eh nur für einen kleinen Kreis von im Ausland aktiven Unternehmen, für Betriebe mit mehr als 3000 Beschäftigten. Und es soll erst ab 2023 wirken. (14)

Dass der Schutz der Schwächsten unseren Parlamentsparteien mehrheitlich vollkommen gleichgültig ist, zeigte die Fraktion Bündnis90/Die Grünen in den Debatten über dieses Lieferkettengesetz. Lange unterstützten ihre Abgeordneten das ursprünglich sehr zielorientierte Vorhaben und rissen dabei die Klappe mächtig weit auf. Doch mit der vagen Aussicht aufs Kanzleramt und damit auf die Pflicht, ein strammes Gesetz selber an deutschen Unternehmern vollstrecken zu müssen, stimmten sie doch lieber seiner kastrierten Variante zu, wie von der Wirtschaftslobby gewünscht.

Auch in der Politik gilt: Zuviel Rückgrat stört. Also: Freie Fahrt für deutsche Menschenrechtsverächter in Fernost, in Südamerika oder in Afrika. (15) Die Rote Karte wird nur gegen Russland und China gezückt, vor allem, weil es Washington in den aggressiven Kram passt, beide als „Feindstaaten“ zu definieren. (16) Das wiederum nützt dem militärisch-industriellen Komplex der USA.

Wo bleibt das Positive? Ausnahmsweise hatte ARD-aktuell etwas zu bieten, wenn auch nur in Form eines Kommentars, der bekanntlich nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder gar der ARD insgesamt widerspiegelt: „Gezogene Zähne, geschliffene Krallen“. (17) Donnerwetter, das klang für die Verhältnisse der ARD-aktuell ja schon fast revolutionär …

Werte-basiert

So weit, die Kungelei der Kanzlerin mit der deutschen Finanz- und Wirtschaftselite als einen systemischen und sich oft wiederholenden Rechtsbruch zu charakterisieren, als Verletzung der Prinzipien unserer Verfassung, so weit geht der ARD-Qualitätsjournalismus aber denn doch nicht. Zuzugeben, dass unsere Regierung nur Funktionspersonal des Geldadels ist, kommt nicht infrage. Dieses Privileg überlassen Tagesschau-Redakteure lieber den Satirikern und Kabarettisten. Der große Dieter Hildebrandt:

Politik ist nur der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt. (18)

Oder Frank Zappa:

Politik ist die Unterhaltungsabteilung der Wirtschaft.“ (19)

Menschenrechtsverletzung ist nicht aufs Ausland beschränkt. Sie findet auch innerhalb unserer Grenzen statt. In subtiler Form und längst einem Gewöhnungsprozess unterzogen, so dass wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen. Die Kanzlerin tut dazu ein Übriges, indem sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Platte von unserer „regelbasierten Werte-Ordnung“ abnudelt.

Der Sozialstaat, die grundgesetzlich verankerte Sozialbindung des Eigentums und der Schutz der Schwachen vor den Starken gehören zum Kanon unserer „Werte“. Jedenfalls theoretisch. Praktisch sind sie längst ausgehöhlt und verlieren fortwährend weiter an Bedeutung. Wachsende Armut, das erbarmungslose Hartz-IV-Regime, Entrechtung am Arbeitsplatz, Rückbau von Gesundheitsvorsorge und Alterssicherung werden entweder kaum diskutiert oder als quasi gottgegebene Entwicklung dargestellt. (20) Die längst zur Notwendigkeit gewordenen Tafeln sind der Ausdruck dafür, dass heutzutage nur noch Gnadenerweis ist, was einst sowohl in der Alt-BRD als auch in der DDR ein Rechtsanspruch auf würdige Existenzsicherung war.

Obwohl das Thema „soziale Rechte“ für Millionen von Menschen zentrale Bedeutung hat, wird es von den Mainstream-Medien – auch von ARD-aktuell – allenfalls stiefmütterlich behandelt. Selbst die pandemiebedingte Verschärfung der Situation hat nichts daran geändert. In der Rubrik „Thema“ auf Tagesschau.de zählt man seit August 2020 ganze acht Beiträge über Hartz IV – weniger als einen pro Monat. Diese paar Artikel wirken überdies hingerotzt und empathielos. (21)

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Josef Ackermann ehemals DB. So sah Mutti  ihn auf seiner Geburtstagsfeier ?

Jeder sechste Bürger in Deutschland ist armutsgefährdet. Das bedeutet, er oder sie muss mit weniger als 1.176 Euro pro Monat auskommen. Covid-19 hat die Tafel-Versorgung erschwert, örtlich und vorübergehend sogar gänzlich unterbrochen. Der „Lockdown“ hat andererseits kräftige Preissteigerungen für Lebensmittel verursacht. Wie schwer, ja fast unmöglich es für viele der Armen ist, mit ihrer Lebenslage zurechtzukommen, erfährt man von ARD-aktuell jedoch nicht. Fünf Millionen Menschen vegetieren auf der Schattenseite unserer Wohlstandsgesellschaft. Aber die Tagesschau nimmt sie nicht wahr und verschweigt, dass und wie stark die Zahl der Tafelnutzer vor allem bei den Kurzarbeitern und Rentnern angestiegen ist. (22)

Der regierungsfromme ARD-Journalist

Angemessene, unumwundene Berichterstattung über die Armut in Deutschland hieße, der regierungsamtlichen Heuchelei und Selbstgefälligkeit die Luft abzulassen. Dafür fühlt sich die Tagesschau natürlich nicht zuständig. Sie interpretiert ihren Programmauftrag als Verpflichtung zum regierungsfrommen Verkündungsjournalismus. Dem Rechtsmissbrauch, dem bei uns Jahr für Jahr abertausende Tagelöhner und Unterschicht-Arbeiter zum Opfer fallen, versagt sie die gebotene kritische Aufmerksamkeit.

Der menschenunwürdige Umgang mit ausländischen Saisonarbeitern in der Landwirtschaft ist sowieso kein Nachrichtenthema für ARD-aktuell. Es betrifft 300 000 Ausgebeutete, die alle Jahre wieder den brutalen Gesetzen der Profitsucht unterworfen werden, ohne dass irgendjemand versucht, auch für sie wenigstens Merkels minimal „wertebasierte Ordnung“ zu reklamieren.

Im Frühjahr 2021 berichtete Tagesschau.de über den Einsatz der Saisonarbeiter auf deutschen Spargelfeldern. Erwartungsgemäß aus der Sicht der Unternehmer. Dass die Agrarier ihre Ware zu „marktgerechten“ Preisen anbieten müssen, darf man ihnen glauben, ihr Gejammer über hohe Lohnkosten hingegen nicht. Wie die unsäglich miese Bezahlung für den Erntearbeiter konkret aussieht, kann sich der Tagesschau-Kunde schon deshalb nicht vorstellen, weil aus der Perspektive des Ausgebeuteten einfach nicht berichtet wird.

Wichtig erschien ARD-aktuell nur, dass deutscher Spargel trotz Pandemie wieder zu günstigen Preisen auf den Tisch kommen konnte:

Die Deutschen können ihr liebstes Saisongemüse auch in Zukunft zu ähnlichen Preisen wie in den vergangenen Jahren einkaufen …“ (23)

Wohl bekomm‘s.

Arbeiter aus Polen und Rumänen werden in dem Beitrag quasi als unbescheiden dargestellt, weil nicht mehr bereit, für 9,50 Euro pro Stunde zu malochen (zu den sonstigen Konditionen der schweren Feldarbeit kommen wir gleich). Deshalb müsse der Spargelbauer jetzt auf georgische Arbeiter zurückgreifen, die seien „anspruchsloser“.

Betrogene Landarbeiter

„Anspruchslos“ steht hier für: „…die können leichter ausgebeutet werden, weil sie noch ärmere Schlucker sind als die Polen und Rumänen“. Ein ARD-Journalist, der so gefühllos über das Geschäft mit den Saisonarbeitern schreibt, verdiente sich eigentlich eine Spargelkiste „anspruchsvoller“ Maulschellen.

Wie ein blutiger Anfänger lässt sich der ARD-Berichterstatter vor den Karren eines lamentierenden Spargelbauern spannen. Der habe im Vorjahr für das Einfliegen von 200 rumänischen Erntehelfern 120 000 Euro bezahlt, pro Person 600 Euro. Eine gründliche Recherche ergibt pro Person allerdings nur Flugkosten von 200 Euro, die obendrein als Betriebskosten von der Steuer abgesetzt oder gleich dem Erntearbeiter vom Lohn abgezogen werden. Er muss sie und die oft unverschämt hohen Kosten für miese Massenunterkunft und -verpflegung sowie reichlich begrenzte Hygieneangebote abarbeiten. Häufig werden auch noch Sachkosten (für Arbeitskleidung, Werkzeug) vom Lohn einbehalten und Arbeitszeiten unsauber abgerechnet. (24)

Früher war die Sozialversicherungspflicht auch für Saisonarbeit selbstverständlich. Sie wurde jetzt im harmonischen Zusammenspiel der Bundestagsfraktionen von Union, SPD und AfD weichgespült. (25) Konkret: Im Schatten der Covid-19-Pandemie wurde die sozialversicherungsfreie Beschäftigung pro Jahr von 70 auf 102 Arbeitstage erhöht. Für Saisonarbeiter in der Agrarindustrie mit ihrer üblicherweise auf weniger als vier Monate befristeten Beschäftigung heißt das: Die Sozialversicherungspflicht wurde abgeschafft.

Moderne Form der Sklaverei

Keine Sozialversicherung, keine Krankenversicherung. Saison-Feldarbeiter sind recht- und schutzlos der Ausbeutung ausgeliefert: schwere Arbeit im Freien, auf Knien oder gebückt, bis zu 14 Stunden am Tag Spargel stechen oder Erdbeeren pflücken. Trotz Pandemie ohne Krankenversicherungsschutz schuften und in Massenunterkünften untergebracht sein. Im Falle einer Infektion sollten diese Beschäftigten mitunter sogar die Kosten für ihre medizinische Behandlung selber bezahlen. (26)

Nicht nur die (zumeist osteuropäischen) 300 000 Saisonarbeiter sind dieser Sklaverei unterworfen. Die „Befreiung von der Sozialversicherungspflicht“, ein Ausdruck der Unmenschlichkeit, betrifft darüber hinaus auch rund 800 000 deutsche Beschäftigte. Sie bilden den Bodensatz einer an sich reichen und leistungsfähigen Gesellschaft, die den Abbau sozialer Rechte auf ihre „Agenda“ gesetzt hat.

Dass wir es hier mit einer besonderen Art von Menschenrechtsverletzung zu tun haben, die sich im Übrigen auch in der Arbeitslosigkeit manifestiert, darf nicht in unser Bewusstsein dringen. Dazu bräuchte es kritische, sachgerecht und fair informierende Journalisten. Die finden sich nur nicht mehr in der Tagesschau-Elite.

Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-877217.html

(2) www.zeno.org/Philosophie/M/Rousseau,+Jean-Jacques/Emil+oder+Ueber+die+Erziehung/Erster+Band/Erstes+Buch

(3) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-877517.html

(4) https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html

(5) https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/das-friedensgebot-des-grundgesetzes-und-der-un

(6) https://theintercept.com/2021/03/20/joe-biden-special-operations-forces/

(7) https://publikumskonferenz.de/blog/2019/04/14/ard-aktuell-bei-kolumbien-gucken-wir-weg/

(8) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/ts24/wirtschaft/video-876533.html

(9) https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/mehr-menschenrechte-wirtschaft-bundestag-beschliesst-lieferkettengesetz

(10) https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/ID38721101.html

(11) https://www.tagesschau.de/wirtschaft/lieferkettengesetz-faq-101.html

(12) https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/themen/menschenrechtsverletzungen-fuer-profite

(13) https://www.xn--gedichteundzitatefralle-tpc.de/2013/07/karl-marx-in-das-kapital-zitate-6.html

(14) https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/themen/lieferkettengesetz#schwachstellen

(15) https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-wirtschaft-in-afrika-chance-oder-ausbeutung.769.de.html?dram:article_id=426140

(16) https://www.labournet.de/politik/wipo/weltoekonomie/initiative-lieferkettengesetz/

(17) https://www.tagesschau.de/kommentar/kommentar-lieferketten-bundestag-101.html

(18) https://gutezitate.com/autor/dieter-hildebrandt/

(19) https://gutezitate.com/zitat/244632

(20) https://www.heise.de/tp/features/ZDF-Doku-Am-Ende-sind-die-Zuschauer-arm-dran-6071067.html

(21) https://www.tagesschau.de/thema/hartz_4/

(22) https://www.tafel.de/presse/zahlen-fakten/

(23) Spargelsaison in Deutschland: Erntehilfe kommt diesmal aus Georgien | tagesschau.de

(24) https://www.faire-mobilitaet.de/faelle/++co++242a1146-ce00-11e9-8d8b-52540088cada

(25) https://www.bundestag.de/services/suche?suchbegriff=22.april+2021, s. Seite 166 ff

(26) https://www.dgb.de/++co++cb7aca88-7da1-11eb-8bc4-001a4a160123

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

Urheberecht
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Bundeswehrskandal-Litauen

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2021

Geburtstagsständchen für Hitler

Von Matthias Gebauer

Vorwürfe gegen eine in Litauen stationierte Bundeswehreinheit sorgen im Verteidigungsressort für helle Aufregung. Die Militärführung erwägt, die betroffene Panzergrenadier-Einheit komplett zurückzuholen.

Als Annegret Kramp-Karrenbauer am Dienstagvormittag in Brüssel vor die Mikrofone trat, wollte die Verteidigungsministerin eigentlich gute Nachrichten verkünden. Zum ersten Mal seit längerer Zeit hatte sich AKK in einem sogenannten Quad-Treffen mit ihren Kollegen aus den USA, Frankreich und Großbritannien zusammengesetzt. Gemeinsam beriet man über große Themen wie das Ende der Afghanistan-Mission oder die Bedrohung durch Russland. Die Stimmung am Tisch, gab Kramp-Karrenbauer zu Protokoll, sei ziemlich gut gewesen.

Schon bei der ersten Nachfrage allerdings wurde AKK von den eher ätzenden Problemen mit der eigenen Truppe eingeholt. Was sie denn zu Vorwürfen gegen in Litauen stationierte deutsche Panzergrenadiere meine, wollte eine Reuters-Journalistin wissen. Kramp-Karrenbauer zögerte kurz. Dann aber wurde sie ziemlich deutlich. »Was immer passiert ist, ist in keinster Weise akzeptabel«, kommentierte die Ministerin die Ermittlungen. Nun müssten die Vorfälle »mit aller Härte verfolgt und auch bestraft werden«.

Die straffe Ansage illustriert, wie angefasst und nervös AKK wegen der Ermittlungen gegen ihre Soldaten ist. Ausgerechnet beim Auslandseinsatz in Litauen, wo deutsche Soldaten im Auftrag der Nato durch Übungen mit der lokalen Armee die Abschreckungsfähigkeit der Allianz gegenüber Russland stärken sollen, sorgt nun der zweite Zug des Panzergrenadierlehrbataillons 92 aus Munster für einen handfesten neuen Skandal. »Wenn sich das bestätigt«, stöhnt ein General in Berlin bereits, »steht nicht weniger als unser guter Ruf auf dem Spiel.«

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Eine Werft nach Corona

Erstellt von Redaktion am 15. Juni 2021

Mehr Arbeit und weniger Jobs bei der Meyer Werft

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Von Harff-Peter Schönherr

Deutschlands größter Schiffbauer war einst eine Macht im Emsland. Doch dann kam Corona, Entlassungen drohen. Das spezielle Agieren der Chefs sorgt nun richtig für Ärger.

Auf Nico Bloem lastet viel Druck dieser Tage. „Was hier abgeht, ist verrückt“, sagt der Betriebsratsvorsitzende der Papenburger Meyer Werft. „Die Geschäftsleitung bricht alle Regeln.“ Bloem ist Emsländer, SPD-Mitglied, IG-Metaller, gerade 26 Jahre alt – und schon im Zentrum eines brutalen Arbeitskampfs bei Deutschlands größtem Schiffsbaubetrieb. Am Montag vergangener Woche redete er vor 1.800 empörten Mitarbeitern auf einem Parkplatz, an seiner Seite Thomas Gelder, Geschäftsführer der IG Metall Leer-Papenburg. „Das war überwältigend!“, sagt Bloem. „Die Belegschaft hat sich sehr klar hinter uns gestellt.“

Zuvor hatte die Geschäftsleitung die Stammbelegschaft in einer Online-Umfrage vor die Wahl gestellt, ob in Papenburg mehr als 1.000 Arbeitsplätze wegfallen sollen oder nur 660. 1.446 Mitarbeiter entschieden sich für 660, nahmen aber dafür in Kauf, dass die Verbleibenden pro Jahr 200 unbezahlte Überstunden leisten, weit über fünf Wochen Arbeit.

Das Votum spiegele „mehrheitlich den Willen der Belegschaft“ wider, sagt nun Geschäftsführer Jan Meyer: Mit 1.557 Mitarbeitern hatte allerdings weit weniger als die Hälfte der Stammbeschäftigten an der Befragung teilgenommen. „Außerdem war das Ganze rechtswidrig“, sagt Bloem. „Das Betriebsverfassungsgesetz sieht vor, dass der Betriebsrat bei so was mitbestimmt, aber wir wurden nicht informiert.“

Er sieht bei der Geschäftsleitung „mittelalterliches Denken“. Auf der Versammlung am Montag habe sie die Leute zudem einzuschüchtern versucht: „Aus dem Werk stieg eine Drohne auf, beobachtete das Geschehen. Und die Security hat Kollegen fotografiert, teils einzeln.“

Das Grundproblem sei die hohe Zahl der Werkverträge. „Nur 40 Prozent der Meyer-Belegschaft gehört zur Stammbesatzung, 60 Prozent hat Werkverträge“, sagt Bloem. „Einiges davon ist auch völlig in Ordnung, das sind outgesourcte Spezialaufgaben. Aber der Rest führt dazu, dass nach und nach die Stammbelegschaft ersetzt wird.“ Durch billigere Kräfte aus Kroatien, Polen, Russland oder Rumänien.

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Die Meyer Werft im Emsland setzt derzeit rund 1,6 Milliarden Euro jährlich um. Sie ist Teil der luxemburgischen Meyer-Neptun-Gruppe und bekannt für ihre Kreuzfahrtschiffe. Dutzende hat Meyer seit Mitte der 1980er gebaut. Einige sind 350 Meter lang und 20 Decks hoch, schwimmende Kleinstädte für mehr als 6.500 Passagiere. Baudock II der Werft ist gut einen halben Kilometer lang, 125 Meter breit und 75 Meter hoch.

Lange boomte das Geschäft, Meyer fuhr Gewinne ein. Hunderttausende Schaulustige kamen, wenn die Riesenpötte aus dem Binnenland in die Nordsee überführt wurden – dabei hatten Vertiefung und Aufstauung der Ems, ohne die das nicht geht, fatale ökologische Folgen. Die Politik vor Ort tat wenig dagegen, schließlich ist die Meyer Werft eine echte Macht im Emsland. Doch dann kam die Coronapandemie. Kreuzfahrschiffe ankerten weltweit im Hafen, Meyer geriet ins Wanken. 40 Prozent Arbeitskapazität sollen deshalb abgebaut, 1,2 Milliarden Euro eingespart werden, bis 2025. Jetzt ist von Entlassungen die Rede, die Verhandlungen stocken.

Quelle       :          TAZ        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Luftbilder von der Nordseeküste 2013-05

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