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Archiv für die 'Regierung' Kategorie

Vom Krieg und Frieden

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Die Verschwundenen von Belarus

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Von     :       Olga Bubich

Das Gedächtnis ist eine knifflige und äußerst unbeständige Sache. Mit jeder neuen „Schicht“ an Erfahrungen wird der Inhalt unserer Erinnerungen beständig verändert. Wir sind von Natur aus wirklich nicht gut darin, uns Dinge zu merken, und die Aussichten werden angesichts unseres blinden Vertrauens in mobile Geräte und das sogenannte Silikongedächtnis nicht besser.

Repressive Regime nutzen das kollektive Gedächtnis jedoch immer wieder als einen Raum, in dem sich die Geschichte fälschen lässt, und setzen alles daran, dass neue Generationen bestimmte „unbequeme“ Episoden oder störende Meinungsführer vergessen oder sich falsch an sie erinnern. Zwei Jahre nach der größten Protestbewegung in der Geschichte meines Heimatlandes Belarus scheint das Land in eine Fabrik der Amnesie verwandelt zu werden.

Erst unentschuldbar spät las ich über die „desaparecidos“ – über die repressive Strategie des Verschwindenlassens durch den unterdrückenden Staat oder eine politische Organisation, gefolgt von der Weigerung, das Schicksal oder den Aufenthaltsort dieser Person bekannt zu geben. Den herrschenden Militärjuntas erschien dies günstig: Da keine Leichen gefunden wurden, konnten keine Anklagen erhoben und auch keine Gerichtsverfahren begonnen werden. Schon die ungefähre Zahl der Verschwundenen ist kaum vorstellbar: 30 000 Opfer in Argentinien und über 2000 in Chile. Von keinem dieser Menschen wurden jemals Spuren gefunden.

In Argentinien wurde das Schweigen jedoch schnell gebrochen, und zwar von jenen, für die das Erinnern eine Pflicht war – den Aktivistinnengruppen der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo. Sie wurden 1977 spontan von Verwandten der Verschwundenen gegründet und verlangten Gerechtigkeit mit regelmäßigen Protesten auf dem gleichnamigen Platz in Buenos Aires. Die Unmöglichkeit, über den Verlust trauern zu können, verlagerte das Trauma in eine ewige Gegenwart – die Toten waren immer noch da und mit ihren verzweifelten Familien umkreisten sie auf Fotos und selbstgemachten Plakaten den Platz, stets begleitet von derselben Frage: „Wo sind diese Menschen?“

Als ich über die Mobilisierungen zur Bewahrung des Gedächtnisses in Lateinamerika las, konnte ich gar nicht anders, als ein heftiges Déjà-vu-Gefühl zu verspüren. All diese Frauen mit Schwarz-Weiß-Portraits ihrer Lieben, die Lippen fest aufeinander gepresst, die Gesichter eisern entschlossen. Ich entdeckte, dass die Tragödie der Verschwundenen sich nicht nur jenseits des Ozeans abspielte – sondern auch zur Realität meines Landes gehörte. Und bis heute gehört.

Zum Schweigen gebracht

Leider erwies sich der Argentinier Jorge Videla nicht als der letzte Diktator, der Oppositionelle entführen ließ und dann verlangte, man solle eine neue Seite aufschlagen. Vielmehr gehören Auslöschung und das folgende Schweigen des Staates auch zu den Instrumenten des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Seit seiner ersten Amtszeit ging er auf Nummer sicher, indem er jeden Rivalen eliminieren ließ, der den Thron seines Landes hätte erobern können. Zu den bekanntesten Fällen belarussischer „desaparecidos“ gehören die Politiker Juri Sacharenko und Viktor Gonchar, der Unternehmer Anatol Krasovsky sowie der politische Journalist und Kameramann Dmitri Sawadski. Im Jahr 2004 gründeten Iryna Krasovskaya und Swetlana Sawadskaya, die Ehefrauen der Verschwundenen, die gemeinnützige Stiftung „We Remember“.[1]

Ihr Ziel ist es, die Verantwortlichen für die Morde an ihren Partnern vor Gericht zu bringen. Doch obwohl private Ermittlungen den Plan hinter diesen „perfekten Morden“ aufgedeckt haben, von denen es mehr als 30 gegeben hat, musste sich bislang kein Staatsdiener für die Entführungen vor Gericht verantworten[2]. Hingegen wurde Pawel Scheremet, der diesen Plan gemeinsam mit Swetlana Kalinkina in ihrem Buch „Der zufällige Präsident“ aufgedeckt hatte, 2016 von unbekannten Tätern ermordet.

Pack kennt und trifft sich . Vor ihren Fahnen stehen die Bananen. 

Nach diesem lauten Vorgehen in den späten 1990er Jahren griff Lukaschenko zu einer anderen Methode, um den Dissens zum Schweigen zu bringen. Oppositionsführer durften ihre Meinung nun äußern – aber nur bis zu einem gewissen Grad. Denn das Regime lässt sie nicht mehr entführen, sondern aufgrund von absurden Vorwürfen anklagen und ins Gefängnis stecken. Sodann verbreitet es nur wenige oder gar keine Nachrichten über ihre körperliche und seelische Verfassung. Wir kennen also scheinbar den Aufenthaltsort dieser Menschen, aber was bedeutet das unter diesen Umständen schon? Sie werden von der Öffentlichkeit ausgeschlossen, medizinische Hilfe wird ihnen verweigert, und sie müssen monotone, gesundheitsgefährdende Arbeiten verrichten. Damit sind sie in Wirklichkeit die belarussischen „desaparecidos“. Von den 24 Präsidentschaftskandidaten, die bei den fünf Wahlen nach 1994 gegen Lukaschenko antraten, wurden sieben inhaftiert, weitere vier sahen sich Gewalt und Drohungen ausgesetzt. Zusammen kommen Lukaschenkos Konkurrenten um die Staatsspitze auf über 60 Jahre Haft.

Dem Menschenrechtszentrum Wjasna zufolge gibt es in Belarus derzeit rund 1500 politische Gefangene. Im Jahr 2020 lag die Inhaftierungsrate bei 345 Gefangenen pro 100 000 Einwohner. Belarus gehört damit weltweit zu den 20 Staaten mit der höchsten Rate – als einziges europäisches Land neben der Türkei. Verurteilt wurden die politischen Gefangenen, weil sie „Absichten“ geäußert, „verurteilendes Schweigen“ gezeigt, „mentale Solidarität“ geleistet haben oder gar, weil sie „stillschweigend zugestimmt“ haben. Unter ihnen finden sich Teenager, Rentner und Mütter mit kleinen Kindern. Mit Stand Sommer 2022 beliefen sich ihre Strafen zusammengenommen auf 2756 Jahre. Dennoch enthalten die Schulbücher für das Fach Geschichte, die 2021 neu geschrieben wurden und die Zensur des kollektiven Gedächtnisses betreiben, nur drei Zeilen über die Massenproteste von 2020 und ihre verheerenden Folgen: „Die sechsten Präsidentschaftswahlen fanden am 9. August 2020 statt. Bei fünf anderen Kandidaten erhielt der gegenwärtige Präsident 80,1 Prozent der Stimmen.“

Quelle          :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben      —   Demonstration in Warschau zur Erinnerung an die verschwundenen Regimegegner Juryj SacharankaWiktar HantscharAnatol Krassouski und Dsmitryj Sawadski

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Streit: Krankenhausreform

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Gemeinwohl wäre besser

Von Gesa von Leesen

Ob die nun beschlossene Krankenhausreform etwas rettet oder die Versorgung noch schlechter macht, ist umstritten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) behauptet, eine Revolution einzuleiten. Verdi und viele Beschäftigte glauben das nicht und protestieren in Friedrichshafen.

Als der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) ans Mikrofon tritt, schallt ihm ein Pfeifkonzert entgegen. Hinter Lucha aufgereiht stehen seine Amtskolleg:innen und versuchen, neutral zu gucken. Vor Lucha, auf der Wiese am Bodenseeufer, stehen 600 Frauen und Männer, die im Gesundheitswesen arbeiten. Und die genug haben von zu wenig Kolleg:innen, von zu geringer Bezahlung, von einem System, das Krankenhäuser auf Gewinnerzielung trimmt anstatt aufs Heilen. Deshalb pfeifen sie.

Es ist Gesundheitsministerkonferenz (GMK) in Friedrichshafen, Lucha ist gerade deren Vorsitzender und verhandelt im Graf-Zeppelin-Haus mit seinen Länderkolleg:innen über die geplante Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der bezeichnet sie als Revolution. Warum, ist unklar. Denn eine Revolution wäre ja ein Systemwechsel, doch den sieht die Reform nicht vor. Grob zusammengefasst sollen Kliniken sich nur noch zum Teil über Fallpauschalen finanzieren, zudem sollen sie Geld bekommen für Leistungen, die sie vorhalten. Wie viel das sein wird, soll sich wiederum nach Versorgungsstufen richten, in die die Kliniken eingeteilt werden.

Im Rahmen der Prüfung, welche Kiniken welche Leistungen anbieten sollen, lässt sich dann feststellen, welches Haus geschlossen werden soll. Dass dies notwendig ist, davon sind viele Minister:innen – auch Manfred Lucha – und liberale Ökonomen seit Jahren fest überzeugt: Sie meinen, Deutschland ist mit Krankenhäusern überversorgt.

Überversorgt sehen sich Beschäftigte (und wahrscheinlich auch die meisten Patient:innen) derzeit eher nicht. Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft gibt es 30.000 unbesetzte Pflegestellen, auch Ärzt:innen fehlen zunehmend. Beschäftigte in outgesourcten Abteilungen wie Hauswirtschaft, Putzen, Therapie verdienen schlecht. Und wer als Patient:in ins Krankenhaus muss, kann vielfältige Geschichten erzählen von Ärzt:innen, die nicht zuhören, Pfleger:innen, die sehr lange auf sich warten lassen, und vom Krankenhauskeim sowieso.

Das Gesundheitswesen ist Teil der Lieferkette

Also hat Verdi seine Mitglieder im Gesundheitswesen aufgerufen, nach Friedrichshafen zu kommen, um der GMK ihre Forderungen mit auf den Weg zu geben. Zentral: ein Gesundheitssystem, das alle Patient:innen optimal versorgt, den Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen bietet, sich nicht rechnen muss und das kein Spielball von privaten Betreibern mit Renditeerwartungen sein darf. Auf der Wiese vor dem Graf-Zeppelin-Haus lauschen die Demonstrierenden den Reden von Betriebsrät:innen und hauptamtlichen Verdianer:innen, begrüßen einen Trupp Radfahrer:innen aus Dresden, der bei seiner fünf Tage dauernden Anreise gegen ein gewinnorientiertes Gesundheitssystem protestiert hat, sie gehen mit Protesttransparenten ins Wasser und genießen die Sonne am See.

Die drei von der Ampel 

Besonders gut an kommt die Rede von Achim Dietrich, Betriebsratsvorsitzender von ZF in Friedrichshafen, dem größten Industriestandort in der Region. Die Politik rege sich über ein paar fehlende Halbleiter auf, die die Lieferkette unterbrechen, sagt er. „Warum aber nimmt man hin, dass Patient:innen keine ausreichende Versorgung bekommen? Auch dieser Teil der Lieferkette muss funktionieren.“ Wenn Arbeitnehmer:innen keine Termine beim Facharzt bekommen, mit Schmerzen zur Arbeit gehen und lange krank sind, schade auch das der Wirtschaft. „Wenn die Kapitalisten keine Menschlichkeit kennen, dann müssen wir sie bei dem packen, was sie interessiert: dem Profit.“ Steige bei ZF der Krankenstand um ein Prozent mehr als vorausgesehen, koste das den Konzern vier Millionen Euro im Jahr. „Das Geld wäre besser im Gesundheitssystem angelegt als in der Krankenverwaltung“, findet Dietrich, der als Gesamtbetriebsratsvorsitzender 50.000 Patient:innen vertrete, wie er sagt.

Autos bauen lohnt sich mehr

Wieder zur Lieferkette gehören, also arbeiten, möchten manche Klient:innen von Torsten Lang. Der Sozialarbeiter schafft im Gemeindepsychiatrischen Zentrum des Klinikums Stuttgart und betreut psychisch kranke Menschen. „Manche lernen, trotz Ängsten wieder einkaufen zu gehen, andere unterstützen wir, eine Tagesstruktur einzuhalten“, sagt er. Psychosen, Depressionen, Borderline, Messiesyndrom – die Krankheiten, mit denen Menschen zu ihm und seinen Kolleg:innen kommen, sind vielfältig. Lang mag seinen Beruf, aber dabei selbst gesund zu bleiben, sei schwierig, sagt der 56-Jährige. Da wünscht er sich mehr Bemühungen von den Arbeitgeber:innen und auch mehr Anerkennung. „Monetäre.“ Der Beruf sei belastend, Klient:innen seien oft aggressiv. „Da frage ich mich schon, wie das im Verhältnis steht zu Arbeitern bei VW am Band. Die verdienen mehr als wir.“ Was allerdings mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad zusammenhängen könnte, der bei VW sehr hoch und im Gesundheitswesen eher niedrig ist.

Arbeiten wie am Fließband kennt Anna Gioftsirou. Die 47-Jährige ist Altenpflegerin – ursprünglich aus Überzeugung. „Weil ich mit meinen Großeltern aufgewachsen bin. Da fühlt man sich wie ein Baum mit ganz starken Wurzeln.“ Doch der Job hat sie gesundheitlich ausgelaugt. „Geteilte Schichten sind sehr anstrengend. Dann diese Minutenpflege wie am Band – das ist nicht gut“, sagt sie. Zudem gehe die Arbeit auf die Knochen: „Ich hatte einen Patienten, der wog sehr viel und war querschnittsgelähmt. Aus dem Bett heben, in die Dusche, wieder in den Rollstuhl, anziehen …“ Irgendwann brach sie zusammen. Burnout, und zwei Lendenwirbel „liegen quasi aufeinander“. Lange war sie krank, der Wiedereinstieg schwierig. Nun arbeitet sie im sozialen Dienst im Krankenhaus mit geregelten Arbeitszeiten. Auf ihrem ganzen Weg – Krankheit, neuer Job, Fortbildung – habe Verdi ihr stets geholfen. „Das vergesse ich nicht. Ich bin bei jeder Aktion dabei.“ Außerdem würde sie gerne Lauterbach treffen. „Ich möchte ihm sagen, wie schlimm das in der Pflege ist!“

Das gelingt ihr nicht. Zwar kommt der Bundesgesundheitsminister später überraschend doch noch, nachdem es zunächst hieß, ihn halten die Haushaltsverhandlungen in Berlin. Doch sein Auftritt ist kurz. Dafür souveräner als der von Manfred Lucha. Der zeigt deutlichen Widerwillen vor der Menge, die ihm nicht freundlich gesonnen ist, auch weil Baden-Württemberg das Land mit den meisten Krankenhausschließungen in den vergangenen Jahren ist. Wie bei jeder Verdi-Demo betont er, dass er Gewerkschaftsmitglied ist. „Hau ab!“, hört er aus der Menge. Er versucht, zu erklären, dass die Gesundheitsminister:innen gerade eine historische Gelegenheit hätten, „Kliniken, die am Markt am Start sind, gut auszustatten“. „Buh!“ Als er noch sagt: „Wir waren noch nie so nah an einer bedarfsgerechten Versorgung bei besten Bedingungen fürs Personal“, ist die Menge kurz vor dem Explodieren. „Auch du wirst mal alt!“, ruft einer.

Die Gefahr des wilden Kliniksterbens

Quelle         :         KONTEXT: Wochentzeitng-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben      —   Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Sportfunktionäre sitzen Proteste der Frauen aus

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Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Mit Helden ist das so eine Sache: Sie können immer scheitern. Einige junge Wrestlerinnen wurden gar von der Polizei geschlagen.

Aber was geschieht, wenn wir sie im Stich lassen und sie zu Opfern eines toxischen Systems machen? Schauen wir auf Vinesh Phogat, eine erfolgreiche indische Wrestlerin, die mehrere Gold- und Silbermedaillen bei den Weltmeisterschaften, den Commonwealth Games und den Asian Games gewonnen hat. Doch im Mai twitterte sie: „Vom Siegertreppchen auf die Straße, um Mitternacht unter freiem Himmel, in der Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Mit ihr demonstriert Sakshi Malik auf den Straßen Neu-Delhis. Sie war 2016 die erste olympische Bronzemedaillengewinnerin im Wrestling aus Indien. Seit Januar protestieren diese jungen Sportlerinnen gegen Brij Mohan Charan Singh, den Vorsitzenden des indischen Wrestlingverbandes WFI. Sie und weitere junge Wrestlerinnen werfen dem Funktionär sexuelle Belästigung vor. Er wird auch der Selbstherrlichkeit, des Mobbings und der Veruntreuung von Geldern bezichtigt. Als Politiker der regierenden BJP wurden ihm noch weitere schwere Straftaten vorgeworfen.

Als die Sportlerinnen mit ihrem Protest begannen, versprach man ihnen eine Untersuchung ihrer Vorwürfe. Die Polizei nahm sogar Ermittlungen auf. Wenn Athletinnen zusätzlich zu ihrem anstrengenden Training die mentale Stärke für einen öffentlichen Protest aufbringen, sollten sie aber nicht erleben müssen, dass Männer ihre Macht missbrauchen und den Frauen drohen, deren sportliche Karrieren zu beenden.

Für viele indische Sportlerinnen geht es nicht nur um einen persönlichen Lebenstraum und den Ruhm für ihr Heimatland, sondern schlicht um ihren Lebensunterhalt. Wer beruflich Sport treibt, mit Kollegen und Trainern zu tun hat und sich auch in Trainingscamps aufhält, muss immer wieder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erleben. Der gesetzlich vorgeschriebene Ausschuss gegen sexuelle Belästigung existiert bei der WFI nur auf dem Papier.

Wirklich wie ein Keulenschlag trifft uns aber, dass diese Wrestlerinnen keinerlei Rückhalt aus der übrigen Welt des Sports erhalten. Sie ernten entweder dröhnendes Schweigen – oder sogar Vorhaltungen, weil sie sich beklagt haben. Einige von ihnen wurden gar von der Polizei geschlagen und festgenommen. Und dann geschahen seltsame Dinge, um die Proteste in Verruf zu bringen: Manipulierte Bilder der Ath­le­t:in­nen zeigten sie mit höhnischem Grinsen, als ob man zeigen wollte, dass sie einen heimtückischen Plan ausgeheckt hätten, das politische Aus des WFI-Vorsitzenden herbeizuführen.

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Diplomaten als Wutbürger

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2023

Die Kampagne der israelischen Botschaft gegen Muriel Asseburg ist ein Zeichen für den Verfall politischer Sitten in Zeiten des Rechtspopulismus.

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Solange sich die Erde auch dreht – die Politiker-innen  bleiben stehen!

Ein Debattenbeitrag von Katja Maurer und Stefan Reinecke.

Die Kampagne der israelischen Botschaft gegen Muriel Asseburg ist ein Zeichen für den Verfall politischer Sitten in Zeiten des Rechtspopulismus. Man kann mit der rechten Regierung in Tel Aviv nicht mehr unverbrüchlich solidarisch sein.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass BotschafterInnen verbindlich, sachlich und nicht aggressiv auftreten. Diplomaten sollten auch Distanz zu den inneren Angelegenheit des Landes halten, in dem sie arbeiten. Der US-Diplomat Richard Grenell, von Trump 2018 nach Berlin entsandt, war einer der ersten Botschafter einer rechtsautoritären Regierung, der diesen Code rüde verletzte. Erst bekundete er, dass deutsche Firmen gefälligst keine Geschäfte mit Iran machen sollten, dann, dass es seine Aufgabe sei, Rechte in Europa zu stärken.

Kühle Abwägung durch überhitzte Twitter-Interventionen zu ersetzen, ist ein Zeichen des Verfalls politischer Kultur in Zeiten des Rechtspopulismus. In dieser Linie reiht sich die israelische Botschaft in Berlin ein. Seit Tagen inszeniert sie eine shitstormhafte Kampagne gegen die Nahost-Expertin Muriel Asseburg. Die verharmlose den Terror der Palästinenser und verbreite „Verschwörungsfantasien“ und „Antisemitismus im pseudoakademischen Milieu“. Es sind die üblichen Vokabeln, mit denen die israelische Rechte Kritiker des Besatzungsregimes diffamiert.

Dass sich die israelische Botschaft aufführt wie ein Wutbürger, ist mehr als ein bedauerlicher Verstoß gegen diplomatische Umgangsformen. Er fügt sich in die Strategie der rechten israelischen Regierung, in Berlin kritische Stimmen zu bekämpfen. Es führt eine gerade Linie von Netanjahus Non-Paper, in dem eine Jerusalem-Ausstellung in einem Berliner Museum als „propalästinenisch“ diffamiert wurde, über die Attacken der Botschaft gegen eine taz-Journalistin bis zu den jetzigen wüsten Angriffen.

Asseburg, die beim von der Bundesregierung finanzierten Thinktank SWP arbeitet, gehört zu den wenigen anerkannten deutschen Stimmen, die laut aussprechen, dass das Westjordanland besetzt ist – und kein „umstrittenes Gebiet“ ist, wie die offizielle Lesart der israelischen Regierung lautet. In dem von der israelischen Botschaft skandalisierten Interview bei „Jung und naiv“ weist sie darauf hin, dass es völkerrechtlich legitim ist, ­gegen Besatzung Widerstand zu leisten, wenn deren Ende unabsehbar ist. Das ist bei der mehr als 50 Jahre währenden israelischen Besatzung der Fall. Auch in den Autonomiegebieten, die unter palästinensischer Verwaltung stehen, setzt die israelische Regierung ihre überlegene Waffengewalt nach Gutdünken ein, wie jüngst in Jenin. Das geschieht, obwohl die palästinensische Autonomiebehörde eine polizeiliche Zusammenarbeit mit Israel pflegt, die ihr Ansehen in der eigenen Bevölkerung weitgehend ruiniert hat. Israel kontrolliert die palästinensischen Gebiete faktisch vollständig. Seine militärische, politische, ökonomische und juristische Überlegenheit ist überwältigend.

Wer solche Fakten ausspricht, wird oft mit unlauteren Mitteln angegriffen. In der FAZ sekundiert Jürgen Kaube der Kampagne der Botschaft mit der Unterstellung, dass es für Asseburg „zulässig, legal und legitim ist“, wenn Palästinenser „Molotowcocktails auf Besatzer werfen“. Dabei betont Asseburg in dem Interview, dass sie „Gewalt gegen israelische Besatzer für nicht zielführend“ hält. Es ist kennzeichnend für solche Verunglimpfungen, dass Abwägungen und Grautöne ausradiert und durch Zuspitzungen und Verdrehungen übermalt werden. Wo mit Dreck geworfen wird, bleibt immer etwas kleben. Die israelische Friedensbewegung kennt dieses Verfahren: Yehuda Shaul, Gründer der israelischen Soldatenorganisation „Breaking the Silence“ sagt: „Es ist traurig zu sehen, dass die israelische Botschaft in Berlin zu den gleichen Mitteln greift wie die extremsten Parteien in unserer Regierung.“

Berlin and Israel walls

Die Probleme dieser Erde fangen mit den unfähigen Politiker-innen  an und Enden dort.

Die rechte Regierung in Tel Aviv versucht derzeit in Israel die Demokratie zu beschneiden. Seit Monaten demonstrieren Hunderttausende, um den Obersten Gerichtshof und die Gewaltenteilung in Israel zu verteidigen. Am Montag hat die Regierung in der Knesset in erster Lesung ein Gesetz beschlossen, das die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs massiv beschränkt.

Die Angriffe der israelischen Botschaft auf Asseburg führen vor Augen: Man kann mit der teils rechtsextremen und offen rassistischen Regierung in Tel Aviv nicht mehr unverbrüchlich solidarisch sein. Sie ist Teil einer weltweiten autoritären Rechten, die auf die Abschaffung der Demokratie und die Herrschaft der Fake News zielt. Im Fall Israels heißt das auch, dass das Recht der PalästinenserInnen auf Rechte und einen zivilen bürgerlichen Status einfach bestritten wird. Deshalb werden Wissenschaftlerinnen wie Asseburg, die auf palästinensischen Rechten beharren, mit Schmähungen überzogen. Ein rechtsextremer Israeli hat Asseburg auf der Straße aggressiv als „antisemitische Hexe“ beschimpft. Das ist kein Ausrutscher. Es enthüllt den Kern dieser Kampagne: Hass, Hetze, Einschüchterung.

Quelle           :             TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Bill ClintonJitzchak Rabin und Jassir Arafat im Weißen Haus am 13. September 1993

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Unter NATO Kommando

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2023

Himmelsabwehr als Himmelfahrtskommando

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von              :        Franz Schandl

Der Druck des kollektiven Westens ist anscheinend zu groß geworden. Österreich und die Schweiz schaffen sukzessive ihre Neutralität ab.

Die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) ist eines der größten und ambitioniertesten Rüstungsprojekte in Europa. 19 Staaten wollen gemeinsam einen flächendeckenden Luftabwehr-Schutzschirm über weite Teile des Kontinents spannen. Ein entsprechendes Dokument wurde letzten Freitag in Bern unterzeichnet. Sky Shield soll eine Art Einkaufsplattform sein. Als Kollektiv mehrerer europäischer Länder trete man an die Verteidigungsindustrie heran, um Infrastruktur zu einem guten Preis zu bekommen, erklärte etwa der Militärexperte Franz-Stefan Gady auf Ö1. Bis zur Etablierung dieser Systeme wird es freilich noch einige Zeit dauern.

„Die neuen Mittel, die vollständig interoperabel und nahtlos in die Luft- und Raketenabwehr der NATO integriert sind, würden unsere Fähigkeit zur Verteidigung des Bündnisses gegen alle Luft- und Raketenbedrohungen erheblich verbessern“, hieß es dazu schon im Herbst 2022 auf der Website der NATO. Interoperabilität, so sagt uns das schlaue Netz, ist die Fähigkeit verschiedener Systeme, Geräte, Anwendungen oder Produkte, sich zu verbinden und auf koordinierte Weise zu kommunizieren, ohne dass der Endnutzer etwas dafür tun muss. Im Ernstfall braucht es somit keiner besonderen Genehmigung seitens der Mitglieder. Nicht spezifisch soll auf etwaige Herausforderungen reagiert werden, sondern das vom NATO-Hauptquartier vorgegebene Programm wird für alle, auch für die Neutralen verbindlich. Nicht nur das Zustandekommen ist ein bedeutender Erfolg des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius, sondern auch dass er Österreich und die Schweiz da gleich en passant einkassiert hat. Zweifellos handelt es sich um eine Art Superbooster der Allianz.

Es war Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), der bereits vor Jahren die österreichische Neutralität, Resultat eines Staatsvertrags zwischen der Zweiten Republik und den Besatzungsmächten aus dem Jahr 1955, zu einem „Element der Selbstdefinition“ degradierte. Laut solcher Selbstdefinitionen erklären nun auch die beigezogenen Experten, dass dieser Beitritt zu Sky Shield mit der Neutralität vereinbar sei. Man hätte es nicht anders erwartet. Es handelt sich um einen akkordierten Schritt, der, um vollendete Tatsachen zu schaffen, rasch vollzogen werden muss. Speed kills. Letztlich werden damit Österreich und die Schweiz in die NATO integriert ohne beitreten zu müssen. Man erspart sich lästige Grundsatzdebatten, während die Anbindung an das westliche Militärbündnis stracks um einen Zacken weitergedreht wird. Alte Neutralitäten flutschen ins Nichts.

Zu diskutieren wäre wenig, schließlich geht es um den Schutz vor äußeren Aggressoren. Wer die sind, ist klar. Sky Shield soll vor russischen Luftangriffen schützen. Denn dort, und nur dort, haust und lauert das Böse. Man selber sei ein unschuldiges, rein defensives Bündnis von Freiheit und Demokratie. Dieses imaginierte Europa geht immer davon aus, keine Bedrohung zu sein, sondern allenfalls bedroht zu werden. „Die Neutralität verteidigt uns nicht und sie schützt uns nicht“, sagt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Der bestechende aber beschränkte Gedanke, dass ausschließlich Waffen schützen und nicht Verhaltensweisen scheint einer solchen Denke gar nicht zu kommen. Selbst die Diplomatie ist inzwischen auf dem Abstellgleis gelandet. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation.

Auch die Militärs spüren wieder Oberwasser. Endlich werden sie nicht mehr ausgehungert, endlich dürfen sie teure Waffensysteme anschaffen. Endlich das haben und tun dürfen, was man immer schon gewollt hat. Verteidigungspolitisch spricht man ebenfalls von „Zeitenwende“, und ist hoch erfreut. Abrüsung (oder gar Armeeabschaffung) wird zu einer Idee von vorgestern, die Zukunft gehört der Aufrüstung. Erstmals seit langem steht das Bundesheer nicht zur Disposition, erstmals seit langem wird seinen Forderungen weitgehend entsprochen. In den militärischen Sektoren knallen die Sektkorken. Auf jeden Fall verdanken wir die geplante Aufrüstung fast ausschließlich dem Krieg in der Ukraine und den eigenartigen Schlussfolgerungen, die gezogen werden.

Anders als in Finnland (oder bald Schweden) wird man zwar der NATO noch nicht beitreten, aber irgendwann in nicht so fernen Tagen wohl meinen, dass die materielle Zugehörigkeit auch nach einer formellen Ratifizierung schreit. „Warum bekennen wir uns nicht endlich zu einer Vollmitgliedschaft in der NATO?“, fragt nicht nur ein Poster in irgendeiner Tageszeitung. Barbara Toth, Redakteurin des linksliberalen Falter, nennt die Neutralität „nur mehr eine ‚Chimäre‘ und wir das endlich aussprechen sollten.“ Eine offene Kampagne für den NATO-Beitritt ist allerdings nach wie vor heikel, daher wird man sie vorerst unterlassen. Es geht auch so.

Das Massaker von Mỹ Lai

Was man aber nicht lassen wird, ist, dass dezidierte Kritik fortan den sogenannten radikalen Rändern der Gesellschaft zugeordnet wird, sprich Extremisten von Rechts und Links. Die Hufeisenhypothese ist en vogue. Einmal mehr gerät die ganze Debatte auf eine obskure Ebene. Sämtliche Einwände werden zu einem ungenießbaren Brei verrührt, um sie kollektiv zu erledigen. Weil die FPÖ gegen die Eliminierung der Neutralität ist, sind alle anderen, die auch dagegen sind, irgendwie mit den Freiheitlichen kompatibel. Proteste werden als populistisch punziert, wenn nicht gar als rechtsextrem diskreditiert. Zuschreibungen werden redundant vorgetragen.

Aktuell geht es um Framinig und Wording. Die Identitätsspirale dreht vorhersehbare Windungen: USA = NATO = EU = Europa = globaler Norden = unsere Werte. Man müsse wissen, wohin man gehöre und man müsse dabei und dafür sein. Das Imperium gibt vor. Der Westen soll zu einem Westblock werden. Militärische Kompetenzen sollen letztlich nur noch in den entsprechenden Kommandozentralen des Bündnis konzentriert sein. „Interoperabel und nahtlos“ schreiten wir der Zukunft entgegen. Mit der angestrebten Beteiligung an Sky Shield wird man jedenfalls zum Glied der neuen NATO-Luftabwehr, auch wenn man gar nicht NATO-Mitglied ist. Natürlich wurde bei der Unterzeichnung eine nichtssagende neutralitätsrechtliche Zusatzerklärung beigegeben, festgehalten wurde, dass Österreichs „besondere verfassungsrechtlichen Gegebenheiten berücksichtigt werden“. Dass die Österreicher puncto Neutralität schummeln, ist nicht neu, für die Schweiz hingegen ist das durchaus ein Novum.

Es ist relativ einfach: Wer sich einem militärisches System der NATO unterwirft, ist nicht mehr neutral. Durch solch einen Schritt haben sich die Neutralen entschieden, dass sie auf Perspektive nichts mehr zu entscheiden haben. Für die Neutralität stellt die europäische Himmelsabwehr ein Himmelfahrtskommando dar.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —     Ein Eurofighter Typhoon und eine Mirage 2000N üben ihren Formationsflug

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2023

Party – Stress mit Döpfner für den „Medieninsider“ 

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Springer-Chef Mathias Döpfner ist gegen einen Bericht über seine Geburstagsparty des Branchendienstes „Medieninsider“ vorgegangen – nicht aber gegen einen der „FT“.

Was ist der Unterschied zwischen Günther Jauch und Mathias Döpfner? Beide halten sich für Journalisten. Aber es gibt auch noch weitere Parallelen. Wenn sie feiern, sind die beiden gern unter sich. Jauch hatte im Juli 2006 seine Hochzeit mit über 100 Gästen in einem Potsdamer Schloss gefeiert. Berichterstattung darüber und vor allem Fotos hätten aber zu unterbleiben, hatte Jauchs Anwalt den Medien vorwarnend mitgeteilt. Als sich die Bunte nicht daran hielt, schleppte Jauch sie bis vor den Europäischen Menschengerichtshof – und verlor.

Neulich hat nun Mathias Döpfner seinen 60sten mit noch mehr Menschen nachgefeiert. Nicht in seinem Potsdamer Schloss, sondern in einem Anwesen in der Toskana. Ob die Bunte dabei war, ist nicht überliefert. Dafür berichtete zunächst der Online-Fachdienst Medieninsider, wer sich da sonst so alles tummelte. Twitter-Grabschaufler Elon Musk war da, Netflix-Mitgründer Reed Hastings und auch KKR-Europa-Boss Philip Freise.

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Doch der Medieninsider-Bericht von Döpfners Sause steht nicht mehr im Netz. „Ich bin gut darin beraten, den Inhalt des Beitrags nicht zu wiederholen. Der hat Döpfner nämlich so wenig gefallen, dass er gleich seine Anwälte bemühte, um juristische Schritte gegen uns einzuleiten“, schreibt Medieninsider-Mitgründer Marvin Schade in eigener Sache. Und dass das Ganze keine „rechtliche Entscheidung, sondern eine wirtschaftliche“ sei: „So eine rechtliche Auseinandersetzung bedeutet schwer kalkulierbare Kosten. Wir sind noch mitten im Aufbau von Medieninsider und wollen unsere Ressourcen in Medieninsider stecken, anstatt in einen wundersamen Rechtsstreit.“ Dazu passt, dass das EU-Parlament gerade eben den Entwurf für eine Richtlinie gegen Slapp-Klagen verabschiedet hat. Slapp steht für Strategic Lawsuit against Public Participation und soll Einschüchterungsklagen gegen unliebsame Berichterstattung erschweren.

Dabei war bei Döpfners Mottoparty durchaus public participation, wie ein anderes Medium berichtet. Es seien nämlich auch Menschen aus dem Ort und lokale Hand­wer­ke­r*in­nen eingeladen gewesen, die beim Ausbau von Döpfners toskanischer Butze mit Hand angelegt hatten. Wer welches Kostüm getragen hat, verrät die Financial Times zwar nicht, aber zitiert Teilnehmende, dass es gar nicht „so bombastisch“, sondern „ac­tual­ly very nice“ gewesen sei. „Hat das Wunderkind Julian Reichelt dort denn auch dem Geburtstagskind gratuliert?“, fragt die Mitbewohnerin.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Hausgemachte Sackgasse

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

 Auswege aus der Misere sind nicht in Sicht

Ein Debattenbeitrag von Harriet Wolff

Am Freitag begeht Frankreich zwischen Frust, Gewalt und Pomp seinen alljährlichen Nationalfeiertag. Wegen des einst äußerst strengen Lockdowns gibt es jetzt Kinder und Jugendliche, die dem System entglitten sind.

Gemütlich frühstücken: Das hat Emmanuel Macron letzte Woche im südfranzösischen Pau getan. Da waren die gewaltsamen Unruhen gerade abgeflaut in den Banlieues, den Vorstädten der Republik, nach der Erschießung eines 17-jährigen Sohns algerischer Einwanderer durch einen Polizisten. Allein im Jahr 2022 tötete die Polizei insgesamt 13 Personen bei Kontrollen. Und was verkündet der Präsident beim Croissant? „Die republikanische Ordnung in Frankreich ist wiederhergestellt.“ Gut, dann hören wir hier auf zu schreiben. Doch leider ist nichts wieder gut, und auch rund um den Nationalfeiertag kommt es wohl erneut zu Unruhen.

Seit 40 Jahren und mehr sind die meisten Menschen strukturell massiv benachteiligt in den Banlieues, diesen schnell hochgezogenen Siedlungen, die ab Mitte der 1950er Jahre entstanden, als Hunderttausende Fran­zö­s:in­nen aus ehemaligen Kolonialgebieten, meist in Afrika gelegen, dringend Unterkunft brauchten. Mitgearbeitet und mitgebaut haben sie alle an der Industrialisierung und dem Wohlstand Frankreichs. Sie waren aber die ersten, die arbeits- und oft auch mittellos wurden, als in den 1980er Jahren die Globalisierung begann. Seitdem schneiden diese Quartiere bei Lebenserwartung, Bildungsabschluss und Haushaltseinkommen extrem schlecht im Vergleich ab. Aktuell steigt die Armut dort durch die Inflation. Trotzdem gibt es Erfolgsgeschichten, besonders Mädchen und Frauen emanzipieren sich oft von schwierigen Familienverhältnissen durch Bildung. Es existieren soziale Angebote für die, die in überforderte Familien geboren werden. „Es reicht aber hinten und vorne nicht“, sagen unisono Sozialarbeitende in den Banlieues.

Die sozialen Folgen der Coronapandemie zeigen sich jetzt während der Unruhen wie im Brennglas: Wegen des einst äußerst strengen Lockdowns und der Schulschließungen gibt es Kinder und Jugendliche, die dem System entglitten sind, die staatliche Autoritäten und niederschwellige Unterstützungsangebote negieren. Sie sind geprägt durch soziale Medien, die aber nur ein Baustein der Unruhen sind. Für den leider größeren Teil der etwa 68 Millionen Fran­zö­s:in­nen sind die rund 6 Millionen, die in schwierigen Vorstädten leben (müssen), gefühlt nicht existent. Und jetzt nimmt man zwei Millionen junge Menschen unter 24 Jahren samt ihren Eltern in moralische Kollektivhaftung dafür, was rund 10.000 allermeist Teenager sinnlos zerstört haben. Auch aus Wut auf einen Staat, der die republikanischen Werte der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie eine Monstranz vor sich herträgt. Frankreich zieht keine Schlüsse daraus, dass an den Rändern der Gesellschaft die gute Botschaft schon lange nicht mehr ankommt, ja auch durch den Staat pervertiert wird.

Hinter brutal attackierten Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r:in­nen und arrogant abgebügelten Jugendlichen, die zwar den französischen Pass haben, aber von Konservativen und Rechten nicht als „français de souche“, als echte Franzosen angesehen werden, sondern als eingewanderte Muslime, steht ein multiples Fiasko. Eines davon ist die viel zu geringe und wenig wirkungsmächtige Repräsentation der Banlieue im politischen Alltag der Fünften Republik. Hier muss eine Initiative greifen, die zum Ziel hat, nicht Mimikry an die weiße Republik zu betreiben, sondern die selbstbewusst die Vorstädte vertritt.

Wenn der Höhenrausch plötzlich im steilen Abstuz endet ! 

Unglaubwürdig signalisiert Macron jetzt „Demut“ vor dem galoppierenden Unruhenverlauf in ganz Frankreich. 2020 hatte er in Les Mureaux bei Paris, einer Art Vorzeige-Banlieue, kritisch getönt: „Unsere Republik hat die Ghettoisierung zugelassen, Ballungsräume für Elend und Schwierigkeiten geschaffen.“ Auch ließ er gleich 2017 einen „Plan Banlieue“ erstellen. Der wurde versenkt, wohl zu teuer, zu viel Ärger verursachend mit einer von Grund auf autoritär organisierten Polizei, für die Menschenfreundlichkeit meist ein Fremdwort ist. Die muss, soll sich in der Banlieue, die stellenweise mit viel Geld baulich aufgehübscht wird, etwas zum langfristig Guten wenden, dringend reformiert und stärker durch andere staatliche Organe kontrolliert werden. Sofort enden müssten die ständigen grundlosen, häufig rassistisch motivierten Personenkontrollen. Sie blockieren effektive Ermittlungen.

Macron, der nach den Gelbwestenprotesten Ende 2018 und dem Durchpeitschen der Rentenreform am Parlament vorbei, dieses Jahr bereits seine zweite inländische Krise erlebt, dankte beim Frühstück in Pau der Polizei. Es gäbe ein Problem fehlender Autorität in der Banlieue, aber dieser Mangel sei in der Familie begründet. Punkt. Die Exekutive steht stramm an der Seite der Polizei. Die kämpft mit Personalmangel, kriegt aber nur immer noch schärferes, teures Geschütz. Begleitet wird das von teils radikalisierten Polizeigewerkschaften. Eine nannte die Aufrührer „Schädlinge und wilde Horden“, schuld sei unter anderem die unkontrollierte Immigration. Dabei kommen laut Statistik rund 90 Prozent der Unruhestifter aus Frankreich.

Quelle          :      TAZ-online            >>>>>           weiterlesen

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Tagesschau auf Kriegskurs

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

MAFIA IM ENDGERÄT

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Das TV-Gerät wirkt völlig harmlos. Millionen dieser Kästen stehen in deutschen Haushalten. Ein paar Millionen SmartPhones kommen hinzu. Mit allen werden Tag und Nacht die sogenannten Nachrichten der Tagesschau empfangen. Doch was so harmlos „Nachricht“ heißt, ist in Wahrheit zunehmend eine geballte Ladung von Werbebotschaften für die Waffenindustrie.

Mörderische Waffenindustrie

Wer für die mörderische Waffenindustrie arbeitet, der beteiligt sich an Verbrechen. Sowohl solche gegen das Grundgesetz als auch jene gegen die Menschlichkeit. Und wer diese Verbrechen organisiert, den kann man als mafiös bezeichnen.

Aus den Zwangsgebühren können Sie nicht aussteigen

Die ARD macht Ihnen, wie der Pate zu sagen pflegt, „ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können“ – so kommt die Tagesschau ins Haus. Denn aus den Zwangsgebühren können Sie nicht aussteigen. Sie haben keine Wahl. Wenn Sie es versuchen, dann wird die GEZ, die Gebühreneinzugszentrale, andere Seiten aufziehen. Auch wenn die GEZ heute ganz harmlos „Beitrags­service“ heißt, die Zwangsmittel sind die gleichen.

Werbung für die Rüstungsindustrie

Nach dem Rundfunkzahlungszwang folgt immer wieder die unbestellte Werbung für die Rüstungsindustrie. Mal erzählt die Tagesschau von den gestiegenen Rüstungsexporten und kommentiert die Steigerung damit, dass sie „die enge Verbundenheit mit unseren EU- und NATO-Partnern und engen Partnerländern abbilden“. Dann bemitleidet sie den Verteidigungsminister, weil dessen Etat zu klein sei.

Nachrichten unterstützen Verbrechen

Obwohl die diversen ARD-Anstalten zur Unparteilichkeit und Neutralität verpflichtet sind: Sie betreiben das Geschäft der Regierung und der ihr angeschlossenen Waffenindustrie. Ihre sogenannten Nachrichten unterstützen Verbrechen, sind also mafiös.

Zuschauer machen mit
Auch diese Ausgabe der MACHT-UM-ACHT stützt sich auf eine Vielzahl von
Zuschauer-Zuschriften, die an diese Adresse gesandt wurden:
DIE-MACHT-UM-ACHT@apolut.net Dafür bedankt sich die Redaktion ganz
herzlich.

Hier geht es zum Video:

https://apolut.net/die-macht-um-acht-133-mafia-im-endgeraet/

Urheberrecht

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Mitwelt Stiftung Oberrhein

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

Am 19.7.1973 (vor 50 Jahren) wurde Wyhl zum Standort für das später verhinderte Atomkraftwerk

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Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein Venusberg 4, 79346 Endingen

Von         :         Axel Mayer

Vor 50 Jahren hatte die Umweltbewegung am Oberrhein einen ersten, großen Erfolg. Die Verantwortlichen des Energiekonzerns Badenwerk (heute EnBW) und die Landesregierung erkannten, dass der Atomkraftwerksstandort Breisach politisch nicht durchsetzbar war. Zu stark war der Protest der mehrheitlich konservativen Bevölkerung am Kaiserstuhl. Kurzerhand wurde die Planung 13 Kilometer nach Norden verschoben. Am 19. Juli 1973 wurde erstmals der neue Standort eines Atomkraftwerkes in Wyhl bekannt.

Es war eine spannende Zeit des Umbruchs in einer Phase extremer Umweltverschmutzung in Nachkriegsdeutschland und Europa. Nach den noch eher zaghaften Protesten gegen die Verschmutzung der Wutach und gegen die AKW in Breisach und Schwörstadt verstärkte sich der Protest. Der Nachkriegsglaube an das unbegrenzte Wachstum bekam erste Risse. Aus konservativen Nur-Naturschutzverbänden wurden politische Umweltverbände und im Elsass, in der Nordschweiz und Südbaden schwoll der Protest gegen umweltvergiftende Industrieanlagen und geplante Atomkraftwerke zu einer massiven Protestbewegung an.
Die heutigen (Teil-)Erfolge für Mensch und Umwelt in Sachen Luft- und Wasserqualität sind auch diesen frühen Kämpfen zu verdanken.

Es ging den Menschen nicht nur um die Bedrohung durch das AKW in Wyhl sondern auch um ein, im benachbarten Marckolsheim (F) geplantes, extrem umweltbelastendes Bleichemiewerk. Bei einem vergleichbaren Bleiwerk in Nordenham waren damals gerade sechzehn Kühe an Bleivergiftung gestorben, 69 Rinder mussten notgeschlachtet werden …
Die Menschen auf beiden Seiten des Rheins begannen erstmals nach dem Krieg in einer kleinen, alemannischen Internationale grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. Sie träumten und realisierten den Traum vom grenzenlosen Europa der Menschen und der verzweifelte Kampf gegen Blei und Atom begann.

Ein „Fenster der Möglichkeiten“ öffnete sich und beherzte Menschen aus dem Elsass und Baden begannen mit Informationsarbeit, Demonstrationen und der Vorbereitung der beiden Bauplatzbesetzungen in Wyhl und Marckolsheim(F). Aus den frühen erfolgreichen Kämpfen für Luftreinhaltung 1974 auf dem besetzten Platz in Marckolsheim entwickelte sich der Kampf gegen das Waldsterben 1.0. Langfristig gesehen liegen auch wichtige Wurzeln der heutigen Klimaschutzbewegung in diesen frühen Konflikten.

Die erfolgreiche AKW-Bauplatzbesetzung in Wyhl 1975 war ein wichtiger Impuls für die Besetzungen in Kaiseraugst(CH) und Gerstheim(F). Auch der Traum von einem schlagbaumlosen Europa der Menschen und von den kommenden erneuerbaren Energien wurde geträumt und angegangen. Doch nach kurzer Seit schloss sich das „window of opportunity“ und in Grohnde und Brokdorf war eine Wiederholung der Erfolge von Ober- und Hochrhein nicht mehr möglich.

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5 Jahrzehnte nach diesen trinationalen Umwelt-Konflikten, nach dem Streit um Gorleben und Wackersdorf und den Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima wurden in Deutschland die letzten Atomkraftwerke abgestellt. In diesen 50 Jahren gab es (gerade auch beim aktuellen Atomausstieg) immer ein zentrales Hintergrund-Thema, das bei den Konflikten um Kohle und Atom und beim Streit für die erneuerbaren Energien in der öffentlichen Debatte selten erwähnt wurde. Der Streit der Lobbyisten für Atom, Gas, Öl- und Kohle und ihr jahrzehntelanger Kampf gegen die Erneuerbaren war immer ein Konflikt um das Energieerzeugungsmonopol und um die Gewinne der mächtigen Energiekonzerne.

Die Verhinderung des AKW in Wyhl, des Bleiwerks in Marckolsheim und der Atomausstieg am 15.4.23 waren schon erstaunlich. Seit wann setzen sich in a »rich man´s world« die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Der Autor war Sprecher der ehemaligen BI Riegel, (alt-)Bauplatzbesetzer und dreißig Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg

Mehr Infos: https://www.mitwelt.org/kein-akw-in-wyhl.html

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Oben      —        Die Kritik am KKW Wyhl war Ende der 1970er Jahre noch subtil: unter dem Schild „Mafia“ ist „Kraft“ eingemeißelt

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Unten      —     Aufkleber gegen den Bau des Kernkraftwerkes Wyhl, 1975

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NATO-Gipfel in Vilnius

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

Der Krieg und das letzte Komma

Aus Vilnius Gemma Teres Arilla und Tanja Tricarico

Beim Nato-Gipfel wird vor allem um Worte gekämpft: Der Ukraine wird gegen den russischen Angriffskrieg viel versprochen – aber vieles bleibt vage.

In Vilnius bleibt Wolodimir Selenski nichts anderes, als den Ex-Komiker in ihm durchscheinen zu lassen. Es sind die immer wiederkehrenden Fragen, die die Jour­na­lis­t:in­nen zum Ende des Nato-Gipfels am Mittwochnachmittag an den ukrainischen Präsidenten stellen. Reicht das Angebot der Alliierten an die Ukraine? Ist das Signal der Verbündeten stark genug, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin einzuschüchtern? Kommt die Ausbildung an den F16-Kampfjets?

Selenski bemüht sich um Diplomatie, um das Gute im Unklaren für sein Land im Krieg zu finden. Und verweist irgendwann frotzelnd an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. „Du kannst diese Fragen auch alle beantworten.“ Lachen im Saal des Pressezentrums in Vilnius. Mitgefühl für den Präsidenten im Krieg ist zu spüren – und die unausgesprochene Gewissheit, dass allen klar ist: Die Zukunft der Ukraine ist ungewiss.

Es geht um diesen Schlüsselsatz im Abschlussdokument der 31 Nato-Staaten: „Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen, wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind.“ Bedingungen für ein Land im Krieg, in einem Krieg, von dem keiner weiß, wie lange er noch dauern wird? Übersetzt heißt das: Die Ukraine wird Teil der Nato – aber nicht jetzt. Auf einen breiteren Konsens konnten sich die Staats- und Regierungschefs beim Nato-Gipfel in Vilnius nicht einigen. Vor allem, weil Washington und Berlin nicht mitziehen wollten. Zu allem bereit wären die baltischen Staaten oder Polen gewesen.

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan positionierte sich klar für einen Beitritt. Stattdessen folgt eine windelweiche Formulierung: Wenn der Krieg zu Ende ist, dann gelten Bedingungen für die Aufnahme der Ukraine. So sollen etwa militärische Systeme miteinander funktionieren, auf rechtsstaatlicher Ebene müssen Regeln eingehalten werden. Bei allen Punkten wollen die Alliierten unterstützen.

Abschlussdokument der 31 Nato-Staaten :

„Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen“

Die deutsche Außenministerin Annalena Baer­bock spart nicht an Pathos, wenn sie von der gemeinsamen Vereinbarung spricht. Für sie schlägt „der Pulsschlag für die Ukraine“ in Europa nirgends so stark wie in Vilnius. „Die Nato ist unsere Lebensversicherung. Diese Lebensversicherung funktioniert aber nur, wenn einer für alle und alle für einen einstehen“, sagt Baerbock, sichtlich bemüht. Das zeige sich im Abschlussdokument des Gipfels und den Vereinbarungen für die Ukraine. Und das gelte natürlich auch für andere Konflikte. Für den Indopazifik-Raum und Asien etwa, für mehr Unabhängigkeit von China. Wie sehr der Puls der Li­taue­r:in­nen für die Ukraine schlägt, zeigt sich bereits am Dienstagabend.

Ein Meer ukrainischer Flaggen und Hunderttausende von Menschen, die ebenfalls in Gelb und Blau gekleidet sind, füllen den zentralen Platz der litauischen Hauptstadt. Auf der Bühne prangt ein riesiges Banner mit der Aufschrift #ukraine­nato33: Nach dem türkischen grünen Licht für die Aufnahme Schwedens am Montagabend wäre die Ukraine das 33. Nato-Mitglied. Selenski wird in wenigen Momenten zu den Li­taue­r:in­nen sprechen. Gerade angekommen in Vilnius, ist dies sein erster öffentlicher Auftritt. Mit den Nato-Verbündeten wird er erst am Folgetag sprechen. Während internationale Jour­na­lis­t:in­nen verzweifelt seit Tagen schreiben, dass es unklar ist, ob Selenski nach Vilnius zum Nato-Gipfel eintreffen wird, wussten die Vil­ni­u­se­r:in­nen längst Bescheid. Wie ein Popstar wird Selenski gefeiert, sobald er auf der Bühne mit seiner Ehefrau erscheint. Anschließend spielt eine litauische Band.

Der Platz ist nicht zufällig gewählt. In Zeiten der sowjetischen Besatzung stand dort in der Mitte eine Lenin-Statue, der Platz war nach ihm benannt. Unweit davon gibt es eine Open-Air-Dauerausstellung über den sogenannten Kaunas-Frühling im Mai 1972. Auslöser war die antisowjetische Protestaktion des Schülers Romas Kalanta, der sich öffentlich verbrannte. Ebenfalls nah ist das KGB-Museum, nun Museum der Opfer des Genozids genannt.

Die 40 Jahre sowjetischer Vergangenheit mit Unterdrückung der litauischen Sprache und Kultur spielen eine Rolle bei der Entscheidung der meisten Litauiner:innen, die Ukraine zu unterstützen. Vilnius ist nur rund 40 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Bis Russland, Richtung Osten, sind es knapp 350 Kilometer, aber im Westen grenzt Litauen mit der russischen Exklave Kalinigrad. Am Dienstag unterschreiben in Vilnius die Verteidigungsminister von Estland, Lettland und Litauen eine Koopera­tionsvereinbarung, die den Zugang für Nato-Staaten zum Luftraum der Baltenstaaten vereinfacht. Die drei Staaten haben keine eigenen Kampfjets.

„Ich werde alle schützen, außer die Russen“, sagt Etno Kelias Virginijus, der zusammen mit einem Freund auf den Platz gekommen ist. Natürlich hat auch er eine ukrainische Flagge dabei. „Im Januar 1991 habe ich auf den Barrikaden gegen die sowjetischen Besatzer hier in Vilnius Widerstand geleistet, aber jetzt wünsche ich mir, dass dieser Krieg zu Ende geht. Hier in Litauen wohnen Menschen, die mehrere Sprachen sprechen – Litauisch, Polnisch, Russisch … – und wir haben kein Problem miteinander. Das Problem ist unser Nachbar und seine expansionistischen Ideen“, fügt Etno hinzu.

Nahezu parallel zu Selenskis Auftritt im Zentrum der litauischen Hauptstadt äußert sich Nato-Generalsekretär Stoltenberg zum ersten Mal zur Abschlusserklärung der 31 Mitglieder – bald 32, mit Schweden. „Die Ukraine wird eine Einladung bekommen, Nato Mitglied zu werden, sobald die Bedingungen erfüllt werden“, so Stoltenberg. Die Ukraine kann nicht auf ewig warten: „Die Menschen sterben dort jeden Tag“, sagt Janina am zentralen litauischen Platz und zitiert empört den berühmten Satz „as long as it takes“ von Bundeskanzler Olaf Scholz und Stoltenberg. „Das ist einfach nicht genug. Russland ist eine Bedrohung, auch für uns“, sagt ihre Kollegin Danute. Auch die Jurastudentin Zuzana will Selenski live sehen, zeigt aber Verständnis für die Nato-Erklärung: „Der Krieg tobt noch, so ist es unmöglich, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Aber wir brauchen klare Zeichen dafür, dass es in einer näheren Zukunft doch klappen wird. Ohne die Nato wird die Ukraine nicht überleben.“

„As long as it takes“ – dieser Satz lässt sich an diesem Abend auch anders interpretieren. Ein junges litauisches Paar mit kleinem Kind und Säugling im Kinderwagen verlässt den Platz und kehrt langsam heim: „Wir haben Selenski gesehen, Papa!“, jubelt das Mädchen auf den Schultern des Vaters. Solidarität über Generationen hinweg.

Während Selenski Wut und Frust vor seiner Ankunft in Vilnius in die akademische Nato-Blase twittert, macht sein Verteidigungsminister Olexij Resnikow bereits den nächsten Waffendeal klar. 11 Bündnis-Staaten haben zugesagt, der Ukraine F-16 Kampfjets zu liefern. Die Niederlande und Dänemark leiten das Bündnis zur Ausbildung ukrainischer Kampfjet-Piloten. Bereits im August soll das Training in Rumänien beginnen. Dabei sind Großbritannien, Polen und Kanada. Deutschland hält sich noch raus.

Aber die Erwartungen an die Bundesregierung sind hoch. Deutschland habe sich gut in der Führungsrolle bei der Kampfpanzer-Koalition gemacht, sagt Resnikow. Warum also nicht dem Kampfjet-Bündnis beitreten? Bundeskanzler Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius reagieren ausweichend auf diese Anforderungen. Aber allen ist klar, dass die Kriegsgerät-Spirale sich weiterdrehen wird.

Mit einem Fünkchen mehr Stolz als bei Verteidigungsministern wohl üblich, verkündet Resnikow, gekleidet im olivgrünen Militäroutfit, dass seine Sol­da­t:in­nen – die Ukrai­ne­r:in­nen – mit ihrer Ausbildung an Panzern oder Patriots nur Wochen brauchten, anstatt der üblichen Zeit von mehreren Monaten. Also werde es bei den Kampfjets auch klappen. Über die umstrittene Streumunition aus den USA ist die Freude nach wie vor groß. Und vorauseilend beschwichtigt Resnikow umgehend die Kritiker:innen: „Wir werden sie nicht in besiedelten Gegenden einsetzen – und auch die Gebiete wieder räumen.“ Um sich gegen die brutalen Angriffe des Putin’schen Regimes zu wehren, bleibe der Ukraine aber keine andere Wahl.

Und Resnikow hofft auf mehr: ein Mehr an Waffen, an Flugabwehr, an Munition – und eine klare Perspektive für den Nato-Beitritt für die Ukraine. Von Frust und Wut über eine ukrainischen Gegenoffensive, die langsamer als erwartet verläuft, will Resnikow aber in Vilnius nicht sprechen. „Dieser Krieg ist keine Show. Er ist Realität.“

Die Brutalität des russischen Angriffskrieges: Daran lassen weder Scholz noch Baerbock und Pistorius Zweifel aufkommen. Und scheuen auch nicht den Realitätscheck im Diplomatiedschungel: „Wir können hier relativ entspannt auf jedes Komma in den Abschlussdokumenten schauen“, sagt Baerbock. Das kann ein Land im Krieg nun mal nicht. Dafür gibt es von den Staats- und Regierungschefs Empathie, Solidarität, Mitgefühl.

Das blau-gelbe Mitgefühl im Zentrum Vilnius, das von Tausenden von Po­li­zis­t:in­nen und Sol­da­t:inn­nen geschützt wird, hat seinen Preis. Die litauische Hauptstadt ist in eine Art Ausnahmezustand versetzt worden. In der Nähe des Messegeländes, wo der Nato-Gipfel stattfindet, herrscht teilweise Chaos. Ausgerechnet dann, als überschwänglich das von manchen gar als „historisch“ betitelte Abschlussdokument präsentiert wird, geht in der Stadt gar nichts mehr.

Über zwei Stunden stecken Jour­na­lis­t:in­nen und Di­plo­ma­t:in­nen am Verhandlungsort fest. Auch der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, wartet in der Sonne an der Bushaltestelle. Wasserflaschen werden von jungen Freiwilligen – natürlich gekleidet in blau-gelben T-Shirt mit der Aufschrift „trust us #wearenato“ – verteilt. Erst als US-Präsident Joe Biden das Gelände verlässt, und etliche andere Staats- und Regierungschefs auf dem Weg zum Gala-Dinner im Palast des litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda sind, sind die Straßen wieder frei.

Das Chaos, das solche Gipfeltage, die mit enormen Sicherheitsvorkehrungen verbunden sind, entschädigt Litauens Regierung mit kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln. Die rund 500.000 Ein­woh­ne­r:in­nen Vilnius tragen es mit Fassung. Dass der Nato-Gipfel stattfindet, ist überall zu spüren. Ukrainische, litauische, Nato-Flaggen hängen an den Bussen und offiziellen Gebäuden. Herzen für die Ukraine kleben an jeder Ecke. Mit Kunstaktionen, Fotoausstellungen und Videoperformances aus dem Krieg wollen die Li­taue­r:in­nen Hoffnung auf einen Beitritt der Ukraine schüren. Am Mittwochabend findet noch eine öffentliche Veranstaltung unter hohen Sicherheitsvorkehrungen an der Vilnius Universität statt: eine Rede des US-Präsidenten Biden.

Quelle         :          TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     On Saturday 25 February 2023, several thousand Peace Now demonstrators gathered in London to demand negotiations to bring about a peaceful resolution to the Ukraine war. PEACE TALKS NOW. Almost all the protesters agreed that their main demand was for a greater effort to end the horrific conflict in Ukraine, in which possibly as many as 200,000 may have already died and with the risk of escalation threatening the end of all human life on earth. WASHINGTON AND LONDON BLOCKED TALKS IN 2022 The evidence suggests that the United States and United Kingdom blocked Ukraine from carrying through with its proposed basis for a peace deal with Russia during negotiations in March-April 2022, with the Ukrainian newspaper Ukrayinska Pravda, citing sources close to Zelensky, claiming that Boris Johnson, on his visit to Kiev on 9 April, personally lobbied the Ukrainian president to abandon peace talks and continue the conflict. <a href=“https://peacenews.info/node/10287/liz-truss-helped-derail-chances-peace-ukraine-now-she-must-back-negotiations“ rel=“noreferrer nofollow“>peacenews.info/node/10287/liz-truss-helped-derail-chances…</a> The former Israeli prime minister, Naftali Bennett, also claimed that Washington blocked his attempts to negotiate a peace deal between Kiev and Moscow. <a href=“https://thegrayzone.com/2023/02/06/israeli-bennett-us-russia-ukraine-peace/“ rel=“noreferrer nofollow“>thegrayzone.com/2023/02/06/israeli-bennett-us-russia-ukra…</a> A VARIETY OF VIEWS ON SENDING ARMS Protesters had a greater variety of views on whether the West should send any arms to Ukraine at all, with many opposing any supply of arms that they believe will only prolong the conflict and suffering and risk further escalation, while others argued that sending some arms was morally justifiable to help Ukraine, but that the supply should be carefully calibrated so as not to make a wider and even more catastrophic world war more likely. JEREMY CORBYN’S SPEECH Jeremy Corbyn, as he concluded his brief speech, declared that ‚if all the protagonists in this conflict can come together to discuss the supply of grain to the world, and come to an agreement by which ships carrying the grain from Ukraine and Russia can go to feed other people in other parts of the world; if the US is capable of contacting Russia to say that president Biden is visiting Kiev, then it is obviously possible they could come together for serious talks and serious negotiations to stop the fighting, stop the killing, stop the conflict, and bring about peace and justice.“ WHY THE WEST NEEDS TO SUPPORT AND NOT BLOCK PEACE NEGOTIATIONS 1. Regardless of one’s opinions on the rights and wrongs of this conflict, it has already claimed at least 100,000 lives, possibly over 200,000, including more than 8,000 civilians <a href=“https://abcnews.go.com/International/russia-ukraine-war-tens-thousands-dead-1st-year/story?id=97247372“ rel=“noreferrer nofollow“>abcnews.go.com/International/russia-ukraine-war-tens-thou…</a> Its continuation also threatens global food supplies and energy prices, plunging thousands into food and fuel poverty across Europe and leading to widespread food shortages and hunger across Africa and parts of Asia. 2. Every day the war continues, and as NATO supplies of ever more powerful weaponry continue to increase, the risk of the war escalating into a terminal nuclear conflict continues to grow. Putin and much of the Russian military establishment will do almost anything to prevent a Ukrainian victory, especially one that might see Crimea, of huge strategic importance and with a clear majority Russian population, be returned to Ukraine. Many strategic analysts and Russia specialists believe that Moscow would be willing to consider using at least tactical nuclear weapons, and that this could quickly escalate into global conflict. The ongoing conflict is also jeopardising all the remaining arms control agreements which prevent another nuclear arms race, so that even if Ukraine is victorious, we risk entering a new cold war which is likely to end, soon rather than later, in a nuclear conflict that will terminate all organised human life on earth. 3. The Ukraine War has led to a huge increase in the consumption of fossil fuels, and the reversal of key policies in the fight against climate change. It also hinders crucial cooperation between Russia and the West on this urgent issue with regards measures to curb emissions, as well as cooperation between Russian and Western scientists, particularly as Russia occupies a large part of the arctic, where research findings are vital for our understanding of how rapidly climate change is occuring. 4. We have to acknowledge that some of the West’s recently declared war aims are highly questionable such as returning Crimea to Ukraine. Not only are the Russians unlikely to ever consider entering peace negotiations over its return, but over 60% of the population is Russian according to the last 2001 Ukrainian census and only 24% ( about 1 in 4) are Ukrainian. So it will be difficult to incorporate the territory back into Ukraine without at least some sort of referendum on Crimea’s status. It also has to be acknowledged that the millions of Russians who live within Ukraine have for years faced harsh discrimination with severe restrictions on the importation of books in the Russian language since 2017 (Russian books had previously accounted for 60% of all titles), restrictions on the use of Russian language in schools and Russophobic attacks in the streets. <a href=“https://en.wikipedia.org/wiki/Racism_in_Ukraine“ rel=“noreferrer nofollow“>en.wikipedia.org/wiki/Racism_in_Ukraine</a> The Russians in the Donbass area have also suffered from years of shelling during a prolonged war Ukrainian forces waged against them, with a total death toll up to December 2021 (including both Ukrainian and insurgent forces) of over 14,000, including over 3,000 civilians killed. Yes, there was an inflow of Russian arms which also stoked the conflict, but many Russians viewed this as legitimate support for a population which was under attack from the Ukrainian army. <a href=“https://ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-related civilian casualties as of 31 December 2021 (rev 27 January 2022) corr EN_0.pdf“ rel=“noreferrer nofollow“>ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-relat…</a> 5. Finally, whatever one’s views on the Ukrainian conflict, the evidence suggests that Western strategy is failing. Russian forces continue to gain ground in Ukraine on a daily basis, despite an enormous inflow of NATO arms. Russian industry is able to be fully mobilised on a war footing in a way that the West, with its just in time corporate controlled arms industry, can’t compete with. NATO has already acknowledged that by the summer of this year, Ukraine is likely to run out of artillery shells. What is brutally termed the „burn rate“ of NATO supplied military equipment (and indeed of Ukrainian young men) is far higher than its replenishment rate. At the same time, despite all the sanctions the Russian economy is predicted to grow faster this year than either Germany or the United Kingdom. <a href=“https://www.grid.news/story/global/2023/02/01/russias-economy-is-now-forecast-to-grow-faster-than-germanys-and-britains-in-2023-how-is-that-possible/“ rel=“noreferrer nofollow“>www.grid.news/story/global/2023/02/01/russias-economy-is-…</a> The ruble has actually gained slightly in strength against the US dollar, relative to its value a year ago in February 2022, <a href=“https://www.xe.com/currencycharts/?from=RUB&to=USD“ rel=“noreferrer nofollow“>www.xe.com/currencycharts/?from=RUB&to=USD</a> and Russian reserves remain impressively high. Much of the world, including China, India, South Africa and Brazil, remain more than willing to retain good relations with Russia and import its oil and other key commodities. Western strategy is failing to weaken Russia but the war strengthens the position of the nationalists within Russia, and gives the Russian government a pretext to clampdown on dissent. It also pushes Russia ever closer to China, while accelerating Europe’s relative economic decline. So whatever one’s moral view on the conflict, the lack of any coherent strategy to end this conflict and the West’s refusal even to consider peace negotiations appears to be a catastrophic mistake.

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Scheitern der Nichtigkeiten

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Revolten in Frankreich und ihre Ursachen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von :      pm

Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten. Wieder einmal wird ein Jugendlicher von einem französischen Polizisten bei einer Kontrolle erschossen.

Wie ein Brandsatz löst der Tod eine Welle des Vandalismus bis in die kleinsten Städte aus, die sich nicht nur gegen die Konsumtempel richtet, sondern auch gegen die politischen Instanzen. Diese Aufstände kehren seit Jahrzehnten immer wieder und haben dieselben Ursachen, ohne dass sich die Politik ändert. Einer der besten Kenner der Verhältnisse ist Alèssi Dell’Umbria, dessen Buch „Wut und Revolte“ 2017 herausgebracht wurde.Es hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat, weil auch 2005 schon die Polizei für den Tod arabisch-stämmiger Jugendlicher verantwortlich war, die in dritter oder vierter Generation Franzosen sind, aber in Gettos leben und diskriminiert werden. Alèssi nennt es eine Apartheitspolitik im Städtebau, die seit dem 19. Jahrhundert praktiziert wird. Eine wichtige Ursache ist die Kolonialherrschaft, die bis heute nicht beendet ist.

Alèssi Dell‘Umbria : Wut und Revolte

In Frankreichs jüngerer Geschichte war 2005 ein entscheidendes Jahr. Der Innen-minister Sarkozy wollte Präsident werden, indem er das Politikfeld des rassistischen Front National neu besetzte.

Die Vorstädte rebellierten, als wieder einmal „arabische“ Jugendliche von der Polizei in den Tod getrieben wurden. Die Wut über die gesellschaftliche Verachtung brach sich Bahn. Die Folge waren brennende Vorstädte. Anschliessend streikten Schüler und Studenten, weil ein neues Gesetz die schlechten Perspektiven der Jugend verschlimmern sollte.

Der Autor beschreibt, wie die Bewohner der Vorstädte in ein System der Segregation getrieben wurden und sich feindlich gegen diese Welt wendeten, die sie als Feinde behandelt. Dell‘Umbria zeichnet nach, wie sich schon seit dem 19. Jahrhundert die Politik durchsetzte, bestimmte Bevölkerungsschichten in eine Art Gettos weg zu sperren, so dass man von „Apartheitspolitik“ sprechen kann. Drogen einerseits und Fundamentalismus andererseits sind die Konsequenzen. Dell’Umbria’s Text liefert einen Schlüssel zur Erklärung islamistischer Attentate.

Alèssi Dell’Umbria ist in Marseille aufgewachsen, wo er bis heute lebt und politisch aktiv ist. Sein Interesse gilt der Stadtgeschichte von unten, insbesondere den Ausgeschlossenen.

2006 erschien von ihm im Marseiller Verlag Agone „Histoire universelle de Marseille, de l’an mille à l’an deux mille“ [Die universelle Geschichte Marseilles vom Jahr Tausend zum Jahr Zweitausend].

Als 2005 die Aufstände in den Vorstädten den französischen Präsidenten Sarkozy veranlassten, zur Säuberung mit dem ‚Kärscher‘ von der „Racaille“ [das Ausgekotzte, der Abschaum] aufzufordern, schrieb Dell’Umbria das Buch: „C’est de la racaille? Eh bien, j’en suis!“ [Das ist Abschaum? Na, dann gehöre ich dazu!]

Der Essay wurde sofort ins Italienische, Spanische und Griechische übersetzt. Aktualisiert und mit neuem Titel wurde er als „La Rage et la Révolte“ [Wut und Revolte] 2010 im Verlag Agone veröffentlicht.

Dell’Umbria hat sich auch für die Revolte der indigenen Bevölkerung von Oaxaca in Mexiko 2006 interessiert und darüber geschrieben. 2014 drehte er einen Dokumentarfilm über den „Wind der Revolte“ in Tehuantepec (im Staat Oaxaca), wo die indigene Kultur durch industrielle Windparks zerstört wurde.

Übersetzung aus dem Französischen von Elmar Schmeda.

Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten

„Ce soir, on vous met le feu !“ Das hätte der Hit des Herbstes 2005 sein können. Drei Wochen lang haben hunderte Jugendliche, in verschiedenen Banlieues Frankreichs, das leere Versprechen dieses Fussballfanliedchens in Praxis umgesetzt.

Die Beobachter sind sich allgemein darüber einig, dass etwa zehntausend Jugendliche, fünfzehntausend Maximum, irgendwie an diesen Zwischenfällen beteiligt waren, und vorwiegend in kleinen Gruppen von zehn bis fünfzehn Individuen gehandelt haben : Die Revolte erscheint als eine Erweiterung einer Lebensweise, die der Bande, des Stammes, des Posses.

Das erklärt auch dass, abgesehen von den drei Krawallnächten in Clichy-sous-Bois (Seine-Saint-Denis), die direkten Auseinandersetzungen mit der Polizei vereinzelt geblieben sind. Jedoch zwei Ausnahmen: in Evreux (Eure) hat, am Abend des Samstags dem 5. November 2005, eine Gruppe von zweihundert mit Hackenstielen, Boulekugeln und Molotow-Cocktails ausgerüsteten Jugendlichen, es geschafft ein Einkaufszentrum zu verwüsten und ist der Polizei direkt gegenübergetreten.

2020

Aber sind es nicht letztendlich die Bürger-innen welche sich ihren Arroganten Schrott der Politik wählen ?

Am Abend darauf, in der Hochhaussiedlung der Grande Borne in Grigny (Essonne), hat ein Angriff von zwei bis dreihundert Jugendlichen ungefähr dreissig verletzte CRS hinter sich gelassen. Diese Beispiele tendieren dazu zu beweisen dass, selbst auf dem ungünstigen Gelände der Banlieue, mit seinen freien Flächen, die für die Polizeiintervention geschaffen sind, Krawallmacher die Polizeikräfte erfolgreich angreifen können. Im Übrigen war es ein eher heisses Wochenende, da, in der Nacht vom 6. auf den 7. November, mit 1400 in ein paar Stunden in ganz Frankreich verbrannten Autos der Höhepunkt der Brände erreicht wurde : Die Revolte fand ihren Ausdruck viel mehr durch das Feuer, als durch die Auseinandersetzung mit einer Polizei, die in der Ausrüstung überlegen ist.

„Ziele waren vor allem die Symbole des Staates; die Post, die Postautos wurden verbrannt… Dann gab es die Auseinandersetzungen mit den Bullen… Ich weiss, dass die Leute bei jedem geworfenem Stein sagten, na ja : Das ist für Bouna und Zyed! Um nicht zu sterben“, erzählt ein Jugendlicher aus Clichy-sous-Bois, der klarstellt : „In Clichy waren es nicht die Moslems gegen etwas Anderes, es waren eher die Jugendlichen der Banlieue, die keinen Bock mehr hatten, keinen Bock mehr auf ihr Leben, die gegen die Regierung waren. Es waren nicht nur Moslems.“

Ein von einer Pariser Tageszeitung befragter Islamspezialist erklärte, dass es sich nicht um eine fundamentalistische Revolte handelte (man hätte es sich denken können… ), sondern um eine anarchistische. Er kam der Wahrheit ein wenig näher, aber ohne dabei einen entscheidenden Unterschied zu berücksichtigen : Die Anarchisten haben Propaganda durch die Tat betrieben und der Antagonismus mit dem Staat war durch eine Langzeitstrategie gekennzeichnet. Wohingegen der Antagonismus mit dem Staat in der Revolte des Herbstes 2005 unmittelbar war. Aber eine weitere wichtige Erläuterung ist nötig : Diese Revolte war nicht nur antagonistisch, sie war ebenfalls agonistisch. Die Brände bekamen in der Tat sehr schnell den Charakter einer gegenseitigen Herausforderung, eines Wettkampfes oder, wenn man so will, eines Wetteiferns zwischen den Jugendlichen verschiedener armer Vorstädte.

„Wir finden es cool im Fernsehen alles brennen zu sehen. Ich gehe fast nie aus meinem Viertel raus, ausser um ins Bled in Algerien zu fahren – aber wir kommunizieren mit den Typen aus Seine-Saint-Denis über den Bildschirm, alle Sender zeigen Bilder, sogar die arabischen Fernsehsender über Satellit.“ Wenn man dem den Gebrauch von SMS und E-Mails zufügt, hat man da eine komplette Verfremdung der Technologien, die missbräuchlicherweise als Kommunikationstechnologien bezeichnet werden. „Wir fordern uns auf Distanz heraus.“ Die Herausforderung, alle sogenannten primitiven Gesellschaften kennen das, ist der Akt, der die Kommunikation begründet: Hier läuft die Herausforderung über die Vermittlung der Tagesschau… „Es gibt keine Konkurrenz zwischen den Siedlungen, das ist reine Solidarität“, erklärten Jugendliche aus der Siedlung 112 von Aubervilliers.

Über den Protest gegen die polizeilichen Ausschreitungen hinaus, wollten die Brandstifter, die gewöhnlich durch den Banlieue-Urbanismus voneinander getrennt sind, sich untereinander wieder erkennen. Und somit gewinnen sie eine skandalöse Berühmtheit. Täglich von der Hogra geprägt, können sie von der Gesellschaft Anerkennung nur in Form des Skandals erwarten. Schon Marx bemerkte zu seiner Zeit, das es in Frankreich genügt Nichts zu sein um Alles sein zu wollen! Wenn die Jugendlichen nicht mehr als ihre Epoche sein können, so können sie doch ihrer Epoche gewachsen sein. Die Gesellschaft des Spektakels hat die Berühmtheit als einzige Kommunikationsform, als einzige öffentliche Form der Anerkennung durchgesetzt. Die Aussage dieses jungen Brandstifters, zufolge der sie über den Bildschirm kommunizierten, zeigt das gut. Der Skandal ist die negative Form der Berühmtheit.

Alèssi Dell‘Umbria : Wut und Revolte. Edition Contra-Bass 2017. 144 Seiten. ca. 15 SFr. ISBN 978-3-943446-29-6.

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Oben        —      Marche blanche pour Nahel à Nanterre, le jeudi 29 juin 2023

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Schöne Worte reichen nicht

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Der Westen muss aufhören, die Brandstifter zu hofieren.

Wer in der Politik kein Pack hofiert – bleibt selber im dunkeln stehen !

Ein Debattenbeitrag von Manfred Dauster und Alexander Rhotert

28 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica schüren serbische Nationalisten alte Konflikte. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Verbrechen wohl in Vergessenheit geraten.

Am 11. Juli jährt sich der Genozid an 8.372 Bosniaken in Srebrenica zum 28. Mal. Obwohl es dank des ehemaligen Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, ein Gesetz gibt, das die Leugnung des Völkermords unter Strafe stellt, wird dieser vom bosnischen Serbenführer Milorad Dodik gebetsmühlenartig bestritten. Die fehlende Durchsetzung der Strafvorschriften des bosnischen Strafgesetzbuchs gegenüber denjenigen, die laut und deshalb auch vorsätzlich diese Vorschriften verletzen, legt deutlich die Defizite des Rechtsstaats offen.

Srebrenica steht exemplarisch für die von Serben begangenen Kriegsverbrechen. Warum verbeißt sich Dodik seit Jahren in Srebrenica und leugnet diesen ersten Völkermord in Europa nach 1945? Eben weil der Genozid ein Menschheitsverbrechen ist. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Gräueltaten wohl vergessen. Wer erinnert an die Belagerung Sarajevos – die längste Belagerung einer Hauptstadt in der Geschichte, bei der über 11.000 Bosniaken, Serben, Kroaten, Roma, Juden und Angehörige anderer Gruppen durch serbisches Artillerie- und Scharfschützenfeuer starben? Wer erinnert an die Zehntausenden zumeist bosniakischen Mädchen und Frauen, die in serbischen Vergewaltigungslagern in Foča, Višegrad und anderswo monatelang gefoltert wurden? Wer erinnert an die ausgemergelten Insassen der serbischen Konzentrationslager Trnopolje, Keraterm und Omarska, in denen Tausende Bosniaken und Kroaten ermordet wurden?

Was Dodik, aber auch den heutigen serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić bewegt, den Genozid immer wieder kleinzureden, ist die Tatsache, dass der Name Srebrenica für alle Zeiten mit der serbischen Geschichte verbunden sein wird – genau wie Auschwitz mit der deutschen Geschichte. Die Anerkennung dieser monströsen Verbrechen und der Schuld ist die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Aber daran ist der serbischen Führung nicht gelegen. Grund hierfür sind Pläne von Kumpanen des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, dessen großserbisches Projekt zu verwirklichen.

Vučić und sein Außenminister Ivica Dačić waren während der von Milošević angezettelten Kriege dessen Propagandisten. Vučić erklärte in einer Rede vor dem Parlament am 20. Juli 1995, dass man für jeden getöteten Serben 100 Bos­nia­ken umbringen werde. Gleichzeitig war der Genozid von Srebrenica in vollem Gange, unter Beteiligung von Spezialeinheiten des Belgrader Innenministeriums, die gefesselte Jugendliche mit Schüssen in den Rücken ermordeten.

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Trotz Vučić’und Dačić’Vergangenheit als Schergen Milošević’unterstützen die USA und weitere westliche Mächte die aktuelle serbische Regierung und betrachten sie Stabilitätsfaktor in der Region. Dabei hat erst Ende Mai das UN-Tribunal in Den Haag zwei Mitstreiter von Milošević, die ehemaligen Chefs des staatlichen serbischen Sicherheitsdienstes Jovica Stanišić und Franko Simatović, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz und für Bosnien von großer Bedeutung, denn die beiden wurden wegen ihrer Rolle während des Angriffskriegs Serbiens gegen Bosnien für schuldig befunden.

In Deutschland wird das kaum wahrgenommen. Erst vor Kurzem stellte ein Journalist einer deutschen Tageszeitung in Frage, ob Srebrenica tatsächlich das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Immerhin seien in Bleiburg im Mai 1945 mehrere Zehntausend Anhänger des faschistischen kroatischen Ustaša-Regimes von den kommunistischen Partisanen Josip Broz Titos umgebracht worden. Doch ein von der internationalen Strafjustiz anerkannter Völkermord wie der in Srebrenica ist nicht einfach mit anderen Kriegsverbrechen vergleichbar. Was der unwissenschaftliche und ahistorische Vergleich aber trotzdem bewirken kann, ist eine Retraumatisierung der Überlebenden des Genozids. Alle, die sich mit dem Thema Srebrenica beschäftigen, sollten sich mehr Zurückhaltung auferlegen und sensibler damit umgehen.

Vor einem Jahr, am 11. Juli 2022, hielt der Hohe Repräsentant Christian Schmidt eine „Nie wieder“-Rede in Srebrenica. Gleichzeitig beseitigten Serben im nur 15 Kilometer entfernten Kravica Spuren in einer Lagerhalle, in der serbische Soldaten im Juli 1995 über 1.300 Menschen ermordet hatten. Das UN-Tribunal hatte die Lagerhalle als Tatort deklariert. Diese Stätte des Grauens hätte Schmidt mit einer Unterschrift erhalten können.

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —   An exhumed mass grave in Potocari, Bosnia and Herzegovina, where key events in the July 1995 Srebrenica Massacre unfolded. July 2007.

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Hitze-Hotspot Deutschland

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen

Liegt Jordanien neuerdings am Main? Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber warf jedenfalls unlängst den Vergleich in den Raum und warnte davor, dass es klimatisch so weit kommen könnte. Und tatsächlich lassen die letzten Jahre Schlimmes befürchten.

Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen vertrocknetes Gras, dazu ein träger, aber unangenehm heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen? Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich nordwestlich von Würzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen.

Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland.

Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schipperten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären.

In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft.

Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem Main-Donau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung.

Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung.

Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren.

Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus

Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.[1] „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber.

Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt.

Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt.

Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer.

Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.[2]

Es ist spät, aber noch nicht zu spät

Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers, das diesem Text zugrunde lag, zentrale Punkte.

1. Die öffentliche Versorgung muss klaren Vorrang erhalten vor privatwirtschaftlichen Interessen

Der Vorrang der öffentlichen Trinkwasserversorgung vor allen anderen Nutzungen ist nicht klar und unmissverständlich festgeschrieben. Genau das muss aber sein. Es genügt nicht, den Grundsatz als allgemein und unverbindlichen Glaubenssatz unterschwellig zugrunde zu legen. Das war er nämlich bisher auch schon – und trotzdem bedienten sich Energieversorger und Industrie, Mineralwasserhersteller und Landwirtschaft reichlich ungeniert und mit dem Segen allzu sorgloser Behörden am Allgemeingut Wasser. Die Vorrangstellung der öffentlichen Trinkwasserversorgung muss daher bundesweit festgeschrieben werden. So, dass lokale Genehmigungsbehörden, aber auch Gerichte sich bei ihren Entscheidungen darauf stützen können. Wenn man so will, etwas Klares, Praktisches für den täglichen Gebrauch.

2. Die Wasserversorgung darf nicht privatisiert und dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden

Die Nationale Wasserstrategie beschäftigt sich mit der Zukunft. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Ihre Ziele sind auf 30 Jahre ausgelegt, und es ist richtig zu definieren, wohin man langfristig will. Die Verteilungskämpfe haben jedoch bereits begonnen. Folgerichtig braucht es auch kurzfristige Zielvorgaben und ein Instrumentarium, um sofort entscheiden und strategisch handeln zu können. Und nicht erst 2050.

Es ist an der Zeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Strommarkt wurde liberalisiert, also dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte unterworfen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und speziell die energiepolitischen Verwerfungen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führen jedoch die Schwächen des Systems vor Augen. Wenn es darum geht, Probleme im Sinne der Allgemeinheit zu lösen, ist von den Profiteuren der Liberalisierung nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann muss der Staat plötzlich eingreifen, mit Milliarden an Steuergeldern. Daraus leitet sich die banale, aber entscheidende Erkenntnis ab, dass Privatunternehmen nicht alles automatisch besser können als öffentliche Versorger.

Im Gegenteil: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo ein Privatinvestor im Bereich der Daseinsvorsorge Verantwortung übernommen hat, wenn ein System nicht mehr funktionierte. Die Energieriesen haben jahrzehntelang mit Gas aus Russland oder Atomstrom Milliardengewinne eingefahren. Den Umbau der Systeme, die Kosten für deren Versagen, finanziert jedoch der Staat, die Allgemeinheit. Bestes Beispiel ist das Milliardendrama um Uniper, jene börsennotierte Gesellschaft, die 2016 als Abspaltung des ebenfalls börsennotierten Energieriesen E.ON entstanden ist. Als Uniper im Zuge des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Lieferstopps von russischem Gas in die Bredouille geriet, musste der Bund das als systemrelevant eingestufte Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Steuersäckel stützen. Im Dezember 2022 wurde Uniper verstaatlicht.

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge, mindestens so sehr wie die Strom- und Energieversorgung. Man darf sie nicht dem freien Spiel privater Kräfte überlassen, nicht Investoren und profitmaximierenden Unternehmen. Wasser ist ein derart elementares Gut menschlichen Daseins, dass es nicht marktliberalen Mechanismen unterworfen werden darf. Nicht Wettbewerb, sondern funktionale Sicherheit müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen ein öffentliches, staatliches bzw. kommunal betriebenes Versorgungssystem für Trinkwasser, das auch im Krisenfall stabil und resilient ist. Vor allem die Städte und Gemeinden stehen hier in der Verantwortung. Sie müssen ihre eigene Wasserversorgung sicherstellen – bei Bedarf auch mit Nachbargemeinden zusammen; es gilt das Solidarprinzip.

3. Das Land braucht eine umfassende Wasserschutzagenda

Ressourcenschutz fängt nicht erst an, wenn es im konkreten Einzelfall darum geht, einen übermäßigen Wasserausbeuter in die Schranken zu weisen. Er beginnt viel früher. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, eine andere Herangehensweise mit dem Ziel, Wasser im Boden zu halten. Dafür zu sorgen, dass es nicht so schnell abfließt. Mit konsequentem Gewässerschutz, Investitionen in Leitungssysteme und Wasseraufbereitungsanlagen, aber auch, indem die Flächenversiegelung begrenzt, mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und insgesamt das Bewusstsein für sorgfältigeren Umgang mit der Ressource Wasser geschärft wird. Das Thema kommt einer Allensbach-Umfrage von 2022 zufolge immer mehr in der Bevölkerung an; drei von vier Deutschen gaben an, bewusster und sparsamer mit Wasser umzugehen als früher. Wassersparen hilft, aber das allein reicht nicht. Sümpfe, Moore und andere Feuchtgebiete müssen geschützt werden, die Versiegelung der Landschaft durch Wohn- und Gewerbegebiete, Straßen und andere Baumaßnahmen muss insgesamt reduziert werden. Wir brauchen im Einzelfall mehr Dachbegrünungen, aber auch Bauverbote in Gebieten mit Überschwemmungspotenzialen. Die Versickerung von Wasser an Ort und Stelle muss erleichtert werden.

Vielleicht sollten die Politiker-innen im Ausland von den roten Teppichen herunterkomme um sich die Wasserversorgung aus dem 12.Jahrhundert anzusehen, welche heute noch teilweise  funktionieren.

Auch der Grundwasserschutz muss verbessert werden. Experten der Vereinten Nationen sind überzeugt, dass aktuelle und künftige Wasserkrisen nur mit Hilfe des Grundwassers zu bewältigen sind. „Eine bessere Nutzung des Grundwassersystems könne zur Klimaanpassung beitragen“, heißt es im UNESCO-Weltwasserbericht 2022. So sei es etwa möglich, saisonale Überschüsse von Oberflächengewässern in Grundwasserleitern zu speichern. So könnten nämlich Verdunstungsverluste verringert werden, „wie sie etwa bei Stauseen auftreten“. Eine sinnvolle, umfassende Wasserschutzagenda beginnt schon bei der Erfassung aktueller Daten. Ferner muss eine Wasserschutzagenda schärfere Regelungen zum Schutz vor Verunreinigungen etwa durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel beinhalten. Das Herumlavieren, mit dem sich Deutschland in der beschriebenen Weise seit Jahren um die konsequente Einhaltung schärferer EU-Vorgaben drückt, muss ein Ende haben.

4. Privilegien für Großverbraucher abschaffen

Bayern, Hessen und Thüringen verzichten bislang auf ihn und in den anderen 13 Bundesländern ist er marginal bemessen. Die Rede ist vom Wassercent, im Behördendeutsch: dem Wasserentnahmeentgelt.

Richtigerweise muss es endlich jeder bezahlen, der sich am Allgemeingut bedient, um es für seine privatwirtschaftlichen Zwecke zu verwenden. Mineralwasserhersteller, Landwirte, Energieversorger, Industriebetriebe – bisher profitieren alle großen Schlucker von einer fatalen Nulltarif- oder Kostet-fast-nichts-Mentalität hierzulande. Geht es um die Bedürfnisse von Unternehmen, waren die Behörden, die Landesregierungen und die Kommunalpolitiker vor Ort stets sehr großzügig bei Entnahmemengen oder langfristigen Laufzeiten von Entnahmerechten. Das muss gestoppt werden. Behörden müssen die Mengen und die Laufzeiten begrenzen und unter den Vorbehalt stellen, dass sie in Dürrezeiten bei Bedarf auch unterbrochen oder stärker kontingentiert werden können. Und vor allem: Das jahrhunderte-, bisweilen sogar jahrtausendealte und besonders reine Tiefengrundwasser muss weitaus strenger geschützt werden. Übrigens nicht nur vor den Entnahmen gewerblicher, sondern auch öffentlicher Nutzer.

Ein probates Mittel ressourcenschonender Wasserbewirtschaftung wäre es, private und gewerbliche Nutzer gleichzustellen. Ihnen dieselben Gebühren abzuverlangen, wenn sie aus dem öffentlichen Netz schöpfen, und keine Rabatte für Großabnehmer mehr zu gewähren. Überdies müssen all jene spürbarer als bisher zur Kasse gebeten werden, die eigene Brunnen oder Wasserfassungen nutzen. Der Wassercent darf daher im Sinne der Allgemeinheit gerne ein Wassereuro werden.

Gewiss, die Wirtschaft im weitesten Sinne braucht Wasser und sie soll es auch in Zukunft bekommen. Dass Firmen für Wasser aber kaum oder fast nichts bezahlen, setzt jedoch keinerlei Anreize, um sich über Einsparungen, interne Wasserkreisläufe, Wasserrecycling oder Brauchwassersysteme Gedanken zu machen. Wir brauchen eine Gebührenpolitik, die genau solche Anreize schafft. Hier sind vor allem die Landespolitiker gefordert, bei denen das Thema bislang nicht angekommen ist. Geradezu unerträglich ist es, wenn, wie im Fall Tesla in Brandenburg, ein Unternehmen in einer trockenen Region angesiedelt wird und zig Mrd. Liter Wasser zugeteilt bekommt, während ringsum Gemeinden keine Wohngebiete und Schulen mehr planen können, weil das notwendige Wasser fehlt. Es kann auch nicht sein, dass einhergehend damit der Trinkwasserbedarf von Privatpersonen im Bedarfsfall eingeschränkt und Mehrbedarf finanziell sanktioniert wird, während die Versorgung der Großfabrik nebenan Priorität genießt.[3]

5. Wassertröpfchen für die Landwirtschaft

Quelle          :           Blätter-online          >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —      Talsperre Lehnmühle Oktober 2018 im Tal der Wilden Weißeritz im Erzgebirge. Sonst geflutete Brücke der Zinnstraße zum Erztransport von Altenberg nach Freiberg.

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Unten         —         The park in the Byzantine-era Cistern of Aspar in November 2013

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Schwarzbuch Axel Voss:

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Ein CDU-Abgeordneter schreibt Digitalgesetze –
und berät nebenher die Digitalbranche

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

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Wenn die EU das Netz reguliert, dann ist der konservative Parlamentarier Axel Voss nicht weit. Doch sein Abgeordnetengehalt bessert der CDU-Mann mit Nebenjobs auf, die Interessenskonflikte vermuten lassen. Transparenzorganisationen fordern ein Ende dieser Praxis.

Wer Axel Voss trifft, lernt einen freundlichen Herren kennen. Der 60-jährige Jurist aus dem Rheinland ist einer jener unaufgeregten EU-Abgeordneten, die nicht in die Tagesschau drängen, sondern geduldig die Facharbeit in den Ausschüssen des EU-Parlaments erledigen. Voss ist, trotz jahrzehntelanger politischer Tätigkeit, fast nur Eingeweihten in Brüssel ein Begriff.

Lobbyismus-Kritiker:innen ist Voss allerdings schon lange ein Dorn im Auge: Denn in Brüssel wirkt der CDU-Abgeordnete wie ein digitalpolitischer Konzernlautsprecher. Im vergangenen Jahrzehnt hat Voss an mehreren Schlüsselgesetzen der EU mitgeschrieben – und dabei vehement die Positionen von Lobbyisten und Branchenverbänden vertreten. In Deutschland kaum bekannt, scheint Voss einer der wichtigsten Gehilfen der Digitalbranche im EU-Parlament zu sein.

Umso drastischer erscheint in diesem Licht ein offener Brief von Transparenzorganisationen, die Voss einen Interessenskonflikt vorwerfen. Er arbeite nebenher für Firmen mit geschäftlichem Interesse an genau jenen Themen, zu denen er als Abgeordneter Gesetze schreibe – beispielsweise erhält Voss ein Zubrot von der Deutschen Telekom. Welchen Einfluss haben Voss‘ Nebengeschäfte auf seine politische Tätigkeit? Der Brief, der von Transparency International, LobbyControl, Corporate Europe Observatory und Friends of the Earth Europe unterzeichnet wurde, ging vorige Woche an EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, eine Fraktionskollegin von Voss.

„Voss hat eine Schlüsselrolle in zahlreichen digitalen Gesetzgebungsprozessen gespielt, von ePrivacy und der Urheberrechtsrichtlinie bis hin zum Gesetz über Künstliche Intelligenz, die alle stark von Unternehmensinteressen beeinflusst wurden“, sagt Bram Vranken vom Corporate Europe Observatory. Die Nebenjobs von Voss würden Fragen darüber aufwerfen, wessen Interessen er vertritt, so Vranken: „Die seiner Wähler oder die seiner Arbeitgeber?“

DSGVO als „völliger Quatsch“

Einen seiner ersten großen netzpolitischen Auftritte machte Voss als Chefverhandler für die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) um die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), wo er unermüdlich für mehr Ausnahmen im Gesetz kämpfte. Letztlich war der wirtschaftsfreundliche Christdemokrat dann aber so unzufrieden, dass er die DSGVO in Interviews als „völligen Quatsch“ kritisierte. Das Gesetz gerate zu einem „Behinderungsinstrument für die digitale Wirtschaft in Europa“.

Auch bei der ePrivacy-Reform, die die Vertraulichkeit der Kommunikation im Internet stärken sollte, drängte Voss auf Änderungen, die großen Technologiekonzernen mehr Spielraum beim Datensammeln geben sollten. Bemühungen anderer Abgeordneter, den Entwurf für die ePrivacy-Verordnung im Sinne der Privatsphäre zu stärken, verglich der CDU-Politiker mit dem Wächterrat des iranischen Regimes. Auch wegen des großen Widerstandes aus Teilen der Digitalwirtschaft und der Verlagslobby ist die ePrivacy-Reform bis heute nicht beschlossen.

Seinen größten Erfolg fuhr Voss womöglich mit der Urheberrechtsrichtlinie ein. Das umstrittene Gesetz verpflichtet Internetplattformen dazu, von Nutzer:innen hochgeladene Inhalte auf Urheberrechtsverletzungen zu scannen. Bekannt wurde das als sogenannte Uploadfilter. Suchmaschinen sollen außerdem Lizenzgebühren für Teasertexte zu redaktionellen Inhalten zahlen, das Prinzip ist als Leistungsschutzrecht bekannt.

Das Gesetz wurde von Google und anderen Tech-Konzernen bekämpft, fand allerdings große Unterstützung der Film- und Musikbranche sowie von Presseverlagen wie Axel Springer. Als Chefverhandler der Europaparlaments boxte Voss die Reform trotz heftiger Kritik aus der Zivilgesellschaft und großen Protesten durch.

Dabei glänzte der CDU-Abgeordnete nicht immer mit Detailkenntnis seines Vorschlags. Im Gespräch mit netzpolitik.org zeigte Voss sich damals überrascht, dass Nutzer:innen bei Wikipedia Bilder, Tonaufnahmen oder Videodateien hochladen können und die freie Enzyklopädie damit ebenfalls unter die Filterpflicht seiner Richtlinie fällt. Nach der finalen Abstimmung offenbarte Voss Unkenntnis darüber, dass durch sein Gesetz private Fotos und Videos von Sportveranstaltungen zur Urheberrechtsverletzung werden könnten. Von der Verlagslobby wurde Voss‘ Arbeit trotzdem ausdrücklich gelobt.

Seit der Europawahl 2019 widmet sich Voss hauptsächlich einem neuen Thema, der Regulierung Künstlicher Intelligenz. In der Debatte um eine KI-Verordnung war Voss einer der Wortführer seiner Fraktion, erneut vertrat er sie im federführenden Ausschuss und mischte zudem in einem beratenden Ausschuss mit. Unter anderem setzte er sich dafür ein, dass Ermittlungsbehörden KI-Überwachung einsetzen können. Zugleich drängte er vehement auf einen „Raum für Innovation“ für die Wirtschaft, den Entwurf des Parlaments kritisierte er wegen seiner Maßnahmen zur Minimierung von Risiken durch KI-Systeme als unausgewogen.

Während er im Parlament zur KI-Verordnung verhandelte, geriet Voss wegen seiner Tätigkeit im Verband SME Connect in die Kritik. Der Verband gibt vor, kleine und mittelgroße Unternehmen in Brüssel zu vertreten. Kritiker:innen werfen ihm aber vor, sich durch große Technologiekonzerne wie Meta und Amazon unterstützen zu lassen. Gegenüber Corporate Europe Observatory wendet Voss ein, dass SME Connect, wo er im Vorstand vertreten ist, nicht direkt Lobby-Arbeit leiste, sondern lediglich „Diskussion ermögliche“. Gleichwohl findet sich die Gruppierung im EU-Transparenzregister. Dort müssen sich Interessenvertreter:innen registrieren, deren „Tätigkeiten darauf abzielen, Einfluss auf die EU-Politik und den Beschlussfassungsprozess zu nehmen.“

Nebentätigkeiten für Telekom und Sozietät werfen Fragen auf

Der offene Brief der Transparenzorganisationen wirft unterdessen Fragen zu Voss‘ Verbindungen mit der Digitalbranche auf. Laut seiner Erklärung der finanziellen Interessen verdient er zusätzlich zu seinem Abgeordnetengehalt monatlich zwischen 1.001 und 5.000 Euro brutto mit Tätigkeiten für die Sozietät Bietmann Rechtsanwälte Steuerberater. Deren Website nennt als Tätigkeitsschwerpunkte von Voss das Datenschutzrecht sowie Urheber- und Medienrecht.

Für wen Voss genau arbeitet, bleibt unklar. Für die NGOs ist aber insbesondere ein Gespräch des Abgeordneten zu einer geplanten EU-Richtlinie mit der Lobbyfirma B-Connect fragwürdig. Denn B-Connect steht eng mit der Sozietät Bietmann in Verbindung, für die Voss tätig ist. Haben sich hier private Interessen und politische Tätigkeiten Voss‘ vermischt? Dafür gebe es zwar keine Beweise, das Treffen sorge aber für Klärungsbedarf.

Auf Anfrage betont Axel Voss, bei seiner Tätigkeit für Bietmann Rechtsanwälte gehe es um eine rein rechtliche Beratungstätigkeit. „Ich habe für keinen Mandanten gearbeitet, dessen Geschäftsinteressen von meiner politischen Arbeit berührt werden“, so der Abgeordnete.

Eine direkte Verbindung zu B-Connect streitet Voss ab. Bei dem Treffen beziehungsweise Telefonat, das er am 13. September 2021 geführt hatte, sei es um eine „rein rechtliche Interpretationsfrage zum deutschen Lieferkettengesetz“ gegangen. Knapp ein halbes Jahr später stellte die EU-Kommission ihren Gesetzesentwurf über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen in ihren Lieferketten vor. Die EVP-Fraktion vertritt in den Trilog-Verhandlungen als sogenannter Schattenberichterstatter: Axel Voss.

Verschwundene Treffen

Ebenso hinterfragt der offene Brief die Tätigkeit von Voss im Datenschutzbeirat der Deutschen Telekom. Dafür erhält er zwischen 501 und 1.000 Euro monatlich. Zugleich arbeite er im Parlament an Themen, die die Telekom direkt betreffen würden. Dazu habe er sich nicht nur mit Vertreter:innen der Telekom ausgetauscht, sondern auch mit Lobby-Gruppen wie GSMA, ETNO und Bitkom, denen der deutsche Telekom-Riese angehört. Voss habe sogar Telekom-Lobbyisten getroffen, die Meetings aber wieder von seiner Abgeordnetenseite nehmen lassen, berichtet der offene Brief. Dadurch riskiere Voss einen Interessenskonflikt.

Bei den aus dem Register verschwundenen Einträgen handle es sich laut Voss um Fehler, denn ursprünglich habe er mehr angegeben, als vom Transparenzregister gefordert wird. „Als Abgeordneter muss ich Treffen veröffentlichen, wenn sie Dossiers betreffen, bei denen ich Schattenberichterstatter oder Berichterstatter bin“, schreibt Voss an netzpolitik.org. „Nun hatte ich zunächst auch andere Treffen veröffentlicht, die keinerlei Verbindung zu einer Berichterstattung hatten, diese wurden wieder rückgängig gemacht.“ Anders gesagt: Die Treffen fanden statt, gelangten aber nur irrtümlich an die Öffentlichkeit.

Den Datenschutzbeirat der Telekom beschreibt Voss als ein Expertengremium, das den Fokus auf die rechtliche Interpretation der Datenschutzgrundverordnung gelegt habe – „die seit meiner Tätigkeit im Beirat abgeschlossen ist“, so Voss. Indes wird der Abgeordnete weiterhin als Mitglied des Beirats geführt, zu den Themenschwerpunkten des vergangenen Jahres zählten unter anderem die ePrivacy-Verordnung, der Data Act oder das KI-Gesetz.

Diese Themen sind auch dem Lobby-Büro der Deutschen Telekom in Brüssel wichtig. Über ein halbes dutzend Angestellte versuchen dort, EU-Gesetze zu beeinflussen, kosten lässt sich das der Konzern geschätzt über zwei Millionen Euro im Jahr – nicht eingerechnet sind die Lobby-Kosten von Verbänden, denen die Telekom angehört. „Voss riskiert einen sehr problematischen Interessenkonflikt, da er Mitglied im Datenschutzbeirat der Deutschen Telekom ist und gleichzeitig Änderungen am KI-Gesetz vorschlägt, die der gleichen Firma zugute kommen könnten“, sagt Bram Vranken vom Corporate Europe Observatory.

Untersuchung läuft, Reformen sollen folgen

All diese Nebentätigkeiten und unklaren Verstrickungen müssen untersucht werden, fordern die Transparenz-NGOs von Parlamentspräsidentin Metsola. Zwar würden sie dem Abgeordneten nicht unterstellen, mit seiner parlamentarischen Arbeit seine Nebenarbeitgeber zu begünstigen. Dafür fehlten die Beweise. Dies sei aber nicht relevant: „Die Situation, gleichzeitig ein EU-Abgeordneter zu sein, der in den Bereichen Lieferketten, KI, Data Act und verwandten Dossiers aktiv ist und diese spezifischen Nebenjobs innehat, ist der relevante Sachverhalt“, schreiben die NGOs. Insgesamt stehe Voss im Verdacht, den Verhaltenskodex für EU-Parlamentarier:innen verletzt zu haben. Dieser gibt sich gegenüber netzpolitik.org gelassen: „Ich stelle mich auch gerne dem Prüfverfahren des Parlaments“, so Voss.

Allein die weltweit führende Rolle, die die EU bei der Netzregulierung inzwischen einnimmt, macht sie zum begehrten Lobbyziel der Digitalbranche. Einen dreistelligen Millionenbetrag investiert sie jährlich, um Einfluss zu nehmen, dabei übertrumpft sie mittlerweile die Ausgaben von Ölfirmen, der Finanzbranche oder der Pharmaindustrie.

Ein Sprecher von Parlamentspräsidentin Metsola bestätigt, den offenen Brief erhalten zu haben, nun werde der Fall untersucht. Zugleich arbeite die EU-Institution daran, die Regeln zu Interessenskonflikten zu präzisieren und zu verschärfen. Das soll die Integrität des EU-Parlaments verbessern, so der Sprecher. Zuletzt litt das Ansehen des Parlaments aufgrund von Korruptionsskandalen, ein nachhaltiges Beben löste etwa jüngst die sogenannte Katargate-Affäre aus.

Wie weit die Transparenzreformen reichen werden, bleibt vorerst offen. Die Transparenz-NGOs wollen jedenfalls so weit wie möglich gehen: In ihrem Brief fordern sie Metsola auf, das bestehende Verbot für Abgeordnete des EU-Parlaments, gleichzeitig Nebenjobs in der Lobbyarbeit auszuüben, vollständig umzusetzen. „Angesichts von Katargate steht das Europäische Parlament wie nie zuvor unter Druck, dafür zu sorgen, dass seine Ethikregeln so robust wie möglich sind und gut durchgesetzt werden.“

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Oben           —          Demonstration gegen die Urheberrechtsreform der EU in Freiburg auf dem Rathausplatz

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Ganz ohne Witwenrente

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Charmant in die Altersarmut

Wie ist es denn vielen Kriegerwitwen nach den letzten Krieg ergangangen – welche auf den Staat hoffen mussten? Wurden nicht viele Witwen in die Prostitution getrieben um die Kinder ernähren zu können? 

Von Ulrike Herrmann

Für viele ist die Hinterbliebenenrente eine Aufstockung für den Lebensunterhalt. Eine Kürzung würde nur eins bedeuten: verschärfte Altersarmut.

Über die Rente wird permanent diskutiert, aber ein Thema blieb bisher relativ unbeachtet: die Witwenrente. Doch nun hat die Chefin der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer eine Reform vorgeschlagen, die darauf hinauslaufen würde, die Witwenrenten langfristig zu kürzen.

Konkret stellt sich Schnitzer vor, dass es zu einem „Rentensplitting“ kommt. Dabei werden die Rentenansprüche der Ehepartner hälftig geteilt – und zwar nur die Ansprüche, die tatsächlich während der Ehe erworben wurden. Frühere Beiträge werden nicht berücksichtigt. Wenn dann ein Partner stirbt, erhält der Hinterbliebene diese Hälfte sowie die eigenen Ansprüche, die vor der Ehe entstanden sind.

Auch jetzt ist ein Rentensplitting schon möglich, aber Schnitzer schlägt vor, dass es verpflichtend wird. Faktisch würden damit die Witwenrenten gekürzt, denn bisher erhalten Hinterbliebene im Normalfall 55 bis 60 Prozent der Rente ihres verstorbenen Partners – plus die eigene Rente. Allerdings sind konkrete Berechnungen schwierig, wie groß die Nachtteile tatsächlich wären, weil derzeit das eigene Einkommen des Hinterbliebenen bei der Witwenrente berücksichtigt wird.

Nur eine Minderheit war nie erwerbstätig

Wie auch immer: Klar ist, wer garantiert verlieren würde. Dies wären alle Ehepartner, die selbst nicht arbeiten. Das ist gewollt. „Die jetzige Regelung reduziert die Anreize, eine eigene Beschäftigung aufzunehmen“, sagte Schnitzer dem Spiegel. „Außerdem tragen so alleinstehende Beitragszahlende zur Finanzierung von Rentenansprüchen für nicht erwerbstätige Partner bei, die selbst nicht in das System einzahlen.“

Selbst wenn es zu dieser Reform käme, würde sie nicht sofort greifen. Stattdessen soll es lange Übergangsfristen geben, damit sich alle Arbeitnehmer auf die künftigen Realitäten einstellen können. Die heutigen Rentner müssten also nicht fürchten, dass sie plötzlich ein Teil ihres Einkommens verlieren.

Auf den ersten Blick wirkt es charmant, wenn nicht alle Beitragszahler dafür aufkommen müssten, dass einzelne Ehepartner lieber zu Hause bleiben und nicht arbeiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass nur eine Minderheit der Hinterbliebenen nie erwerbstätig war. 2022 bezogen etwa 5,3 Millionen Menschen eine Witwenrente, wovon aber nur etwa 1,2 Millionen keine eigenen Rentenansprüche hatten. Der Rest hat früher gearbeitet – und erhält die Witwenrente zusätzlich.

Rentenkassen benötigen mehr Geld

Diese Zusatzgelder werden dringend gebraucht, damit die alten Menschen überhaupt über die Runden kommen: 2022 erhielten Männer, die auch eine Witwerrente erhielten, im Schnitt 1.717 Euro netto. Frauen mit eigener Rente und Witwenrente bekamen monatlich 1.573 Euro ausgezahlt.

Quelle          :          TAZ-online             >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Isaac Israëls – Military funeral – Google Art Project

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Putins Mann in Belarus

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Lukaschenko und Russlands Atomwaffen

Ein Debattenbeitrag von Alexander Friedmann

Lukaschenkos atomares Säbelrasseln ist unverantwortlich. Aber es ist nicht zuletzt auch ein vorsichtiges Gesprächsangebot an den Westen.

Seit Monaten schlägt Juri Felschtinski Alarm. Der amerikanisch-russische Historiker geht von einem düsteren Szenario aus: Um das Blatt im Ukrainekrieg doch zu seinen Gunsten zu wenden, bereite der Kreml einen Atomschlag auf Polen oder Litauen vor und würde dafür gezielt das Territorium des Satellitenstaates Belarus verwenden.

Putins perfides Kalkül, so Felschtinski, ist dieses: Im Ernstfall würden Washington, London und Paris einen atomaren Schlagabtausch nicht riskieren und ihre osteuropäischen Partner sowie vor allem die Ukraine im Stich lassen. Und sollten die USA doch mit Atomwaffen antworten, würden sie Belarus, nicht Russland treffen.

Diese apokalyptischen Thesen finden Gehör – in Osteuropa. In Westeuropa werden sie hingegen als Panikmache zurückgewiesen: Einerseits sind sie zu erschreckend; andererseits genießt Felschtinski einen ambivalenten Ruf, wobei ihm eine gewisse Neigung zu Verschwörungstheorien unterstellt wird.

Noch in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren hat er mit dem früheren Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Litwinenko, zusammengearbeitet, der 2006 in London mit Polonium-210 vergiftet wurde. Litwinenko und Felschtinski warfen damals dem FSB grausame Verbrechen vor, darunter auch die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau 1999.

Genüsslich als Haudegen inszeniert

Aber vielleicht hat der radikale Kreml-Kritiker recht und die westliche Politik agiert fahrlässig, indem sie den Faktor Belarus übersieht?

Inzwischen spricht tatsächlich einiges für Felschtinskis Theorie. Moskau hat die Stationierung seiner taktischen Atomwaffen im Nachbarland bereits verkündet. Die Atomdrohungen gehören längst zum Arsenal der russischen Propaganda. So stellt etwa der ehemalige Staatspräsident Dmitri Medwedew die Auslöschung Polens in Folge eines Atomkrieges in Aussicht. Der einflussreiche Politikwissenschaftler Sergei Karaganow fordert einen präventiven Atomangriff auf Europa.

Und da gibt es noch den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der beim Thema Atomwaffen immer häufiger im Vordergrund steht und sich dabei genüsslich als Haudegen inszeniert, der die taktischen russischen Atomwaffen bereits nach Belarus geholt habe und dort in Zukunft auch strategische Atomwaffen stationieren lassen könne.

Weiterhin behauptet Lukaschenko, an Entscheidungen über den Einsatz von Atomwaffen beteiligt zu sein, und lässt zudem die Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen im Westen wissen, seine Hand würde nicht dabei zittern, wenn er auf die „Atomknöpfe“ drücken müsse.

Lukaschenko ist zwar ein williger Vollstrecker des Kreml, agiert jedoch stets auf seine eigenen Interessen bedacht

Was spielt Lukaschenko da? Lange unterschätzt und belächelt, wird er von westlichen Po­li­ti­ke­r*in­nen und Be­ob­ach­te­r*in­nen eher als Marionette wahrgenommen, welche zwar keinerlei Einfluss habe, jedoch überzeugend die ihm vom Kreml zugewiesene Rolle eines unberechenbaren Diktators mit Atomwaffen verkörpere. Seine Eskapaden sollten helfen, die Nato im Vorfeld des Juli-Gipfels in Vilnius zusätzlich zu verunsichern und ihre Entscheidungen hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine zu beeinflussen.

Dass Lukaschenko seine Auftritte im Auftrag des Kremls oder zumindest in Absprache mit Putin macht, scheint naheliegend. Moskau betont zwar gelegentlich, dass Russland die Kontrolle über die Atomwaffen im Nachbarland obliege. Die russische Führung lässt Lukaschenko allerdings gewähren und macht gleichzeitig keinen Hehl daraus, dass Belarus als russische Einflusszone betrachtet wird.

Der „Retter Russlands“?

Juri Felschtinskis Grundannahme, Belarus solle von Moskau lediglich als Vorhang verwendet werden, erweist sich somit als nicht stichhaltig, denn Putin macht keinen Unterschied mehr zwischen Belarus und dem russischen Kerngebiet. Und auch der Westen betrachtet die Atomwaffen in Belarus als ein russisches Projekt, für das Moskau Verantwortung trägt.

Der Autokrat aus Minsk ist zwar ein williger Vollstrecker der Kreml-Politik. Jedoch agiert er stets auf seine eigenen Interessen bedacht. Die groteske Wagner-Meuterei kommt ihm zupass. Obschon die Rolle, welche Lukaschenko in Verhandlungen mit dem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin tatsächlich gespielt hat, nach wie vor unklar bleibt, wird er vom Kreml zum „Friedensstifter“, sogar zum „Retter Russlands“ stilisiert.

In der Russischen Föderation ohnehin beliebt, genießt der belarussische Machthaber nunmehr außergewöhnliche Anerkennung. In der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum gehört er sogar zur Spitze vertrauenswürdiger Politiker, vor Außenminister Sergei Lawrow und nicht weit hinter Putin.

Absicherung seiner Herrschaft

Dies, gepaart mit russischen Atomwaffen und der geplanten Stationierung der Wagner-Gruppe in Belarus, führte kurzfristig zu einer rasanten Aufwertung Lukaschenkos in der westlichen Presse. Manche Medien brachten ihn sogar als Putins Nachfolger ins Spiel.

Quelle          :        TAZ-online             >>>>>          weiterlesen

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Oben      —       Раис Республики Татарстан Рустам Минниханов встретился с Президентом Республики Беларусь Александром Лукашенко.

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Der Nahostkonflikt :

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Der Teufelskreis von Jenin

Quelle      :        INFOsperber CH.

Gudrun Harrer /   Die neuen bewaffneten palästinensischen Gruppen im Westjordanland sind ein Symptom für den Zusammenbruch der Palästinenserbehörde.

Jenin ist der Geburtsort der neuen palästinensischen «Banditen»: Diese Bezeichnung stammt nicht etwa von Israel, das nach eigenen Angaben seinen Militäreinsatz in der Stadt im Westjordanland am Mittwoch beendet hat, sondern von der Palästinensischen Behörde. Die neuen bewaffneten Gruppen, gegen die sich die israelische Militäraktion gerichtet hat, kämpfen gegen die israelische Armee und die Siedler – aber gleichzeitig sind sie eine Folge des Kontrollverlusts der Palästinenserführung.

Laut israelischer Armee waren alle zwölf getöteten Palästinenser Kämpfer, rund 300 «Terrorverdächtige» wurden festgenommen. Nominell sind die neuen bewaffneten Palästinenser von den «alten» bekannten radikalen Gruppen unabhängig, es wird jedoch immer wieder vermutet, dass etwa über den Islamischen Jihad iranische Unterstützung zu ihnen gelangt.

In Jenin ist eine solche Gruppe 2021 zum ersten Mal aufgetaucht, bezeichnenderweise nach der Absage der palästinensischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen: eine verpasste Chance, der palästinensischen Führung und Verwaltung wieder Legitimität zu verschaffen. Drei Viertel der Palästinenser und Palästinenserinnen sprechen sich bei Umfragen für einen Rücktritt von Präsident Mahmud Abbas aus. Er ist 87 und wurde 2005 auf vier Jahre ins Amt gewählt. Seinem eigenen Ansehensverlust sieht er in geistiger Versteinerung zu.

«Löwengrube» in Nablus

Neue bewaffnete Gruppen gibt es heute nicht nur in Jenin, sondern auch in anderen Städten, in Nablus – eine namens «Löwengrube» – oder etwa auch in Tulkarem und Jericho. Mit der Ankunft der Rechtsradikalen in der israelischen Regierung ergibt sich eine Art Teufelskreis. Siedlergewalt wird ermutigt, das Versagen der Palästinenserbehörde, für Sicherheit zu sorgen, wird immer offenkundiger, mehr junge Palästinenser radikalisieren und bewaffnen sich, und die israelische Armee verstärkt wiederum ihre Razzien – und zerstört den letzten Rest der Glaubwürdigkeit der Führung. Und so fort.

Die Palästinenserbehörde wurde 1994 im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses geschaffen, sie war als Übergangsverwaltung auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat gedacht. Der ist nicht in Sicht, und aus der aufgeblähten, durch Korruption und Nepotismus gekennzeichneten Behörde ist ein Dauerzustand geworden. Und nun gibt es eine israelische Regierung, zu deren Programm die «Anwendung von Souveränität» im Westjordanland gehört, was auf Annexion hinausläuft.

Schwere Finanzkrise

Die finanzielle Krise der Palästinenserbehörde wird durch israelische Schikanen und durch eigene Misswirtschaft dauerverschärft, dazu kamen zuletzt Covid und der internationale Anstieg von Energie- und Lebensmittelpreisen. Auf dem sogenannten C-Gebiet, das völlig unter israelischer Kontrolle steht und das laut Uno und EU die wirtschaftliche Entwicklung eines Palästinenserstaats ermöglichen sollte, dehnt sich Israel aus.

Die Behörde konnte ihre ureigenste Aufgabe nicht erfüllen, den Übergang von Besatzung zu einem freien Staat zu managen, aber sie scheitert auch dabei, die Bevölkerung mit Dienstleistungen zu versorgen. Dazu kommt ihre Unfähigkeit, die innerpalästinensische Spaltung mit der Hamas – die 2006 die Wahlen gewann und in der Folge den Gazastreifen unter ihre Herrschaft brachte – zu beenden.

Bei Umfragen stellt sich heraus, dass immer mehr Palästinenser und Palästinenserinnen der Meinung sind, ihr Leben würde sich nicht verschlechtern, sollte die Behörde zusammenbrechen. Genau das wird für den Fall befürchtet, dass es nach dem Tod von Mahmud Abbas Streit um die Nachfolge gibt.

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Abbas hat alle politischen Prozesse zur Klärung der Frage unterminiert, wer die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), die Fatah-Partei und die Präsidentschaft übernehmen sollte. Seit dem Machtkampf mit dem früheren Sicherheitschef von Gaza, Mohammed Dahlan, ersetzt Paranoia die Zukunftsplanung. Dass der israelischen Rechten, die einen Palästinenserstaat immer abgelehnt hat, diese politische Lähmung nicht unrecht kommt, liegt auf der Hand.

Alleinherrscher

Abbas übernahm nach dem Tod Yassir Arafats im November 2004 dessen Ämter, 2005 wurde er zum Präsidenten gewählt. Seine Herrschaft hat sich in den vergangenen Jahren zur Diktatur entwickelt. Die Gewaltenteilung ist de facto abgeschafft: 2016 wurde ein Verfassungsgerichtshof eingeführt, der Abbas‛ Entscheidungen scheinlegalisiert und 2018 das Parlament auflöste. Es gibt keine Medienfreiheit, Kritiker werden verfolgt, die Menschen leiden unter Repression und Menschenrechtsverletzungen.

Mehrere Personen werden als mögliche Nachfolger Abbas‛ genannt, wobei sich die Frage stellt, ob sie einen Konsens innerhalb von PLO und Fatah und danach eine Legitimation durch den Wählerwillen erreichen können: Da sind etwa PLO-Generalsekretär Hussein al-Sheikh oder Majed Faraj, der mächtige Geheimdienstchef, sowie einige andere. Alles Kaffeesatzleserei. Die Artikel über die «drohende palästinensische Nachfolgekrise» häufen sich, während die palästinensische Bevölkerung nie aus der Krise herausgekommen ist.

Dieser Artikel ist am 6. Juli im «Standard» erschienen.

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Oben      —   Jenin, West Bank, Palestine

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Das ewige Bündnis

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Die ewige Nato und der russische Angriffskrieg

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Eine immerwährende Angriffsmaschinerie der westlichen Welt

Nachdenkliches von Stefan Reinecke

Die russische Aggression macht die Nato wichtiger denn je. Und dennoch darf die Kritik am größten Militärbündnis aller Zeiten nicht vergessen werden.

Vilnius liegt 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Im Westen sind es keine 200 Kilometer bis zur russischen Enklave Kaliningrad. Die litauische Hauptstadt ist einer der Orte, an denen ad hoc einleuchtet, warum in Osteuropa viele die Nato für eine unverzichtbare Lebens­versicherung halten. Seit Putins Angriffskrieg gegen die ­Ukraine wirkt die gigantische US-Militärmaschine mit ihrer atomaren Overkillkapazität für jene, die in der Nähe russischer Grenzen leben, beruhigend.

Dass der Nato-Gipfel in der nächsten Woche in Vilnius stattfindet, ist ein Zeichen. Putin spekuliert darauf, dass die dekadenten Stimmungs­demokratien im Westen irgendwann die Lust verlieren, Kiew in einem Krieg zu unterstützen, der viel Geld kostet, in dem viel gestorben wird und bei dem kein Ende in Sicht ist. Die Nato wird in Litauen grimmig entschlossen demonstrieren, dass Putin falschliegt. Russland bleibt, auch wenn die wüsten atomaren Vernichtungsdrohungen aus Moskau abgenommen haben, eine Bedrohung über die Ukraine hinaus.

Auch wer kritisch auf die USA schaut, fürchtet derzeit weniger eine entfesselte aggressive US-Außenpolitik als einen isola­tio­nistisch gesinnten, rechten US-Präsidenten, der den atomaren Schutzschirm über Europa einklappen könnte. Die Daseinsbegründungen der Nato nach 1991 waren flüchtig, brüchig und vage. Mal war sie, wie in Bosnien und im Kosovo, ein Instrument, um Bürgerkriege mit zwiespältigem Erfolg zu befrieden. Mal war sie für die Europäer ein Medium des durchweg gescheiterten Versuchs, die brachiale Gewalt und Hybris der US-Politik nach 9/11 einzuhegen.

Alles vergangen und vergessen. Das Bündnis hat wieder einen Gegner und eine moralisch wie strategisch einleuchtende Aufgabe. Die kann man in Abwandlung einer berühmten Bemerkung von Lord Ismay aus den 1950er Jahren so skizzieren: „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen halten – und Osteuropa schützen“. Das ist seit dem 24. Februar 2022 so selbstverständlich, dass es kaum ausgesprochen werden muss. Die westliche Allianz verteidigt, glaubt man der Bundesregierung, „Frieden, Demokratie, Freiheit und die Herrschaft des Rechts“. Universalismus gegen Repression. Liberale Werte versus Autokratie. Gut gegen Böse. Ist das Bild so klar? Nur schwarz-weiß und ohne Grautöne? Oder hat der Blick von Vilnius aus auf die Welt Verkrümmungen und blinde Flecken?

Der Westen sollte vorsichtig mit Belehrungen sein

Ehe man die Nato allzu freudig als antiimperialistisches Bollwerk feiert, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die westlichen Truppen vor noch nicht mal zwei Jahren aus Afghanistan flohen und ein geschundenes, kriegsverwüstetes Land hinterließen. Das war nach 20 Jahren Erfahrung mit Isaf-Truppen, viel Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik noch gewalttätiger, grausamer, elender als zu Beginn der Intervention 2001.

Der Westen neigt dazu, die blutigen Verwüstungen, die er im Irak, in Afghanistan und Libyen angerichtet hat, leichthändig zu verdrängen. In den westlichen Regierungszentralen gibt man das Scheitern der Interventionen von 2001 bis 2021 zwar zu – aber nur nuschelnd und halbherzig. Die Rolle der Nato als globaler Ordnungsmacht wurde stillschweigend ins Regal geräumt – aber kaum selbstkritisch verarbeitet. Das bedeutet für die Zukunft: Falls es opportun erscheinen sollte, kann man mit völkerrechtlich windigen Begründungen und militärischer Gewalt wieder auf ­Regime-Change setzen.

Viele Staaten im Globalen Süden scheuen sich, im Ukrainekrieg Täter und Opfer klar zu benennen. Manche wollen den Import russischen Öls und russischer Waffen nicht gefährden. Andere halten eine dritte Position in dem aufziehenden Konflikt zwischen dem Westen und China/­Russland für günstiger als die Parteinahme für Kiew.

Das muss man kritisieren. Allerdings sollte der Westen Belehrungen in Richtung des Globalen Südens lieber vorsichtig dosieren. Der Westen, der für sich überlegene Moral reklamiert, weckt nicht nur Assoziationen an die koloniale Ära. Auch die Bomben auf Libyen, den Irak und Afghanistan fielen im Namen von Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten. Im Globalen Süden sind die Erinnerungen daran nicht so schnell ausgebleicht wie in London und Washington. Die Selbstinszenierung der Nato als Garantin von Freiheit und Frieden stößt von Brasilien bis Südafrika daher auf eine gewisse Skepsis.

Darüber aus der Höhe ethischer Überlegenheit den Kopf zu schütteln verdoppelt ein unbegriffenes Pro­blem. Die Erklärungen der Nato in Vilnius werden kristallklar und entschlossen klingen: dauerhafte Unterstützung für Kiew, Verteidigung von jedem Zentimeter der östlichen Staaten. Welche Rolle die Nato in der zerklüfteten, unübersichtlichen globalen Staatenwelt des 21. Jahrhundert spielen wird, ist weniger eindeutig. Ob die europäischen Nato-Staaten den Sidekick im Kampf der USA mit China um die globale Vorherrschaft geben werden, ist offen. Es ist auch möglich, dass sich eher Macrons Kurs einer von den USA weitgehend unabhängigen, auf eigene Interessen fokussierten, weicheren europäischen Chinapolitik durchsetzt.

Ernüchterndes Erbe der Friedensbewegung

Der Westen ist gut beraten, globale Konkurrenzen nicht reflexhaft in das Raster „Demokratie versus Diktatur“ zu pressen und moralisch aufzuladen. 71 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Autokratien. Kompromisse lassen sich leichter finden, wenn man Interessen abgleicht – und sich nicht als edler Ritter in Szene setzt.

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Welche Rolle spielt Deutschland dabei? Die Bundesrepublik ist heute mehr als in den letzten 30 Jahren auf die USA und die Nato angewiesen. Die Debatten über europäische Souveränität und Sicherheit ohne Washington sind, was sie immer waren: akademisch.

Eher ernüchternd fällt die Inspektion des Erbes der bundesdeutschen Friedensbewegung der 80er Jahre aus. Die war immer vielfältig und heterogen. Ende der 90er Jahre spaltete sie sich in zwei fundamental entgegengesetzte Teile. Angesichts der Massaker in den Jugoslawienkriegen bildeten die Grünen eine moralisch begründete Pro-Nato-Haltung heraus, die den Antimilitarismus abstreifte wie ein altes Hemd.

2023 unterstützen nur WählerInnen der Grünen mehrheitlich deutsche Kriegsbeteiligungen, wenn diese sinnvoll seien. Unter Anhängern der Union ist es nur ein Drittel, unter denen der SPD ein Viertel. Die grüne Klientel ist auch entschieden für eine wertegeleitete Außenpolitik. In der heraufziehenden internationalen „Wolfswelt“ (Marc Saxer) ist der Westen nur ein Player unter anderen. Ob die grüne Mixtur aus Moral und Militär da ein angemessenes Werkzeug ist, kann man bezweifeln. Es ist klug, Pragmatismus größer als Prinzipien zu schrei­ben.

Auf der anderen Seite existiert eine kleine, teils mit der Linkspartei verbundene Fraktion, die eisern an der linken US-Kritik der 70er und 80er Jahre festhält. Dieser Steinzeit-Antiimperialismus folgt dem Motto, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei, und hat Sympathien mit Regimen von Venezuela bis Moskau. Diese Gruppe würde Kiew ohne Wimpernzucken russischen Panzern überlassen. Seit dem 24. Februar 2022 ist diese Oldschool-Anti-Nato-Ideologie endgültig moralisch und politisch bankrott. Es ist kein Wunder, dass die Wagenknecht-Schwarzer-Demo ein One-Hit-Wonder war.

Die Interessensvertretung reicher Staaten

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>          weiterlesen 

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Grafikquellen     :

Oben           —     NATO Parliamentary Assembly Pre-Summit Conference in London, 2 September 2014.

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Unten          —       Antikriegsdemonstranten zur zweiten Amtseinführung von George W. Bush am 20. Januar 2005

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Die Degitalisierung:

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Das Hype-Gap

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Manchmal hat es auch einen Vorteil, dass die Verwaltung und das Gesundheitswesen in Deutschland so langsam sind, meint unsere Kolumnistin. Etwa, weil sie dann auch mal die Hypes verschlafen, auf die sonst jeder Dödel schon aufgesprungen ist. Ist das ausnahmsweise mal nicht der Fall, sind die Folgen nämlich verheerend.

Wir sollten mal über Hypes sprechen. Oder die Lücken, englisch Gap, die Hypes in ihrer Wirkung und Wahrnehmung in der digitalen Verwaltung oder dem Gesundheitswesen reißen können. Eigentlich generell bei allem, was einen Funken von Bedeutung im Sinne einer Infrastruktur haben kann.

Ganz im Sinne des Themas dieser Kolumne, der Degitalisierung, geht es dabei nicht um eine befürchtete Hypevergiftung, bei der dann am Ende doch wieder alles gut wird. Nein, hier wird erst mal nichts von alleine gut. Und besser wird es erst durch die Zuwendung auf die Probleme, die mit Hype-Technologien allzu gern überdeckt werden sollen. Aber der Reihe nach.

Der Hype-Zyklus

Bei der Betrachtung von Hypes ist es hilfreich, den sogenannten Hype Zyklus zu verstehen. Er wurde von Jackie Fenn geprägt, einer Analystin bei der Marktforschungsfirma Gartner, und beschreibt den Zusammenhang von zeitlicher Entwicklung und der Aufmerksamkeit für eine neue Technologie. Üblicherweise folgt die Aufmerksamkeit für neue Technologien dabei einer bestimmten Kurve: Nach einem extrem schnellen Anstieg der Aufmerksamkeit zu einem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ durchlaufen Technologien das „Tal der Enttäuschungen“ und kommen über einem „Pfad der Erleuchtung“ zu einem „Plateau der Produktivität“.

Anders gesagt: Auf eine Überschätzung von Technologien folgt nach etwas Frustration eine realistische Wahrnehmung und Einschätzung einer neuen Technologie. Damit in Beziehung steht auch der entsprechend sinnhafte Einsatz eben dieser neuen Technologie. Anfangs wird eine neue Technologie als Lösung aller Probleme gesehen. Nach Enttäuschungen bleibt am Ende zumeist nur ein Bruchteil an sinnvollen Anwendungen dieser neuen Technologie übrig.

Für Gesundheitswesen und Verwaltung gilt dieser Hype-Zyklus auch, nur sehen wir in diesen beiden Feldern meist eine stärkere zeitliche Verzögerung. Das passiert sowohl in der Wahrnehmung neuer Hype-Technologien als auch in der Anwendung. Ein Phänomen, das ich als Hype-Gap bezeichnen möchte und das mehrfach negativ wirkt.

Blockchain-KI-Hypermega-Tech

Um das Wirken von Hype-Gaps in Verwaltung und Gesundheitswesen genauer zu erklären, müssen wir uns leider zwei Technologien zuwenden, die wir entweder (hoffentlich) bereits verdrängt oder (hoffentlich) bereits richtig eingeschätzt haben in ihrer Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit. Ich spreche von Blockchains und sogenannter Künstlicher Intelligenz.

Es gibt in der öffentlichen Verwaltung nicht besonders viele Blockchain-Projekte. Eine Ausnahme: die Blockchain des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF. Die „Föderale Blockchain Infrastruktur Asyl“ (FLORA) ist eigentlich als „Blockchain-Lösung für die behördenübergreifende Zusammenarbeit im Asylprozess“ gedacht und verspricht eine „Verbesserung der Arbeitsabläufe“ und „eine Reduktion der Anfälligkeit für Prozessfehler“.

Das klingt jetzt erst mal toll. Lässt aber außer Acht, dass diese vermeintlichen Vorteile gar nicht durch den Einsatz von Blockchains allein entstehen oder nur wegen Blockchain allein möglich wären. Schlimmer noch: Durch die Unveränderlichkeit von verketteten Daten-Strukturen wie sie in Blockchains gehalten werden, ergeben sich durch den Einsatz eben jener Technologie Nachteile im praktischen Einsatz. Wie sieht es bei dieser für Geflüchtete relevanten Technologie aus mit einem Recht auf Vergessen? Recht auf Korrektur? In Blockchains ist beides nur mit Umwegen und davon losgelösten Techniken möglich.

Man könnte jetzt das verpönte Wort Datenschutz anbringen, würde dann aber eine Kaskade von Gegenrede à la „Datenschutz verhindert Innovationen“ auslösen. Und am Ende gäbe es zwei Seiten, die isoliert voneinander auf ihrem Standpunkt verharren. Daher zur Nichtsinnhaftigkeit von Blockchains für alles, was mit den Grundrechten von Menschen zu tun hat, nur kurz folgender Aspekt:

Auch bei den Daten von Geflüchteten geht es um die Daten von Menschen. Es mag verlockend klingen, für die Daten von Geflüchteten keine direkte Verantwortung übernehmen zu müssen. Weil die Daten in der Blockchain, also einer dezentralen Datenkette liegen, die rein physikalisch quasi überall und nirgendwo liegt. Am Ende geht es aber auch technologisch darum, Verantwortung für Menschen, deren Grundrechte und daraus abgeleitet Daten zu übernehmen. Eine Blockchain aber ist das genaue Gegenteil von digitaler Verantwortungsübernahme – Hype und damit verbundene vermeintliche Innovation hin oder her.

„Wir lösen das mit KI“

Auch im Kontext sogenannter Künstlicher Intelligenz können Hypes negativ wirken. Beispiel Gesundheitswesen. Hier mag der Eindruck entstehen, dass es durch den Einsatz von KI möglich wäre, analoge Arztbriefe oder Befunde „einfach mit KI“ zu digitalisieren. Dass eine elektronische Patientenakte mit PDFs von eingescannten Papieren und anderen nicht strukturierten Daten kein Problem mehr sei. Dass man einfach mit einer solchen Patientenakte starten könne, den Rest mache ja eine KI.

Nur ist hier abseits vom KI-Hype eines klar festzuhalten: Eine KI, die Texte von Ärzt*innen interpretiert und daraus Befunde mit einer gewissen Fehlerrate ableitet, ist die schlechtere Lösung im Vergleich zu einem klar definierten und von einem Menschen kodierten digitalen Befund. Vermeintliche Innovation und Hype hin oder her.

Der Hype-Gap-Zyklus

In diesen beiden Beispielen zeigt sich auch das Wirken des Hype-Gap. Digitales Gesundheitswesen und digitale Verwaltung in Deutschland möchten ihren technologischen Rückstand aufholen und jetzt am besten mit angesagten und gehypten Technologien auch noch innovativ sein. Dabei sind Verwaltung und Gesundheitswesen aber meistens spät dran im Erkennen von Technologietrends. Es ergibt sich analog zum Hype-Zyklus also meist Phase eins eines Hype-Gap-Zyklus: Verschlafen des Hypes.

Darauf folgt Phase zwei: eine verzerrte Einschätzung der Technologie, die ich als Gipfel der Verkennung bezeichnen möchte. „Die Technik wird das schon lösen.“ Sich bereits abzeichnende Probleme im Einsatz von Hypetechnologien werden oftmals nicht berücksichtigt. Es herrscht auch ein wenig die „Fear of missing out“, also Angst als einzige nicht bei etwas Coolem mit dabei zu sein. „Wenn wir jetzt nicht noch schnell auf den Hype-Zug mit aufspringen, verpassen wir was.“

Weil Projekte in Verwaltung und Gesundheitswesen meist langwierig sind und mehr Zeit in Anspruch nehmen, folgt das lange Tal der Umsetzung, gefolgt von einem Pfad von technischen Schulden. Einmal eingeführte Hype-Technologien in Verwaltung und Gesundheitswesen bleiben da leider oftmals länger als im Rest der digitalen Welt, weil die Laufzeiten von Verfahren länger sind und rechtliche Grundlagen diese Technologien darüber hinaus oft schützen.

Weil sich speziell die Verwaltung aber auch noch besonders schwer damit tut, Fehler nach außen zuzugeben, genießen falsch angewendete Hype-Technologien hier noch mal erhöhten Bestandsschutz. Auch wenn längst klar ist, dass diese Technologien anderswo die eigentlichen Probleme kaum lösen oder, noch schlimmer, mehr Probleme schaffen als sie lösen, lässt man sie nicht los. Sonst müsste man ja zugeben, dass die Idee schlecht war.

Löst eine Hype-Technologie dann das eigentliche Problem nicht und bringt darüber hinaus viele Nachteile mit sich, endet der Hype im Plateau des technischen Rückstands.

Selbstverstärkender Rückstand

Je mehr falsch eingesetzte Hype-Technologien auftreten, desto höher wird der technische Rückstand (und desto verlockender sind wiederum weitere Hype-Technologien). Und leider ist dieser sich selbst verstärkende technische Rückstand die eigentliche Konsequenz des Hype-Gaps. Weil Hype-Technologien auch noch zusätzlich Geld und Zeit binden, bleibt dann meist noch viel weniger Zeit für sinnvolle digitale Basistechnologien oder Infrastruktur.

Eigentlich könnte die etwas träge Art, wie Verwaltung und Gesundheitswesen mit technologischen Trends umgehen, dazu beitragen, Chancen und Risiken von Hypes richtig zu bewerten. Wenn andere Sektoren bereits die Probleme von Hype-Technologien in voller Breitseite abbekommen haben, wäre es töricht, diese Probleme noch einmal durchleben zu wollen. Hype hin oder her.

Vielleicht folgt so auf den Hype-Gap also nicht nur Negatives, sondern ausnahmsweise mal was Positives. Nicht immer muss das vermeintliche Verschlafen von Hypes etwas Schlechtes sein.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —        Ein alter Eisenriegel und ein verrostetes Vorhängeschloss auf wettergegerbten Türbrettern sichern die Türe einer verlassenen Fabrik in Dötlingen, Niedersachsen. Die Originalaufnahme entstand in Mai 1980 auf Kodachrome 25 Farb-Diafilm und wurde in Juni 2018 auf einer spiegellosen Kamera mit einem 42 Megapixel-Sensor digitalisiert.

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Die politischen Schleimer

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Wenn Milliarden locken, werden «westliche Werte» zur Makulatur

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Um Mohammed bin Salman versammeln sich viele westliche politusche Stinker.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von           :          Pascal Derungs / 

Saudi-Arabiens Herrscher Mohammed bin Salman entlarvt das Gesicht mancher westlicher Schönredner. Der Diktator ist salonfähig.

Der saudische Staatschef trotzt allen Drohungen, ihn zu isolieren. Kronprinz Mohammed bin Salman hat wiederholt den Reichtum und Einfluss Saudi-Arabiens genutzt, um die internationale Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen des Königreichs zu ignorieren. In seinem Artikel vom 10. Juni 2023 berichtet Ben Hubbard in der New York Times über die wundersame Verwandlung Bin Salmans vom «Paria» zum Partner.

Wie aus Moralisten Wendehälse wurden 

Bei seiner Kandidatur für das Weisse Haus hatte Joe Biden geschworen, den saudischen Kronprinzen wegen der Ermordung des Dissidenten Jamal Khashoggi zum «Paria» zu machen. Erst im vergangenen Herbst drohte er dem Prinzen erneut mit «Konsequenzen», sollte er sich den amerikanischen Wünschen in der Ölpolitik widersetzen. Der republikanische Senator Lindsey Graham nannte Prinz Mohammed eine «Abrissbirne», die «niemals eine Führungspersönlichkeit auf der Weltbühne sein» könne.

Jetzt klängen diese Worte hohl, schreibt Hubbard, Präsident Biden habe Prinz Mohammed bei seinem Besuch in Saudi-Arabien per Handschlag begrüsst und schicke regelmässig hohe Beamte zu ihm, einschliesslich seines Aussenministers Antony J. Blinken. Senator Graham habe neben dem Prinzen gegrinst während eines Treffens im April. «Daran sieht man, dass Geld eine grosse Rolle spielt, denn dieser Mann sitzt auf einer Ölquelle und hat so viel Geld, dass er sich im Grunde aus allem herauskaufen kann», zitiert Hubbard den entschiedenen Gegner der Monarchie Abdullah Alaoudh, den saudischen Direktor der «Freedom Initiative», einer in Washington ansässigen Menschenrechtsorganisation.

Der Kronprinz hat gelernt und das Machtspiel durchschaut 

Während seines achtjährigen Aufstiegs zur Macht, so die NYT, habe der 37-jährige Prinz Mohammed immer wieder den Erwartungen getrotzt, dass seine Herrschaft in Gefahr sei, und gleichzeitig den Reichtum des Königreichs, seinen Einfluss auf die Ölmärkte und seine Bedeutung in der arabischen und islamischen Welt genutzt, um wiederholten Drohungen, ihn mit internationaler Isolation zu bestrafen, zu entgehen.

Auf seinem Weg habe er nicht nur seine Vision für die Zukunft Saudi-Arabiens als selbstbewusste Regionalmacht mit einer wachsenden Wirtschaft und grösserem politischem Einfluss geschärft, sondern auch Lehren aus seinen Rückschlägen gezogen, um seine Methoden zur Erreichung seiner Ziele zu verfeinern, so Analysten und Beamte, die Hubbard befragte.

Zumindest im Moment scheine dem Kronprinzen alles gut zu gelingen, stellt Hubbard fest. Die starke Ölnachfrage der letzten Jahre hat die Kassen des Königreichs gefüllt. Es kaufte einen englischen Fussballverein, zahlte eine beachtliche Summe, um Cristiano Ronaldo in seine nationale Liga zu holen, und versucht, immer neue internationale Stars anzuwerben, um das saudische Image aufzuwerten.

Auch im Profi-Golfsport zeichne sich eine prestigeträchtige Partnerschaft ab zwischen der renommierten PGA und der neu gegründeten, von Saudi-Arabien unterstützten LIV Golf Liga, weiss Hubbard. Sollte dieser Golf-Deal zustande kommen, würde ein enger Vertrauter von Prinz Mohammed zu einer der mächtigsten Persönlichkeiten des Sports werden und Saudi-Arabien eine weitere wichtige Plattform bieten, um sein internationales Image zu verbessern.
[Red. Unterdessen ist der Deal zustandegekommen: Wie sich Saudi-Arabien ins Herz des Golfsports einkauft]

Aus dem «jungen Wilden» wurde ein besonnener Staatslenker

Das alles, so die NYT, seien bedeutende Fortschritte für einen jungen Prinzen, der weithin als gefährlicher Emporkömmling gegolten habe, als sein Vater 2015 König wurde. Noch im selben Jahr startete der Prinz eine Militärintervention im Jemen, die enorm viele zivile Opfer forderte und «in einem Sumpf versunken» sei. Später schockierte er die diplomatische Gemeinschaft mit der Entführung des libanesischen Premierministers und versetzte die Geschäftswelt in Schrecken, indem er Hunderte reicher Saudis im Rahmen einer angeblichen Korruptionsbekämpfungsaktion wochenlang in ein Luxushotel sperrte.

Sein internationales Ansehen ging 2018 stark zurück, nachdem ein saudisches Killerkommando den regimekritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat des Königreichs in Istanbul getötet und zerstückelt hatte. Prinz Mohammed bestritt, von dem Anschlag gewusst zu haben, aber die CIA kam zum Schluss, dass er die Operation wahrscheinlich angeordnet hatte.

Das sei vermutlich sein Tiefpunkt gewesen, schreibt Hubbard. Doch in den folgenden Jahren habe der Kronprinz dank des beträchtlichen Reichtums und der Macht seines Landes einen Grossteil seines Einflusses zurückgewonnen. Schon früh habe er interne Rivalen ausgeschaltet, um seine Kontrolle im eigenen Land zu festigen. Die von ihm angestossenen sozialen Veränderungen, wie die Erlaubnis für Frauen, Auto zu fahren, und die Ausweitung der Unterhaltungsmöglichkeiten in einem Land, in dem Kinos früher verboten waren, hätten ihm Fans unter der Jugend des Königreichs eingebracht.

Staatsoberhäupter von der Türkei bis zu den Vereinigten Staaten, die Prinz Mohammed einst verschmähten, hätten ihn in den letzten Jahren als die Zukunft Saudi-Arabiens akzeptiert, analysiert Hubbard. Der Kronprinz habe auch die Beziehungen des Königreichs zu China vertieft. So habe China Saudi-Arabien zu einem diplomatischen Durchbruch mit dem langjährigen regionalen Rivalen Iran verholfen.

Letztlich gewinnt der lange Atem des Autokraten

Bin Mohammed wisse genau, dass er als «König im Wartestand» in einer Monarchie mit viel Geduld spielen könne. Tatsächlich wird er sich nie zur Wiederwahl stellen müssen, und er hat es bereits mit dem dritten amerikanischen Präsidenten zu tun. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele weitere kommen und gehen werden, während er im Amt bleiben wird.

Seine «Genesung» von der Khashoggi-Affäre habe gezeigt, dass das Geld des Königreichs einen langen Weg zurücklegen könne und dass, egal wie sehr westliche Regierungen über Menschenrechte reden würden, andere Interessen schliesslich Vorrang hätten, bilanziert Hubbard.

Das Einfordern von Menschenrechten hielten die arabischen Golfstaaten «für einen Witz», zitiert Hubbard Dina Esfandiary, Senior-Beraterin für den Nahen Osten und Nordafrika bei der «International Crisis Group»: «Sie sind sich ihres Wertes für die westliche Welt bewusst, als Partner, als Energieproduzenten, als Länder mit wirtschaftlicher Macht. Also können sie mit dieser leeren Drohung leben, weil sie einfach zur Beziehung gehört.»

Ben Hubbard

Ben Hubbard ist der Leiter des Istanbuler Büros der New York Times. Er hat mehr als ein Dutzend Jahre in der arabischen Welt verbracht, darunter in Syrien, Irak, Libanon, Saudi-Arabien, Ägypten und Jemen. Er ist Autor des Buches «MBS: The Rise to Power of Mohammed bin Salman».

Big Business erringt Vorrang vor Moral und Ethik

Als der Dissident Khashoggi getötet wurde, verteidigte der damalige US-Präsident Trump den Kronprinzen nachdrücklich, indem er unter anderem herausstrich, dass die saudischen Waffenkäufe den Vereinigten Staaten zugutekämen. Auch der republikanische Senator Graham aus South Carolina, der damals sagte, Prinz Mohammed sei nicht geeignet, die Führung zu übernehmen, ist mittlerweile umgeschwenkt, indem er sich bei Bin Salman im April für den Kauf amerikanischer Flugzeuge bedankte: «Sie haben für 37 Milliarden Dollar Flugzeuge gekauft, die in meinem Staat und meinem Land hergestellt wurden», sagte der Senator dem saudi-arabischen Fernsehsender Al Arabiya. Und fügte an: «Als Senator der Vereinigten Staaten behalte ich mir das Recht vor, meine Meinung zu ändern.»

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Regierung Einzelheiten über die Ermordung Khashoggis an die Öffentlichkeit durchsickern liess, habe seine Einwände schliesslich fallen gelassen, schreibt Hubbard. «Letztes Jahr übertrug ein türkisches Gericht das Verfahren gegen Khashoggis Mörder an Saudi-Arabien und beendete damit den letzten Prozess, der die Verantwortlichkeit für das Verbrechen sicherstellen sollte». Und er ergänzt vielsagend: «Kurz darauf hat das Königreich der türkischen Zentralbank Einlagen in Höhe von 5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, um die türkischen Finanzen zu stützen.»

Die Einflusssphäre der USA schwindet zunehmend

Viele der Entscheidungen von Kronprinz Bin Salman in den letzten Jahren seien durch das wachsende Gefühl innerhalb des Königreichs beeinflusst worden, dass die USA ein unzuverlässiger Partner geworden seien, schreibt Hubbard in der NYT. Der Kronprinz habe es bereits mit drei US-Präsidenten beider Parteien zu tun gehabt, die alle das amerikanische Engagement im Nahen Osten zurückfahren wollten.

Die Risiken eines solchen Rückzugs für Saudi-Arabien seien 2019 deutlich zu Tage getreten, als Drohnen- und Raketenangriffe, deren Orchestrierung die USA dem Iran vorwarfen, saudische Öleinrichtungen trafen und fast die Hälfte der Produktion des Königreichs vorübergehend zum Erliegen brachten. Präsident Trump lehnte damals eine Intervention ab, woraufhin Prinz Mohammed und seine Amtskollegen in den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Schluss gekommen seien, dass die USA ihnen nicht mehr den Rücken freihielten und dass sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssten.

Seither sei es unwahrscheinlicher geworden, dass Saudi-Arabien automatisch auf amerikanische Forderungen eingehe, stellt Hubbard in der NYT fest. Bin Salman habe sich geweigert, die westlichen Sanktionen mitzutragen, mit denen der russische Präsident Putin nach der Ukraine-Invasion isoliert werden sollte. Stattdessen habe Saudi-Arabien die Importe von verbilligten russischen Ölprodukten sogar erhöht.

Abschlägig beschieden wurde auch die Forderung der Regierung Biden, die Ölproduktion hoch zu halten, um die Gaspreise in den Vereinigten Staaten vor den Zwischenwahlen im November zu senken. Im Gegenteil: Im Oktober einigte sich das Königreich mit den anderen Mitgliedern des Ölkartells OPEC Plusdarauf, die Produktion stattdessen zu drosseln, um die Preise hoch zu halten.

Doch die von Präsident Biden angedrohten «Konsequenzen» seien nie eingetreten. Das mache deutlich, dass selbst die USA ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Saudi-Arabien für zu wichtig hielten, um sie zu gefährden, analysiert Hubbard.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte

Die Wahrnehmung, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen, habe Prinz Mohammed dazu veranlasst, die diplomatischen Beziehungen Saudi-Arabiens auszuweiten, insbesondere zum grössten Rivalen der USA, zu China. China ist der wichtigste Handelspartner des Königreichs und der grösste Abnehmer saudischen Öls. Ben Hubbard schreibt, beim chinesisch-arabischen Gipfeltreffen in Riad im Dezember 2022 hätten die beiden Staatsoberhäupter darüber gesprochen, dass China als Vermittler fungieren könnte, um den Konflikt mit dem Iran zu entschärfen. Tatsächlich sei es bereits einige Monate später zu einem überraschenden diplomatischen Durchbruch gekommen, als Saudi-Arabien und Iran ankündigten, wieder normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Laut Hubbard ist dies ein doppelter Gewinn für Prinz Mohammed, der dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts mit seinem Hauptfeind in der Region verringert und gleichzeitig dem US-Rivalen China eine Vermittlerrolle zugespielt habe. Die USA seien aufgrund ihrer eigenen angespannten Beziehungen zu Teheran nicht in der Lage gewesen, eine iranisch-saudische Vereinbarung zu vermitteln.

Vom Saulus zum Paulus?

Mittlerweile würden selbst einige ehemalige Kritiker des Königreichs in Kronprinz Bin Salmans Bemühungen, die Region zu stabilisieren, positive Zeichen erkennen, schreibt Hubbard. Er zitiert Dennis Horak, einen ehemaligen kanadischen Botschafter, der 2018 wegen saudi-kritischen Twitter-Beiträgen von seinem Posten in Riad verwiesen wurde: «Riad baut wieder Brücken und versucht, die Hand auszustrecken und eine konstruktivere Kraft in der Region zu sein».

Die Frage sei nur, ob dies von Dauer sein könne, stellt Hubbard abschliessend fest.

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Grafikquellen        :

Oben      —   Arab leaders, U.S. president Joe Biden and Mohammed (fifth from right) at the GCC+3 summit in Jeddah, 16 July 2022

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Unten           —         Speaking with U.S. president Donald Trump in Washington, D.C., 14 March 2017

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Das Elterngeld, die Papaprämie für Gut-, Besser- und Bestverdiener

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Die Diskussion übers Elterngeld diese Woche war super. Kaum hatte Fami­lienministerin Lisa Paus – vom Finanzminister unter Kürzungsdruck gesetzt – vorgeschlagen, das Elterngeld für Sehrgut­verdiener abzuschaffen, hagelte es Stellungnahmen, Interviews, Kommentare, Zahlen, ­Daten. Es war ein Fest der allgemeinen Faktenfindung und Urteilsbildung.

Wenn schon gespart werden müsse, seien die obersten Einkommensprozente dafür nicht die schlechteste Adresse, meinten viele. Andere: Was für eine Idee, bei den Einkommen über 150.000 Euro zu kürzen! Genau dort werde doch der beabsichtigte Effekt gefährdet: Papa kümmert sich auch ums Kind! Und überhaupt: das Signal!

Mein Verhältnis zum Elterngeld ist leider dadurch belastet, dass ich seine Einführung ab 2005 relativ aufmerksam begleitet habe. Das war, bevor Twitter im Minutentakt neue Details zu Gesetzesvorschlägen ausspuckte und es Statistiken noch nicht so fix aus dem Netz zu fischen gab – im Vergleich zu heute waren Diskussionsprozesse geradezu bedächtig. Von Argument zu Gegenargument, das dauerte schon mal einen Monat oder zwei.

Ulrike-winkelmann-2013.jpg

Doch wartete ich damals vergeblich auf die empörten Familienpolitikerinnen, die endlich auf den ganz entscheidenden Haken an der Sache hinwiesen: Weil für das Elterngeld das Erziehungsgeld abgeschafft wurde, wurden die Leistungen für arme Familien einfach mal glatt halbiert. Sie bekamen bis dahin 300 Euro pro Monat für zwei Jahre, daraus wurde nun ein Jahr. Irgendwoher musste das Geld ja kommen, um die neue Lohnersatzleistung bis zu 1.800 Euro zu zahlen. Die Kurzfassung dieses Vorgangs lautet „Umverteilung von unten nach oben“.

Das Familienministerium unter Ursula von der Leyen rückte auch irgendwann die Zahlen dazu heraus, wer mit dem Elterngeld in die Röhre guckte: „155.000 Familien mit einem Einkommen unter 30.000 Euro netto erhalten weniger Elterngeld, als ihnen bisher für zwei Jahre Erziehungsgeld zustehen würde“, schrieb mir die Pressestelle im Mai 2006. Das war nicht die endgültige Größe. Unter anderem ging das mit den Hartz-IV-BezieherInnen auch noch alles durcheinander. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zeigte aber in den Folgejahren auf, wie die Armut unter alleinerziehenden Müttern zunahm, und verwies zur Erklärung trocken unter anderem aufs Elterngeld.

Quelle         :      TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —       Wilhelm Busch: Lehrer Lämpel (aus Max und Moritz)

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Krawalle in Frankreich

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der Zorn aus den Vorstädten

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Aus Paris von Christian Jakob

Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?

Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter schreien hört“, rappt Mari in dem Video.

Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte, kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste Opfer von Polizeigewalt in Frankreich: Nahel Merzouk, Sohn algerischer Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle in Nanterre erschossen.

Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem Mindestlohn einhalten.

Sie wusste, dass es ihr Kind war

Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen Netzwerken.

Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben. Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm. Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts mehr.“

Mornia Labssi, Einwohnerin von Nanterre

„Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.

Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.

Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi. „Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“

Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.

„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.

Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.

Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen

Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der Ban­lieue-Bewohner.

Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben schlechte Eltern und Delinquenten.“

In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das, allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“

Der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen sage „schon die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“ seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.

Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“ Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie gegen eine fremde Armee.“

Gefährliche Entwicklung

Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.

Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi überzeugt.

Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten. Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“

Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.

Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.

Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem

Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder Théo Luhaka von vier Polizisten der Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken angegriffen. Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.

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Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre – auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.

Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.

Sonst gab es nichts.

Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht werden.

Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.

Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem Haus vorbei. Wenn Sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“

Eine Drohung?

„Spott.“

Wie oft kommt das vor?

„Dauernd.“

Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.

Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen

Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land. Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“

Diskriminierung, sozialer Ausschluss, Polizeigewalt: Bürgermeister Bakthiari glaubt nicht an diese Erklärungen

Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle. Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen Labssi und Luhaka.

Quelle          :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —         Vorstadt Le Quartier de la Fauconnière in Gonesse im Norden von Paris

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DIE EINGEHEGTE STADT

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Unter dem Al-Sisi-Regime verschwindet in Kairo immer mehr öffentlicher Raum

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von Sophie Pommier

Früher traf man sich an der Corniche, um einfach mal frische Luft zu schnappen. Doch damit ist es vorbei, seit die Uferstraße am Nil vor vier Jahren umgestaltet wurde – ausgerechnet unter dem Slogan „Mamshaa Ahl Misr“ (Promenade für die Menschen Ägyptens).

Seitdem gibt es zwei Bereiche: Der eine ist der für alle zugängliche Bürgersteig neben der im Dauerstau vor sich hin stinkenden Autoschlange, vom Volksmund zahma (Marmelade) genannt. Der andere Bereich liegt direkt am Wasser: eine hölzerne Promenade mit Restaurants und Cafés, an der Privatjachten und Wassertaxis anlegen können.

Aber die Promenade ist nicht frei zugänglich. Der Zutritt kostet 20 ägyptische Pfund (60 Eurocent) pro Person – in einem Land, in dem der monatliche Mindestlohn im öffentlichen Dienst bei 3500 Pfund (106 Euro) und im Privatsektor bei 2700 Pfund (82 Euro) liegt. Alle 100 Meter steht ein Ticket­kiosk, und alle 20 Meter eine Überwachungskamera. Sobald man vom Bürgersteig auch nur an das Geländer herantritt, das die Welt der Reichen und Schönen vom gemeinen Volk trennt, wird man von einem Wachmann höflich, aber bestimmt auf Abstand verwiesen.

Vorbei sind die Abende, da man mit Freunden auf Plastikstühlen am Nil saß und den Feluken hinterhersah, die das Ufer mit ihren dröhnenden Musikboxen beschallten. Auch die hölzernen Partyboote sind fast ganz verschwunden, abgelöst durch einen gediegeneren – und exklusiveren – Bootsservice.

„Wegen der Neubauviertel, der Hochhäuser und jetzt auch noch der neuen Uferpromenade sieht man den Fluss überhaupt nicht mehr“, klagt Selim1 , der seine Stadt über alles liebt. Dabei sei der Nil ein Teil der ägyptischen Identität, abgesehen davon, dass er den ganzen Großraum Kairo strukturiere.

Mit dem Eintrittsgeld zur Promenade erwirbt man noch nicht das Recht, eines von den Happy Few frequentierten Restaurants zu betreten oder in einem Lokal ein Glas zu trinken. Auch an der Tür wird streng gesiebt. Selbst wer zur ägyptischen Mittelklasse gehört, wurde in bestimmten Lokalen schon abgewiesen. „Sie wollten mein Facebook-Konto sehen, um mein soziales Umfeld einzuschätzen“, ärgert sich Mona. Die junge Frau berichtet, dass sie um ein Haar nicht reingelassen worden wäre. Mona trägt einen eleganten Hi­dschab, damit wäre sie in einigen exklusiven Resorts an der Mittelmeerküste unerwünscht, in denen Bikinis und Alkoholkonsum die Norm und Kopftücher verboten sind.

Auch die von den Briten übernommene Klubtradition trägt dazu bei, dass die Segregation weiterlebt. In den zahlreichen Offiziersclubs der ägyptischen Armee gibt es seit Langem exklusive Zirkel wie den Klub der Grenzschützer, den Klub der Offiziere der Streitkräfte, den Klub der Sicherheitsoffiziere, den Klub der Polizeioffiziere.

Die hohen Zäune um die Armenviertel sind ebenfalls nichts Neues: Schon zu Mubaraks Zeiten sollte durch  Mauern um die informellen Siedlungen das Elend versteckt werden. Seitdem hat die so­zia­le Polarisierung noch zugenommen. Ägyptens Wirtschaft liegt am Boden, das Land braucht dringend Geld. Den Konsum stützen nur noch die Reichen, für die – nach dem Vorbild der Golfstaaten – immer mehr öffentliche Räume reserviert werden. So entstehen ständig neue Res­tau­rants und Boutiquen und Bankfilialen, für die der Staat, oft in Gestalt der Armee, Mietzahlungen und Gewerbesteuer kassiert.

Die neuen Bars und Restaurants setzen auf einen pseudokosmopolitischen Look. Vor dem London-Café stehen vier Wachen wie vor dem Buckingham-Palast, mit den bekannten roten Uniformen und den schwarzen Bärenfellmützen. Mit solchen Lokalitäten verliert Ägypten immer mehr von seinem einheimischen Kolorit, was langfristig sogar Einnahmen aus dem Tourismus kosten könnte. Doch bisher scheint sich das vom Golf übernommene Konsumkonzept noch zu rechnen.

Vor allem die Armee hat ein vitales Interesse an der neuen urbanen Entwicklung. Ihr gehören nicht nur die Baufirmen, die die Projekte umsetzen. Sie organisiert auch die Bewirtschaftung, was ihr satte Gewinne einbringt.2 In Kairo ist es ein offenes Geheimnis, dass das berühmte Restaurant Séquoia im Zamalek-Viertel an der Nordspitze der Gezira-Nilinsel geschlossen wurde, weil sich die Besitzer nicht mehr vom Militär erpressen lassen wollten. Die Lokalitäten, die an seiner Stelle aufmachten, führt die Armee.

Triumph des Autos über den Flaneur

Der Kairoer Zoo und der angrenzende Botanische Garten wurden dem Militär ebenfalls zur Sanierung überantwortet, inklusive des Nutzungsrechts mit einer Laufzeit von 25 Jahren. Die meisten ärmeren Familien, die hier am Wochenende auf den Wiesen picknicken, werden sich die Eintrittspreise nach der Wiedereröffnung bestimmt nicht mehr leisten können.

Dasselbe gilt für den mehr oder weniger erschwinglichen Teil des größten ägyptischen Freizeitparks: Der Gezira Sporting Club entstand 1882 auf dem Gelände eines Botanischen Gartens auf der Gezira-Insel. Vor allem an den Wochenenden wurden die Eintrittspreise drastisch angehoben.

Und selbst die archäologischen Stätten wurden teilweise privatisiert. Der koptische Medien- und Mobilfunk-Mogul Naguib Sawiris, einer der reichsten Männer Ägyptens, hat im Oktober 2020 ein Restaurant mit Blick auf die Pyramiden eröffnet.

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Da sind wir wieder in der Politik, wo fast alle den gleichen Gestank ausströmen

Auch die Bewohner des eleganten Stadtteils Heliopolis, benannt nach der nahegelegenen altägyptischen Stadt im Nordosten Kairos, sind verunsichert und fürchten um ihr Viertel. Die Gartenstadt wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auf Initiative des belgischen Eisenbahnunternehmers Édouard Empain auf 24 Quadratkilometern mitten in der Wüste angelegt, mit breiten Boulevards und modernster Infrastruktur.

Gegen den Bau einer Straße, die Heliopolis mit der zukünftigen ägyptischen Hauptstadt verbinden soll, die Präsident al-Sisi als Leuchtturmprojekt rund 50 Kilometer östlich von Kairo hochziehen lässt, haben hier viele protestiert. Zahlreiche alte Bäume wurden für die neue Trasse schon gefällt; an einigen Stellen wurde die Straße durch die Bauarbeiten völlig blockiert.3

„Meine Mutter ist schon ein bisschen älter, sie traut sich gar nicht mehr aus dem Haus“, erzählt Mahmud, ein Stadtentwicklungsexperte. „Die neue Schnellstraße verläuft direkt vor ihrer Haustür, und sie haben die Bürgersteige einfach entfernt.“ Die neuen Verkehrsachsen zementieren den Triumph des Autos über den Flaneur.4

Bei dieser urbanen „Entwicklung“ geht es aber auch um die sicherheitspolitische Kontrolle des öffentlichen Raums. Bereits nach dem Militärputsch im September 2013 hatte die Stadtverwaltung von Kairo angekündigt, die wichtigsten Plätze im Stadtzentrum umzugestalten. Damit sollte verhindert werden, dass die Versammlungsorte zu Stätten des Protests werden wie der Tahrir-Platz 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings.5

Die Reichen haben sich ohnehin längst in ihre privaten Gated Communities am Stadtrand zurückgezogen, wo man sich nur mit dem Auto fortbewegen kann. Und die Armen sollen möglichst in die noch weiter entfernten Vorstädte ziehen, damit man im Stadtzentrum die alten oder ungenehmigt errichteten Häuser abreißen kann.

In den neuen Vierteln, die sich endlos in eine wüstenähnliche Weite ausdehnen, stehen die Betonklötze reihenweise in der prallen Sonne. An der Hauptstraße gibt es ein paar Cafés, Supermärkte und Einkaufszentren – als Treffpunkt alles andere als attraktiv. Und so sitzen die meisten Leute in ihrer Freizeit zu Hause vor dem Fernseher mit seinem weitgehend staatlich kontrollierten Programm, oder sie chatten in den sozialen Netzwerken, in denen das Regime kaum weniger Einfluss hat.

Der gesamte Lebensstil hat sich verändert. In Ägypten hielten sich die Menschen früher, sobald es die Temperaturen zuließen, vorwiegend auf der Straße auf, vor allem während der Abende im Ramadan. In den neuen fernen Stadtvierteln sind die Mo­scheen mittlerweile fast der einzige Ort, an dem man sich noch versammeln kann. Aber auch sie unterliegen einer strengen Kontrolle, was man daran merkt, dass alle Predigten gleich klingen.

Ein Volkspark für die besseren Kreise

Quelle         :  LE  MONDE diplomatique          >>>>>         weiterlesen

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Oben        —         President Sisi speaking at the UK-Africa Investment Summit in London, 2020

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Im Pariser Mai 68

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

„Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“

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Vieles hat sich verändert – nur die Dummheit der Politiker-innen nicht

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von              :      Hanna Mittelstädt

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Zur Neuherausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von René Viénet, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68 in der Edition AV.

Ein Auszug aus dem aktuellen Vorwort:Schnell! war eine der Parolen, die im Pariser Mai 1968 auf den Mauern auftauchten. Schnell ist auch dieses Buch erschienen. Das französische Manuskript wurde schon Ende Juli 1968 an den Verlag Gallimard übergeben. Es enthält eine genaue Schilderung der Ereignisse mit Schwerpunkt auf Paris und Umgebung (die Universitäten, die Fabriken und Unternehmen) und im Anhang Flugblätter und andere Dokumente. Es ist eine parteiliche Zusammenstellung, keine ausgewogene oder wissenschaftliche Darstellung. Die Texte geben die Unbedingtheit der Forderungen, die Direktheit der Gesten wieder und verströmen die empfundene Dringlichkeit des Projektes, seine ganze Heftigkeit.In deutscher Übersetzung erschien das Buch 1977 in einer einmaligen Auflage in der Edition Nautilus (Übersetzung Pierre Gallissaires und Barbara Merkel) und war seit langem vergriffen. Für die neue Ausgabe konnte die damalige recht rohe Übersetzung bearbeitet und ein neues Vorwort beigesteuert werden.

Die Situationistische Internationale, deren Mitglied der Autor René Viénet seit 1966 war, hatte seit ihrer Gründung Mitte der fünfziger Jahre an einer „Neudefinition der Revolution“ gearbeitet und diese Art einer autonomen Eruption ausserhalb der üblichen Institutionen der Arbeiterbewegung, wie sie im französischen Mai 68 hervorbrach, vorhergesehen. Die Situationisten waren also in gewisser Hinsicht vorbereitet und hatten ein Verständnis von dem, was sich abspielte. Sie hatten ein begriffliches Instrumentarium entwickelt und konnten so in die Unruhe, die sich ausbreitete, praktisch intervenieren.

Dass sich in Frankreich, anders als z.B. in Deutschland, diese Art des Denkens entfalten konnte, lag unter anderem auch an den unterschiedlichen Auswirkungen des gerade beendeten faschistischen Regimes. Während in Deutschland die revolutionären Erfahrungen der Klassenkämpfe durch die extreme Zäsur des Nationalsozialismus, den Angriffskrieg und die rassistische Vernichtungsmaschine abgewürgt waren und die Nachkriegsgeneration mit der Einhegung der grauenbeladenen Schuld beschäftigt war, hatte sich der antifaschistische Widerstand Frankreichs in den hegemonialen Vorstellungen der Résistance kondensiert. Diese Kommandovorstellungen der KPF mit ihrem Heldenpathos galt es nach Kriegsende zu demontieren und statt dessen die Bezüge zur Pariser Commune und zur Räteorganisation aufzufrischen und zu beleben, um zu neuen Aktionsformen und einer neuen Sicht auf die Gesellschaft und ihre Veränderung zu gelangen.

So hatten die Situationistischen im November 1966 eine „vorbereitende“ Aktion unternommen, indem sie mit einigen Studenten der Universität Strassburg eine Broschüre in grosser Auflage publiziert und verteilt hatte, welche die Zurichtung der studentischen Ausbildung auf die kapitalistischen Verwertungsinteressen und das damit einhergehende Elend im Studentenmilieu offenlegte (Über das Elend im Studentenmilieu), das schnell etliche Störmanöver an den Universitäten ausgelöst hatte. Die Eskalation dieser Störungen führte von der Universität Nanterre aus zur Besetzung der Sorbonne, zur Öffnung der Universität für alle, zu Strassenkämpfen im Quartier Latin mit Errichtung von bis zu sechzig Barrikaden, zu Fabrikbesetzungen in ganz Frankreich. Die Chronologie ist in diesem Buch aufgezeichnet.

Schnell griff der Impuls des Widerstands auf alle möglichen Bereiche der Gesellschaft über, von den Student*innen und Arbeiter*innen zu den Fussballern, die ihren Sport von den Bossen zurückverlangten, zu den jungen Ärzten, die die Funktion der medizinischen Ausbildung und Versorgung der Menschen zu Diensten des kapitalistischen Funktionierens denunzierten, die Werbeleute, die die Abschaffung der Werbung forderten, die Angestellten des Medienkaufhauses FNAC, die ohne eigene Forderungen in den Streik traten, um ihre Solidarität kundzutun, die Menschen, die in den umkämpften Vierteln wohnten und freigiebig Essen, Wasser gegen das Tränengas und kurzzeitiges Asyl vor polizeilichen Verfolgungen boten.

Wir sind nichts, wir werden alles! ist die Parole, die eine „jugoslawische Genossin, die viel weiss“, ihrem Text in diesem Buch voranstellte. Sie fordert „Gesten, die keine Bezahlung verlangen; die spontane Organisation in den Händen der Produzenten; die leidenschaftliche Organisation und die Grosszügigkeit als Komplizin …“ Das versteht sie unter der Macht der Arbeiterräte. Die Macht zerstören, ohne sie zu ergreifen, nennt sie „erlebte Poesie“. „Die Revolution kann nur alltäglich sein, wenn man gegen die Faszination der Macht kämpft. Der Wunsch zu beherrschen, bleibt noch das Gesetz des Augenblicks, die Mentalität des befreiten Sklaven, der Schwindel des Gehorsams … die Mystik der Institutionen und die Religion der Ordnung. … Wir sind alle Herren oder wir sind nichts. Unter dieser Bedingung wird die Arbeit ein grosser Lachanfall oder alles. Es lebe die Macht der Arbeiterräte. Nieder mit der jugoslawischen Selbstverwaltung.“

Es versteht sich von selbst, dass der neue Begriff von „Selbstverwaltung“ nicht bedeutete, das Vorhandene oder hierarchisch Bestimmte selbst zu verwalten, sondern autonom zu entscheiden, was und wie gemeinsam verwaltet, oder eher organisiert, produziert, gelebt werden soll. Die generalisierte Selbstverwaltung bedeutete im Sprachgebrauch der Situationisten nichts weniger als die bewusste Bestimmung des gesamten Lebens durch alle, d.h. die geschichtliche Konstruktion der freien individuellen Beziehungen, in der die Räte die einheitliche und permanente individuelle und kollektive Emanzipation ermöglichen, indem sie das Imaginäre der Geschichte verwirklichen. Jeder revolutionäre Moment führt zur sofortigen Steigerung der Lebenslust, und aus jeder praktischen Aktion filtert sich die theoretische Verbesserung (und umgekehrt). Die Selbstverwaltung ist Mittel und Zweck des Kampfes, Form und Inhalt, sie ist die Materie, die sich selbst bearbeitet.

Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her!

Im französischen Mai 68 war die Bewegung der Besetzungen (mit 11 Millionen wild, d.h. spontan und ohne das Einverständnis und die Struktur von Gewerkschaften und linken Parteien streikenden Arbeiter*innen) das grösste revolutionäre Ereignis seit der Pariser Kommune. Es war der erste wilde Generalstreik der Geschichte, und in diesem Monat Mai bildeten sich erneut Strukturen der direkten Demokratie heraus (Vollversammlungen, jederzeit abrufbare Delegierte, Aktionskomitees, Besetzungskomitees). Die Staatsmacht wich in einem heute kaum mehr vorstellbaren Mass zurück. Dieser Nullpunkt der Macht dauerte nur einen kurzen Moment, dann vereinigten sich die Führungskräfte der Alten Welt zum Gegenschlag, und die Besetzungen wurden mit allen Mitteln aufgelöst: Versprechungen, Lügen, militär-polizeiliche Gewalt. Seit den weltweiten sozialen Infragestellungen der „Alten Welt“ der späten sechziger Jahre verschärfte diese ihre Verteidigungslinien in Form von Kriegsmaschinen, die keinen Nullpunkt mehr zulassen sollen und die dabei sind, ihre Herrschaft auf den gesamten Menschen (physisch und mental) auszudehnen.

Die „Alte Welt“, das war damals die Welt der Familie, der Religion, der Konventionen, die Identifizierung mit der gesellschaftlichen Rolle, die vorhandenen und verknöcherten Institutionen des Klassenkampfes. All das wurde im Moment des Aufstands über den Haufen geschmissen, mit grosser Wucht und wenig praktischen Erfahrungen, was sicher die Schwäche dieses Aufstands wie vieler anderen gescheiterten Aufstände ausmacht.

Was andererseits die Stärke dieses Aufstands (und vieler anderer ebenso) auszeichnet, ist das spontane Wissen, dass alle Entfremdungen zusammen und gemeinschaftlich abgelehnt werden müssen, dass keine Ideologie mehr Gültigkeit hat und dass alle alten Institutionen ausgedient haben. Das Verlangen nach direktem Dialog, nach dem freien Wort, nach echter Gemeinschaft schuf sich in den besetzten Gebäuden Raum, die verhasste entfremdete Arbeit wurde für wenige Wochen ersetzt durch das Spiel und das Fest und die praktische Solidarität. „Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft“, beschrieb Le Monde die Atmosphäre. Frauen und Männer, Franzosen und Menschen aus anderen Ländern kämpften spontan und gemeinschaftlich. Sie waren nicht mehr getrennt nach Hierarchien, Funktionen oder Rollen, sie kommunizierten in einer gemeinsamen Raum-Zeit. Die kapitalisierte Zeit stand still.

Wütende aller Länder, vereinigt euch!

Der Text René Viénets und die Dokumente im Anhang, ihr Ton (grossmäulig, zumeist männlich, heftig, ungezügelt etc.) und ihre Angriffslust mögen für viele eine Zumutung sein, damals wie heute. Sie zeigen uns heutigen Lesenden den Unterschied auf zum aktuellen Diskurs in einer „gezügelten“ Sprache. Sie öffnen einen geschichtlichen Raum: So fing es an, hier stehen wir heute. Wir haben an Sensibilität gewonnen, an Achtsamkeit, an Vorsicht, Rücksichtnahme, Respekt vor Schwächen, Blick auf Diversitäten. Aber wir haben auch verloren, die Wertschätzung des Negativen als Kraft der Aufhebung, d.h. der echten Veränderung, das Bewusstsein über die Notwendigkeit des Bruchs, die Verweigerung und die klare Sicht auf unsere Einbindung in die Gesellschaft des Spektakels, in die Logik der Ware, auf welcher Stufe ihrer Hierarchie auch immer.

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Das, was die Situationisten die „totale Emanzipation“ nannten, die universelle und einheitliche Befreiung ohne jede Trennungen, ist fast gänzlich aus der Debatte verschwunden. Seitdem die „Überflussgesellschaft“ durch den kapitalistischen globalen und totalen Extraktivismus zu einer Gesellschaft des Ausnahmezustands geworden ist, die ständig im Modus von Katastrophe, Krieg und Kollaps operiert, fordert die ideologische Zurichtung ein verstärktes Zusammenstehen, um die permanente Krise zu bewältigen. Wir sollen nun die Welt, wie sie ist oder wie sie vermeintlich einmal war, durch Verzicht und ständige Anpassung an die weiterentwickelten Ausbeutungsformen gemeinsam retten. Der damals so heftig vollzogene Bruch mit der „Alten Welt“ der hierarchischen Ausbeutung kann uns noch einmal vor Augen führen, wie total oder auch totalitär die aktuellen Klassenverhältnisse auf die Menschen zugegriffen haben, wie weit sich das „Spektakuläre“ von einer äusserlichen Entfremdung in den Menschen hineingefressen hat. So dass es heute noch klarer als damals ist, dass alles zusammenhängt und alles „total“ und einheitlich, d.h. universell verändert werden muss.

Es ist kein Wunder, dass die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich 2018, genau sechzig Jahre nach dem Mai 68 und mitten in einem sich seit Jahren im Ausnahmezustand befindlichen Land, die Spur der „wilden Streiks“ und der „wilden Demokratie“, der wilden Organisations- und Aktionsformen wieder aufgenommen hat. Und dass sie wie ein Gespenst der Revolution wieder aufgetaucht ist, das die herrschende Klasse zu sofortiger und brutaler Bekämpfung durch ihre Anti-Aufstandseinheiten und durch permanente mediale Denunziation veranlasste. Die Schmach der staatlichen Schwäche im Mai 68 sollte sich nicht wiederholen. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass das, was im Mai 68 einen Monat angehalten hat, bei den Gelbwesten mehr als ein Jahr andauerte, und dass die Formen der Aktionen und Vernetzung erheblich weiterentwickelt wurden. So konnte in der Gegenwart die Vergangenheit verbessert und die Tür zum verdrängten Imaginären wieder einen Spalt geöffnet werden.

Da sich die Lebensverhältnisse im Modus von Krieg und Krise nicht verbessern lassen, sondern weiter verschlechtern werden, werden auch Verweigerung und Bruch wieder wichtige Impulse werden. Autonome Strukturen des Gemeinsamen zu finden, d.h. menschliche Sicherheit und Fürsorge, planetare Nachhaltigkeit, Gesundheit für alle, Freiheit der Vielen Verschiedenen, den globalen Schutz der menschlichen und ökologischen Singularitäten in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung zu gestalten, das heisst, die „Bewegung des Kommunismus“ als ein ständiges Werden anzugehen. Und vielleicht können die Unverschämtheit der Thesen dieses Buches, ihre Grossmäuligkeit und Frechheit uns heute, mit dem Abstand von sechzig Jahren, ein grosses Lachen schenken, das Lachen, von dem die jugoslawische Genossin, die viel weiss, sprach und das uns die Möglichkeiten einer Öffnung in eine gänzlich andere Welt aufzeigt, in unsere Autonomie und Selbstbestimmung jenseits der spektakulären Warengesellschaft.

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Edition AV, Bodenburg 2023. 281 S., ca. 24.00 SFr., ISBN 978-3-86841-292-5.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —      Posters on a wall – the remnants of May 1968.

Urheber Robert Schediwy           /        Quelle    :     Selbst fotografiert    /      Datum       :    Juli 1968

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

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Unten     —         Antikriegsdemonstration in den USA, 1968

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der politische Nutzen eines toten Teenagers

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Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Als Teenager reisten wir nach Frankreich, England und Deutschland, um zu arbeiten und um Sprachen zu lernen. Zu dieser Zeit fuhren die Bürger Mittel- und Osteuropas, die nur wenig Geld zur Verfügung hatten, meist mit dem Bus. Eine solche Reise dauerte viele Stunden inklusive eines langen, erzwungenen Halts an der polnisch-deutschen Grenze.

Zu dieser Zeit war Polen weder Mitglied der EU noch des Schengenraums, sodass man geduldig die Passkontrolle ertragen musste. Uns frustrierte es, dass wir nicht Teil dieses Europas waren. Zugleich waren wir überzeugt, dass es sich lohnt, an dieser Grenze zu warten.

Heute hingegen versuchen populistische Parteien zu beweisen, dass der Westen bestenfalls verachtenswert sei. Dass er die Freiheit, die er genießt, missverstehe. Mehr noch: Sogar die Gegner des Populismus übernehmen diese Rhetorik, um die Aufmerksamkeit der Wähler zu gewinnen. Die Frage ist, wie sich das auf die Gesellschaft auswirken wird.

Ein gutes Beispiel ist die Antimigrations­rhetorik. Nachdem in Frankreich ein Teenager von der Polizei erschossen wurde und daraufhin schwere Unruhen ausbrachen, reagierten die osteuropäischen Länder ziemlich seltsam. Die Unruhen in den französischen Vorstädten haben in die polnische Politik eingegriffen. Der demokratische Oppositionsführer ­Donald Tusk erklärte in den sozialen Medien: „Wir sehen schockierende Szenen von den gewalttätigen Unruhen in Frankreich.“ Und fügte hinzu, dass die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen eine Politik der Masseneinwanderung betreibe, in deren Rahmen Bürger aus muslimischen Ländern im vergangenen Jahr 135.000 Arbeitserlaubnisse erhalten hätten.

Unterdessen äußerten Vertreter der Regierungspartei unverhohlen Freude über die Krise, die die Menschen in Frankreich gerade durchleben. Es sei ein „unbestreitbares Fiasko der Migrationspolitik“, argumentierte Jan Dziedziczak, der Bevollmächtigte der polnischen Regierung im Ausland. „Frankreich steht in Flammen und leidet unter den Folgen einer fehlgeleiteten Politik der offenen Tür“, schrieb Regierungssprecher Rafał Bochenek. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass zumindest einige dieser Äußerungen eine besondere Art von Schadenfreude widerspiegeln. Hier ist endlich der Westen im Unrecht. Dieser große Westen, den wir einst anstrebten, macht endlich auch mal Fehler und muss nun die Konsequenzen tragen.

Es geht hier jedoch um etwas Tieferes. Niemand bezweifelt, dass Europa, sowohl im Osten wie auch im Westen, heute mit strukturellen Problemen konfrontiert ist, die den Wohnungsmarkt, den Arbeitsmarkt und verschiedene Formen der Ungleichheit betreffen; und dass allgemein die Befürchtung herrscht, dass wir nicht einer besseren, sondern einer schlechteren Zukunft entgegengehen.

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Die Hölle auf Erden

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Es gibt gute Gründe, Afghanistan zu helfen. 

Ein Debattenbeitrag von Theresa Breuer

Aber den Preis zahlen die Frauen und Mädchen. Für sie gibt es unter den Taliban keine Freiheit. Am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab und schlossen Mädchenschulen.

Kaum ein Land auf dieser Welt behandelt Frauen so schlecht wie das Taliban-Regime. In weniger als zwei Jahren haben die selbsternannten Gotteskrieger die Hölle auf Erden geschaffen. Nichts anderes hatten sie angekündigt. Die Taliban leben ihre menschenverachtende Geisteshaltung. Ihren Worten lassen sie Taten folgen – im Gegensatz zu unserer Bundesregierung.

Am Flughafen von Kabul spielten sich apokalyptische Szenen ab, als die Taliban im August 2021 in Kabul einmarschierten. Zehntausende Menschen versuchten zu fliehen, klammerten sich in ihrer Verzweiflung an Flugzeuge und stürzten in den Tod. Die Welt war entsetzt. Trotzdem mahnten konservative Politiker in Deutschland, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 kündigte Außenministerin Annalena Baerbock an: „Viele Menschen leben in täglicher Angst. Das gilt besonders für diejenigen, die mit uns für eine bessere Zukunft Afghanistans gearbeitet, daran geglaubt und sie gelebt haben. Am schwersten ist die Lage für die besonders gefährdeten Mädchen und Frauen. Gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung, und wir werden sie nicht im Stich lassen.“ Die Ampelregierung beschloss ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghaninnen und Afghanen. Es sollte gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgearbeitet werden. Die Zusammenarbeit war ein einziges Debakel.

Monatelang ließ das Innenministerium auf sich warten, bis Gefährdungskriterien für das Programm veröffentlicht wurden. Das Geschlecht allein hätte gereicht. Die Zeit raste. Schon am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab, schlossen Mädchenschulen und schlugen die anschließenden Proteste nieder.

Trotzdem hatten die Vereinten Nationen gehofft, die Taliban zur Einsicht bringen zu können. Ohne Erfolg. Im Mai verkündeten die Taliban die Burka-Pflicht. Frauen sollten ab sofort nur noch im Ganzkörperschleier das Haus verlassen dürfen. Das Gewand schränkt Sicht und Bewegungsfreiheit ein, es gleicht einem Gefängnis aus Stoff. Auf die Ankündigung folgte ein internationaler Aufschrei. Der Erlass war provokativ und völlig überflüssig. Die Burka ist keine Erfindung der Taliban. In vielen Teilen des Landes gehen Frauen ohne Burka nicht aus dem Haus – sofern es ihnen überhaupt erlaubt ist, das Haus zu verlassen. Warum ein Gesetz erlassen, das ungeschrieben seit Generationen gilt?

Ganz einfach, weil sie es können. Die selbsternannten Gotteskrieger haben eine Weltmacht gedemügt und bloßgestellt. Von den hehren Motiven, mit denen die USA und ihre Verbündeten den Krieg rechtfertigten, ist nicht viel übrig geblieben. Der überhastete Abzug ist zum Sinnbild westlicher Scheinheiligkeit geworden. Nun herrscht ein Terrorregime, mit dem der Westen nicht verhandeln will, es aber auch nicht ignorieren kann. Zu viel Elend würde die Aufmerksamkeit wieder auf Afghanistan lenken, Fragen von Schuld und Verantwortung aufwerfen. Niemand hat ein Interesse daran, Bilder von hungernden Kindern zu produzieren. Das ist verständlich, aber verschlimmert das Problem. Wir helfen dem Taliban-Regime zu überleben und opfern dafür die Frauen.

Das System der Taliban ist perfide. Indem der Erlass nicht Frauen selbst, sondern ihre männlichen Angehörigen bei Verstößen bestraft, macht es alle Männer in Afghanistan zu Komplizen der Taliban. Sie sind für das Verhalten ihrer Frauen verantwortlich, müssen dafür sorgen, dass die weiblichen Angehörigen die Regeln der Taliban befolgen. Der Erlass beraubt Frauen jeglicher Autonomie, gibt ihnen keine Chance mehr, sich gegen­ die Vorschriften aufzulehnen oder bei Widerstand ins Gefängnis zu gehen. Das Gesetz entmenschlicht Frauen, degradiert sie zu Eigentum ihrer männlichen Verwandten. Es schränkt nicht nur die Freiheit von Frauen ein, es gibt vor allem Männern in der Gesellschaft uneingeschränkte Macht.

Kaum eine Frau in Afghanistan wird sich einer Regel widersetzen, wenn am Ende nicht sie selbst, sondern ihr männlicher Vormund dafür bestraft wird. Wenn es doch eine Frau wagen sollte, wird sie wahrscheinlich keine Märtyrerin für Frauenrechte, sondern nur ein weiteres Opfer von häuslicher Gewalt. Afghanistan galt auch vor der Herrschaft der Taliban als eines der schlimmsten Länder für Frauen weltweit. Frauen werden von männlichen Angehörigen geschlagen, verstümmelt, mit Säure überschüttet und in Brand gesetzt. Als ein guter Ehemann gilt allein ein Mann, der seine Frau nicht grundlos schlägt.

Die Taliban machen es einem leicht, Afghanistan zu vergessen. Sie begehen keine Massaker und ziehen auch nicht plündernd oder vergewaltigend durch das Land. Sie schränken Rechte ein. Die internationale Staatengemeinschaft fordert, das zu unterlassen. Die Taliban unterlassen es, dieser Forderung nachzukommen.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben      —      Afghanistan collage, from left to right: 1. Bamyan province, 2. The Salang Pass between Parwan and Baghlan provinces, 3. Band-e Amir National Park in Bamyan province, 4. River in Nuristan province.

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Grün als Bedrohung :

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Warum die Klimapolitik die Arbeiter verliert

Von Klaus Dörre

In der April-Ausgabe analysierte der Soziologe Sighard Neckel, wie der Reichtum einer globalen Verschmutzerelite das Klima ruiniert. An die Gerechtigkeitsfrage anknüpfend beleuchtet sein Kollege Klaus Dörre, inwieweit der persönliche Klimafußabdruck von der jeweiligen Klassen- position abhängt und welche Resonanz die deutsche Klimapolitik in der Arbeiterschaft hervorruft.

Auf die Frage, wie er die Klimabewegung einschätze, antwortet ein Arbeiter und angehender Vertrauensmann der IG Metall: „Als gefährlich!“ Gefährlich, weil sie die dem Befragten eigene Vorstellung eines guten Lebens bedrohen – und so in eine harte Ablehnung ökologischer Politik umschlagen könne, wie wir sie momentan auch zum Beispiel in der Debatte um die Wärmepumpen erleben. Daran zeigt sich: Ohne eine echte Auseinandersetzung über Klimagerechtigkeit – und wie diese herzustellen sei – wird die Klimakrise nicht zu bewältigen sein.

Als demokratischen Klassenkampf hatte einst Ralf Dahrendorf tariflich und arbeitsrechtlich geregelte Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bezeichnet. Den institutionalisierten Kampf um die Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Mehrprodukts von Arbeit gibt es noch immer. Doch mit Blick auf Klimawandel, Artensterben und Ressourcenknappheit hatte er, so schien es, seine gesellschaftsprägende Kraft mehr und mehr verloren. „Not ist hierarchisch, Smog demokratisch“, hieß es vor jetzt bald 40 Jahren in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, sprich: Unter der Klimakrise leiden alle gleichermaßen. Doch das war schon damals eine Fehlannahme.[1]

Gewiss, ökologische Großgefahren wie die des Klimawandels betreffen alle, aber eben nicht in gleicher Weise und sie machen auch nicht alle gleich. Im Gegenteil: In Gesellschaften, in denen der demokratische Klassenkampf öffentlich marginalisiert wird, kann sich, so meine These, der ökologische Gesellschaftskonflikt in einen Modus ideologischer Beherrschung verwandeln – und zwar gerade, wenn auch nicht nur, der ökonomisch Schwachen. In Klassenlagen, die von den Zwängen des Lohns und der Lohnarbeit geprägt werden, löst das massive Widerständigkeiten aus, die als gewaltiger Bremsklotz für Nachhaltigkeit wirken und letztlich populistischen, antiökologischen Bewegungen Auftrieb verleihen.

Nehmen wir dafür ein Beispiel aus unseren laufenden Erhebungen in der Auto- und Zulieferindustrie, nämlich den oben bereits erwähnten Arbeiter, der die Klimabewegung als gefährlich einschätzt. Er bezeichnet sich selbst als „Autonarr“, der große Freude dabei empfindet, seinen PKW auf „weit über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen“. Sein Hobby kann er sich leisten, weil er bei Opel arbeitet. Das heißt für einen Beschäftigten, der in Gotha lebt: um 3:20 Uhr aufstehen, damit pünktlich zur Frühschicht um 5:30 Uhr gearbeitet werden kann; Tätigkeit in 50-Sekunden-Takten; die Arbeitszeit unterbrochen von zwei Neun-Minuten-Pausen und einer 23-Minuten-Mittagspause; eine Stunde vor der Mittagspause „ist man platt“.[2]

Warum ist der Befragte bereit, diese monotone, körperlich enorm belastende Arbeit jeden Tag auszuführen? Er nennt dafür drei Gründe – 3800 Euro brutto, für Arbeiter in Thüringen ein Spitzenverdienst; Kolleginnen und Kollegen, die für ihn „wie eine Familie“ sind und schließlich der Schutz durch einen Tarifvertrag und einen starken Betriebsrat – also aufgrund von Sozialeigentum, das im Osten der Republik alles andere als selbstverständlich ist. Kurzum: Die Zwänge des Arbeitslebens nimmt der Befragte letztlich vor allem deshalb in Kauf, um in seiner Freizeit, wie er sagt, wirklich frei zu sein. Wie er lebt, was er nach der Arbeit macht, will er sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Das ist der Grund, weshalb der angehende Vertrauensmann die Klimabewegung und vor allem die grüne Partei als Gegner betrachtet.

Hinzu kommt: Angehörige der Arbeiterklasse nehmen sich selbst häufig als – mehrfach abgewertete – Statusgruppe wahr. Arbeiter wird man nur, wenn man es muss; wer kann, „studiert oder geht ins Büro“. Lebt man im Osten, auf dem Land und ist ein Mann, wird die Abwertung und öffentliche Nichtbeachtung der eigenen Lebensweise umso schmerzlicher erfahren.

»Hauptursache für die steigende Emissionslast sind die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.«

All das sind Gründe dafür, weshalb die imaginäre Revolte einer radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens „normaler“ Arbeiter sich inzwischen selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern Gehör verschaffen kann. Man rebelliert dabei gegen einen Modus ideologischer Beherrschung, der sich in unterschiedlichen Facetten in zahlreichen Segmenten der neuen Arbeitswelt findet.

Dabei sind, wie unsere Untersuchungen ebenfalls belegen, Klimawandel, Artensterben und andere ökologische Großgefahren selbst in den untersten Klassensegmenten subjektiv durchaus relevant. Allerdings – und das ist das zentrale Problem – verschwindet die soziale Dimension von Nachhaltigkeit im öffentlichen Diskurs fast völlig.

Dabei hängt der persönliche Klimafußabdruck eindeutig von der jeweiligen Klassenposition ab, wie Lucas Chancel in seiner jüngsten Untersuchung über soziale Ungleichheit und klimaschädliche Emissionen gezeigt hat. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind zwischen 1990 und 2019 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Das heißt, die untere Hälfte der Einkommens-/Vermögensgruppen in Europa und Nordamerika hat Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und etwa fünf Tonnen in europäischen Ländern zumindest annähern oder diese gar erreichen. Die wohlhabendsten ein Prozent emittierten 2019 hingegen 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu.[3]

Hauptursache für die steigende Emissionslast sind dabei die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.[4] Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Produktions- und Investitionsentscheidungen in der Regel nur von Mitgliedern herrschender Klassenfraktionen, also von winzigen Minderheiten getroffen werden (nach unserer Heuristik 1,2 Prozent). Diese Entscheidungen beeinträchtigen jedoch das (Über-)Leben vor allem derjenigen Klassen, die zum Klimawandel am wenigsten beitragen und die unter den Folgen der Erderhitzung am stärksten leiden.

Die Autoindustrie liefert dafür glänzendes Anschauungsmaterial. So haben die in der Bundesrepublik ansässigen Endhersteller im Herbst 2022 trotz Inflation, Chipmangel und gestörter Lieferketten ein „Traumquartal“ erlebt. Ihre Gewinne machten sie hauptsächlich mit hochpreisigen, spritfressenden bzw. energieintensiven Luxuslimousinen und SUVs. Preissteigerungen können in diesem Segment problemlos an die Kunden weitergegeben werden. Da die Großgruppe der Reichen und Superreichen künftig noch wachse, sei es eine herausragende Leistung der deutschen Automobilhersteller, in diesem Bereich die Spitzenposition zu besetzten; so würden Arbeitsplätze gesichert, argumentiert das Vorstandsmitglied eines großen Endherstellers im Interview.

Die Realerfahrung vieler Beschäftigter in den Karbonbranchen ist jedoch eine völlig andere. Bereits jetzt gehen Arbeitsplätze in erheblichem Ausmaß verloren. Allein die Umstellung auf E-Motoren könnte in Deutschland mehr als 250 000 Jobs kosten. Ob neue Arbeitsplätze, die es in diesem Bereich zweifellos auch geben wird, hierzulande entstehen, ist hingegen eine offene Frage.

Quelle        :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben      —     9ª Expo de Carro Antigos – Porsche 911 Targa

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Nur die halbe Wahrheit

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Der Zweieinhalb-Tonnen-Minister

Bei so vielen rot-grünen Linien im Hintergrund gerät die FDP glatt auf die Anklagebank!

Von Peter Köhler

Schurken, die die Welt beherrschen wollen – heute: Marco „Buschi“ Buschmann, deutscher Gerechtigkeitsminister und politisches Schwergewicht.

Auch ein kleiner Mensch kann ein Großer werden und nach 15, 20 Jahren sogar drei-, ja viermal größer als bei der Geburt durchs Leben schreiten, was gar nicht so selten ist. Als Justizminister Marco Buschmann am 1. August 1977 – natürlich ganz legal – in die ebenfalls sehr kleinen Verhältnisse seiner Eltern in Gelsenkirchen vorstieß und Quartier nahm, ahnte niemand, zu was sich der Säugling und Politiker einmal entwickeln sollte.

Die 50-köpfige Familie teilte sich eine Sieben-Quadratmeter-Wohnung mit der kranken Großmutter, außerdem einem am ganzen Körper kriegsbeschädigten Großvater, mehreren verwitweten Tanten und den Nachbarn, die oft zu Besuch kamen. Gleichwohl fühlte sich der werdende Staatsmann nicht arm, hatte er doch von Anfang an mit Menschen zu tun und beschloss aufgrund solcher Erfahrungen früh, Jurist zu werden.

Der Wille zum Aufstieg und die Vorstellung von einem Leben: Sie ließen schon den Siebzehnjährigen zur höherklassigen FDP finden, drängten ihn zum Abitur, jagten ihn zum Studium seiner Rechte nach Bonn, peitschten ihn hinauf zur Promotion und ließen ihn endlich in ein goldgetäfeltes Düsseldorfer Anwaltsbüro einfahren.

Der aus kleinen, unscheinbaren, womöglich löchrigen Verhältnissen herrührende Doktor Buschmann, er schien weit aus der Art geschlagen! Doch mal halblang: Gewöhnlich wird, wer frühkindliche Prägungen und andere Traumata abwaschen und daher später mittels Recht und Gesetz für Anstand und Ordnung sorgen will, entweder Polizist, wenn man von unten kommt, oder Jurist, wenn man weiter oben auf der Leiter geboren wurde. Lebende Ausnahmen bestätigen also die Regel!

Schmied seines Glücks

Und der Homo novus Buschmann hielt sich oben fest! Zuerst als Bundesgeschäftsführer der FDP von 2014 bis 2017 und dann als ihr Parlamentarischer Geschäftsführer im Bundestag von 2017 bis 2021 bewies er, dass es jeder schaffen und seines hohen Glückes Schmied sein kann, der unbedingt Bundesgeschäftsführer der FDP und auf jeden Fall deren Parlamentarischer Geschäftsführer werden möchte, was ja nach nationalem und internationalem Recht nicht strafbar ist.

Die deutsche Gesellschaft ist eine durchlässige Gesellschaft, in der jeder nach oben kommen darf, der dort willkommen ist. Einzige Voraussetzung, wie überall in der Natur: Leistung, Leistung und Erfolg, diese zwei. Es sei denn, man ist in der FDP.

Allerdings kann, wer 2005 gerade mal 2,5 Prozent der Wählerstimmen einsammelt, nicht zur Belohnung für sein krachendes Scheitern auf dem freien Markt der Politik in den Bundestag vorrücken. Nein, es müssen schon volle 7 Prozent sein, um aus dem dicksten Busch ins helle Parlament vorzustoßen wie unser Mann 2009 und ähnlich erfolgreich wieder und wieder 2017 und 2021!

Sage also niemand, die FDP sei eine Partei der Abstauber und Ausnutzer und Aktionäre und Arrivierten und setze sich nicht für die Schwachen ein, die Erfolglosen, die Versager. Und das so kompetent, dass die 7 Prozent sich als 70 Prozent lesen lassen: spätestens in dem Moment, als die FDP Ende 2021 als kleinster und leichtester Koalitionspartner die Regierung übernahm. Selbstverständlich im Rahmen der Verfassung!

Austrockner der Bürokratie

Quelle        :      TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben      —     Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 20. Wahlperiode des Bundestages am 7. Dezember 2021: Marco Buschmann

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Wider die Korruption

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Weltweit wird Korruption als eines der größten Hindernisse für wirtschaftliche und soziale Entwicklung gesehen

Ein Debattenbeitrag von Otto Geiß

Der Maschinen- und Anlagenbau ist zweitgrößter Industriezweig Deutschlands. Er beliefert weltweit Sektoren, die Menschenrechte missachten.

Für 50 Millionen Euro verkaufte die deutsche Krones AG im Jahr 2015 eine Brauereianlage und zwei Abfülllinien an die angolanische Firma Sodiba. Das Darlehen für Sodiba stellte die deutsche KfW-IPEX-Bank zur Verfügung. Wie sich später herausstellte, gehörte das Unternehmen Isabel dos Santos. Ihr Vater war fast 40 Jahre lang Präsident von Angola und häufte durch Vetternwirtschaft und Steuerhinterziehung ein Privatvermögen von 20 Milliarden (!) US-Dollar an. Ein Blick in das angolanische Amtsblatt hätte gereicht, um das zu wissen. Wegen fahrlässigen Vorgehens wurde der KfW eine Geldbuße auferlegt. Krones hat nach eigenen Angaben daraus gelernt und in Bezug auf Geschäftspartner sogenannte „Third Party Checks“ eingeführt.

Der Fall zeigt exemplarisch: Deutsche Unternehmen sollten besser hinschauen, mit wem sie im internationalen Handel Geschäfte machen. In vielen Ländern, in denen auch deutsche Maschinen- und Anlagenbaufirmen Geschäfte machen, gehört Korruption zur Tagesordnung. Transparency International definiert Korruption als Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil oder Nutzen. Korruption tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf, zum Beispiel als Bestechung, Wahlbetrug, unrechtmäßige Bereicherung und Vetternwirtschaft. Doch was das für Menschen- und Umweltrechte oft bedeutet, ist vielen Unternehmen nicht bewusst.

Viele Verletzungen von Menschenrechten und Umweltschutzvorgaben werden erst und gerade durch Korruption ermöglicht. Korruption ist in diesem Kontext eine stete Begleiterscheinung, ein klassisches Querschnittsphänomen – und kein Kavaliersdelikt.

Weltweit wird Korruption als eines der größten Hindernisse für wirtschaftliche und soziale Entwicklung gesehen. Der finanzielle Schaden, der wirtschaftlich schwachen Ländern durch Korruption entsteht, liegt laut der Konrad-Adenauer-Stiftung um ein Vielfaches über den Beträgen, die diese Länder als Entwicklungsgelder erhalten.

Korruption ist kostspielig – und findet auch statt, weil sich Pri­vat­ak­teu­r:in­nen aus wohlhabenden Industrieländern daran beteiligen. Es braucht immer die Hand, die gibt, und die Hand, die nimmt. Das hierzu notwendige Geld gelangt über internationale Lieferketten an Produktionsstandorte in diesen Ländern. Po­li­ti­ke­r:in­nen und Be­am­t:in­nen nehmen dort zum Beispiel Bestechungsgelder an und dulden Korruption, anstatt Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße ermöglichen oder von ihnen profitieren.

Je höher die Korruptionsrate, desto schlechter die Menschenrechtslage. Das zeigt auf eindrückliche Weise ein Vergleich des von Transparency International herausgegebenen Korruptionswahrnehmungsindex mit dem Freedom-House-Index für politische und bürgerliche Freiheiten. In beiden zählen zum Beispiel der Südsudan, Syrien, Somalia und Jemen zu den Schlusslichtern.

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Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße gedeihen also in gleichen Umgebungen und beruhen auf ähnlichen Ursachen. Wenn deutsche Unternehmen korrupte Praktiken anwenden oder dulden, schaffen sie damit direkt oder indirekt Voraussetzungen, die Menschenrechtsverletzungen ermöglichen. Korruptionsbekämpfung auf allen Stufen der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsketten ist deshalb eine Grundvoraussetzung für eine integre Umsetzung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten.

Von Bergbau- über Textil- bis Verpackungsmaschinen – die potenziellen und tatsächlichen negativen Auswirkungen in der nachgelagerten Wertschöpfungskette des deutschen Maschinen- und Anlagebaus sind massiv. Das belegt eine Studie, die Germanwatch, Transparency Deutschland, Gegenströmung und das Bischöfliche Hilfswerk Misereor gemeinsam herausgegeben haben, um das Problembewusstsein für die negativen Auswirkungen in der nachgelagerten Wertschöpfungskette zu schärfen. Sie zeigt die Verantwortung der Branche, Sorgfaltspflichten für die nachgelagerte Wertschöpfung zu übernehmen. Deutlich wird, dass dies für die Unternehmen keine unangemessenen Belastungen darstellt.

Die Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus sollten einen risikobasierten Ansatz für Sorgfaltspflichten zu Menschenrechten, Umweltschutz und Korruptionsprävention etablieren und dabei Querschnittsrisiken der Korruption im Auge behalten. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist eine ehrliche und systematische Risikoanalyse, auch mit Blick auf die belieferten Sektoren, jeweilige Geschäftsbeziehungen und -modelle sowie Länderrisiken.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     DBP 1992 1636-R

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Unten      —     BASF-Werk in Ludwigshafen

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Medien ist es egal:

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Hunderte Migranten hätte man retten können

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Für die EU sind nur tote Migranten – gute Migranten ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von                :          Urs P. Gasche /   

Viele Berichte über das Wie und Warum des U-Boot-Unglücks – Kaum Berichte über das Wer und Warum der über 500 Ertrunkenen.

Trotz des höchstwahrscheinlich vermeidbaren Unglücks mit über 500 toten Migrantinnen und Migranten vor der griechischen Küste recherchierten Medien in der Schweiz und in Deutschland nicht, welches die Ursachen und die Verantwortlichen waren. Dafür berichteten sie umfangreich über Hintergründe des U-Boot-Unfalls mit den fünf verunglückten Milliardären an Bord.

Fast nur online informierten unsere grossen Medien einzig darüber, dass die Grenzschutzagentur Frontex kritisierte, dass die «griechischen Behörden trotz Aufforderung keine zusätzliche Luftunterstützung gewährten».

Anders als europäische Medien beauftragte die «New York Times» ein ganzes Recherche-Team, um die Verantwortlichen des Bootunglücks ausfindig zu machen. Unter dem Titel «Das Schiff, das die Welt nicht wollte – Griechische Regierung schickt ein Polizeiboot der Küstenwache statt Rettungskräfte» entlarvte die Zeitung zuerst am 1. Juli und ergänzt am 3. Juli Angaben griechischer Behörden als Ausreden und Lügen.

Über diese NYT-Recherche informierte von den grossen Medien in Europa erst heute, am 6. Juli, die NZZ ausführlich.

Fazit der NYT: Die meisten Toten hätten gerettet werden können

Hier die wichtigsten der recherchierten Fakten:

  • Die Schlepper kassierten von den 750 auf dem Boote zusammengepferchten Migrantinnen und Migranten insgesamt 3,5 Millionen Dollar. Abgemachtes Ziel war Italien. Schon am zweiten Tag, so erinnerten sich Überlebende, machte der Motor Probleme.
  • Niemand an Bord trug eine Rettungsmaske.
  • Die griechischen Behörden behaupteten, das Boot sei weiter normal in Richtung nach Italien gefahren, weshalb sie nicht eingeschritten seien. Doch Satellitenbilder, welche die NYT beschaffen konnte, zeigen eindeutig, dass das Boot mit einem Motorschaden in den letzten sechseinhalb Stunden vor dem Kentern eine unkontrollierte Schleife rückwärts zog.
  • Die griechischen Behörden zitieren nur den 22-jährigen Ägypter, der das Boot steuerte und angab, die Fahrt in Richtung Italien fortsetzen zu wollen. Es entsprach seinen persönlichen Interessen. Denn die Schlepper zahlen Kapitäne meist erst im Nachhinein und nur, wenn sie ihr Ziel erreichen. Ein Helikopter der griechischen Küstenwache überflog das Boot und sah um Hilfe rufenden Migranten.
  • Die Küstenwache bat zwei vorbeifahrende Schiffen, das Migrantenboot mit Wasser, Nahrung und Benzin zu versorgen. Eines der Frachtschiffe meldete dem griechischen Kontrollzentrum, dass das Boot «bedrohlich schaukelt». Die griechischen Behörden sandten keine Hilfe.
  • Etwa drei Stunden, bevor das Migrantenboot kenterte, näherte sich ein kleines Polizeiboot der griechischen Küstenwache, nahm aber keine Migranten auf. Die maskierten Männer des Polizeiboots verursachten noch mehr Angst, nachdem auf dem Migrantenboot bereits Panik ausgebrochen war. Wenige Überlebende berichteten als Zeugen, wobei ihnen die griechischen Behörden die Handys als Beweismittel konfiszierten.
  • Nach dem Untergang des Bootes konnte eine Luxusjacht, die sich in der Nähe befand, etwa hundert Überlebende aus dem Wasser retten.

Die «New York Times» kommt zum Schluss:

«Griechenland als eine der führenden Seefahrernationen der Welt war in der Lage, eine Rettungsaktion durchzuführen. In den 13 Stunden nach dem Frontex-Alarm hätten Marineschiffe, einschliesslich solche mit medizinischer Ausrüstung, vor Ort sein können.»

Den genauen Zeitablauf hat die NYT zusammengestellt und ist hier beschrieben.

Schlepper verdienen Millionen mit verzweifelten Menschen voller Hoffnung

Insgesamt zahlten die rund 750 Migranten durchschnittlich je 4660 Dollar oder insgesamt rund 3,5 Millionen Dollar, um nach Italien geschleust zu werden. Sie wurden auf dem Kutter Adriana in einem Klassensystem zusammengepfercht: Pakistaner am unteren Ende, Frauen und Kinder in der Mitte und Syrer, Palästinenser und Ägypter oben.

Für etwa 50 Dollar mehr konnte man sich einen Platz an Deck sichern. Für einige war das der Unterschied zwischen Leben und Tod.

Mindestens 350 der Passagiere kamen nach Angaben der pakistanischen Regierung aus Pakistan. Die meisten befanden sich in den unteren Decks und im Laderaum des Schiffes. Von ihnen überlebten nur zwölf.

Die Frauen und kleinen Kinder gingen mit dem Schiff unter.

Der 17-jährige Teenager Kamiran Ahmad war mit der Hoffnung auf ein neues Leben in Tobruk, Libyen, per Flugzeug angekommen. Seine Eltern in Syrien verkauften Land, um Schmuggler zu bezahlen. Sie beteten, dass Kamiran es nach Deutschland schaffen würde, um zu studieren, zu arbeiten und vielleicht etwas Geld nach Hause zu schicken.

Doch als die Adriana im Morgengrauen des 9. Juni in See stach, war Kamiran besorgt. Sein Cousin Roghaayan Adil Ehmed, 24, der ihn begleitete, konnte nicht schwimmen. Und das Boot war mit fast doppelt so vielen Passagieren überfüllt, wie ihm gesagt worden war.

Da es keine Schwimmwesten gab, zahlte Roghaayan zusätzliche 600 Dollar, um sich selbst, Kamiran und einen Freund auf ein Oberdeck zu bringen.

Sie gehörten zu einer Gruppe von elf jungen Männern und Jungen aus Kobani, einer mehrheitlich kurdischen Stadt in Syrien, die von einem mehr als zehnjährigen Krieg verwüstet wurde. Die Gruppe wohnte in schäbigen, gemieteten Zimmern in Beirut, Libanon, und flog dann nach Ägypten und weiter nach Libyen.

Der Jüngste, Waleed Mohammad Qasem, 14, wollte Arzt werden. Als er hörte, dass sein Onkel Mohammad Fawzi Sheikhi nach Europa gehen würde, bettelte er darum, mitkommen zu dürfen. Auf dem Flug nach Ägypten lächelten die beiden für ein Selfie. Sie haben die Fahrt nicht überlebt.

Unruhen breiteten sich aus, als klar wurde, dass der Kapitän, der die meiste Zeit mit einem Satellitentelefon verbrachte, sich verfahren hatte.

Als die Pakistaner auf das Oberdeck drängten, schlugen ägyptische Männer, die mit dem Kapitän zusammenarbeiteten, laut Zeugenaussagen auf sie ein. Es kam zu Tumulten.

Überlebende der Adriana sagten in eidesstattlichen Erklärungen aus, dass etliche der neun Crewmitglieder die Passagiere brutal behandelt und erpresst haben.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Grafikquellen        :

Oben      —     Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne Menschen von einem überfüllten Boot, 15. Juni 2015

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Beobachter ausgeschlossen:

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Europarat wird Künstliche Intelligenz ohne Zivilgesellschaft regulieren

Was mag der wahre Grund sein, wenn freie Länder sich von ihren ehemaligen Hinterbänklern dirigieren lassen ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von          :     

Der Europarat will „Künstliche Intelligenz“ regulieren – allerdings ohne die Zivilgesellschaft. Überraschend hat er zivilgesellschaftlichen Organisationen den Beobachterstatus bei den Verhandlungen zu der KI-Konvention entzogen. Die Organisationen kritisieren die Entscheidung in einem offenen Brief.

Nicht nur die Europäische Union will „Künstliche Intelligenz“ (KI) regulieren, sondern auch der Europarat. Er hat vor mehr als einem Jahr Verhandlungen zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI-Konvention) aufgenommen. Der Europarat ist eine europäische internationale Organisation und kein institutionelles Organ der EU. Ihm gehören seit dem Ausschluss Russlands im vergangenen Jahr 46 Staaten an.

Die geplante KI-Konvention soll Staaten dazu verpflichten, keine Menschenrechte zu verletzen, wenn sie KI-Systeme entwickeln oder nutzen. Überraschenderweise hat der Europarat mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, die einen Beobachterstatus bei den Verhandlungen hatten, vor die Tür gesetzt. Das Vorgehen kritisieren zehn zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief (PDF), unter ihnen die Digitale Gesellschaft Schweiz und AlgorithmWatch.

Die Organisationen bedauern, „dass die verhandelnden Staaten beschlossen haben, sowohl Beobachter der Zivilgesellschaft als auch Mitglieder des Europarates von den formellen und informellen Sitzungen der Redaktionsgruppe des Übereinkommens auszuschließen.“ Damit untergrabe der Europarat seine Transparenz- und Rechenschaftspflichten. Außerdem stehe die Entscheidung im Widerspruch zur gängigen Praxis des Europarats und zum Mandat des CAI, wonach die Zivilgesellschaft zu dessen Arbeit beizutragen habe.

Die Digitale Gesellschaft Schweiz schreibt in einem Blogbeitrag über den Ausschluss:

Zu Beginn der Verhandlungen wurde die Wichtigkeit der Transparenz betont. Nun haben sich die aktuell verhandelnden Staaten jedoch dazu entschieden, insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen mit Beobachterstatus von den Diskussionen zur KI-Konvention auszuschließen. Auch die Mitgliedsorganisationen des Europarats, die derzeit nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt sind, wurden ausgeschlossen. Diskussionen und Entscheidungen sollen ohne die Anwesenheit von Beobachtern stattfinden. Sie sollen nur noch die Möglichkeit haben, gelegentlich Stellung zu nehmen. Beobachter sollen nicht mehr beobachten dürfen.

Bliebe es bei der Entscheidung, drohe die Konvention zu einem Papiertiger zu verkommen, so die Digitale Gesellschaft Schweiz weiter.

Transparenz untergraben

Trotz ihrer Enttäuschung unterstreichen die zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihrem offenen Brief die Notwendigkeit der KI-Konvention:

In den vergangenen Monaten haben sich die Standpunkte der einzelnen Länder dramatisch verändert. Das unterstreicht die Notwendigkeit, rasch ein globales Übereinkommen für den Umgang mit KI zu verabschieden. Sowohl die Gesellschaft als auch der öffentliche und private Sektor fordern nun weltweit neue Regeln für den Umgang mit KI.

Die Organisationen bekräftigen, den Verhandlungsprozess von außen weiter beobachten und kommentieren zu wollen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —      A picketer, David James Henry, carries a sign that reads „A.I.’s not taking your dumb notes!“

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Kultur. Kampf, oder was?

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Gerade verschwindet alles, was widerspenstig und aufregend ist

Die Uniform einer schlagenden und schießenden Einheit bringt jedes Eis zum schmelzen.

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Die Kultur geht unter, wenn sie rein marktwirtschaftlich geregelt wird. Wie aber steht es um eine Kultur, die sich aus lauter Angst vor ihren Mördern selbst abschafft?

Auch wenn immer irgendwas los ist, kommt man doch manchmal ins eher fundamentale Grübeln, mitten im Sommer. Zum Beispiel darüber, was eigentlich mit unserer Kultur los ist und was das überhaupt ist: Kultur. Wahrscheinlich gehört „Kultur“ zu den Worten, die nur funktionieren, wenn man akzeptiert, dass damit mehrere verschiedene, aber miteinander verbundene Dinge gemeint sind. Man könnte sich ja mal drei grundsätzliche Bereiche vorstellen, für die das Wort „Kultur“ irgendwie angemessen sein könnte. Das Erste kommt aus dem Feld der materialistischen Gesellschaftsforschung und behauptet: Kultur ist, wie der ganze Mensch lebt. Das heißt, Kultur ist die Art, wie wir in einer Supermarktkassenschlange anstehen, wie oft wir uns eine neue Zahnbürste leisten oder ganz allgemein, wie wir mit uns selbst und mit den anderen umgehen. Kultur ist, was uns dazu bringt, mit Würde, Respekt und Empathie miteinander zu leben.

Die zweite Vorstellung widerspricht oder ergänzt da, wie man es nimmt: Kultur ist gerade das, was über den Alltag und das Benehmen darin hinausgeht, ein Experimentieren mit dem, was nicht gewöhnlich ist, eine Erfahrung jenseits der Codes und der Riten, kurz gesagt: ein freier Raum der Möglichkeiten für Fantasien, für die Kritik des ­Bestehenden und die Sehnsucht nach dem Anderen.

Und mit der dritten Definition von Kultur wird man speziell. Kultur ist ein gesellschaftliches Subsystem wie die Wissenschaft, die Religion, die Medizin oder der Sport, in dem es professionelle Arbeit ebenso gibt wie öffentliche Debatten. Diese Kultur hat nicht nur eine Funktion, und sie ist nicht nur immer auch mit ihrer eigenen Erforschung beschäftigt, sie hat auch eine politische Ökonomie.

Kultur ist etwas, das wie die Luft zum Atmen, das Wasser zum Trinken und das Recht auf Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit niemals allein marktwirtschaftlich geregelt werden kann. Eine Gesellschaft, die an Kultur nur hervorbringt, was der Markt hergibt, darf getrost barbarisch genannt werden.

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Georg Seeßlen

ist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Corona­kontrolle, oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.

Die Schlagloch-Vorschau

12. 7. Ilija Trojanow

19. 7. Jagoda Marinić

26. 7. Mathias Greffrath

2. 8. Georg Diez

Für die Praxis hat August Everding einst ein schönes Beispiel angeführt: Ich, sagte er, bin in meinem ganzen Leben noch nicht in ein Freibad gegangen. Und trotzdem zahle ich mit Freuden meine Steuern, damit Menschen ins Freibad gehen­ können. Ist es deswegen nicht durchaus gerecht, dass diejenigen, denen ich mit einem Euro zum Besuch des Freibades verhelfe, mir mit fünf Cent ermöglichen, ins Theater zu gehen? Und wenn jemand, wie der Schreiber dieser Zeilen, sowohl ins Freibad als auch ins Theater gehen möchte, dann muss er es wohl sehr direkt spüren, dass Kultur in jeder Hinsicht eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist. Der Kulturkampf, wie ihn die Rechten wollen, beginnt, wenn die im Freibad glauben, dass die im Theater schuld daran sind, dass das Freibad so heruntergekommen ist, und wenn die im Theater glauben, die im Freibad seien schuld am Niedergang des Theaters.

Eine Gesellschaft kann man nicht nur anhand der versicherungspflichtigen Privatfahrzeuge oder der Anzahl häuslicher Unfälle, sondern auch an ihrer (dreifachen) Kultur messen. Beides ist nun aber auch wieder auf vertrackte Weise dialektisch miteinander verbunden: Kultur erzeugt Gesellschaft, so wie Gesellschaft Kultur erzeugt.

Vom harten Kern der Kultur, von den profes­sio­nell geführten Debatten, der demokratisch vermittelten Kunst, der verantwortungsvoll-freien Presse oder den selbstverwalteten Szenen aus, strahlt „Kultivierung“ auf alle anderen Lebensbereiche aus. Dann gibt es eine Kultur der Arbeit, eine Kultur der politischen Auseinandersetzung, eine Kultur der Geschlechterordnungen und der Sprachen des Begehrens, eine Kultur des Straßenverkehrs, eine Kultur des Freizeitverhaltens usw.

Oder es gibt sie eben nicht, denn so wie es die Anstrengungen der Kultivierung gibt, gibt es die Kräfte der Entkultivierung. Wer jetzt und hier die größte Kraft der Entkultivierung bildet, ist nicht zu übersehen: Es ist die Idee der radikalen Vermarktung und Selbstvermarktung, der wir den Namen „Neoliberalismus“ gegeben haben, und es ist der Rechtspopulismus, der ganz offen bereits einen „Kulturkampf“ ausgerufen hat, der für erstaunlich viele Menschen attraktiv scheint. Auch hier geht es um drei „Schlachtfelder“: die Eroberung kultureller Institutionen und Instanzen, die semantische und ideologische Hegemonie in den öffentlichen Medien und die Vernichtung des widerständigen, utopischen und queeren Geistes in der Kultur.

Quelle          :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Empfang der Berliner Teilnehmenden der Olympischen Winterspiele 2022 zur Gästebucheinzeichnung im Roten Rathaus

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Ein zukunftsfähige EU

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

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Eine freie EU kann  es nur ganz ohne Grenzen geben – sowohl nach Außen als nach Innen

Von Oleksandra Matwijtschuk

Der verstärkte Beschuss ziviler Ziele durch die russische Armee lenkt den Blick erneut auf die zahlreichen Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen in der Ukraine.

Eine der wichtigsten Organisationen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren, ist das Center for Civil Liberties aus Kiew. Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2007, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Mit Beginn der russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim 2014 begann sie zudem, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu dokumentieren. Im vergangenen Herbst erhielt die Organisation rund um ihre Vorsitzende, die Juristin Oleksandra Matwijtschuk, den Friedensnobelpreis.

Am 9. Mai hielt Oleksandra Matwijtschuk die diesjährige „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Das Format wurde vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der ERSTE Stiftung und den Wiener Festwochen ins Leben gerufen, um renommierten Intellektuellen die Möglichkeit zu bieten, einer breiten Öffentlichkeit originelle Denkanstöße zur Zukunft des europäischen Projekts zu geben. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Katharina Hasewend.

Die Geschichte kann nur schwerlich idealisiert werden, wenn man sie kennt. Das 20. Jahrhundert brachte zwei verheerende Weltkriege, schreckliche Kolonialkriege, Millionen von Toten und eine totale Entmenschlichung hervor, die ihre konkreteste Form im Holocaust und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten annahm. Diese schrecklichen Ereignisse machten entschlossenes Handeln nötig. Die Tatsache, dass man gewillt war, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kam im Mahnruf „Nie wieder!“ zum Ausdruck. Staats- und Regierungschefs schufen die Vereinten Nationen und unterzeichneten internationale Abkommen. Die Schuman-Erklärung markiert den Beginn des Projektes eines vereinten Europas. Getragen von der Auffassung, dass jeder Mensch frei und gleich an Würde und Rechten geboren ist, entstand in der Nachkriegszeit ein neuer Humanismus.

Aber das Böse lässt sich nicht für immer besiegen. Menschen müssen sich jeden Tag aufs Neue entscheiden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden nur in einem Teil Europas zur gelebten Praxis, und der totalitäre sowjetische Gulag wurde nie gerichtlich verurteilt. Und so kehrt das Böse immer wieder zurück: das Massaker von Srebrenica; die Zerstörung von Grosny, wo damals eine halbe Million Menschen lebte; die russische Bombardierung von Aleppo; die Brandbomben auf Mariupol; die Leichen der Ermordeten auf den Straßen von Butscha.

Wie können wir im 21. Jahrhundert Menschen, ihre Würde, ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigen? Können wir uns auf das Recht stützen – oder werden Waffen das Einzige sein, was zählt?

Ich stelle diese Fragen nicht nur als Bürgerin eines Landes, das sich gegen eine militärische Aggression Russlands verteidigt. Ich stelle diese Fragen als Bürgerin Europas. Europa muss auf die Herausforderungen der heutigen Zeit reagieren. Europa muss seine Rolle in einer globalen Welt wahrnehmen, in der Autoritarismus und Demokratie, Interessen und Werte, Macht und Recht, schnelle Gewinne und langfristige Perspektiven gegeneinanderstehen. Es ist die Entschlossenheit zum Handeln, die eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Das gelungene Europa…

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte nicht nur eine gemeinsame Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Vielmehr vertieften die Bemühungen für ein gemeinsames europäisches Projekt die Solidarität zwischen Ländern, deren Beziehungen jahrhundertelang durch blutige Auseinandersetzungen belastet waren. Der Europäischen Union ist es gelungen, dieses Erbe zu überwinden und Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die kontinuierlichen Bemühungen der Regierungen um die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ermöglichten über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Wachstum. Dies ist jenes Europa, dem es gelungen ist, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Dieses Europa befindet sich nach wie vor auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung. Auch wenn es sich heute mit neu entdeckten guten Absichten schmückt, kommt es nicht umhin, das verheerende Erbe seiner kolonialen Vergangenheit anzuerkennen. Europa steht vor der Herausforderung, eine Einheit zu erzeugen, ohne auf Uniformität zu drängen; Integration zu gewährleisten, ohne Homogenität zu erzwingen. Es muss lernen, seine Vielfalt als Quelle der Solidarität zu nutzen. Es darf nicht zulassen, dass Autoritarismus und Imperialismus in seinen Gesellschaften Wurzeln schlagen.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist fast vollständig von uns gegangen. Die nachfolgenden Generationen sahen sich nicht gezwungen, ihr Blut zu vergießen. Sie haben die Werte der Demokratie von ihren Eltern übernommen. Und sie begannen, Rechte und Freiheiten als selbstverständlich zu betrachten. Zunehmend verhielten sie sich weniger als Träger dieser Werte denn als deren Konsumenten. Sie verstanden Freiheit immer öfter bloß als die Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen Profit, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen. Es sollte nicht überraschen, dass populistische Kräfte in den entwickelten Demokratien an Boden gewinnen; Kräfte, die die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte infrage stellen.

Unsere heutige Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Verletzungen der Privatsphäre, wachsende Ungleichheit, die Entwertung von Wissen und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht im Rückgriff auf Vergangenes formuliert werden können. Jahrzehnte des relativen Wohlstands und das wachsende Verlangen nach einfachen Lösungen haben den Blickwinkel der entwickelten Demokratien verändert. Sie verstehen nicht mehr, dass der Frieden in Europa nicht ohne Anstrengungen erhalten werden kann, die dem Grad der Gefährdung angemessen sind.

…und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen

Die Europäische Union umfasst bei weitem nicht ganz Europa. Sie ist jener Teil Europas, der es geschafft hat, den Grundsatz zu verwirklichen, dass Frieden, Fortschritt und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dann sah sie sich der Gefahr der Stagnation gegenüber. Das gelungene Europa sollte die Bewegung anderer Länder in Richtung europäischer Werte unterstützen. In einer sich ständig verändernden Welt überleben nur offene Systeme und wandlungsfähige Kulturen. Mauern und Grenzen können nicht vor globalen Herausforderungen schützen. Wer aufhört, nach vorne zu schreiten, wird untergehen.

Die gegenwärtige Lage hängt nicht nur von den Entscheidungen und Handlungen des gelungenen Europas ab, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist das eine, von Ländern umgeben zu sein, die sich ebenfalls den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verschrieben haben. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man von Staaten umringt ist, die diese Werte ablehnen. Wenn solche Länder an Stärke gewinnen, werden sie versuchen, euch zu zerstören.

Das gelungene Europa hat sich lange Zeit geweigert, gegenüber anderen Ländern der Region Verantwortung zu übernehmen, und dadurch die Etablierung autoritärer Regime zugelassen. Dieses Europa hat vergessen, dass Länder, die Journalisten töten, Aktivisten inhaftieren und friedliche Proteste auflösen, nicht nur für ihre eigenen Bürger eine Gefahr darstellen. Solche Staaten sind eine Bedrohung für die gesamte Region, ja, für die ganze Welt. Aus diesem Grund hätte es einer Reaktion auf systematische Menschenrechtsverletzungen bedurft. Menschenrechte sollten bei politischen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie wirtschaftlicher Nutzen oder Sicherheitsfragen. Ein Ansatz, der diesem Imperativ Rechnung trägt, muss auch in der Außenpolitik verfolgt werden.

Das zeigt sich sehr deutlich im Fall Russlands, das seine eigene Zivilgesellschaft Schritt für Schritt zerstört hat. Doch die entwickelten Demokratien haben davor lange die Augen verschlossen. Sie schüttelten russischen Repräsentanten die Hände, bauten Gaspipelines und machten weiter wie bisher. In vielen Ländern begingen russische Streitkräfte über Jahrzehnte hinweg Verbrechen, die stets ungeahndet blieben. Sogar bei der Annexion der Krim, einem beispiellosen Vorgang im Europa der Nachkriegszeit, zeigte die Welt kaum eine Reaktion. Russland glaubte tun zu können, was ihm beliebt.

Das gescheiterte Europa

Im Februar 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine und besetzte die Halbinsel Krim sowie Teile der Oblaste Donezk und Luhansk. Zu diesem Zeitpunkt war die „Revolution der Würde“ in der Ukraine gerade zu einem Ende gekommen. Millionen von Menschen hatten sich mutig gegen ein autoritäres und korruptes Regime aufgelehnt. Im ganzen Land gingen sie auf die Straße und forderten eine weitere Annäherung an Europa und an wahrhaft demokratische Werte. Sie kämpften für das Recht, einen Staat aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden, in dem Behörden Rechenschaft ablegen müssen, Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht auf friedlich demonstrierende Studenten einprügeln darf.

Es sollten die Politiker-innen eingesperrt werden, welche den Menschen die Freiheit verwehren !

Einige von ihnen zahlten dafür den höchsten Preis. Im Herzen der Hauptstadt erschoss die Polizei mehr als hundert friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. Menschen starben unter den Bannern der Ukraine und der Europäischen Union.

Als das autoritäre Regime zusammenbrach, erhielt die Ukraine ihre Chance auf einen demokratischen Wandel. Um den Fortschritt der Ukraine zu einer wahren Demokratie aufzuhalten, begann Russland im Februar 2014 seinen Krieg. Im Februar 2022 weitete es diesen Krieg zu einer umfassenden Invasion aus. Nicht die Nato ist es, die Putin fürchtet; er hat Angst vor der Demokratie. Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit.

Nun versucht Russland, den Widerstand zu brechen und die Ukraine zu besetzen, indem es der Zivilbevölkerung größtmögliches Leid zufügt. Russische Streitkräfte zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Museen und Krankenhäuser; sie schießen auf Evakuierungskorridore; sie halten Menschen in Filtrationslagern gefangen; sie führen Zwangsdeportationen durch; sie entführen, foltern und töten Menschen in den besetzten Gebieten. Europa gelang es nicht, dem ein Ende zu setzen.

Dies ist nicht zuletzt ein Krieg der Werte. Russland versucht, die ukrainische Nation davon zu überzeugen, dass ihre Entscheidung für die europäische Integration ein Fehler war. Russland versucht, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein Betrug sind, dass sie falsche Werte sind. Denn in Kriegszeiten schützen sie niemanden. Russland will beweisen, dass ein Staat mit einem mächtigen Militär und Atomwaffen der gesamten internationalen Gemeinschaft die Spielregeln diktieren und sogar international anerkannte Grenzen verschieben kann. Es handelt sich also nicht um einen Krieg zwischen zwei Ländern, sondern um einen Krieg zwischen zwei Systemen – Tyrannei und Demokratie. Der Kampf wütet bereits. Die Menschen begreifen dies zwar erst, wenn ihnen die Bomben auf den Kopf fallen, aber dieser Krieg hat noch andere Dimensionen: Er ist ein Wirtschaftskrieg, ein Informationskrieg, ein Krieg der Werte. Ob wir den Mut haben, es einzugestehen oder nicht, dieser Krieg hat bereits die Grenzen zur Europäischen Union überschritten.

Russland hat Europa den Krieg erklärt. Russland kämpft gegen jene Werte, die Europa ausmachen. Europa muss also Verantwortung übernehmen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte können nicht ein für alle Mal erkämpft werden. Vielmehr müssen die Werte der modernen Zivilisation verteidigt werden. Wir müssen für sie kämpfen.

Das ängstliche Europa

Europa weiß nicht, wie es den Krieg beenden soll. Immer wieder fordern einzelne Stimmen die Ukraine dazu auf, Frieden zu schließen. Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainer. Aber es gibt keinen Frieden, wenn das angegriffene Land die Waffen streckt. Das ist kein Frieden, sondern eine Besatzung, und Besatzung ist lediglich Krieg in anderer Gestalt.

Quelle         :       Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Spontaneously errected grave at the Marsch der Entschlossenen demonstration in Berlin, Germany

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

„Krieg und Frieden“
Der Angst zum Trotz: Rückkehr nach Russland

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Aus Moskau XENIA BABICH

Mein Bekannter, der Moskau im vergangenen September über Kasachstan Richtung Tbilissi verlassen hatte, gab damals seine ganzen Ersparnisse für Flugtickets aus.

Immerhin ging es ihm darum, der Mobilmachung Russlands zu entfliehen. Ein halbes Jahr später kehrte er jedoch zurück. Ich habe davon nur erfahren, weil wir uns zufällig auf einer Geburtstagsfeier gemeinsamer Bekannter trafen. Auf Social Media tut er alles, damit es so aussieht, als halte er sich weiter nicht in der russischen Hauptstadt auf.

Über seinen Umzug und seine Rückkehr erzählte er, dass er Georgien liebe und den Mut der Georgier bewundere, die gegen das Ausländische-Agenten-Gesetz auf die Straße gegangen waren. Aber er könne nicht länger dort bleiben, da er in Moskau leben wolle. Als die russischen Behörden bekannt gaben, dass die Grenzen für diejenigen geschlossen würden, die eine Vorladung zur Einberufung bekommen haben, schrieb er mir, dass er einen Job in Moskau suche und zu Vorstellungsgesprächen gehe. Er war immer gegen Putins Krieg. Auch jetzt beteuert er, dass er ihn ablehne. Dennoch ist er zurückgekommen.

Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass ein anderer Bekannter, der vor der Mobilmachung geflohen war, ebenfalls wieder in die russische Hauptstadt zurückgekehrt ist, aus dem georgischen Batumi. Er versuche, nicht groß an seine Emigration zu denken und zu leben wie in der Zeit davor, sagt er; in Bars und Cafés gehen und sich mit Freunden treffen.

Es sind Männer im wehrpflichtigen Alter, die jetzt zur „Risikogruppe“ gehören und jeden Tag einberufen werden könnten. Aber sie sagen mir auf Nachfrage, dass sie jetzt einfach „nicht darüber nachdenken“ und sich stattdessen Arbeit suchten, durch die Straßen ihrer geliebten Stadt liefen und ihre Freunde treffen wollten. Und nur leise miteinander über Politik sprächen.

Noch im Februar 2023 hatten russische Beamte erklärt, dass 60 Prozent derer, die wegen des Krieges das Land verlassen haben, zurückkehren würden. Auch wenn bis heute darüber keine genaue Zahlen oder statistischen Erhebungen veröffentlicht wurden, ist der Trend im Sommer 2023 klar: Die Zahl der Rückkehrer aus anderen Ländern wächst – trotz des Risikos der Mobilmachung, trotz neuer repressiver Gesetze, trotz schwieriger Wirtschaftslage in Russland.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Die Anti-AKW-Bewegung

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

Es ist noch nicht vorbei

Ein Debattenbeitrag von Reimar Paul

Die Anti-AKW-Bewegung bleibt auch nach Abschalten der Meiler nötig: Das Müllproblem bleibt, Atomforschung und Brennstäbeproduktion gehen weiter.

Am 15. April war Schluss. Eine Minute vor Mitternacht ging mit dem Reaktor Neckarwestheim II das letzte von einst 36 Atomkraftwerken in Deutschland vom Netz. Die Produktion von Atomstrom und Atommüll ist seitdem Geschichte – ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Großkonflikt scheint mit einem großen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung be­endet. Schließlich hat sie mit langem Atem mächtige Gegenspieler aus Wirtschaft und Politik zum Umlenken gebracht. Zahlreiche geplante Atomkraftwerke wurden nie gebaut, nukleare Wiederaufarbeitungsanlagen im Wendland und in Wackersdorf verhindert, den Anstoß für den Siegeszug der erneuerbaren Energien gab die Bewegung ebenfalls. Wie viele Gerichtsbeschlüsse und vor allem das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigen, wurde auch die Demokratie in der Wilstermarsch und in Gorleben verteidigt.

Dennoch fiel die Freude über das AKW-Aus bei vielen aus der Bewegung eher verhalten aus. Denn der Konflikt um Atomkraft und Energiewende ist mit der Abschaltung der Meiler nicht vorbei. Nicht nur der laufende Betrieb von Atomkraftwerken, auch der sich über Jahrzehnte hinziehende Abriss birgt Gefahren. Zehntausende Tonnen teils stark verstrahlten Schrotts müssen abgetragen und abtransportiert werden. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt es, radioaktiv belastetes Material wie kontaminierten Bauschutt oder Metallteile als „normalen“ Müll zu entsorgen – sofern ein bestimmter Grenzwert nicht überschritten wird. Erst vor wenigen Tagen sorgte die Meldung für Unruhe, dass der Betreiber des Gorlebener Zwischenlagers Hauben von Castorbehältern bei einem örtlichen Schrotthändler entsorgen ließ. Vollständig ist der Atomaussstieg auch nicht: Die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die Atomkraftwerke in halb Europa mit frischem „Brennstoff“ beliefern, haben unbefristete Betriebsgenehmigungen. Die Lingener Fabrik will ihre Produktion in einem Joint Venture mit dem russischen Atomkonzern Rosatom sogar ausweiten und Brennstäbe künftig auch nach Osteuropa exportieren. Diverse Forschungsreaktoren sind ebenfalls noch in Betrieb. Und in die Atomforschung etwa in Karlsruhe oder Aachen fließen nach wie vor erhebliche Summe aus öffentlicher Hand.

Noch nicht einmal ansatzweise erledigt hat sich das Atommüllproblem. Es betrifft einerseits die neu aufgerollte Suche nach einem Endlager für die hochradioaktiven Abfälle. Nachdem die mit der Suche betraute Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) 2020 einen ersten Zwischenbericht veröffentlichte, der mehr als die Hälfte des Bundesgebietes als potenziell geeignet ausweist, soll die Suche zunächst im Verborgenen weiterlaufen. Es besteht die Gefahr, dass die BGE erst in einigen Jahren weitere Gebietsausschlüsse veröffentlicht, wenn sie Standortregionen benennt, die ober­irdisch geprüft werden sollen. Damit blieben die Betroffenen erneut außen vor. Maßgeblich dem Einsatz Anti-AKW-Bewegter ist es zu verdanken, dass diese „Transparenzlücke“ wenigstens öffentlich problematisiert wurde. Völlig ungeklärt ist der dauerhafte Verbleib des schwach und mittelradioaktiven Atommülls. Zwar wird dafür seit Jahren das frühere Eisenerzbergwerk Konrad umgebaut, doch der Standort steht nach massivem Bürgerprotest auf der Kippe. Die Kritik: Konrad entspricht nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik, es handelt sich um ein altes Bergwerk, es gab kein vergleichendes Auswahlverfahren. Außerdem wäre Konrad viel zu klein – für die Abfälle, die aus dem maroden Atomlager Asse geborgen werden sollen, und für die Rückstände aus der Urananreicherung gäbe es dort gar keinen Platz.

Ebenso umstritten ist das auf dem Gelände des früheren AKW Würgassen in Nordrhein-Westfalen geplante Bereitstellungslager, in dem die Abfälle für Konrad zunächst gesammelt und neu verpackt werden sollen. Durch dieses Lager würde sich die Zahl der gefährlichen Atommülltransporte durch Deutschland deutlich vermehren. Dazu kommt: Die Genehmigungen für die in den vergangenen Jahrzehnten an den AKW-Standorten hochgezogenen Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle laufen in absehbarer Zeit aus. Ein Endlager wird wohl erst zur Jahrhundertwende betriebsbereit sein. Bis dort alle rund 1.900 Castoren aus den 16 Zwischenlagern eingelagert sind, werden weitere Jahrzehnte vergehen.

Quelle        :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —       Zehntausende Menschen demonstrierten am 6. September 2009 in Berlin gegen Atomkraft. Das Motto: Endlich mal abschalten.

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Putin wurde gestärkt

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

Die Wagner-Revolte wurde gefeiert – und falsch interpretiert

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von                :         Seymour Hersh /   

Der inner-russische Aufstand, der nicht stattgefunden hat, stärke die Position Putins. Das sagen Informanten von Geheimdiensten.

upg. Aufgrund seiner Kontakte zu Geheimdiensten schätzt US-Investigativjournalist Seymour Hersh die Revolte des Wagner-Chefs Prigoschin anders ein als grosse Medien. Im Folgenden eine gekürzte Version des Beitrags auf seiner Substack-Webseite. Mit der Darstellung von Seymour Hersh ergänzt Infosperber, was bereits aus grossen Medien zu erfahren war.

Die anhaltende Katastrophe in der Ukraine geriet einige Tage aus den Schlagzeilen, weil diese dominiert waren von der «Revolte» Jewgeni Prigoschins, dem Chef der Söldnergruppe Wagner. Angeblich bedrohte Prigoschin Putins Macht.

Eine Schlagzeile in der «New York Times» lautete: «Revolte wirft brennende Frage auf: Könnte Putin die Macht verlieren?». Und «Washington Post»-Kolumnist David Ignatius meinte: «Putin blickte am Samstag in den Abgrund – und blinzelte.»

[Red. In Brüssel meinte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock: «Wir sehen massive Risse in der russischen Propaganda. Die Moderatorin von ARD/WDR ergänzte: «Die Schwäche Putins könnte für die Ukraine durchaus eine Chance sein.» In der Schweiz titelte Ulrich Speck in der NZZ: «Die Rebellion deckt Putins Schwäche auf – das wird den Niedergang Russlands auf der internationalen Bühne beschleunigen.»]

Aussenminister Antony Blinken, der vor Wochen stolz verkündete, in der Ukraine keinen Waffenstillstand anzustreben, trat in der CBS-Sendung Face the Nation mit seiner eigenen Version der Realität auf: «Vor sechzehn Monaten dachten die russischen Streitkräfte, sie würden die Ukraine als unabhängiges Land von der Landkarte tilgen […] Jetzt mussten sie Russlands Hauptstadt Moskau gegen Söldner verteidigen, die Putin selbst geschaffen hat […] Das ist eine direkte Herausforderung an Putins Autorität […] Diese zeigt echte Risse.»

Interviewerin Margaret Brennan liess Blinken ohne direkte Gegenfragen reden. Blinken wusste dies – warum wäre er sonst in der Sendung aufgetreten. Er fuhr fort: «In dem Masse, in dem dies [die Revolte Progoschins] eine echte Ablenkung für Putin und die russischen Generäle darstellt, die mit der Gegenoffensive in der Ukraine beschäftigt sein müssen, glaube ich, dass dies den Ukrainern noch mehr Möglichkeiten eröffnet, vor Ort erfolgreich zu sein.»

Der Wagner-Putsch war ein schnell verloschenes Strohfeuer

Hat Blinken an dieser Stelle für Joe Biden gesprochen? Glaubt der Präsident, der das Sagen hat, das ebenfalls?

Heute wissen wir, dass der Aufstand des chronisch labilen Prigoschin innerhalb eines Tages im Sande verlief. Er flüchtete nach Weissrussland, wo ihm keine Strafverfolgung droht. Seine Söldnerarmee wurde in die russische Armee integriert. Es gab weder einen [ernst zu nehmenden] Marsch auf Moskau noch eine nennenswerte Bedrohung für Putins Herrschaft.

[Es wurde nie darüber informiert, wie viele Jeeps oder Panzer bis 200 Kilometer vor Moskau fahren konnten, obwohl dies auf Satellitenbildern ersichtlich sein musste.]

Die Washingtoner Kolumnisten und Korrespondenten für nationale Sicherheit verlassen sich offensichtlich zu stark auf offizielle Hintergrundgespräche mit Beamten des Weissen Hauses und des Aussenministeriums. Angesichts der veröffentlichten Ergebnisse solcher Hintergrundgespräche scheinen diese Beamten nicht in der Lage zu sein, die Realität der letzten Wochen oder das Desaster der Gegenoffensive des ukrainischen Militärs zu erkennen.

Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die tatsächlichen Vorgänge werfen, die mir von einer sachkundigen Quelle in US-Geheimdienstkreisen mitgeteilt wurden.

Putin geht gestärkt aus diesem Konflikt hervor

Entscheidend ist, dass sich Putin jetzt in einer viel stärkeren Position befindet. Bereits im Januar 2023 war ein Showdown absehbar zwischen den Generälen, die von Putin unterstützt werden, und Prigoschin, der von Extremisten unterstützt wird. Es ist der alte Konflikt zwischen «besonderen» Kriegskämpfern, den Spezialeinheiten (SF), und einer grossen, langsamen, schwerfälligen und phantasielosen regulären Armee.

Die Armee gewinnt immer, weil sie über die notwendigen Mittel verfügt, die einen Sieg, sei es offensiv oder defensiv, möglich machen. Am wichtigsten ist, dass sie die Logistik kontrollieren.

Die SF sehen sich selbst als wichtigste Offensivkraft. Solange die Gesamtstrategie offensiv ist, toleriert die grosse Armee die Hybris und das öffentliche Schenkelklopfen der SF, weil diese bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen und einen hohen Preis zu zahlen.

«Wagner-Mitglieder waren die Speerspitze der ursprünglichen russischen Ukraine-Offensive. Sie waren die ‹kleinen grünen Männchen›. Als sich die Offensive zu einem umfassenden Angriff der regulären Armee ausweitete, unterstützte diese die Wagner-Mitglieder. Eine erfolgreiche Offensive erfordert einen hohen Aufwand an Männern und Ausrüstung.»

Strategieänderung von der Offensive zur Defensive

Doch in der Zwischenzeit änderten die grosse Armee und Putin langsam ihre Strategie von der offensiven Eroberung zur Verteidigung dessen, was sie bereits hatten. Eine erfolgreiche Verteidigung erfordert einen sparsamen Umgang mit den Mitteln. Das hiess für die Wagner-Einheiten, in der folgenden Zeit der Neuausrichtung widerwillig in den Hintergrund zu treten. Prigoschin, kein schüchternes Wesen, wollte darauf seine Streitkräfte verstärken und seinen Sektor stabilisieren.

Prigoschin weigerte sich, auf Verteidigung umzustellen und setzte die Offensive gegen die Stadt Bachmut fort. Dort lag der Knackpunkt. Anstatt eine öffentliche Krise heraufzubeschwören und Prigoschin vor ein Kriegsgericht zu stellen, hielt Moskau einfach die Ressourcen zurück und liess Prigoschin seine Personal- und Feuerkraftreserven aufbrauchen. Prigoschin protestierte öffentlich, doch er war zum Aufgeben verdammt.

Die Medien berichteten nicht darüber, dass Wagner vor drei Monaten von der Bachmut-Front abgezogen und zur Demobilisierung in eine verlassene Kaserne nördlich von Rostow am Don [im Süden Russlands] gebracht wurde. Die schwere Ausrüstung wurde grösstenteils umverteilt. Die Truppe wurde auf etwa 8000 Mann reduziert. Von diesen gingen dann 2000 in Begleitung der örtlichen Polizei nach Rostow [und nahmen die Stadt kurz in Beschlag].

Putin stellte sich voll und ganz hinter die Armee, die es zuliess, dass Prigoschin sich lächerlich machte und nun in der Versenkung verschwindet. Und das alles, ohne militärisch ins Schwitzen zu geraten oder Putin in eine politische Pattsituation mit den Fundamentalisten zu bringen, die glühende Verehrer Prigoschins sind. Das scheint ziemlich schlau zu sein.

Informations-Diskrepanz zwischen den Geheimdienstfachleuten und dem Weissen Haus – und der Presse, die sich als Regierungsorgan versteht

Es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Lage durch Fachleute der US-Geheimdienste und dem, was das Weisse Haus und die Washingtoner Presse der Öffentlichkeit vorgaukeln, indem sie die Aussagen von Blinken und seinen Falken-Kohorten unkritisch wiedergeben.

Die aktuellen Statistiken über die Kampfhandlungen, die mir zugetragen wurden, deuten darauf hin, dass die Aussenpolitik der Regierung Biden in der Ukraine gefährdet sein könnte. Sie werfen Fragen über die Beteiligung des NATO-Bündnisses auf, das die ukrainischen Streitkräfte mit Ausbildung und Waffen für die derzeitige Gegenoffensive versorgte. Ich erfuhr, dass das ukrainische Militär in den ersten zwei Wochen der Gegenoffensive nur 44 Quadratmeilen des zuvor von der russischen Armee gehaltenen Gebiets eroberte, einen Grossteil davon auf offenem Gelände. Im Gegensatz dazu kontrolliert Russland 40’000 Quadratmeilen ukrainischen Territoriums. Mir wurde gesagt, dass sich die ukrainischen Streitkräfte in den letzten zehn Tagen keinen nennenswerten Weg durch die russischen Verteidigungsanlagen bahnen konnten. Sie haben nur zwei weitere Quadratmeilen des von Russland besetzten Gebiets zurückerobert. Bei diesem Tempo, so sagte ein informierter Beamter scherzhaft, würde Selenskys Militär 117 Jahre brauchen, um das Land von der russischen Besatzung zu befreien.

Grossoffensive der ukrainischen Streitkräfte erst im Spätsommer?

«Ukrainische Offensive kommt trotz westlichen Waffen nur langsam voran», titelte die NZZ am heutigen 3. Juli. Sie zitiert den österreichischen Generalstabsoffizier Markus Reisner, der Anzeichen dafür sieht, dass sich die Ukrainer zunächst konsolidieren, um im Spätsommer noch einmal eine neue Offensive zu starten.

Mehrere Videos würden den «katastrophalen Verlauf der ukrainischen Angriffe» dokumentieren, schreibt der verteidigungspolitische Redaktor der NZZ in Deutschland, Marco Seliger. Die Ukrainer könnten sich gegen Angriffe aus der Luft zu wenig wehren und hätten nach Angaben der niederländischen Dokumentationsplattform «Oryx» bisher 13 Prozent ihrer Leopard-Kampfpanzer und 22 Prozent der amerikanischen Bradley-Panzer verloren.
Die russische Armee habe ausgedehnte Minenfelder und gestaffelte Verteidigungelinien errichtet. Seliger schildert dramatische Folgen: «Soldaten, teilweise verletzt, verlassen die Panzer, geraten unter Feuer und suchen Deckung in Gebieten ausserhalb der [geräumten] Minengasse. Dort geraten sie in Felder aus Antipersonenminen. Sie sterben qualvoll mit abgerissenen Gliedmassen, während ihre Kameraden kaum helfen können, weil sie sich dazu selbst in das Minenfeld begeben müssten.»

Hoffnung bringe den Ukrainern von den USA versprochene weitere 30 Bradley- sowie 25 Radpanzer vom Typ Stryker. Und Rheinmetall wolle bis Anfang nächsten Jahres im Auftrag der Niederlande und Dänemarks 14 weitere Leopard-2A4 an die Ukraine liefern. Die deutsche Regierung beabsichtige, in den kommenden Monaten bis zu 100 ältere Kampfpanzer von Typ Leopard-1 in die Ukraine zu schicken.

Gibt es ein Aufwachen – im Weissen Haus und in der Presse?

Die Washingtoner Medien scheinen in den letzten Tagen das Ausmass der Katastrophe langsam zu begreifen. Doch es gibt keine öffentlichen Anzeichen dafür, dass Präsident Biden und seine ranghohen Berater im Weissen Haus und die Mitarbeiter des Aussenministeriums die Situation realisieren.

Putin hat nun die fast vollständige Kontrolle über die vier ukrainischen Oblaste Donezk, Cherson, Lubansk und Saporischschja, die er am 30. September 2022, sieben Monate nach Beginn des Krieges, öffentlich annektiert hat. Der nächste Schritt, vorausgesetzt, es geschieht kein Wunder auf dem Schlachtfeld, liegt in Putins Hand. Er könnte einfach stehen bleiben und abwarten, ob die militärische Realität vom Weissen Haus akzeptiert wird und ob ein Waffenstillstand angestrebt und formelle Gespräche über das Ende des Krieges aufgenommen werden.

Im April nächsten Jahres stehen in der Ukraine Präsidentschaftswahlen an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky könnte sich zurückhalten und diese abwarten – wenn sie denn überhaupt stattfinden. Selensky erklärte, dass es keine Wahlen geben werde, solange das Land unter Kriegsrecht steht.

Bidens politische Probleme im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr sind akut und offensichtlich. Am 20. Juni veröffentlichte die Washington Post einen Artikel auf der Grundlage einer Gallup-Umfrage unter der Überschrift «Biden sollte nicht so unbeliebt sein wie Trump – aber er ist es». In dem Artikel zur Umfrage hiess es, Biden habe «fast universelle Unterstützung innerhalb seiner eigenen Partei, praktisch keine von der Oppositionspartei und schreckliche Zahlen bei den unabhängigen Wählern». Wie frühere demokratische Präsidenten kämpfe Biden damit, «jüngere und weniger engagierte Wähler anzusprechen». Allerdings hatte die Umfrage offenbar keine Fragen zur Aussenpolitik der Regierung gestellt.

Die Demokraten verlieren ihre klassische Anhängerschaft, wenn sie nicht auf die Finanzierung dieses Krieges verzichten

Die drohende Katastrophe in der Ukraine und ihre politischen Auswirkungen sollten ein Weckruf für jene demokratischen Kongressmitglieder sein, die den Präsidenten unterstützen, aber nicht damit einverstanden sind, in der Hoffnung auf ein Wunder viele Milliarden guter Gelder in die Ukraine zu stecken.

Die Unterstützung der Demokraten für den Krieg ist ein weiteres Beispiel für die zunehmende Abkehr der Partei von der Arbeiterklasse. Es sind die Kinder der Arbeiterklasse, die in den Kriegen der jüngsten Vergangenheit kämpften und möglicherweise in jedem künftigen Krieg kämpfen werden. Diese Wählerschicht hat sich in zunehmender Zahl abgewandt, da sich die Demokraten den intellektuellen und wohlhabenden Klassen annähern.

Es wäre wahrscheinlich klug von Joe Biden, offen über den Krieg und seine verschiedenen Probleme für die USA zu sprechen. Er sollte erklären, warum die geschätzten mehr als 150 Milliarden Dollar, die seine Regierung für die Ukraine bisher aufwendete, nicht besser anderweitig hätten ausgegeben werden sollen.

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Übersetzung aus dem Englischen: Erich Becker/upg

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Oben      —        Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Blast from the Past

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

„Party till you die!“: Kein englischer Sommernachtstraum

Die königliche Familie Juni 2013.JPG

Von Karina Urbach

In München findet das Oktoberfest ab 16. September statt, im englischen Cambridge wird die „May Week“ im Juni gefeiert. Dieses Jahr wählten die Studenten des Cambridger Pembroke College das Partymotto „In der Tiefe“. Es gab U-Boot Pizzas, Meeresdekora­tionen mit Taucherhelm, und natürlich wurde Céline Dions „Titanic“-Song „My Heart Will Go On“ gespielt.

Das Problem dabei: Zum Zeitpunkt des Festes lief eine Suchaktion nach der „Titan“, dem Mini-U-Boot, das Tauchfahrten zum Wrack der „Titanic“ anbot. In der „Titan“ saß auch ein ehemaliger Pembroke-Student, der Milliardär Hamish Harding. Seine Cousine sagte der britischen Presse, sie wäre entsetzt darüber, dass ausgerechnet Hardings ehemaliges College diese Party ausgerichtet habe und sie hoffe, man hätte nicht auch noch „We all live in a yellow submarine“ gespielt.

Den richtigen Ton zu finden ist nicht immer einfach. Der junge Oxford-Student Boris Johnson feierte 1985 seinen College-Ball unter dem Motto „Party till you die!“. 35 Jahre später erneuerte er dieses Versprechen. Die Partys, die er in der Downing Street während der Pandemie feierte, brachten ihm einen Aufenthalt auf einer Covid-Intensivstation ein und führten 2022 zu seinem Rücktritt als Premierminister. Im Juni 2023 trat er dann auch noch als Abgeordneter zurück und wurde Kolumnist der Daily Mail.

In seinem ersten Artikel sinnierte er über seine fatale Leidenschaft für Käse. Wie aufmerksame Leser sofort erkannten, handelte es sich um eine recycelte Geschichte. Seine Käse-Cholesterin-Sorgen hatte er bereits 2001, 2004 und 2008 in Artikeln für den Daily Telegraph beschrieben. Aber trotz dieser Käsemanie sollte man sein Potenzial, weiterhin Ärger zu verursachen, nicht unterschätzen:

Jeder Premierminister darf nach seinem Abgang eine „resignation list“ einreichen. Es ist eine Art Dankesliste, mit der man ehemaligen Mitarbeitern und Parteispendern eine besondere Ehrung verschafft: einen Order of the British Empire (OBE); eine Ritterwürde oder einen Sitz im Oberhaus.

Das Haloc-Komitee des House of Lords, muss jedoch die Liste der Vorgeschlagenen überprüfen und gutheißen. Boris Johnson hatte schon in der Vergangenheit Probleme mit Haloc. Seinem Bruder Jo konnte er zwar einen Sitz im Oberhaus verschaffen, aber als er 2020 den russischen Geschäftsmann Evgeny Lebedev zum Lord machen wollte, stellten sich die britischen Nachrichtendienste quer. Sie misstrauten Lebedev, dessen Vater ein ehemaliger KGB-Agent mit Milliardenvermögen ist. Johnson setzte sich am Ende durch.

Die Gunst von Lebedev junior war ihm wichtig, denn der besitzt zwei Zeitungen in Großbritannien: den Evening Standard und Anteile am Independent. Während seiner Zeit als Bürgermeister von London wurde Boris vor allem vom Evening Standard mit freundlichen Artikeln unterstützt.

Boris und Lebedevs transaktionale Beziehung folgte einer langen Tradition: Schon der Labour-Premier Toni Blair hieß reiche Oligarchen in London willkommen, und die gesamte britische Kultur- und Politikelite feierte bis zum Überfall auf die Ukraine gerne mit Lebedev und Co.

Johnsons „resignation list“ forderte keine Ehrungen mehr für russische Freunde. Aber sie überraschte auf andere Weise: Zuerst einmal wurde seine Friseurin Kelly Dodge mit dem OBE, einen Orden für besondere Verdienste um seine Haare, ausgezeichnet. Tatsächlich hat sie damit eine beneidenswerte Marke geschaffen. Selbst Boris-Kritiker Michael Gove bewertet die Ehrung als fair. Kelly habe schließlich „mehr Schnitte gemacht als jeder Minister“.

Umstrittener ist jedoch die Erhebung einer 29-jährigen Boris-Mitarbeiterin in das Oberhaus. Charlotte Owen wird demnächst als jüngstes Mitglied des House of Lords über britische Gesetze debattieren dürfen. Laut Guardian war sie vermutlich nur eine Mutterschaftsvertretung in Downing Street, die jedoch in ihrer kurzen Karriere Boris politisch beraten dürfte.

Weniger Glück als Charlotte hatte die ehemalige Kultusministerin Nadine Dorries. Boris und Dorries waren jahrelang ein Bonnie-und-Clyde-Dreamteam. Und er hatte seiner alten Kampfgefährtin ebenfalls den Einzug ins Oberhaus versprochen. Das Haloc-Komitee lehnte Dorries jedoch ab (insgesamt wurden 8 von 15 Vorgeschlagenen abgelehnt, darunter auch Boris’ Vater, der ebenfalls ein Lord werden sollte).

Quelle         :           TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Bundeswehreinsatz in Mali

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Vor Abzug Ausverkauf

Die weißen Eroberer waren auf plötzliche Abzüge immer schlecht vorbereitet !

Ein Debattenbeitrag von Dominic Johnson

Der UN-Einsatz in Mali, der auch größter Auslandseinsatz der Bundeswehr war, ist beendet. Deutschland ist auf dieses plötzliche Aus kaum vorbereitet.

Das war’s. Die UN-Mission in Mali ist Geschichte und damit auch der aktuell größte Auslandseinsatz der Bundeswehr. Am Freitag beschloss der UN-Sicherheitsrat in New York, „das Mandat der Minusma mit Wirkung zum 30. Juni 2023 zu beenden“ und „am 1. Juli unverzüglich mit der Einstellung ihrer Operationen, der Übertragung ihrer Aufgaben sowie dem geordneten und sicheren Abzug ihres Personals zu beginnen“.

Deutschland hatte aber gerade erst das Mali-Bundeswehrmandat bis Ende Mai 2024 verlängert, für einen „geordneten und sicheren Abzug“. Das muss jetzt viel schneller gehen. Der deutsche Mali-Einsatz wurde oft als Antiterroreinsatz dargestellt, aber die Minusma hatte nie ein Antiterrormandat. Als sie am 1. Juli 2013 entstand, war der Kampf gegen islamistische Terrorgruppen einer separaten Eingreiftruppe aus Frankreich vorbehalten, die in den Monaten zuvor Malis Nordhälfte von bewaffneten Islamisten zurückerobert hatte.

Die Minusma bekam ein Stabilisierungsmandat – sie soll die Wiederherstellung der Autorität des malischen Staates auf dem gesamten Staatsgebiet unterstützen und seit 2015 auch die Umsetzung des Friedensabkommens von Algier zwischen Malis Regierung und den Tuareg-Rebellengruppen im Norden überwachen. Den Widerspruch zwischen diesen beiden Dimensionen des UN-Mandats hat die Minusma nie auflösen können, und das ist ihr zum Verhängnis geworden.

Das Friedensabkommen von Algier gewährt dem Norden Malis weitreichende Autonomie. Staatliche Autorität aber bedeutet im malischen Verständnis ein Macht- und Gewaltmonopol der Zentralregierung. Es geht nicht beides auf einmal. Bis heute ist Malis Regierung und Armee dort, wo Tuareg-Rebellen das Sagen haben, nur rudimentär oder gar nicht präsent. Diesen Widerspruch aufzulösen, wäre die Aufgabe Malis gewesen.

Islamisten auf dem Vormarsch

Die zivile Regierung von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta, der 2013 erstmals gewählt und 2020 weggeputscht wurde, eierte herum. Ihre Nachfolger, die Militärputschisten unter dem heutigen Machthaber Assimi Goïta, akzeptieren das alles nicht mehr. Sie haben erst Frankreich hinausgeworfen und nun eben auch die UNO. Als Nächstes dürfte das Friedensabkommen von Algier gegenstandslos werden. Aus Sicht der Tuareg-Rebellen bedeutet der Minusma-Abzug das Scheitern des Friedensprozesses.

Derweil ist der Islamische Staat in der Großen Sahara (ISGS) auf dem Vormarsch in Malis Nordosten an der Grenze zu Niger. Zuletzt kämpften die IS-Angreifer in der Gemeinde Gabero nur noch 45 Kilometer flussabwärts vom Bundeswehr­standort Gao – eine relativ kurze Fahrt im Pick-up. Die Militärs in Bamako geben sich zuversichtlich mit 1.400 russischen Wagner-Kämpfern an ihrer Seite und Waffen aus Moskau. Brutale Massaker nimmt man in Kauf.

Wagner hat bereits Frankreichs Militärbasen im Norden Malis übernommen, auch am Flughafen von Gao direkt neben dem deutschen Camp Castor. Insofern ist der Abzug der UNO nicht nur folgerichtig, sondern überfällig, und eigentlich hätte es dafür gar keiner Aufforderung aus Bamako bedürfen sollen. Die deutschen Soldaten in Gao müssten sonst untätig zusehen, falls Malis Armee mit Wagner-Hilfe Tuareg im Norden Malis mas­sakriert – UN-Soldaten sollen laut Mandat zwar die Zivilbevölkerung schützen, aber sie können ihre Gewehre nicht gegen Malis Armee richten.

Viele Beobachter weisen darauf hin, dass die UN-Präsenz in Mali auch ihr Gutes hatte: Die Minusma war ein Garant für halbwegs freie und faire Wahlen 2024; sie bot in Konfliktgebieten einen neutralen und sicheren Raum für lokale Verständigungsprozesse; UN-Flüge stellten faktisch die größte innermalische Fluglinie dar.

Andererseits ähneln solche Argumente denen progressiver Verteidiger des Kolonialismus in den 1950er und 1960er Jahren: Die Afrikaner brauchen uns, ohne uns funktioniert nichts, und wenn wir zu früh gehen, bricht alles zusammen. Afrikaner kennen diese Argumente von früher, und im Minusma-Kontext bedeuten sie auch bloß, Nebeneffekte zum Hauptziel zu erklären und Militärisches und Ziviles zu vermischen.

Vom Drucker bis zum Werkzeugkasten

Es blieb im Bundestag der AfD überlassen, die Bundesregierung zu fragen, was Deutschland eigentlich in Mali jenseits des Militärischen hinterlasse, also „in welcher Gesamthöhe infrastrukturelle Projekte von Deutschland teil- oder vollständig finanziert wurden, wer die Träger der Bauprojekte waren, was der gegenwärtige Stand der Baumaßnahmen ist und welcher Nutzung die infrastrukturellen Maßnahmen künftig zugeführt werden“.

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben        —       Personeel van de Long Range Reconnaissance Patrol Task Group wordt met verschillende middelen naar Timboektoe gevlogen, onder andere met Duitse NH-90’s die ook op Gao gestationeerd zijn.

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Die progressive Regierung

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Konfliktlinien und ihre Zuspitzung

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        Jonathan Eibisch

Eine umfassende Gesellschaftstransformation. In der letzten Zeit kam es zur Remilitarisierung, zur Verschlimmerung des Asylstatus und Prekarisierung der Lebensverhältnisse. Das geschah unter einer „progressiven“ Regierung, nicht gegen sie, sondern durch sie.

Dennoch zeigt sich zu Beispiel beim Heizungsgesetz, dass die in die Regierungspolitik eingebauten Klimaschutzbestrebungen auf massiven Gegenwind des konservativen Bürgertums stossen, welche die Wahrung von Besitzstandsinteressen setzen – und dazu auch den ärmeren Bevölkerungsgruppen Angst davor machen, dass es ihnen jetzt an die Heizung ginge. Klar, man könnte auch den Verkehr, die Transportwege, die Industrie oder Landwirtschaft nach ökologischen Gesichtspunkten umgestalten. Insofern ist das Ansetzen bei den Privatbürger*innen eine Verlagerung des Problems. Zugleich wäre die Verringerung des Gas-, Strom- und Wärmebedarfs langfristig nicht alleine aus ökologischen, sondern ebenso aus sozialen Gründen ein Gewinn für viele.

Doch in der Bundespolitik wird diese Reformmassnahme zu einem unglaublichen Einschnitt aufgebauscht, obwohl er dem notwendigen Erneuerungsbedarf ja ohnehin nur ansatzweise entspricht. Schuld daran sind diesmal nicht die Partei-Grünen, sondern das Besitzbürgertum, dessen Vertreter*innen sich massiv gegen Reformen stemmen. Doch wenn heute nicht umgesteuert wird bedeutet dies, dass fossile Energieträger über weitere Jahrzehnte aus der Erde gegraben und verheizt werden. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo der ganze Kram komplett im Boden bleiben müsste, um noch ein Abmildern der Auswirkungen des Klimawandels zu ermöglichen. Deswegen lässt sich eine lebenswerte Zukunft für alle lässt sich nur durch die Überwindung des Privateigentums und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel realisieren.

Inzwischen greifen in den westeuropäischen Ländern auch US-amerikanische Verhältnisse um sich, was den Kulturkampf hinsichtlich feministischer Anliegen und Geschlechterdiversität angeht. Die Themen sexuelle Selbstbestimmung und Aufklärung, alternative Beziehungskonzepte, Hinterfragung von Gender-Rollen, Beachtung der Existenz und Rechte von Transpersonen usw., welche mit einer zaghaften Liberalisierung und jahrzehntelangem Graswurzelaktivitäten vorangebracht wurden, werden massiv als satanisches und subversives Projekt des Kulturmarxismus von rechten Akteur*innen bekämpft – was nicht zuletzt zu einer Zunahme der direkten Gewalt gegenüber Menschen führt, die von der heteronormativen Zwangsmatrix abweichen.

Monate vor der Unterwerfung der antifaschistischen Szene am dritten Juni in Leipzig, wurde eine systematische Hetzkampagne gegen Antifaschist*innen lanciert, welche die Repression und die mit ihr verbundenen weiteren Eingriffe in Grundrechte vorbereiteten. Das hat es zwar bereits vorher gegeben. Aber in Sachsen, wo die AfD in Umfragen auf 32,5% kommt, während sie im Bund bald bei 20% liegt, zielt das Aufbauschen des legitimen und notwendigen Antifaschismus als Staatsfeind letztendlich auf die vollständige Zerschlagung dieser sozialen Bewegung. Im Idiotenbewusstsein faseln sie dagegen weiter von der Ablehnung der Gewalt „von links und rechts“, von der Bekämpfung jeden Extremismus‘ – während eine im Kern neofaschistische Partei bald die Regierung anführen wird.

Wer hauptsächlich auf die politische Ebene und die Akteur*innen schaut, wird jedoch nie begreifen, was vor sich geht, sondern sich in weiter in politischen Illusionen bewegen. Es gilt zu verstehen, dass wir uns in einer umfassenden Gesellschaftstransformation befinden – und die Systemfrage zu stellen. Die damit verbundenen Entwicklungen sind altbekannt und verschärfen sich lediglich mit der multiplen Krisen, in welcher die bestehende Gesellschaftsform sich befindet:

Die wohlhabenden Ländern ziehen ihre Mauern vor den Flüchtlingsströmen hoch. In ihrem Inneren wird der Anteil prekär und elend lebender Menschen grösser, während die öffentliche Infrastruktur weiter zurückgebaut und privatisiert wird. Die Strassengewalt nimmt zu, um den angestauten Hass an Anders-gelesenen zu entladen und die eigene Verrohung zu kanalisieren. Und dabei brennt die Erde und die Ausbeutung von Natur und Menschen wird fortgesetzt. Sich dieses Szenario vorzustellen ist keine Kunst, sondern lediglich die Verlängerung der gegenwärtigen Entwicklungen. Staatliche Reformen mögen sie teilweise regulieren und für die Privilegierteren einen Ausgleich schaffen. Grundlegende Veränderungen sind durch sie aber keineswegs zu erwarten.

Aus diesen sehr pragmatischen Gründen gilt es sich auf etwas Besseres zu fokussieren als die Abwehr und Abmilderung der Verelendung und Zerstörung. Selbstverständlich ist es eine Frage der Kräfteverhältnisse, ob wir eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform erkämpfen und aufbauen können. Ohne eine solche Orientierung können emanzipatorische Akteur*innen ihre Kräfte aber auch nicht bündeln und ausweiten.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —        Anarquía

Verfasser Saraclaroscuro       /   Qielle   :  Eigene Arbeit       /     Datum      :    10. 09. 2014

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz.

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Von DIE LINKE

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Bundesregierung reißt Frist zur Evaluierung des Strukturwandels
in den Kohlerevieren.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von DIE LINKE. im Kreistag Rhein-Erft

LINKE Abgeordnete aus den Revieren veröffentlichen Positionspapier.

Zum 30. Juni 2023 ist es gesetzlich vorgeschrieben, den Strukturwandel in den Kohlerevieren mitFokus auf Wertschöpfung, Arbeitsmarktsituation und das kommunale Steueraufkommen zuevaluieren (Investitionsgesetz Kohleregionen, § 26). Die Federführung liegt beim Bundesministeriumfür Wirtschaft und Energie. Aus diesem Anlass präsentieren die Fraktionen der LINKEN in denKohlerevieren pünktlich zum Stichtag ein gemeinsames Positionspapier. Darin fordern sie mehr Bürgerbeteiligung, schärfere Förderkulissen zugunsten nachhaltiger und tarifgebundenerIndustriearbeits- und -ausbildungsplätze sowie eine dezentrale Energieerzeugung mit Stärkung derkommunalen Familie.

Bereits zum 15. August 2022 hatte die Bundesregierung eine Evaluierungsfrist verstreichen lassen. In§ 54 fordert das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz eine Zwischenbilanz zu den Konsequenzendes Kohleausstiegs für die Versorgungssicherheit, die Zahl und installierte Leistung der von Kohle aufGas umgerüsteten Anlagen, die Wärmeversorgung sowie die Strompreise.

Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament,erklärt:„Es markiert ein wirtschafts- und sozialpolitisches Versagen der Bundesregierung, dass sie erneut diegesetzlichen Fristen reißt und es offenbar nicht für nötig hält, die Öffentlichkeit rechtzeitig über denStand und die Auswirkungen des Strukturwandels im Hinblick auf die Kommunen, die Wirtschaft unddie Arbeitsplätze zu informieren. Die Verunsicherung wächst und die extreme Rechte kocht daraufihre braune Suppe. Umso dringender ist es, dass der nötige Umbau in den Braunkohlerevieren sozialgerecht gelingt und die Menschen dabei mitbestimmen können – schließlich geht es um ihre Arbeitund ihre Zukunft. Ein gelingender Strukturwandel wäre auch ein starkes Mitteln zur Sicherung unsererDemokratie. Daher ist die Politik hier in der Verantwortung: Da sozialer Zusammenhalt undKlimaschutz für die ganze Gesellschaft wichtig sind, muss der Umbau auch öffentlich organisiertwerden – und jetzt politische Priorität haben.“

Hans Decruppe, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Kreistag Rhein-Erft, fügt hinzu:„Als langjähriger Lokalpolitiker muss ich zum Stand des Strukturwandelprozesses im RheinischenRevier feststellen, dass eine transparente und veränderungswirksame Beteiligung der kommunalenEbene, der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft nicht erfahrbar ist. Der Wandel vollziehtsich über den Köpfen der Menschen. Dieser Eindruck wurde inzwischen auch wissenschaftlichbestätigt.Als Gewerkschafter blicke ich natürlich auf soziale Sicherheit und auf die wirtschaftliche Entwicklungunserer Region. Dass die milliardenschwere Projektförderung gute, d.h. tarifgebundene,mitbestimmte und zukunftsfähige Arbeitsplätze insbesondere im Industriebereich schafft, ist zumjetzigen Stichtag spekulativ. Zu widersprüchlich und völlig unkonkret sind die Aussagen der grünenWirtschaftsministerin in Nordrhein-Westfalen. Und selbst der Umstieg auf erneuerbare Energiequellenist viel zu lahm. Dabei benötigt die Region mit ihren energieintensiven Branchen – wie Chemie undAluminium – Energieversorgungssicherheit. Von einer ‚Europäischen Modellregion fürEnergieversorgungs- und Ressourcensicherheit‘, wie es im Gesetz heißt, ist das Rheinische Revierjedenfalls meilenweit entfernt.“

Antonia Mertsching, Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag für Strukturwandel,Nachhaltigkeit und Umwelt, sagt:„Der Freistaat Sachsen hat es verpasst, eine erfolgreiche Regionalentwicklung anzustoßen undgemeinsam mit den Ländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg eine länderübergreifende Strategiefür das Lausitzer und das Mitteldeutsche Revier zu entwickeln. Stattdessen wurde ein Verfahren zurVerteilung der Strukturwandelmittel auf den Weg gebracht, das intransparent, wenigbeteiligungsorientiert und zu wenig auf die Bedürfnisse der kernbetroffenen Gemeinden ausgerichtetist. Ökologische Ziele spielen leider auch überhaupt keine Rolle. Wir fordern daher einen Neustart imStrukturwandel! Nötig sind eine konkrete Strategie, eine gerechtere Verteilung der Mittel, mehrBeteiligung – vor allem von Kindern und Jugendlichen –, sowie bessere Planungs- undPersonalressourcen in den Gemeinden. Sonst wird es nichts mit dem eigenen Anspruch, europäischeModellregion der Transformation zu werden!“

Anke Schwarzenberg, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Landtag Brandenburg fürStrukturwandel in der Lausitz, ländliche Entwicklung, Regionalplanung und Raumordnung,fügt hinzu:„Wir müssen Vertrauen in Veränderung schaffen, Fachkräfte sichern und die weichenStandortfaktoren künftig stärker fördern, damit der Strukturwandel in der Brandenburger Lausitzgelingt. Die finanziellen Mittel vom Bund sind eine riesige Chance. Es braucht aber mehr Transparenzund Bürgerbeteiligung, damit die Menschen in der Lausitz den Strukturwandel selbst gestalten undnicht über ihre Köpfe hinweg erleben. Das schwächt auch rechtsextreme Strukturen und stärkt dieDemokratie. Dem Fachkräftemangel setzen wir gute Arbeitsbedingungen, Tarifbindung undMitbestimmung entgegen. Hieran sollte die Fördermittelvergabe künftig geknüpft werden.Entscheidend sind zudem die weichen Standortfaktoren wie Schulen, Kitas und eine funktionierendeGesundheitsversorgung. Wir können mit den Fördergeldern eine lebenswerte Lausitz für alleBürgerinnen und Bürger schaffen. Lassen wir sie viel stärker mitreden, mitdiskutieren undmitentscheiden.“

Kerstin Eisenreich, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Landtag von Sachsen-Anhalt fürStrukturwandel, Agrar-, Energie-, Verbraucherschutzpolitik und ländliche Räume, sagt:„Der Start in die Umsetzung der Gesetze zum Strukturwandel in Sachsen-Anhalt wurde ziemlichverstolpert. Sehr spät wurden auf der Landesebene die Richtlinie erlassen undEntscheidungsstrukturen geschaffen, eine parlamentarische Begleitung fehlt bis heute. FehlendeBeteiligung der betroffenen Beschäftigten und Menschen im Revier vermitteln ihnen das Gefühl, dasserneut Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden, der Strukturwandel als bedrohlichempfunden wird und das Vertrauen in den Erfolg des notwendigen Transformationsprozesses geringist. Das muss sich aus unserer Sicht dringend ändern, auch weil die Prozesse weder transparentnoch nachvollziehbar und damit nicht geeignet sind, diese als Vorbild für andereTransformationsprozesse zu nutzen.Als Abgeordnete und Kommunalpolitikerin sehe ich in den Menschen und Kommunen das wichtigstePotenzial für den Strukturwandel. Ihre kreativen Ideen für die künftige Arbeits- und Lebensweltmüssen einfließen können. Das gilt insbesondere für die jungen Menschen, die eine Perspektive fürihre Zukunft in der Region brauchen und dabei selbst mit anpacken wollen. Nutzen wir diesesPotenzial!“

Andreas Schubert, Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag für Wirtschaft,erklärt abschließend:„Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ist eine Verpflichtung aus demGrundgesetz und begründet somit die Notwendigkeit, den Strukturwandels in den Braunkohlerevierenmit dem Investitionsgesetz Kohleregionen aktiv politisch zu begleiten. Die Fehler aus derNachwendezeit mit tiefgreifenden Strukturbrüchen infolge der Deindustrialisierung ganzer Landstrichein Ostdeutschland haben jahrzehntelang abgehängte Regionen wie Ostthüringen hinterlassen. Dasdarf sich nicht wiederholen. Infrastruktur, zum Beispiel eine gute Bahnanbindung, spielt eine Schlüsselrolle für die Entwicklung neuer Wertschöpfungsketten mit zukunftssicherenIndustriearbeitsplätzen auch für das Altenburger Land, das Teil des mitteldeutschen Reviers ist.Deshalb ist die durchgehende Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Schienenverbindung einSchwerpunktprojekt für Thüringen. In Verbindung mit der Elektrifizierung der Strecke zwischen Zeitzund Gera kann die Anbindung des gesamten Ostthüringer Raums auch an den Fernverkehrverbessert werden.“

Urheberrecht
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Oben      —    Westlicher Ortseingang aus Richtung Landstraße 277 im Januar 2023

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Inflation, mehr Arbeitslose

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Hinter der linken Fassade mehr Profit

Das selber Fressen hat den Politiker-innen immer volle Mägen beschert.

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Pünktlich zu den allgemeinen sozialen Deformationen im Rahmen der Wirtschaftskrise bietet der Staat ein Beruhigungs-Geld in Form einer Rentenerhöhung an. Dass die Rentenerhöhung an die Erhöhung des Beitrags der Pflegeversicherung gekoppelt ist, mindert den Reklame-Effekt erheblich.

Dass die Rentenerhöhung deutlich hinter der Inflationsrate zurückbleibt, sagt sogar das Bundessozialministerium. Dem steht Hubertus Heil vor: Ein sozialdemokratisches Symbol für den Beamtenspeck. Deutlich dicker wurde auch die SPD-Frau Nahles – versorgt mit einem Job bei der Bundesagentur für Arbeit. Sie weiß zu sagen: „Die schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen spüren wir nun auch auf dem Arbeitsmarkt“. Sie selbst spürt natürlich gar nichts.

Maden im Speck

Nichts spürt auch Yasmin Fahimi, die Chefin des DGB. Von der hört man zur wachsenden Arbeitslosigkeit gar nichts. Klar, die Sozialdemokratin Fahimi war schon mal Generalsekretärin der SPD, Mitglied des Bundestages und Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Da ist die Rente schon mal sicher. Die Maden im Speck würden sich überfressen fühlen, wenn sie so gut versorgt würden, wie die staatlichen Sozialdemokraten. Fahimi gilt als links. Die ganze SPD gilt als links, die Grünen auch; wann wird die CDU ihre linken Ansprüche anmelden?

Notopfer für die Ukraine

Es sind solche „Linke“, die zur Zeit das Land in die Krise steuern, weil sie sich im Kampf gegen die Russen weigern, deren preiswerte Energie zu kaufen. Zwei bedeutenden Sektoren der Wirtschaft, der Chemie- und der Energie-Industrie, wird die Grundlage beschädigt. Man muß nicht Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu wissen, dass ein solcher Crash-Kurs zu Arbeitslosigkeit und Inflation führt. Aber wer in den deutschen Medien sitzt, der darf das nicht wissen, der verkauft diese Sabotage der Ökonomie als Kampf für die Menschenrechte, als Notopfer für die Ukraine.

Wohltätigkeitsorganisation NATO

Spätestens seit dem SPD-Kanzler Schröder, der den Bürgern „Hartz Vier“ als „Reform“ verkauft hat, werden die Medien von einem perversen Neusprech beherrscht. Ein Sprech, der Ursachen verhüllen und soziale Gemeinheiten als Wohltaten verkaufen soll. Mit der Behauptung, die Ukraine sei ein Opfer und die NATO eine Wohltätigkeitsorganisation zur Friedenssicherung, ist ein neuer Höhepunkt erreicht: Die Waffen-Lieferungen in die Ukraine sollen dem Frieden dienen. Davon, dass sie der Waffenindustrie Rekordgewinne bescheren, ist nicht die Rede.

Rüstung gegen Kinder

Dem nächsten SPD Specknacken sprengt der Kehlkopf auch bald Kragen und Schlips !

Von der Inflation und der Arbeitslosigkeit sind die Kinder besonders betroffen: In Deutschland leben rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche „in relativer Einkommensarmut“, erzählt die Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den GRÜNEN mit spitzem Mündchen. Zwölf Milliarden Euro will die Bundesregierung vielleicht für eine „Kindergrundsicherung“ ausgeben. Dass 100 Milliarden „Sondervermögen“ für die Bundeswehr eine absolute „Grundsicherung“ für die Kriegsvorbereitung bedeuten und dass die 100 Milliarden, dem wirtschaftlichen Kreislauf entzogen, einen wesentlichen Beitrag zur schäbigen sozialen Lage im Land leisten, das findet im Neusprech einfach nicht statt. Die eleganteste Form der Manipulation ist immer noch das Schweigen.

Idelogische Energiepreise

Immer mehr Firmen ziehen so viel Geld aus Deutschland ab wie noch nie und investieren im Ausland. Das geht aus Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor. Das ist das Resultat einer De-Industrialisierung, die im Wesentlichen ein Ergebnis der ideologisch motivierten Erhöhung der Energiepreise ist. Hinzu kommt eine marode Infrastruktur. Wer mit der Deutschen Bahn fährt, kann ein Lied davon singen. Der Verschleiß der Deutschen Bahn hat ebenfalls ideologische Ursachen: „Privat geht vor Staat“ war der Hauptslogan der sozialdemokratischen Modernisierer, der von CDU, GRÜNEN und FDP bis heute beklatscht wird.

„Profit“ kommt im Neusprech kaum vor

Das Wort „Profit“ kommt im Neusprech kaum vor. Dass von der Rüstung ebenso profitiert wird wie von der Privatisierung, wollen die Medienregisseure nicht wissen lassen. Die immer ärmer werdenden und vom Krieg bedrohten Menschen könnten ja die Ursachen für ihrer prekäre Situation begreifen. Das wäre eine gefährliche Erkenntnis für das Machtgefüge. Aber solange die Legende von „linken“, also sozial und pazifistisch orientierten Parteien geglaubt wird, ist das Land vom Begreifen weit entfernt.

Urheberrecht

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Grafikquelle :

Oben      —         Bundesminister Hubertus Heil während einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestages am 2. Juli 2020 in Berlin.

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Unten       —          Secretary of Defense Lloyd J. Austin III is greeted upon arrival to the Ministry of Defense in Berlin by German Defense Minister Boris Pistorius and Ambassador Amy Gutmann Jan 19, 2023. (DoD photo by U.S. Air Force Tech. Sgt. Jack Sanders)

U.S. Secretary of Defense – 230119-D-XI929-1011

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Ich fühle mich begafft

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Meta legt KI-Systeme offen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von               :        

So genau wie nie verraten Facebook und Instagram nun, wie und wofür sie unsere Klicks überwachen. Die neue Transparenz von Meta beantwortet unser Autor mit Transparenz über seine Gefühle. Ein Kommentar.

Jetzt lässt sich im Detail nachlesen, was im Prinzip schon lange bekannt ist. Die Meta-Töchter Instagram und Facebook erfassen und verarbeiten so ziemlich alles, was Menschen auf ihren Plattformen machen. Daraus berechnen sie Prognosen über unser Verhalten.

Meta erklärt das auf einer neuen Infoseite, geordnet nach 22 Bereichen wie Facebook-Benachrichtigungen, Facebook-Feed, Instagram-Stories, Instagram-Reels. Für jeden Bereich berechnen Algorithmen ein Bündel aus Prognosen und werten teils dutzende Datenpunkte aus. Passend zum aktuellen KI-Hype spricht Meta von „KI-Systemen“.

Facebook berechnet etwa die Wahrscheinlichkeit, wie lange ich mir ein Foto anschauen werde, ob ich weiterscrolle, like oder kommentiere, ob ich mir weitere Kommentare zu dem Foto durchlese, ob ich mir das Foto später nochmal anschaue, und vieles mehr. Auf dieser Grundlage landen Inhalte in meinem Feed.

Bei vorgeschlagenen Kontakten („Personen, die du kennen könntest“) berechnet Facebook die Wahrscheinlichkeit, ob ich der Person auch wirklich eine Freundschaftsanfrage schicke. Dabei kann Facebook sogar sein Wissen über mir unbekannte Freundesfreund*innen nutzen. Denn Meta bezieht ein, „welcher Prozentsatz deiner Facebook-Freund*innen in irgendeiner Art mit der vorgeschlagenen Person verbunden ist, z. B. als Freund*innen von Freund*innen“. Das heißt: Facebook weiß über mein Umfeld mehr als ich.

Die Resonanz in mir ist Wut

Schon klar, all das sollte heute niemanden mehr überraschen. Wer nicht überwacht werden will, darf solche Dienste nicht nutzen. Ganz einfach. Das war schon vor Jahren bekannt. Aus gutem Grund bin ich längst allen Kontakten bei Instagram und Facebook entfolgt und habe die Apps von meinem Handy verbannt. Mit Genugtuung. Trotzdem ist damit für mich noch nicht alles gesagt.

Mir reicht das nicht, das ganze mit einer Geste der Abgeklärtheit als „no news“ zu deklarieren. Noch vor ein paar Jahren wollten sich Forschende mithilfe von Datenspenden zusammenstückeln, wie genau Facebook uns überwacht und uns Inhalte vorsetzt. Jahrelang haben Politiker*innen um das Digitale-Dienste-Gesetz gerungen, das Plattformen wie Meta mehr Transparenz abtrotzt. Der neue, zunächst freiwillige Blick hinter die Kulissen von Meta lässt sich als Folge von diesem Gesetz interpretieren. Jetzt haben wir die Transparenz, die wir all die Jahre verlangt haben.

Wenn ich darauf achte, welche Resonanz das in mir auslöst, dann bemerke ich Wut. Mich macht bereits wütend, mit welchen Worten Meta-Manager Nick Clegg die neue Infoseite präsentiert. Clegg schreibt von der „Beziehung“ zwischen mir und den Algorithmen. Über diese „Beziehung“ wolle man jetzt „offener“ sprechen. Als wäre Meta ein Kumpel, mit dem es in letzter Zeit etwas schwierig war. Doch jetzt fassen wir uns ein Herz und rücken wieder näher zusammen. Bullshit.

Die wollen meine Aufmerksamkeit ausbeuten

Die Beziehung zwischen Meta und mir ist ein Ausbeutungsverhältnis. Es gibt keine Augenhöhe, sondern ein unüberwindbares Machtgefälle. Der Konzern höhlt meine Privatsphäre aus, um meine Aufmerksamkeit auszubeuten. Meine Aufmerksamkeit wird durch algorithmisch optimierte Inhalte gefesselt und durch Werbung zu Geld gemacht. So ist das. Man kann dabei durchaus Genuss empfinden – das habe ich im Frühjahr am Beispiel von TikTok aufgeschrieben. Es macht mich nur wütend, wenn man das schönredet.

Aber gut, lassen wir uns kurz darauf ein, dass mein Kumpel namens Meta mit mir Beziehungsarbeit machen will. In diesem Fall müsste ich meinem Kumpel sagen: Tut mir leid, das reicht noch lange nicht, damit wir uns annähern. Unsere Beziehung war von Anfang an kaputt.

Jahrelang hat Meta nur vage offengelegt, wie seine Dienste mich überwachen. Dass Meta dazu jetzt mehr verrät, ist nichts wofür man dankbar sein sollte. Es ist das Mindeste, und es kommt zu spät. Selbst heute ist die Transparenz bei genauem Hinsehen nicht ganz aufrichtig. Die langen Listen mit Dutzenden Datenpunkten sind nicht vollständig. Überall steht dabei: „Zu den Signalen, die in diese Prognose einfließen, gehören“. Das heißt, da ist vielleicht noch mehr.

Aufdringlich, übergriffig, grenzverletzend

Ich habe mir ein paar Minuten lang durchgelesen, was Meta über mich auswerten kann, hier am Beispiel von Instagram Stories:

  • Wie viel Zeit du insgesamt damit verbracht hast, dir Stories dieses*dieser Verfasser*in anzusehen
  • Auf wie viele Stories du geantwortet oder diese geteilt hast sowie die Zeit, die du im Durchschnitt damit verbracht hast, dir jede einzelne Story anzusehen
  • Wie viele Stories du dir nicht angesehen hast
  • Die gesamte Anzahl an Stories in der Collection eines*einer Verfasser*in und wie oft du dir Stories dieser Person angesehen hast
  • Wie oft du dir Stories wiederholt angesehen hast, indem du zu ihnen zurückgekehrt bist

Ein häufig vorgebrachtes Argument lautet: Selbst wer nichts zu verbergen hat, sollte sich gegen Datensammelei und Tracking stark machen. Aus Solidarität mit anderen, für die Privatsphäre überlebenswichtig sein kann. Etwa Whistleblower*innen, Dissident*innen, Menschen, die wegen Rassismus oder Queerfeindlichkeit verfolgt werden. Ich finde das Argument überzeugend. Doch sogar ohne dieses Argument merke ich, wie sehr mich diese Datensammelei ganz persönlich ankotzt.

Egal, dass ich nichts zu verbergen habe. Egal, dass Meta das nur für Geld macht. Egal, dass kein Mensch Lust und Zeit hätte, all meine Daten mit eigenen Augen zu sichten. Egal, dass mir schon nichts Schlimmes passiert, wenn ich Facebook und Instagram nutze. Ich finde diese umfassende Dauerbeobachtung extrem aufdringlich, übergriffig und grenzverletzend.

Nein sagen

Was für ein Creep muss man eigentlich sein, um einen Dienst anzubieten, der genau erfasst, bei welchen Uploads ich hängen bleibe, weil sie mich vielleicht berühren, aufregen, erregen oder verängstigen? Das hat einfach niemanden etwas anzugehen.

Um es plastisch zu machen: Wenn ich mir durchlese, was Meta über mich erfasst, dann fühle ich mich begafft, als läge ich nackt auf einem OP-Tisch, frostweißes Scheinwerferlicht auf meinem Körper, und jemand schaut sich stundenlang mit der Lupe meine Pickel an.

Ich finde, das gehört verboten. Facebook und Instagram gehören gelöscht. Online-Kontakt mit Menschen habe ich lieber über Messenger, Ende-zu-Ende-verschlüsselt.

Ich will hier aber auch keinem Vorwürfe machen, der entgegnet: „Sorry, ich fühl’s überhaupt nicht. Ich werde weiter Instagram nutzen“. Alle ziehen ihre Grenzen anders, es gibt Schlimmeres. Mit der eigenen Empörungsenergie muss man auch irgendwie haushalten.

Trotzdem finde ich es wichtig, das mal auszusprechen. Ich lehne das ab, von Meta begafft zu werden. Man muss sich nicht damit abfinden, weil Milliarden Menschen das auch tun. Es ist OK, seine Grenzen so streng zu ziehen, und es ist OK mit Blick auf Facebook und Instagram zu sagen: Nein.

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Die Politik der Inlandsspione

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Kritik am deutschen Verfassungsschutz

Von Till Schmidt

Der Journalist Ronen Steinke nimmt in seinem Buch den Verfassungsschutz ins Visier – vor allem dessen große Macht, im Inland Personen auszuspionieren.

Im Vergleich zu anderen liberalen Demokratien ist der deutsche Verfassungsschutz ein Unikum. Trotz ähnlicher Bedrohungen, wie sie etwa in den USA, Frankreich oder in Österreich vor allem von Rechtsextremen ausgehen. Das FBI, der Inlandsgeheimdienst DGSI oder die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst sind anders konzipiert.

Ronen Steinke hat nun ein neues Buch veröffentlicht, das sich mit den Aufgaben und der Funktionsweise der hiesigen Verfassungsschutzämter beschäftigt. Man könnte auch von einem pointierten Profil sprechen, das der Jurist, Journalist und Buchautor angelegt hat: Auf knapp 200 Seiten geht Steinke mit den gewachsenen Strukturen, dem Selbstverständnis und dem konkreten Agieren der Verfassungsschutzämter ins Gericht – und das mitunter sehr hart.

Steinke schildert anschaulich, wie folgenreich etwa eine Nennung in den Verfassungsschutzberichten für Organisationen und ihnen angehörende Einzelpersonen ist. Ein bekanntes Beispiel aus den letzten Jahren ist der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Anti­faschisten), dem durch eine später wieder rückgängig gemachte Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit exis­tenzgefährdende Steuernachzahlungen drohten.

Oder Klimaaktivist:innen, die von manchen Ämtern gar nicht wegen ihrer Protestmethoden, sondern schon wegen politisch relativ gemäßigter Forderungen als „Verfassungsfeinde“ gelten.

An den Grundrechten rütteln

Die Argumentationen, die zu solchen Einschätzungen seitens der Behörden führen, sind häufig alles andere als stichhaltig. Bei genauerem Hinsehen würden die als Beweis für eine Verfassungsfeindlichkeit angeführten Aussagen häufig sogar solide auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Denn wirtschaftspolitisch ist das Grundgesetz eigentlich „ziemlich offen“, schreibt Steinke. Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung von unliebsamen politischen Akteuren.

Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung

Seehofer musste gehen und ließ den Haldenwang allein im Regen stehen ?

Steinke geht es nicht unbedingt darum, politisch Partei zu ergreifen für die von den Behörden ins Visier genommenen Gruppen. Als Verteidiger eines liberalen Rechtsstaates stört er sich vor allem daran, wie stark mitunter an Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerüttelt wird sowie linke und rechte Gruppierungen mit Doppelstandards beurteilt werden. Steinke kritisiert die deutschen Verfassungsschutzämter als „Politik-Beobachtungs-Geheimdienst“.

Aspekte wie behördliche NS-Kontinuitäten, die Zeit des „Radikalenerlasses“ oder die Mordserie des NSU behandelt Steinke relativ knapp. Besonders spannend sind die Kapitel zur digitalen Quellen-Überwachung und der Präsenz der Ämter in den sozialen Medien. Hierfür hat sich Steinke auch mit Agenten und ehemaligen Mitarbeitern getroffen. An diesen Stellen liest sich das Buch teils wie eine Reportage.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

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Oben     —     Buildung of the Federal Office for the Protection of the Constitution in Berlin

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Geist aus der Flasche

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Prigoschins Aufstand hat gezeigt,
wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist.

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Von Sarah Pagong

Prigoschins Aufstand hat gezeigt, wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist. Eben weil es auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen basiert. Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Am 24. September 2011 kündigte Wladimir Putin seine erneute Kandidatur für die Präsidentschaft an. Es ist der Beginn einer autoritären Wende in Russland, die das Land in den Folgejahren immer repressiver und immer diktatorischer werden lässt.

Dmitri Medwedjew, der vier Jahre lang das Präsidentenamt bekleidet hatte, trat nicht wieder an. Er galt als Vertreter der liberal orientierten Gruppen in Russlands Elite; jemand, der Russland vermeintlich nach innen modernisieren wollte, nach außen Ausgleich mit den USA suchte und der den aggressiven Einfluss von Russlands Sicherheitsdiensten ausbalancieren konnte. Im September 2011 wurde deutlich, dass er nur ein Instrument des Machtsystems des zurückkehrenden Präsidenten Putin war. Die vermeintliche Alternative war Schall und Rauch.

Dieses Machtsystem basiert auf der Konkurrenz unterschiedlicher Eliten und Interessengruppen. Informelle Netzwerke binden diese Personen an das System: persönliche Beziehungen, die Möglichkeit, finanziell zu profitieren, oder schlicht Komplizenschaft. Jede dieser Gruppen und Personen erfüllt einen Zweck für das System Putins und den russischen Staat. Sie kontrollieren Ressourcen oder Medien, sie mehren Putins persönlichen Reichtum oder mimen eine vermeintliche Opposition oder Alternative. Jewgeni Prigoschin war Teil dieses Systems. Im Unterschied zu Medwedjew jedoch drohte die Konkurrenz zwischen Prigoschin und anderen Teilen der Elite in letzter Zeit das System zu sprengen.

Prigoschin verbrachte zu Sowjetzeiten neun Jahre im Gefängnis. Er war verurteilt worden für Raub und Diebstahl. 1990, in den Zeiten des Umbruchs, kam er frei. In den Wirren der neunziger Jahre verkaufte er Hotdogs und gründete Restaurants. Reich wurde er durch staatliche Cateringaufträge, die ihm den Namen „Putins Koch“ einbrachten.

Er hat diesen Reichtum eingesetzt im Dienste des Systems. Prigoschin finanziert Trollfrabriken in Sankt Petersburg, und er hat die Gruppe Wagner zu dem gemacht, was sie heute ist: einem privaten Militärunternehmen, das russische Interessen in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika mit immenser Brutalität durchsetzt. Mit engen Verbindungen zur extremen Rechten und guten Kontakten zum russischen Staat agiert die Gruppe Wagner dort, wo Russland offiziell nicht eingreifen kann oder will.

Das Militärunternehmen erfüllt somit eine Funktion für den russischen Staat. Prigoschin hat es dabei nicht versäumt, seine eigene Macht und Bedeutung im russischen System zu steigern und sich neue Geldquellen zu sichern. Die Gruppe Wagner war immer auch ein Instrument der Ressourcenabschöpfung in ihren Zielländern. Der Einsatz für russische Interessen in Ländern wie Mali, Sudan oder Syrien kostet Prigoschin Geld, bringt ihm aber auch neuen Reichtum in Form von Gold oder Silizium.

Die Verbindung zwischen dem Machtsystem und Prigoschin war eine Symbiose, eine informelle Beziehung zu beiderseitigem Vorteil. Putin hat stets darauf geachtet, dass keine der Elitengruppen und -personen zu mächtig wird. Die Stabilität wurde gewahrt durch Konkurrenz zwischen den Eliten: um Ressourcen, Aufmerksamkeit, Informationen. Putin garantiert und symbolisiert dieses System als oberster Schiedsrichter.

Der Streit zwischen Prigoschin und der Führung des Verteidigungsministeriums, vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, stellte genau solch eine Rivalität dar. Sie hat sich jedoch unter dem Einfluss von Russlands Krieg gegen die Ukraine radikalisiert. Für Prigoschin und die Gruppe Wagner war der Krieg eine Chance auf mehr Macht und Einfluss. Gleichzeitig hat der Krieg den Bedarf an Ressourcen für dieses Machtstreben – militärische Ausrüstung, Munition, Personal – potenziert. Es reicht nicht mehr für alle. Putin hat diese Radikalisierung lange laufen und Prigoschin mit seinen zunehmend spitzen Kommentaren gewähren lassen. Letztlich hat diese Radikalisierung das System zu sprengen gedroht.

Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Das Ergebnis ist ein für alle sichtbares Moment der Schwäche und des Kontrollverlusts des russischen Staats. Einmal mehr zeigt sich, dass scheinbar stabile autoritäre Systeme fragil sind. Sie basieren auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen. Diese Balance ist anfällig, da sie auf informellen Arrangements aufbaut und nicht auf allgemein anerkannten und rechtsstaatlich durchgesetzten Regeln. Diese Schwäche hat sich am Wochenende des 23./24. Juni an drei Faktoren gezeigt: einem Verlust der Kontrolle über Information sowie einem über Teile des Territoriums und in mangelndem Strafvermögen.

Der Kreml und Putin verloren am Freitagabend die Kontrolle über die Information und das Narrativ. Prigoschin hat sich über soziale Medien und vor allem Telegram in den letzten Monaten einen eigenen Zugang zur russischen Bevölkerung geschaffen. Er ist nicht abhängig von staatlichen oder staatlich kontrollierten Medien, sondern er spricht die Menschen direkt, unmittelbar und auf authentisch wirkende Weise an. Der russische Staat konnte die Nachrichten über die Kontrolle von Rostow am Don und den anschließenden Vorstoß der Gruppe Wagner Richtung Moskau nicht kontrollieren oder gar leugnen. Putin war in einem Dilemma: Sagt er nichts, überlässt er Prigoschin das Feld. Äußert er sich, verleiht er Prigoschin weitere Reichweite und dessen Handeln Bedeutung. Er musste sich für Letzteres entscheiden, zu deutlich war das Schweigen wahrzunehmen. Die Rede Putins, mit der er am Samstagmorgen schließlich reagierte und die Prigoschin als Verräter brandmarkte, hat den Wagner-Chef in seinen Aussagen noch radikalisiert. Er griff Putin nun persönlich an. Die sich überhitzende Elitenkonkurrenz entwickelte sich von der Stütze des Systems nun endgültig zu dessen größtem Problem.

Das Machtsystem Russlands verlor auch die Kontrolle über Teile seines Territoriums. Die Gruppe Wagner konnte gegen nur begrenzten Widerstand Rostow am Don kontrollieren, einen zentralen Logistikknotenpunkt für den Krieg gegen die Ukraine, und über Woronesch weiter Richtung Moskau vordringen. In den Medien verbreiteten sich statt Bildern einer gezielten und massiven militärischen Antwort seitens des Staats vor allem solche von Baggern, die die Schnellstraße Richtung Moskau aufrissen. Das Ende dieses Aufstands wurde schließlich nicht militärisch herbeigeführt, sondern durch einen vom belarussischen Präsidenten vermittelten Deal. Der Brandmarkung Prigoschins als Verräter folgte nicht etwa eine machtvolle Reaktion, sondern eine Verhandlung, die dem Systemsprenger einen Kompromiss unterbreitete.

Den dritte Kontrollverlust bildet das unmittelbare Ausbleiben einer existenziellen Strafe. Das Machtsystem hat Kontrolle – neben der Belohnung von Gefolgschaft – auch immer über die Bestrafung von Abtrünnigen ausgeübt. Die zahlreichen getöteten, ins Exil getriebenen und in Lagern sitzenden Jour­na­lis­t:in­nen und Oppositionellen sind Zeugen solcher Strafen. Prigoschin jedoch hat genau dieses Schicksal zunächst einmal nicht ereilt. Sein „Marsch auf Moskau“ wurde nicht ultimativ bestraft – auch wenn berechtigte Zweifel bleiben, ob Prigoschin nicht doch noch einen hohen Preis zahlen wird. Die Verhandlung bescherte dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko dagegen ein unerwartetes Comeback. Er und Belarus bleiben von Russland abhängig, aber der Aufstand hat ihm nicht nur die Gelegenheit geboten, sich medienwirksam als Vermittler darzustellen, sondern auch als dem russischen Staat und der Sicherheit des Lands verschriebenen Verbündeten, der in der Krise zur Hilfe eilt.

Seit dem letzten Wochenende hat das Machtsystem Risse. Die Idee eines omnipotenten russischen Staats, eines allmächtigen russischen Präsidenten hat auch vorher nicht der Wahrheit entsprochen, aber nun ist die Sache für alle erkennbar, innerhalb und außerhalb Russlands. Putins Politik, seine Handlungen, seine Worte werden nun auf Anzeichen von Schwäche geprüft werden. Anstatt sich auf den Nimbus der Macht verlassen zu können, wird er stetig versuchen müssen, ihn wiederherzustellen.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen  

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Grafikquellen     :

Oben       —     Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Diplomatische Reisegeste

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Lange hatten afrikanische Po­li­ti­ke­r:in­nen die Ukraine als Bauernopfer abgetan.

Ein Debattenbeitrag von Alex Veit

Ein Besuch in Kyjiw weist auf einen Sinneswandel. Der erfolgte nicht ohne Druck. Die USA haben deutlich gemacht, dass sie die Geduld mit der russlandfreundlichen Politik Pretorias verlieren.

Dass die Friedensmission afrikanischer Staatschefs in der Ukraine und in Russland am vergangenen Wochenende viel erreichen würde, hatte kaum jemand erwartet. Und tatsächlich gab es am Ende wenig Konkretes zu berichten außer dem Versprechen aller Seiten, weiter im Gespräch zu bleiben.

Die Friedensreise der Staatschefs war vor allem eine diplomatische Geste: Die Bahnfahrt von Polen nach Kyjiw signalisierte die verspätete afrikanische Anerkennung der ukrainischen Perspektive. Lange hatten hochrangige Po­li­ti­ke­r:in­nen etwa aus Südafrika die Ukraine als bloßes Bauernopfer in einem größeren Konflikt zwischen Russland, China und dem Westen abgetan. Im Februar 2022 verurteilten in der UN-Generalversammlung gerade mal 28 von 55 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union (AU) den russischen Überfall, während sich eine große Minderheit enthielt oder nicht zur Abstimmung erschien. Einige wenige Staaten lehnten die Resolution sogar ab und stellten sich damit offen an die Seite Russlands. Seit Februar 2022 hatte nur ein einziges afrikanisches Staatsoberhaupt Kiew besucht, aber viele andere sind nach Moskau gereist.

Die diplomatische Reisegeste versammelte nun gleich sieben hochrangige Politiker, um eine neue afrikanische Geschlossenheit zu vermitteln, und vielleicht auch um Wiedergutmachung für frühere Versäumnisse zu leisten. So reisten jetzt sowohl der derzeitige Vorsitzende der Afrikanischen Union (AU) und Präsident der Komoren, Azali Assoumani, und die Staatsoberhäupter und Vertreter von sechs weiteren afrikanischen Staaten nach Kyjiw. Drei dieser Staaten – Südafrika, Republik Kongo und Uganda – haben sich bei den verschiedenen Abstimmungen in der UN-Generalversammlung konsequent enthalten. In Kyjiw und anschließend in St. Petersburg stellte die afrikanische Delegation nun jedoch einen 10-Punkte-Plan vor, in dem sie sich zur internationalen Norm der staatlichen Souveränität bekennt und diese Anerkennung auch von den Kriegsparteien einfordert. Entsprechend unwirsch reagierte Putin, der seinen Gästen ins Wort fiel, auf die Vorschläge.

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Auch sonst hat die russische Seite viel dafür getan, die Besucher zu verprellen. Als diese gerade in Kyjiw angekommen waren, schoss das russische Militär mehrere Raketen auf das Stadtzentrum ab. Die afrikanische Delegation musste in einen Schutzraum flüchten. Während des anschließenden Treffens mit Putin in St. Petersburg stellte dieser klar, dass er das Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli auslaufen lassen will. Das Abkommen regelt die Ausfuhr ukrainischen Weizens. Durch den Wegfall des Abkommens würde die Ernährungssicherheit besonders in Nordafrika weiter eingeschränkt.

Nun ließe sich einwenden, dass eine siebenköpfige Gruppenreise für eine bloße Geste nicht nur einen übertriebenen Aufwand darstellt, sondern dass insbesondere Südafrika nicht aus freien Stücken zu der Einsicht gekommen ist, die eigene Haltung zum Krieg korrigieren zu müssen. Die USA haben in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass sie die Geduld mit der russlandfreundlichen Politik Pretorias verlieren: zunächst beschuldigte der US-Botschafter in Südafrika das Land, ein sanktioniertes russisches Schiff in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Waffen beladen zu haben. Wenig später forderten Kongressabgeordnete, den Ausschluss Südafrikas aus dem lukrativen AGOA-Handelsabkommen zu prüfen, das Südafrika bevorzugten Zugang für seine Exportprodukte auf dem amerikanischen Markt gewährt. Manche fragten, warum Südafrika unter Druck gesetzt, während Indiens Staatschef in Washington besondere Ehre zuteil wird – obgleich die Russland-Politik beider Länder durchaus vergleichbar ist. Die Antwort liegt nahe: Südafrika ist das wirtschaftlich schwächste Glied des BRICS-Staatenbündnisses, zu dem neben Indien auch China, Russland und Brasilien gehören. Der amerikanische Druck wegen der südafrikanischen Russland-Politik zielt letztlich auf den großen Rivalen China und den Zusammenhalt des BRICS-Bündnisses.

Ohnehin steht Südafrika durch seine Gastgeberrolle beim nächsten BRICS-Gipfel Ende August in Johannesburg unter Druck. Die Entscheidung, ob und wie Putin am Gipfel teilnehmen kann, obwohl ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn vorliegt, schiebt Pretoria seit Wochen vor sich her. Dass im afrikanischen 10-Punkte-Plan auch die Rückkehr der durch Russland entführten ukrainischen Kinder zu ihren Familien gefordert wird, stellt eine indirekte Verurteilung dieser Verbrechen Putins und eine Anerkennung der Begründung des Haftbefehls dar.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —       President Joe Biden delivers remarks at the Summit for Democracy Virtual Plenary on Democracy Delivering on Global Challenges, Wednesday, March 29, 2023, in the South Court Auditorium of the Eisenhower Executive Office Building at the White House. (Official White House Photo by Adam Schultz)

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Eine gescheiterte Wahl

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Stürzt Sachsen-Anhalt wegen Datenschutz in eine Regierungskrise?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :           

Trotz drei Wahlgängen hat der Magdeburger Landtag schon wieder keinen Landesdatenschutzbeauftragten gewählt. Das Amt ist seit Jahren unbesetzt, offenbar ließen erneut CDU-Abgeordnete den Kandidaten der eigenen Koalition durchfallen. Sollte das Bündnis daran zerbrechen, dürfte sich vor allem die AfD freuen.

Rutscht die Landesregierung in Sachsen-Anhalt ausgerechnet wegen der gescheiterten Wahl eines Datenschutzbeauftragten in eine Regierungskrise? Es sieht danach aus: Der Landtag des Bundeslandes hat heute wieder keinen neuen Landesbeauftragten für Datenschutz gewählt. Als einziger Kandidat stand der Jurist Daniel Neugebauer aus Halle an der Saale zur Wahl. In drei Wahlgängen erhielt er nicht die erforderliche Mehrheit.

Der Wahlkrimi zog sich über mehrere Stunden, immer wieder wurde die Sitzung für Beratungen unterbrochen. Am Ende hat es für Neugebauer, der als Rechtsanwalt in der Kanzlei des FDP-Fraktionsvorsitzenden Andreas Silbersack arbeitet, nicht gereicht. Der promovierte Jurist war von den Regierungsparteien CDU, SPD und FDP zur Wahl vorgeschlagen worden.

CDU-Politiker fordert Neuwahlen des Landtags

Um gewählt zu werden hätte Neugebauer die Stimmen von der Mehrheit der 97 Abgeordneten gebraucht. Mit 52 anwesenden Abgeordneten hätte die Regierungskoalition den Kandidaten eigentlich komfortabel über diese Schwelle heben können. Doch statt der benötigten 49 Stimmen erhielt Neugebauer erst 44, dann 47 und im dritten Wahlgang 48 Stimmen.

Damit ist nicht nur der dritte Versuch innerhalb von fast sechs Jahren gescheitert, einen neuen Landesdatenschutzbeauftragten für Sachsen-Anhalt zu wählen. Das Wahldebakel hat das Zeug zu einer echten Regierungskrise in dem ostdeutschen Bundesland.

Die Wahl erfolgte geheim, doch im Landtag geht das Gerücht um, dass eine Gruppe von CDU-Abgeordneten den Kandidaten durchfallen ließ, der von ihrer eigenen Fraktion ausgesucht worden war. Schon 2018 und 2022 scheiterte die Wahl eines Datenschutzbeauftragten mutmaßlich daran, dass einige CDU-Abgeordnete aus dem Koalitionskompromiss ausscherten.

„Die Koalition hat keine Mehrheit, weil feige Heckenschützen in der Wahlkabine den Kandidaten beschädigen ohne es vorher zu signalisieren“, kommentierte der langgediente CDU-Parlamentarier Wolfang Gürth die Hängepartie auf Twitter. „Neuwahlen wären konsequent“, so der ehemalige Landtagspräsident, wobei er sich nicht auf Neuwahl eines Datenschutzbeauftragen bezogen haben dürfte, sondern auf die des Landtags.

Die Vorsitzende der mitregierenden SPD, Katja Pähle, spricht von „fehlender Geschlossenheit“, die der ganzen Koalition schade. Die oppositionelle Linksfraktion spricht von einer „Regierungskrise“. Nützen dürfte letztere vor allem der AfD, die in Umfragen im Bundesland mit der CDU gleichauf ist.

Mehr als fünf Jahre Hängepartie

Mit dem heutigen Wahldebakel schreibt Sachsen-Anhalt ein weiteres Kapitel einer absurden Hängepartie von gut fünfeinhalb Jahren. Es war Ende 2017, als der damalige Landesdatenschutzbeauftragte Harald von Bose in den Ruhestand gehen wollte. Trotz mehrerer Anläufe war der Magdeburger Landtag 2018 nicht in der Lage, den Posten neu zu besetzen. CDU und SPD hatten dem damaligen Grünen Koalitionspartner die Wahl eines Grünen Kandidaten zugesichert, doch Teile der CDU-Fraktion spielten nicht mit. Zwei Mal fiel der anerkannte Datenschützer Nils Leopold durch, am Ende musste Harald von Bose merklich genervt verlängern.

Ende 2020 schmiss er endgültig hin, sein Stellvertreter Albert Cohaus übernahm die Leitung der Behörde kommissarisch. Eigentlich hatten sich CDU und SPD 2022 mit dem neuen Koalitionspartner FDP darauf verständigt, diesen dann einfach formell in das Amt zu wählen. Von fünf Bewerbern erhielt Cohaus dann zwar die meisten Stimmen, aber in zwei Anläufen wieder nicht genügend. Wieder wurde gemunkelt, dass es an der mangelnden Disziplin der CDU-Fraktion gelegen habe.

In der Folge der Hängepartie änderten die Regierungsparteien schließlich das Besetzungsverfahren. Zunächst wurde die erforderliche Mehrheit für eine Wahl von zwei Dritteln auf eine einfache Mehrheit herabgesetzt. Als auch das nicht half, stellten CDU, SPD und FDP das Wahlverfahren kürzlich ganz um. Statt einem offenen Bewerbungsprozess mit öffentlicher Ausschreibung der Stelle kann nun nur noch gewählt werden, wer von einer Landtagsfraktion vorgeschlagen wird. Zudem wurde die Begrenzung der Amtszeit auf zehn Jahre abgeschafft.

Oberverwaltungsgericht hält Verfahren für transparent

An diesen Änderungen gab es heftige Kritik, nicht nur aus der Opposition, sondern auch von Sachverständigen bei einer Anhörung im Landtag. Sie sehen die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten in Gefahr und die Vorgaben an der EU an ein „transparentes Verfahren“ bei der Besetzung verletzt.

Der Jurist Malte Engeler* mischte aus diesem Grund auf den letzten Metern das Wahlverfahren auf. Als klar war, dass die Koalition mit Neugebauer nur einen Kandidaten vorschlagen würde, reichte er am vergangenen Freitag eine Initiativbewerbung für das Amt bei allen Landtagsfraktionen ein.

Unterstützt von der Transparenzorganisation FragDenStaat wollte Engeler erreichen, dass das Verfahren gerichtlich überprüft wird. Ihrer Ansicht nach bräuchte es für eine transparente Besetzung mindestens eine öffentliche Ausschreibung der Stelle, eine öffentliche Anhörung der Bewerber:innen, Transparenz bezüglich der Qualifikationen und die Dokumentation des Auswahlverfahrens.

Wäre es nach Engeler und FragDenStaat gegangen, hätte der Europäische Gerichtshof darüber entschieden, wie die Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung auszulegen sind. Engeler wendete sich deshalb am Montag mit einem Eilantrag an das Verwaltungsgericht Magdeburg. Das Gericht hätte die für Mittwoch angesetzte Wahl aussetzen können, lehnte Engelers Antrag jedoch am Dienstag ab. Der Jurist legte daraufhin Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht ein. Als auch dieses Engelers Antrag am heutigen Mittwoch ablehnte, schien der Weg für Neugebauers Wahl frei.

Regierungskrise könnte AfD nützen

„Damit stehen einer Durchführung der Wahl keine rechtlichen Hindernisse mehr entgegen“, leitete Landtagspräsident Gunnar Schellenberger den Tagesordnungspunkt am frühen Mittwochnachmittag ein. Ob er da schon ahnte, dass die Wahl erneut nicht an rechtlichen, sondern politischen Hindernissen scheitern würde?

Stunden später jedenfalls stehen CDU, SPD und FDP vor einem Scherbenhaufen. Insbesondere die CDU-Fraktion muss sich fragen lassen, warum Abgeordnete offenbar wiederholt Koalitionskompromisse kippen. Ministerpräsident Reiner Haseloff ringt seit langem mit einem Teil der Fraktion, der lieber mit der AfD als mit den Mitte-Parteien koalieren würde. Auch er selbst brauchte bei seiner Wahl zum Ministerpräsidenten trotz komfortabler Mehrheit zwei Anläufe.

Die Verkündung der Wahlergebnisse soll Haseloff, selbst Mitglied des Landtages, heute mit versteinerter Miene zur Kenntnis genommen haben. Sollte es tatsächlich zu einem Bruch der Koalition und zu Neuwahlen kommen, kann sich die AfD laut Umfragen sogar Hoffnungen machen, stärkste Fraktion zu werden. Entsprechend reagierte der AfD-Fraktionsvorsitzende bei Twitter auf Detlef Gurths Ruf nach Neuwahlen mit einem Daumen nach oben: „Wir unterstützen diesen Vorschlag.“

Grundsatzfrage bleibt ungeklärt

Auch für den Datenschutz in Sachsen-Anhalt ist die erneute Nichtwahl ein absolutes Debakel. Seit bald sechs Jahren sind CDU und SPD mit wechselnden Koalitionspartnern nicht in der Lage, eine Mehrheit für dieses Amt zu organisieren. Mit Daniel Neugebauer verlässt nun ein dritter Kandidat beschädigt das Wahlverfahren. Es dürfte schwer werden, in Zukunft überhaupt noch qualifizierte Kandidat:innen für das Amt zu finden.

Dabei sind die Aufgaben riesig. Erst kürzlich erschütterte ein Skandal um unberechtigte Datenabrufe durch eine Klinikmitarbeiterin das Bundesland. Eine Anfrage der Linksfraktion zeigte daraufhin, dass kaum kontrolliert wird, wie tausende Staatsbedienstete mit weitreichenden Datenzugriffsmöglichkeiten umgehen. Die Datenschutzbehörde gilt zudem seit Jahren als unterfinanziert. Jahrelang riefen von Bose und Cohaus nach mehr Personal, ohne nennenswerten Erfolg.

Unsicherheit bleibt auch in der Grundsatzfrage, wie ein transparentes Besetzungsverfahren für Datenschutzbeauftragte auszusehen hat. Malte Engeler und FragDenStaat jedenfalls sehen ihre Zweifel am Besetzungsverfahren in Sachsen-Anhalt und vielen anderen Bundesländern alles andere als ausgeräumt. „Die Ablehnung meines Antrags hat das OVG sehr sportlich damit begründet, dass die Europarechtskonformität derart auf der Hand liege, dass sich eine Vorlage an den EuGH erübrige“, sagt Engeler in einer Pressemitteilung.

Diese Argumentation sei nicht nachvollziehbar, so Engeler. „Die juristische Literatur vertritt vielfach, dass ein Ernennungsverfahren, bei dem einzig am Ende einer nicht-öffentlichen Vorauswahl eine Person gewählt wird, mit Artikel 53 der Datenschutz-Grundverordnung unvereinbar ist. Es geht gerade darum, die Unabhängigkeit der gewählten Person dadurch zu sichern, vorherige Einflussnahmen und Absprachen zu verhindern.“

Die Frage der Unabhängigkeit der Datenschutzbehörden bleibt also aktuell. Um so mehr in einem Bundesland, in dem die AfD zur stärksten Kraft werden könnte.  

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —         Landtag von Sachsen-Anhalt am Domplatz in Magdeburg

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Am Ort ihres Verbrechens

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Die internationale Gemeinschaft wäre gut beraten, die Prozesse zumindest zu unterstützen.

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Ein Debattenbeitrag von Ibrahim Murad

Die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien strebt Prozesse gegen ausländische IS-Täter an. Die Herkunftsländer haben ihre Pflicht versäumt.

Der vereitelte Anschlag auf die Regenbogenparade in Wien Anfang des Monats erinnert daran, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) weiter existiert und unverändert eine ernsthafte Bedrohung darstellt. Seit 2019, als der IS in Syrien besiegt wurde, leben in den Lagern und Gefängnissen Nord- und Ostsyriens mehr als 60.000 Mitglieder und Angehörige des IS, darunter auch knapp 2.000 ausländische Kämpfer.

Die unter dem kurdischen Namen Rojava bekannte Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, kurz AANES, mit einer mehrheitlich kurdischen Bevölkerung, fordert seit Jahren, dass die Herkunftsländer der Kämpfer, darunter Deutschland, ihre Staatsbürger zurückholen und strafrechtlich verfolgen. Doch abgesehen von der Rückführung einiger Frauen und Kinder ist bislang wenig passiert.

Mitte Juni erklärte nun die AANES, die mutmaßlichen IS-Terroristen mit ausländischer Staatsbürgerschaft selbst vor Gericht zu stellen. Jemand muss für Gerechtigkeit und die Gewährleistung von Sicherheit und Frieden sorgen. Das Versäumnis der Herkunftsstaaten, die mutmaßlichen Terroristen selbst strafrechtlich zu verfolgen, hat bereits zu sicherheitspolitischen Problemen geführt. In den Lagern und Gefängnissen kommt es wiederholt zu Aufständen und Ausbruchsversuchen.

Die ersten Prozesse sollen in der symbolisch wichtigen Stadt Kobane stattfinden, wo 2014 in erster Linie kurdische Truppen vor den Augen der Weltöffentlichkeit Widerstand gegen den IS leisteten. Die Verfahren sollen öffentlich, fair und transparent sein. Die AANES hat die betreffenden Herkunftsländer, die Vereinten Nationen, NGOs und die Medien eingeladen, den Prozessen beizuwohnen. Außerdem ist man auch weiterhin für die Einrichtung eines internationalen Tribunals offen.

Eine juristische Aufarbeitung ist zweifellos auch im Interesse der Weltgemeinschaft. Der Terror des IS ist ein globales Problem. Zahlreiche Drahtzieher terroristischer Anschläge sind vermutlich in Nord- und Ostsyrien inhaftiert. Die internationale Gemeinschaft wäre also gut beraten, ihrer Pflicht nachzukommen und die nun angekündigten Prozesse zumindest zu unterstützen.

Die Mitgliedstaaten der EU scheinen indes noch nicht einmal in der Lage zu sein, angemessen darüber zu diskutieren. Vielmehr scheint es, als wolle man das Problem aussitzen. Die USA wiederum forderten zwar die Länder der Welt dazu auf, ihre jeweiligen Staatsbürger zurückzuholen, weigerten sich aber selbst hartnäckig, US-Bürger zu repatriieren. Diese Doppelmoral muss ein Ende haben. Der Status quo ist nicht nur gefährlich. Es geht auch um eine lückenlose Aufklärung von Terroranschlägen in den eigenen Ländern. Und schließlich um Gerechtigkeit: Die Opfer des IS-Terrors warten darauf, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Umgekehrt haben die mutmaßlichen IS-Mitglieder selbst – trotz allem – ein Anrecht auf ein Gerichtsverfahren unter fairen Bedingungen.

Bei ihrer Entscheidung, über Verbrechen auf eigenem Boden zu richten, war für die AANES ein wesentlicher Faktor, dass hier belastbares Beweismaterial und vor allem Zeugen, wie Überlebende der IS-Verbrechen, verfügbar sind. Die Bewohner und Kämpfer der Region haben große Opferbereitschaft im Kampf gegen den IS gezeigt. Es ist nur folgerichtig, dass die Prozesse vor Ort stattfinden. Die AANES wird die Prozesse gemäß eigener Gesetze zum Terrorismus führen, jedoch die geltenden internationalen Menschenrechtsstandards dabei achten. Die Todesstrafe ist, wie in der Verfassung der AANES verankert, untersagt.

Die Prozesse werden große finanzielle, logistische und rechtliche Ressourcen erfordern. Der AANES fehlt es aktuell noch an Kapazitäten, diese Prozesse ohne internationale Unterstützung zu stemmen. Die Mitgliedstaaten der EU sollten der AANES daher im Einklang mit geltendem internationalem Recht die nötige Unterstützung gewähren und mit ihr zusammenarbeiten. Beispielsweise könnte bei der Ausbildung von Richtern und nötigem Gerichtspersonal geholfen werden. Daneben muss angesichts der Gefahren für die Sicherheit aller Prozessbeteiligten gesorgt werden.

Beobachter der Herkunftsstaaten sollten vertreten sein, um bei der Aufklärung zu helfen und die eigenen Justizbehörden auf etwaige spätere Prozesse im Heimatland vorzubereiten. Schließlich muss die internationale Gemeinschaft auch den zuletzt intensivierten Angriffen der Türkei auf Nord- und Ostsyrien Einhalt gebieten, die sich gegen dieses Vorhaben positioniert und dieses gefährdet haben.

Es bleibt die Frage, was passiert, wenn die in den nun beginnenden Prozessen verhängten Strafen verbüßt sind und die Täter nach ihrer Entlassung vor der Frage stehen, wohin. Spätestens dann wird man sich die Frage nach einer Rehabilitierung stellen müssen. Schon jetzt stellen die überfüllten und vernachlässigten Gefängnisse und Lager einen Hotspot der Radikalisierung dar. Die humanitären Bedingungen sind miserabel. Vor allem Frauen und Kinder bleiben ihrem eigenen Schicksal überlassen.

Quelle          :           TAZ-online           >>>>>       weiterlsen

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Oben        —      Während Rojava 2014 mehr oder minder nur aus den drei Gründungskantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê bestand, wuchs es bis 2017 beträchtlich und nimmt nun den größten Teil Nordsyriens ein. Die Städte al-Hasaka und Qamischli stehen jedoch teilweise unter Kontrolle der syrischen Regierung. Mehrere Militäroperationen der Türkei mit ihren syrischen Verbündeten führten zu Verlusten, wie z. B. Afrin 2018

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Rüstung und Militär

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Eine EU-Armee für das deutsche Europa?

Blutrote Teppiche gibt es nicht für Panzer Verkäufer in der USA

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von              :    Jürgen Wagner
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 398, April 2015, www.graswurzel.net

Rüstungshaushalt, Militär und Rüstungsindustrie.  Die Pläne zum Aufbau einer „Vereinigten Armee von Europa“ reichen zurück bis zum Pleven-Plan der frühen 1950er Jahre.

Seither werden sie in schöner Regelmässigkeit aus der politischen Mottenkiste geholt, zuletzt Anfang März 2015 durch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dem schnell andere Politiker, besonders aus Deutschland, beisprangen.Dahinter steckt das Kalkül, nur im EU-Verbund liesse sich die militärische – und damit auch die machtpolitische – Schlagkraft der Europäischen Union auf das Niveau ihrer Wirtschaftskraft hieven. Schon vor Jahren fasste der ehemalige belgische Aussenminister Mark Eyskens diese Überlegungen in einem Spruch zusammengefasst, der inzwischen zum geflügelten Wort avanciert ist: „Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und, was noch schlimmer ist, ein militärischer Wurm, wenn es keine eigenständige Verteidigungsfähigkeit entwickelt.“

Tatsächlich wurde aus genau diesen Gründen mit dem – schrittweisen – Aufbau einer EU-Armee längst begonnen. Die wohl wichtigste Massnahme in diesem Bereich ist das sogenannte Pooling & Sharing (P&S), die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Militärgerät.

Damit droht jedoch der komplette aussen- und sicherheitspolitische Bereich jeglicher nennenswerten parlamentarischen Kontrolle entzogen zu werden. Dies dürfte allerdings sogar eher ein gewünschter Effekt sein – was dem Aufbau einer EU-Armee dagegen aktuell wirklich ernsthaft im Wege steht, sind die unterschiedlichen Interessen zwischen Deutschland und dem überwiegenden Rest der EU-Länder.

Machtpolitischer Mehrwert

Wie gesagt, die Forderung nach einer EU-Armee ist nicht eben originell, teils neu ist allerdings der Begründungszusammenhang (1), in den EU-Kommissionspräsident Juncker seine Initiative stellte: „Eine europäische Armee hat man nicht, um sie sofort einzusetzen. [] Aber eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union. [] Eine solche Armee würde uns helfen, eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und gemeinsam die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen. [] Im Übrigen würde eine europäische Armee zu einer intensiven Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät führen und erhebliche Einsparungen bringen.“

Der Verweis auf Russland soll hier augenscheinlich den nötigen Alarmismus erzeugen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Viel interessanter ist dagegen Junckers Äusserung, eine solche Armee sei generell von grossem Nutzen, und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt eingesetzt wird. Hier reproduziert der EU-Kommissionschef die innerhalb der Eliten omnipräsente Vorstellung, dass der weltpolitische Einfluss eines Landes eng mit dessen militärischen Schlagkraft zusammenhängt. Mit anderen Worten brachte diesen Gedanken der ehemalige EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering folgendermassen auf den Punkt: „Politische Gestaltungskraft ist in der internationalen Politik aber unveränderlich an militärische Stärke gebunden. [] Die EU sollte sich daher nicht nur in ihrem Wunschdenken und ihrer Rhetorik zu einem Akteur von globaler Relevanz erklären, sondern sie muss auch die Mittel besitzen und danach handeln.“

Folgt man dieser Auffassung, so ist ein Zuwachs an militärischer Macht allein deshalb schon wünschenswert, da er mit der Vergrösserung des eigenen Einflusses einhergeht. Hier setzt Junckers zweites Argument in seinem Plädoyer für eine EU-Armee an: beim Geld. Denn selbstredend sollen die von ihm prognostizierten Einsparungen nicht zu einer Absenkung der Rüstungshaushalte führen, sondern zu Effizienzsteigerungen, also knapp zusammengefasst: Zu mehr Krieg pro Euro!

Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen ist der kleinteilige europäische Rüstungssektor, der sich auf viele Länder und Rüstungsbetriebe verteilt und durch den das ganze Geschäft mit dem Krieg reichlich ineffizient wird. So argumentierte etwa Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in seiner rüstungspolitischen Grundsatzrede (2) vom 8. Oktober 2014: „Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den ‚Luxus‘ zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z. B. im U-Boot-Bereich. [] Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen.“

Eine Bündelung des Rüstungssektors in einer EU-Armee (im Fachjargon: Konsolidierung) soll hier Abhilfe schaffen, wie etwa eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments namens „Cost of Non-Europe Report“ (3) argumentiert: „73 Prozent der Beschaffungsvorhaben würden bis heute nicht europaweit ausgeschrieben. ‚Zusammenarbeit bleibt die Ausnahme‘, urteilen die Experten. Die daraus entstehenden Mehrkosten sind immens. Laut Bericht belaufen sie sich auf mindestens 26 Milliarden Euro pro Jahr. Maximal könnten sich die verschwendeten Steuergelder sogar auf 130 Milliarden Euro jährlich summieren. Im Jahr 2012 gaben die EU-Staaten rund 190 Milliarden für Rüstung aus.“ (Spiegel Online, 08.12.2013) Auch Junckers Pressesprecher Margaritis Schinas gab an, mit der vom EU-Kommissionschef geforderten Intensivierung der „Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät“, also mit Pooling & Sharing, könnten Kostensenkungen in dieser Grössenordnung erreicht werden: „Wir haben Studien, die zeigen, dass wir bis zu 100 oder 120 Milliarden Euro pro Jahr einsparen können“ (euraciv.de, 10.03.2015)

Nukleus einer EU-Armee

Auch wenn die Einschnitte in den Rüstungshaushalten bei weitem nicht so dramatisch ausfallen, wie das Gejammer von Politik, Militär und Rüstungsindustrie nahe legt, existiert trotzdem aus oben beschriebenen Gründen ein hohes Interesse an einer Vergrösserung der militärischen Schlagkraft – und P&S soll genau dies bewerkstelligen. So heisst es in einem Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Europa verliert die Fähigkeit, jenseits seiner Grenzen militärisch zu handeln. [] Die chronisch unterentwickelten militärischen Fähigkeiten drohen weiter zu verkümmern: als Folge der Finanzkrise schrumpfen die Verteidigungsapparate rasant. [] In den verteidigungspolitischen Kommuniqués von Nato und EU gilt Pooling und Sharing (P&S) derzeit als technokratische Wunderwaffe gegen drohende militärische Handlungsunfähigkeit.“

Die bislang aus 28 Einzelarmeen mit häufig vollkommen unterschiedlicher Ausrüstung modular oder ad-hoc zusammengesetzten EU-Einheiten sollen sukzessive in immer mehr Teilbereichen durch stehende gemeinsame Truppenteile mit gemeinsamen Stäben und einheitlicher Bewaffnung ersetzt werden. Die derart gebündelten Kräfte stellen den Nukleus einer künftigen EU-Armee dar und sollen dann die prognostizierten deutlichen Kostensenkungen in den Bereichen Anschaffung, Betrieb und Wartung militärischen Geräts nach sich ziehen. Das Ganze ergibt dann deutlich mehr Militärmacht als die Summe seiner Teile, so die Argumentation.

Der erste wesentliche Impuls zur Intensivierung von Pooling & Sharing ging von der deutsch-schwedischen Gent-Initiative aus, deren Vorschläge der Europäische Rat am 9. Dezember 2010 billigte. Im Dezember 2011 wurden elf Pilotprojekte vereinbart, die sich etwa auf Bereiche wie Luftbetankung, Satellitenkommunikation, „intelligente“ Munition usw. erstrecken. Um diese Bereiche auszuweiten, wurde am 19. November 2012 ein Verhaltenskodex (Code of Conduct) verabschiedet, dessen Zweck der damalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, folgendermassen zusammenfasste: „Dieser Verhaltenskodex enthält eine starke politische Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten, die multinationale Kooperation stärker und von Anfang an in ihre nationalen Planungen einzubeziehen und möglichst zur bevorzugten Methode im Bereich der Fähigkeitsentwicklung zu machen.“

Auf dem Rüstungsgipfel im Dezember 2013 wurde dann ein „Policy Framework for Systematic and Long-Term Defence Cooperation“ in Auftrag gegeben, das im November 2014 veröffentlicht wurde. Beim nächsten anstehenden Rüstungsgipfel der Staats- und Regierungschefs im Juni 2015 soll die Intensivierung von Pooling & Sharing erneut weit oben auf der Agenda stehen – u.a. dürfte dabei der wiederholt gemachte Vorschlag debattiert werden, europaweite Beschaffungsprojekt generell von der Mehrwertsteuer zu befreien, um so P&S voranzubringen.

Kriegspolitik im stillen Kämmerlein

Zwar darf bezweifelt werden, dass Pooling & Sharing auch nur ansatzweise zu Einsparungen in Dimensionen führen wird, wie sie die oben genannten Studien nahelegen. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, besteht, wie bereits erwähnt, die Absicht dann ohnehin nicht darin, dies für eine Senkung der Rüstungshaushalte zu nutzen, sondern für die Erhöhung der militärischen Schlagkraft. Allein schon deshalb ist das gesamte Konzept friedenspolitisch bedenklich.

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Doch der eigentliche Haken ist die Frage der demokratischen Kontrolle – in einigen EU-Ländern, unter anderem auch hierzulande, verfügen die nationalen Parlamente (noch) über erhebliche Mitspracherechte, insbesondere was die Zustimmung zu Auslandseinsätzen anbelangt. Obwohl ein Szenario, in dem der Bundestag einen von der Regierung beschlossenen Einsatz kippen würde, nur schwer vorstellbar ist, hat der Parlamentsvorbehalt dennoch eine wichtige Funktion: Er zwingt dazu, über den Sinn bzw. Unsinn von Militäreinsätzen öffentlich zu debattieren und ein Mindestmass an Rechenschaft darüber abzulegen.

Genau hier ergibt sich aus der Debatte um eine EU-Armee ein militaristischer Kollaterallnutzen, indem argumentiert wird, es könne nicht angehen, dass der Bundestag – und sei es nur theoretisch – den Einsatz von gemeinsam angeschafftem und/oder genutztem Militärgerät die Zustimmung versagen könnte. Dieser Mangel an „Verlässlichkeit“ sei der wesentliche Stolperstein, weshalb P&S nur langsam vorankomme. Er müsse aus diesem Grund aus dem Weg geräumt werden.

Am lautstärksten fassten diese Überlegungen der inzwischen verstorbene CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff und sein Kollege Roderich Kiesewetter schon 2012 folgendermassen zusammen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik-, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die ‚geteilt‘ werden, verlässlich zugreifen können. [] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Masse zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten. [] Dieser Souveränitätsverzicht betrifft gerade den Bundestag mit seiner im europäischen Vergleich eher starken Mitspracherolle und müsste sich in einer Reform des Parlamentsvorbehalts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr niederschlagen. Der Bundestag muss weiterhin das letzte Wort in Form eines Rückrufvorbehalts bei solchen Entscheidungen behalten.“

Mit der Frage, wie sich der Parlamentsvorbehalt am „besten“ aushebeln lässt, beschäftigt sich derzeit eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe, die in absehbarer Zeit ihre Vorschläge präsentieren will. Dabei ist zu sagen, dass ein Abbau nationaler Kontrollmöglichkeiten grundsätzlich abzulehnen ist. Dies gilt aber umso mehr dann, wenn gleichzeitig keine Stärkung des EU-Parlaments erfolgt – und genau hiervon ist nirgends in der gesamten Debatte ernsthaft die Rede. Bislang hat das EU-Parlament in der Aussen- und Sicherheitspolitik faktisch nichts zu sagen und es deutet auch nichts darauf hin, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Die als Exekutive agierenden EU-Staats- und Regierungschefs – und zwar v.a. die der grossen EU-Länder, allen voran Deutschland – könnten also in absehbarer Zukunft die EU-Militärpolitik im Alleingang weitgehend unbehelligt von nationaler oder europäischer Kontrolle betreiben.

Pleven Redux

Trotz der machtpolitischen Attraktivität von P&S sind viele BefürworterInnen des Konzeptes unzufrieden, mit den eher mauen bisherigen Fortschritten in diesem Bereich. An Deutschland liegt es hier bestimmt nicht: Auch die Juncker-Initiative erfreute sich grosser Unterstützung quer durchs nahezu komplette politische Farbenspektrum. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und auch Kanzlerin Angela Merkel begrüssten den Vorstoss ebenso wie der SPD-Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels und Aussenminister Frank-Walter Steinmeier. Als eine „hervorragende Idee“ bezeichnete auch der Grünen-Aussenpolitiker Omid Nouripour die jüngste EU-Armee-Initiative, verwies allerdings darauf, dass dem einige „Elefanten“ im Weg stünden, etwa, dass eine EU-Armee unrealistisch sei, „solange es nicht eine europäische Aussenpolitik gibt“.

Ungewollt verweist der heutige Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Hans-Gert Pöttering auf den eigentlichen Elefanten im Raum: „Die EU kann nur gemeinsam das Gewicht, das sie mit Blick auf ihre Bevölkerung und Wirtschaftskraft besitzt, in die Waagschale werfen. Die Schuldenkrise in einigen EU-Ländern macht noch einmal offenkundig, was längst hätte klar sein müssen: Von einer gemeinsamen Währung profitieren alle, und daher müssen sich auch alle an die Spielregeln, an die vertraglichen Grundlagen der Währungsunion halten. [] In der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Eurostaaten entscheidende nationale Kompetenzen schon an die supranationale Ebene übertragen. Es ist an der Zeit, dies auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu wagen.“

Angesichts solcher Sätze dürften in nahezu allen EU-Hauptstädten die Alarmglocken angehen. Schliesslich hat die Bundesregierung gerade im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise unter Beweis gestellt, dass sie bereit und in der Lage ist, ihren Willen in diesem Bereich auch rabiat gegen andere EU-Länder durchzusetzen. Gepaart mit den teils offen artikulierten Forderungen nach einem „deutschen Europa“ dürfte hier die Ursache liegen, dass sich der Enthusiasmus dafür, auch im Militärbereich „nationale Kompetenzen an die supranationale Ebene zu übertragen“, derzeit in Grenzen hält. So äusserte sich etwa der britische Premier David Cameron zu Junckers Vorschlägen: „Unsere Position ist absolut klar. Für die Verteidigung sind konkrete Staaten und nicht die Europäische Union zuständig.“ Auch Polens Aussenminister Grzegorz Schetyna nannte die Initiative eine „sehr riskante Idee“.

Und selbst aus Frankreich kommen eher zurückhaltende Töne und zwar aus nicht gänzlich anderen Gründen, weshalb die französische Nationalversammlung bereits den Pleven-Plan zum Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 versenkte. Louis Terrenoire, der damalige Generalsekretär der Gaullisten, kritisierte den Plan ein Jahr vor seinem Scheitern folgendermassen: „Acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus sind die diplomatischen Bestandteile der germanischen Macht wiederhergestellt. Wenn die europäischen Integrationspläne, vor allem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, verwirklicht werden sollten, wird künftig über die deutsche Vorherrschaft kein Zweifel mehr möglich sein.“

Jürgen Wagner
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 398, April 2015, www.graswurzel.net

Anmerkungen:

Jürgen Wagner ist Politikwissenschaftler und geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI, www.imi-online.de) in Tübingen.

(1) www.focus.de/politik/ausland/verteidigung-der-werte-um-russland-in-schach-zu-halten-juncker-fordert-europa-armee_id_4528731.html

(2) www.bmwi.de/DE/Presse/reden,did=661856.html

(3) www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/etudes/join/2013/494466/IPOL-JOIN_ET(2013)494466_EN.pdf

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Grafikquellen          :

Oben        —   Secretary of Defense Lloyd J. Austin III is greeted upon arrival to the Ministry of Defense in Berlin by German Defense Minister Boris Pistorius and Ambassador Amy Gutmann Jan 19, 2023. (DoD photo by U.S. Air Force Tech. Sgt. Jack Sanders)

Unten        —      Leopard 2 Panzer der neuesten Generation auf dem Gelände der Rheinmetall.

Datum
Quelle Eurosatory_1506–0785
Urheber AMB Brescia

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Der Glaube an die Medien

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

So verlor ich den Glauben an die etablierten Medien

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Helmut Scheben /   Wenn Nachrichten sich später als falsch erweisen, sind sie in der Erinnerung oft schon als «historische Wahrheit» eingebrannt.

Während und nach dem Golfkrieg von 1991 war es den Medien in den USA verboten, Bilder von Särgen toter US-Soldaten zu zeigen. Die Massnahme wurde erst im Februar 2009 aufgehoben. Auch das Filmen toter oder verwundeter US-Soldaten war verboten, und das Verbot wurde vor allem im Irak-Krieg mit extremer Härte durchgesetzt, wie Kameraleute berichteten. Als ich einmal im riesigen Archiv des Schweizer Fernsehens solche Aufnahmen suchte, fand ich eine einzige Sequenz, die etwa drei Sekunden dauerte. Ein amerikanischer Soldat versuchte da, aus einem brennenden Panzer zu klettern.

Drei Sekunden von tausenden Videos, die in diesem Krieg gedreht worden waren. Drei Sekunden, die – wie deutlich erkennbar – auf einen Fehler eines Cutters zurückzuführen waren, der ein IN oder OUT falsch gesetzt hatte, sodass Material sichtbar wurde, welches eigentlich der Zensur hätte anheimfallen sollen.

Szenen einer Niederlage werden seit Vietnam nicht mehr gezeigt. Also gibt es keine Niederlagen mehr, denn die auf zweieinhalb Minuten komprimierten TV-News sind es, die in unseren Köpfen Geschichte schreiben

In seinem Buch «Liberty and the News» konstatierte 1920 der US-amerikanische Journalist und Medientheoretiker Walter Lippmann:

«Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen.»

(Lippmann S.24) 

Ich hätte mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass mein morgendlicher Gang zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen, begleitet sei von einem leisen Kontrapunkt aus Widerwillen und Langeweile. Ich habe gern zum Morgenkaffee Papier in der Hand, statt auf einen Bildschirm zu schauen. Die Lektüre nimmt indessen von Jahr zu Jahr weniger Zeit in Anspruch. Das liegt zum einen daran, dass viele Themen mich nicht mehr interessieren, zum Beispiel die ewige Seifenoper britischer Royals, die täglich obligatorischen LGBTQ-Probleme, die Me-Too-Befindlichkeit von Groupies bei Rockkonzerten oder parlamentarische Untersuchungen, die herausfinden sollen, warum im Finanzkasino Banken an die Wand fahren.

Die wirklichen Probleme der meisten Menschen, der Krieg in der Ukraine, der eskalierende Konflikt zwischen USA und China, also Vorgänge, die das Leben von Millionen Steuerzahlenden derzeit verändern und künftige Generationen belasten (Aufrüstung, Inflation, Energiepolitik, Sanktionspolitik, Asylwesen etc.) werden aber in unseren führenden Medien mit einem derart reduzierten Blickwinkel dargestellt, dass es mich fassungslos macht. Die Realitätsverweigerung erfolgt mit einer an Tollwut grenzenden Selbstverständlichkeit.

Von 100 Artikeln gibt es keine 5 aus der Sicht der anderen Kriegspartei

Ich habe mir die Mühe gemacht, als Beispiel den Zürcher Tages-Anzeiger, den ich abonniert habe, auf Einseitigkeit zu prüfen. Vom Angriff Russlands im Februar 2022 bis zum Jahresende 2022 habe ich rund einhundert Artikel angeschaut, die direkt vom Ukraine-Krieg handeln.  Beim hundertsten Bericht war ich erschöpft von immer dem Gleichen. Fast alle schildern das Leid und das Heldentum der Westukraine in dem russischen Angriffskrieg und – in schrillen Farben – die Verbrechen Russlands.

Kenner von Waffensystemen und Geostrategie repetieren unaufhörlich, warum Russland besiegt werden muss, und die Investigativen kennen kaum mehr anderes als die Jagd nach irgendeinem Russen oder einer Russin, denen man noch das Vermögen enteignen könnte.

Auf hundert Artikel habe ich keine fünf gefunden, die informierten, was auf der anderen Seite der Front passiert. Das Leid der pro-russischen Ukrainer unter den Raketenangriffen und dem Artilleriefeuer der pro-westlichen Ukrainer ist keiner Erwähnung wert. Die Menschen hinter der Frontlinie scheinen für unsere grossen Medien nicht zu existieren. Berichtet wird ausschliesslich mit der Optik der NATO, also mit der Optik einer Rüstungs-Lobby, die weltweit als Brecheisen der Ordnungsmacht USA funktioniert.

Die Einseitigkeit der Berichte entspringt der Einseitigkeit der Quellen. Neben dem unausweichlichen britischen Geheimdienst (ob 007 mitarbeitet, bleibt bisher im Dunkel) sind die täglichen Quellen unserer «Benachrichtigung»:  Präsident Selensky und seine Entourage in Kiew sowie seine Freunde in Brüssel, London, Washington und die zugehörigen Experten und NATO-Denkfabriken. Die Russen erscheinen hauptsächlich als Verbrecher, die ihre Verbrechen leugnen.

Und wenn ein Damm bricht, der russische Verteidigungsstellungen und ein von Russland besetztes Gebiet weitgehend überschwemmt, dann finden alle deutschen Talkshows, aber auch das Schweizer Radiomagazin «Echo der Zeit», unverzüglich Experten, die wissen, dass es die Russen waren, die den Damm zerstörten. Wie es auch die Russen sind, die sich selbst in dem Atomkraftwerk beschiessen, welches sie besetzt halten. «Tis the times‘ plague, when madmen lead the blind«, heisst es bei Shakespeare im King Lear.

In den Jahren vor dem russischen Angriff registrierten die OECD-Beobachter täglich Detonationen der Artillerie, im Februar 2022 schliesslich hunderte Explosionen pro Tag. Weit mehr als zehntausend Tote haben die Kämpfe in der Ostukraine zwischen 2014 und 2022 gefordert. Dieser Krieg hat also nicht im Februar 2022 begonnen.

Haben unsere Zeitungen darüber berichtet? Sie haben es weitgehend unter den Teppich gekehrt. Sie sehen nur, was sie schon wissen. Das heisst: Sie wissen immer schon, was sie sehen werden. Also das, was ich jeden Morgen in den Zeitungen lesen kann. Und somit das, was ich nicht mehr lesen muss, weil ich schon weiss, was es ist, bevor ich die Zeitung aufschlage.

«Lasst euch nicht von den eigenen täuschen»

Im Herbst 1983 demonstrierten mehr als eine Million Menschen überall in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Stationierung von Atombomben. Auch in mehreren Ländern, die Mitglieder der NATO waren, widersetzte sich eine Mehrheit der Menschen der weiteren atomaren Aufrüstung, denn es war klar, dass das vielbeschworene «Gleichgewicht des Schreckens» durch die britischen und französischen A-Bomben längst garantiert war. Bei der Debatte im Bundestag sagte Oppositionsführer Willy Brandt, seine Partei, die SPD, werde mit Protestbriefen zugeschüttet:

«Das sind Deutsche West und Deutsche Ost, das sind Europäer und Amerikaner, das sind Mütter und Väter, Grossmütter und Grossväter, Arbeiter und Unternehmer, Künstler und Soldaten, Hausfrauen, Rentner, und es sind Naturwissenschafter und Ingenieure aller akademischen Grade. Ich frage mich, wem es guttut, wenn das Engagement und der versammelte Sachverstand dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger mit der ganzen Arroganz der Macht in den Abfall geräumt wird.»

Die FDP-CDU-Mehrheit des deutschen Parlamentes wählte für Volkes Stimme den Abfallkübel und beschloss die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen. Diese wurden zwar im Rahmen eines Abrüstungsabkommens abgeschafft, gleichwohl lagern im Fliegerhorst Büchel in der Eifel heute US-amerikanische Atomsprengköpfe. Deutsche Luftwaffenpiloten trainieren deren Einsatz im Rahmen der sogenannten «nuklearen Teilhabe». Es ist kein militärisches Geheimnis, dass Russland stets das Hauptangriffsziel war und nach wie vor ist.

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Im selben Jahr 1983 erscheint Christa Wolfs Buch «Kassandra», ein Text über eine Seherin, die vor ihrem Tod über den Untergang ihrer Heimat Troja nachdenkt:

«Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den eigenen täuschen.»

Ich habe mich von den eigenen täuschen lassen, aber es hat lange gedauert, bis ich dessen gewahr wurde. Die «Süddeutsche», die «Frankfurter Rundschau», die «Neue Zürcher», der «Spiegel» und andere Blätter, das waren meine Leitmedien, als ich Journalismus lernte.

Die grossen Medien, sowohl die gebührenfinanzierten wie die der privaten Konzerne, haben in allen Kriegen, die ich beobachten konnte, krachend versagt. Ihre Aufgabe wäre gewesen, das Handeln der Regierungen in Frage zu stellen, aber sie haben sich in vielen Fällen als Lautsprecher der Regierungs-Propaganda und als Kriegstreiber in ungerechtfertigten und sinnlosen Kriegen erwiesen.

Die Balkankriege öffneten die Büchse der Pandora

Meine erste grosse Berufskrise kam, wenn ich mich recht erinnere, während der Balkankriege. Ich fand nachts keinen Schlaf mehr, als ich merkte, dass da das Blaue vom Himmel herunter gelogen wurde. Tuzla war damals mein Schlüsselerlebnis. Die Stadt in Bosnien war 1993 als Schutzzone definiert worden. Blauhelme waren dort stationiert. Die bosnisch-moslemische Bevölkerung sollte vor serbischen Angriffen geschützt werden. Die serbische Artillerie schoss aber gleichwohl auf die Stadt. Diese Angriffe waren Monate lang tägliche Meldung in den Radionachrichten. Die westlichen Medien flossen über vor Empörung über den Beschuss der «Safe Area».

Ich fiel aus den Wolken, als mir 1995 Blauhelm-Soldaten sagten: «Die Serben schiessen zwar manchmal da rein, aber die Artillerie in Tuzla schiesst auch jede Nacht raus auf die umliegenden serbischen Dörfer.»

Tuzla wurde bei Nacht und Nebel von den USA mit Waffen versorgt. Es gab dort militärische Sperrgebiete, wo UN-Einheiten der Zutritt verwehrt wurde. Dieselbe Regierung in Washington, die nach aussen hin die Rolle des «honest broker» spielte, um ein Ende des Krieges zu erreichen, organisierte im Geheimen sogenannte «black flights», um das bosniakische Militär aufzurüsten.

Als ein norwegischer Blauhelm-Offizier dies 1995 bemerkte und publik machte, bekam er den Befehl zu schweigen und wurde strafversetzt. Der britische Sender ITN/Channel 4 hatte einen Beitrag über die Sache gedreht, den ich für ein Magazin des SRG-Programms Schweiz 4 übernahm.

Meine Versuche, Schweizer Medien auf die Enthüllungen aufmerksam zu machen, stiessen auf Indifferenz. In Bosnien wie auch im Kosovo bestimmte die NATO, was man wissen durfte und was nicht. Carla Del Ponte, Chefanklägerin in Den Haag, beklagte sich später, dass sie mit ihrer Bitte um Einsicht in die Geheim-Operationen der NATO gegen eine Wand lief.

Erst viel später erfuhr ich, dass führende PR-Agenturen der USA damals die Presse mit Schauergeschichten über serbische Konzentrationslager und Holocaust-Pläne fütterten, welche ein gigantischer Medienapparat in Sekundenschnelle um die Welt jagte. Die Politikwissenschafter Jörg Becker und Mira Beham haben in ihrer Studie «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» in US-Archiven weit über hundert solcher PR-Verträge nachgewiesen. Der Auftrag hiess, die Serben als Täter und die andern als Opfer darzustellen. James Harff, Chef der PR-Agentur Ruder Finn, beschrieb seinen Job folgendermassen:

«Unser Handwerk besteht darin, Nachrichten auszustreuen, sie so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen (…) Die Schnelligkeit ist entscheidend. Denn wir wissen genau, dass die erste Nachricht von Bedeutung ist. Ein Dementi hat keine Wirkung mehr.»

Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. 1996. S.172 ff.

PR-Agenturen liefern die Argumente für Krieg und Tod

Harff zeigte gegenüber Jacques Merlino, einem stellvertretenden Chefredaktor von France 2, einen gewissen Berufsstolz, wenn er in aller Offenheit beschrieb, wie seine Agentur «mit einem grossartigen Bluff» ihren Auftrag erledigte, indem sie drei mächtige jüdische Lobby-Organisationen der USA dazu brachte, in Inseraten in der «New York Times» vor einem drohenden Holocaust auf dem Balkan zu warnen.

«Mit einem Schachzug konnten wir die Sache vereinfachen und sie darstellen als Geschichte von den guten und den bösen Jungs (…) Und wir haben gewonnen, denn wir haben das richtige Ziel ausgewählt, das jüdische Publikum (targeting Jewish audience). Sofort stellte sich eine bemerkbare Veränderung des Sprachgebrauchs in den Medien ein, begleitet von der Verwendung solcher Begriffe, die eine starke emotionale Aufladung hatten, wie etwa ethnische Säuberung, Konzentrationslager und so weiter, und all das evoziert einen Vergleich mit Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz. Die emotionale Aufladung war so mächtig, dass niemand wagte, dem zu widersprechen.»

Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer tourte folgerichtig mit der Parole «Nie wieder Auschwitz» durch Europa und sein Verteidigungsminister Scharping brachte unters Volk, man wisse, dass die Serben «mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Feinde Fussball spielen.» Ein Foto, das als Beweis der serbischen Gräuel und als Argument für den NATO-Angriffskrieg um die Welt ging, zeigte einen entsetzlich abgemagerten Mann mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldraht. Es erinnerte an die Fotos von deutschen Vernichtungslagern 1945. Die Aufnahme war – wie später nachgewiesen wurde – eine Fälschung. Das fragliche Flüchtlingszentrum Trnopolje war damals weder durch einen Stacheldrahtzaun abgesperrt noch gab es dort halb verhungerte Menschen.

Nichts hat sich geändert. Der Krieg generiert die ewig gleichen Propagandamittel. Ein in der Ukraine lebender «Schriftsteller aus Ostdeutschland» namens Christoph Brumme schrieb 2022 in der «NZZ am Sonntag» ein regelmässiges «Tagebuch», in dem er unter anderem vorhersagte, die Russen würden in der Ukraine Konzentrationslager einrichten und Putin sei ein zweiter Hitler. Er sei vermutlich schwer krank und werde mit einer Atombombe seinen Suizid inszenieren. Und dergleichen mehr.

Schon im Golfkrieg von 1991 war die Kategorie der «eingebetteten Journalisten» entstanden, und es gibt wohl kaum einen Begriff, der besser umschreibt, wie dieser Beruf zu einer Art Prostitution verkommen kann. Der US-Journalist John R. MacArthur hat in seiner Studie «Second Front: Censorship and propaganda in the 1991 Gulf War» (auf Deutsch bei dtv «Die Schlacht der Lügen») gezeigt, wie die Medien an der Leine geführt und wie die Öffentlichkeit getäuscht wurde.

Die Symbiose der grossen Medien und ihrer Regierungen wurde nach dem Anschlag von 9/11 vollends zur Selbstverständlichkeit. Dieser wurde als Angriff einer feindlichen Macht definiert und in dieser Logik erst Afghanistan, dann der Irak angegriffen. Weltweit wurde ein «Krieg gegen den Terror» begonnen, und da man einmal am Aufräumen war, wurden «by the way» auch in Libyen und Syrien «unterdrückte Völker befreit». Die Resultate sind in all diesen Ländern zu besichtigen.

Der renommierte Wissenschaftsjournalist und Friedensaktivist Norman Cousins hatte der ideologischen Mission der Supermacht USA schon 1987 einen Namen gegeben: «The Pathology of Power».

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Autor Helmut Scheben

Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

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Eine erfundene Vergewaltigungs-Story in Libyen 

Mir ist unverständlich, wie Journalisten, die so oft von Regierungen belogen wurden, weiterhin die politischen Vorgaben von oben weiterverbreiten, als wären es die Tafeln der Zehn Gebote. Im Juni 2011 sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton vor laufenden Kameras, sie habe jetzt den Beweis, dass der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi «systematische Vergewaltigung» als Strategie einsetze. Zu diesem Zeitpunkt herrschte Bürgerkrieg in Libyen. Die libysche Armee versuchte, einen Aufstand niederzuschlagen, der im Sog des sogenannten «arabischen Frühlings» seit Februar 2011 eskalierte. Die USA und ihre NATO-Verbündeten bombardierten seit März 2011 das Land, um – so die offizielle Argumentation – dem von Gaddafi unterdrückten libyschen Volk zu helfen und «eine Flugverbotszone durchzusetzen».

Als lebender Beweis für den Vorwurf der Vergewaltigungen galt eine Libyerin namens Eman-al Obeidi. Die Frau hatte sich am 26. März 2011 Zugang zum Luxus-Hotel Rixos Al Nasr in Tripolis verschafft. Hotelpersonal und Security-Leute versuchten zu verhindern, dass sie Kontakt mit den Journalisten aufnahm, die dort beim Frühstück sassen. Die Frau schrie, sie sei drei Tage zuvor von Milizionären Gaddafis an einem Checkpoint entführt und vergewaltigt worden.

Der libysche Regierungssprecher Musa Ibrahim erklärte später, man habe Frau Obeidi zunächst für alkoholisiert und psychisch gestört gehalten. Dann habe man festgestellt, dass ihre Angaben glaubwürdig seien. Der Fall sei in den Händen der Justiz. Es handele sich um gewöhnliche Kriminalität und nicht um ein politisches Verbrechen.

Frau Obeidi wurde von CNN und zahlreichen anderen Medien interviewt. Sie figurierte als Beweis für die Verruchtheit des libyschen Staatsoberhauptes Gaddafi. Dabei schien den grossen Medien kaum erwähnenswert, dass libysche Ärzte die Frau betreut hatten, die Vergewaltigung bestätigt hatten und die libysche Polizei kurz darauf Tatverdächtige festgenommen hatte.

In einem Büro von Amnesty International in Zürich fragte ich 2011, was an den Vorwürfen dran sei. Ich erhielt die Auskunft, Amnesty habe mehrere Monate lang in Libyen ermittelt und keine Bestätigung für den Vorwurf der Massenvergewaltigung gefunden. Auch der Sprecher der libyschen Organisation «Human Rights Solidarity Libya», die den Aufständischen nahestand, sagte mir am Telefon: «Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Obeidi.»

Der Mist war indessen gefahren und die Story erfuhr eine geradezu rasende Proliferation in praktisch sämtlichen westlichen Medien. Meine Google-Suche am Sonntag, 20. Juli 2011, zeigte 21 Millionen Ergebnisse. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, lieferte ein vorzügliches Schmiermittel für den Medien-Apparat mit der Bemerkung, er habe tatsächlich «Informationen» über Massenvergewaltigungen. Auf die Frage eines Journalisten, was er von Berichten halte, Gaddafi lasse Viagra importieren, damit seine Soldaten vergewaltigen könnten, entgegnete der Chefankläger nicht etwa: «Lassen Sie mich mit solchem Blödsinn in Ruhe». Er sagte stattdessen den perfiden Satz, man sammle noch Beweise: «Yes, we are still collecting evidence.»

Das Phantasie-Gebilde wucherte wochenlang weiter. Die Schweizer Zeitung «Le Matin» trieb das kreative Story-Telling bis zu der Foto-Abbildung eines King Size Bettes samt Lampe und Nachttisch: angeblich ein Raum in einem unterirdischen Bunker, wo dem Blatt zufolge Gaddafi seine weiblichen Opfer missbrauchte. Ich habe in dieser Zeit keinen Journalisten getroffen, der sagte, er schäme sich dafür, dass er durch seine Berufswahl zu dieser Branche gehöre.

«Atrocity Management» ist so alt wie der Krieg selbst.

Die Verteufelung des Feindes ist ein bewährtes Instrument, welches so alt ist wie der Krieg selbst.

Der Historiker Gerhard Paul hat in seinem Standardwerk «Bilder des Krieges, Krieg der Bilder» anhand von über 200 Abbildungen dargestellt, wie die modernen Bildmedien den Krieg als Ikonographie in der kollektiven Erinnerung einbrannten. Dabei geht laut Gerhard Paul die Wirklichkeit in gleichem Mass verloren wie die Bilder perfektioniert und standardisiert werden.

Medienwirksam sind stets Verbrechen an Kindern. Das geht von der kuwaitischen «Pflegerin Najirah», die vor einem Menschenrechtskomitee des US-Kongresses sagte, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten Brutkasten-Babies die Schläuche herausrissen, was sich später als eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton erwies, bis zur Menschenrechtsbeauftragen Denissowa in Kiew, die im Juni 2022 ihren Job verlor, weil klar geworden war, dass sie Lügen verbreitet hatte. Darunter die Behauptung, sie habe Beweise, dass russische Soldaten Kleinkinder vergewaltigten.

Die Darstellung des Feindes als bestialisches Ungeheuer scheint unvermeidbares Stereotyp der Kriegspropaganda. Im Ersten Weltkrieg war die Story, deutsche Soldaten hätten einer belgischen Frau ihr Baby entrissen, diesem die Hände abgehackt und selbige dann verspeist, ein Dauerbrenner in der französischen und britischen Presse.

Wenn der Feind ein Ungeheuer ist, welches das Böse an sich verkörpert, sind Kriege leichter zu rechtfertigen. Ich habe in mehr als vierzig Jahren journalistischer Arbeit feststellen müssen, dass die grossen Medien solche Propaganda-Erzählungen meist unkritisch verbreiten und erst sehr spät oder nie bereit sind, ihre Fehler einzugestehen. Die «New York Times», die bei ihren Leserinnen und Lesern für die Falschinformation rund um den Irak-Krieg um Vergebung bat, ist der einzige mir bekannte Fall.

In 19 Arbeitsjahren beim Schweizer Fernsehen SRF ist mir kein Fall bekannt geworden, in dem eine Sendung sich für falsche Nachrichten entschuldigt hätte. Mit Ausnahme der Sendung Meteo, wenn die Wetterprognose falsch war.

2011 machte ich Amnesty International Schweiz darauf aufmerksam, dass es keine Fernsehbilder von den Zerstörungen der NATO-Luftangriffe in Libyen gab. Die Fernsehstudios der libyschen Regierung waren in der ersten Angriffswelle in Schutt und Asche gelegt worden. Die NATO-Kommandozentrale in Neapel konnte dadurch verhindern, dass emotionale Bilder von Opfern, die aus den Trümmern gezogen wurden, auf westlichen TV-Kanälen zu sehen waren. Das Problem war den grossen Medien nicht aufgefallen, oder sie haben es ignoriert.

Der Amnesty-Sprecher erwiderte mir damals, diese Einseitigkeit der Darstellung mache ihnen ebenfalls grosse Sorgen. Als ich abends mit dem Cutter am Schnittplatz den Beitrag für die Tagesschau fertiggestellt hatte, sagte der Tages-Chef bei der Abnahme, dieser Satz des Amnesty-Sprechers müsse raus aus dem Beitrag. Auf meine Frage nach der Begründung hiess es:  «Sonst könnten die Zuschauer ja denken, Gaddafi sei gar nicht so bös und am Ende noch im Recht.»

Eine neue Epoche der Zensur ist angebrochen

Die Konzernmedien und die gebührenfinanzierten Anstalten dominieren den Nachrichtenmarkt. Sie behaupten alle von sich, sie seien die Vierte Gewalt, die den Mächtigen auf die Finger schaue, und dadurch werde Demokratie erst ermöglicht. Meine Erfahrung ist: Sie sind viel mehr Gläubige in einer Art von Religionsgemeinschaft, die sich als Achse des Guten sieht. Wer ihre Weltsicht nicht teilen will, der wird totgeschwiegen, diffamiert oder schlicht verboten.

In diesem Sinne arbeiten die Regierungen und ihre zugewandten Medien effizient. Die 27 Länder der Europäischen Union haben die russischen Nachrichtensender RT und Sputnik verboten. Wer sie verbreitet oder empfängt, zahlt in Österreich sogar bis zu 50’000 Euro Strafe. So einfach glaubt man, die Meinungs-Einfalt durchsetzen zu können. Protest oder Kritik aus den grossen Redaktionen der Vierten Gewalt? Null.

Während in russischen Talkshows und in den russischen Social Media mit erstaunlicher Härte immer wieder kontrovers über diesen Krieg diskutiert wird, versuchen westliche Medien uns mit obsessiver Emsigkeit einzutrichtern, dass in Russland jeder eingesperrt wird, der etwas gegen diesen Krieg sagt. «Zehn Jahre Gefängnis fürs Denken» titelt die Neue Zürcher Zeitung (6. Juni 2023).

In Kiew sind oppositionelle Medien schlicht verboten. Muss man darüber berichten? Offensichtlich nicht. Das wird dann beiläufig, quasi als abschweifender Schlenker, in acht Wörtern abgehandelt: «Seit Kriegsbeginn zeigen die ukrainischen Sender ein Gemeinschaftsprogramm» (Zürcher Tagesanzeiger, 28. Juli 2022). Gemeinschaftsprogramm? Das tönt schon fast wie gemeinnützige Arbeit.

Das Verschweigen hat System. Nirgends wird das so sichtbar wie in dem Stillschweigen, welches unsere führenden Medien über die um sich greifende Zensur der Social Media bewahren. Wenige Wochen nachdem die EU die russischen Sender verboten hatte, kündigte Google an, weltweit alle mit Russland verbundenen Medien zu blockieren. Wie so oft bei Big Tech kam der Druck angeblich von der eigenen Belegschaft: «Mitarbeiter von Google hatten YouTube gedrängt, zusätzliche Strafmassnahmen gegen russische Kanäle zu ergreifen.»

Millionen von Beiträgen verschwinden von der Plattform. Der Investigativ-Journalist Glenn Greenwald, der an den Enthüllungen von Edward Snowden beteiligt war, hat auf diese extreme Zensurkampagne und die Dollarmilliarden hingewiesen, die dabei eine Rolle spielen:

«Es ist wenig überraschend, dass die Monopole des Silikon Valley ihre Zensurmacht in voller Übereinstimmung mit den aussenpolitischen Interessen der US-Regierung ausüben. Viele der wichtigsten Tech-Monopole – wie Google und Amazon – bemühen sich routinemässig um äusserst lukrative Verträge mit dem US-Sicherheitsapparat, einschliesslich der CIA und der NSA, und erhalten diese auch. Ihre Top-Manager unterhalten enge Beziehungen zu Spitzenvertretern der Demokratischen Partei. Und die Demokraten im Kongress haben wiederholt Führungskräfte aus der Tech-Branche vor ihre verschiedenen Ausschüsse zitiert , um ihnen mit rechtlichen und regulatorischen Repressalien zu drohen, falls sie die Zensur nicht stärker an die politischen Ziele und Interessen der Partei anpassen.»

Wer die Twitter Files liest, der weiss, wie das System funktioniert. Eine diskrete Intervention des FBI kann bewirken, dass führende Medien politisch heikle Themen solange auf Eis legen, bis die «Gefahr», in dem Fall eine Wahlniederlage des Kandidaten Joe Biden, gebannt ist.

Was mich damals schockierte und auch heute fassungslos macht, ist das Kesseltreiben, das von einer Medienmeute reflexartig in Gang gesetzt wird, wenn einige wenige es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die veröffentlichte Meinung in Frage zu stellen. Die Politologin Mira Beham hatte mir gesagt, sie habe in der «Süddeutschen Zeitung» Schreibverbot bekommen, weil sie zu argumentieren wagte, in den Balkankonflikten komme man nicht weiter mit dem Täter-Opfer-Schema, die Sache sei komplexer. Heutzutage verliert ein renommierter Journalist wie Patrick Baab seinen Lehrauftrag an der Universität Kiel, wenn er es wagt, aus dem Donbass «von der falschen Seite der Front» zu berichten.

Orwells dystopische Vision des «Newspeak» und der «Wahrheitsministerien» ist auf dem besten Weg, Realität zu werden. Wir erleben in dieser Hinsicht tatsächlich eine Zeitenwende, wenn auch der deutsche Kanzler etwas anderes meinte, als er den Begriff gebrauchte.

Das Wort Lügenpresse trifft die Sache nicht

Der Medien-Wissenschafter Uwe Krüger hat dokumentiert, dass die meisten Alphatiere der etablierten Medien Mitglieder in NATO- und US-affinen Institutionen sind. Natürlich gibt es den Faktor Zwang und Anpassung, etwa die bekannte Tatsache, dass im Axel Springer Verlag («Bild», «Die Welt») jeder Mitarbeiter den Statuten zustimmen muss, die die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität mit den USA einfordern.

Gleichwohl sollte man vorsichtig sein mit dem Schmähwort «Lügenpresse». Die Sache ist unendlich komplizierter. Da ist zum einen, was die News-Gefässe angeht, ein System, das auf Verkürzung und überhöhten Drehzahlen beruht. Der Philosoph Paul Virilio sprach von einer «Industrie des Vergessens», die mit neuen Nachrichten unaufhörlich zuschüttet, was eben noch gemeldet wurde. Ein Nachrichten-Apparat, der stark zerkleinerte Bruchstücke von Ereignissen produziert, kann keine Zusammenhänge und Hintergründe liefern, selbst wenn wohlgesinnte Journalistinnen und Journalisten dies wollten.

Und sie wollen es. Ich habe in meinem ganzen Leben kaum Medienleute getroffen, die fälschen oder unredlich berichten wollten. Die Leute lügen nicht, sondern sie sind meist überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben. Sie sind in ihrer ganzen Lebensgeschichte, in ihrer Ausbildung und in ihren sozialen Kontakten geprägt und eingebunden in der Weltsicht ihrer Umgebung.

Da ist dieser «riesige Brocken Wahrheit», den der israelische Historiker Shlomo Sand «implantiertes Gedächtnis» nannte: 

«Wir alle werden in ein Universum von Diskursfeldern hineingeboren, das die ideologischen Machtkämpfe früherer Generationen geformt haben. Noch ehe sich der Geschichtswissenschaftler das Rüstzeug zu einer kritischen Hinterfragung aneignen kann, formen all die Geschichts-, Politik- und Bibelstunden in der Schule, die Nationalfeiertage, Gedenktage, öffentlichen Zeremonien, Strassennamen, Mahnmale, Fernsehserien und sonstige Erinnerungssphären seine Vorstellungswelt. In seinem Kopf liegt ein riesiger Brocken ‹Wahrheit›, den er nicht einfach umgehen kann.» 

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. S. 40

Das Problem einer Branche, die unter dem Namen Journalismus der täglichen Wahrheitsfindung dienen soll, ist jedem Zauberkünstler und Taschenspieler geläufig: Wahrnehmung wird nicht von tatsächlichen Ereignissen bestimmt, sondern von Erwartungshaltungen. Von einem riesigen Brocken «Wahrheit».

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Dieser Beitrag erschien am 13. Juni auf GlobalBridge.

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Frankreich tut weh

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Polizist tötet Jugendlichen in Nanterre

Aus Paris von Rudolf Balmer

Im Pariser Vorort Nanterre hat ein Polizist einen Jugendlichen erschossen – schon wieder. Dieses Mal meldet sich auch Fußballstar Kylian Mbappé zu Wort.

Im Pariser Vorort Nanterre hat am Dienstagvormittag ein Verkehrs­polizist einen Jugendlichen im Verlauf einer Kontrolle mit seiner Dienstwaffe tödlich verletzt. Der 17-Jährige am Lenkrad eines Pkw habe versucht, sich einer polizeilichen Überprüfung seiner Papiere zu entziehen, und damit die beiden Beamten in Gefahr gebracht. Darum habe der Polizist zu seiner Verteidigung „in angemessener Weise“ reagiert, lautete dazu die erste offizielle Version. Suggeriert wurde damit, dass der Polizist zu seiner eigenen Verteidigung geschossen habe oder schießen musste.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen

Doch die Zweifel an dieser Notwehrthese sind erheblich: Im Internet war wenig später ein Video der Kontrolle zu sehen. Darauf ist deutlich zu erkennen, wie einer der Polizisten neben dem gestoppten gelben Mercedes den Fahrer mit seiner Pistole bedroht. Trotz des Verkehrslärms ist zu hören, wie einer der beiden Beamten unter anderem schreit: „Du bekommst eine Kugel in den Kopf!“ Daraufhin setzt sich das Fahrzeug im Schritttempo in Bewegung, und der verhängnisvolle Schuss fällt, der Wagen rollt noch ein paar Meter weiter, bis er an ein Verkehrsschild prallt. Der in der Herzgegend verletzte Jugendliche starb wenige Minuten später nach vergeblichen Wiederbelebungsbemühungen der Sanitäter einer Ambulanz.

Während Politiker des rechtspopulistischen Rassemblement national und der konservativen Partei Les Républicains sogleich das Vorgehen der Polizei in Nanterre verteidigten und deren Recht auf eine besondere Unschuldsvermutung in ihrem gefährlichen Kampf gegen Verbrecher unterstreichen, kommt von links scharfe Kritik an einer längst notorischen Polizeigewalt und dem laxen Umgang mit ihr von vorgesetzten Stellen und der Justiz.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen. Allein im Jahr 2022 sind 13 Personen von Polizisten getötet worden, weil sie sich angeblich der Kontrolle und einer eventuellen Festnahme entziehen wollten. Nur gegen fünf Beamte wurden Ermittlungen eingeleitet.

„Diese Situation ist unerträglich.“

Da sich diese Tragödien vor allem in konfliktreichen Außenquartieren ereignen und die Todesopfer meistens Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, ist in Anspielung an den emblematischen Fall George Floyd von einer „Amerikanisierung der französischen Polizei“ die Rede. Der Fußballstar Kylian Mbappé, der sich früher schon zum Thema Polizeigewalt geäußert hatte, erklärte auf Twitter: „Mein Frankreich tut mir weh, diese Situation ist unerträglich.“

Ausnahmsweise hat sich diesmal nun selbst Innenminister Gérald Darmanin, der sich sonst immer hinter seine Polizisten stellt, entsetzt geäußert: Die Bilder auf dem fraglichen Video seien „extrem schockierend“ und könnten „eine solche Reaktion (des Polizeibeamten) keinesfalls rechtfertigen“, sagte er vor Abgeordneten der Nationalversammlung.

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Oben     —       Gare de Nanterre-Préfecture, Nanterre.

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Das eingehegte Denken

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

Die Entwicklung der Grünen

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Eine globale Ethik der Gerechtigkeit hat bei den Grünen keine Heimat mehr. Notwendig ist eine politisch-philosophische Gegenkultur.

Was ist Gewalt – und für wen? Was ist Sicherheit – und vor wem? Antworten darauf sind für ein emanzipatorisches Denken essenziell. Und an den Antworten scheiden sich Weltentwürfe.

Es gibt Gründe, darüber gerade in diesen Tagen zu schreiben. Denn mir ist, als befände ich mich in einem sich ständig verkleinernden Raum. Die Wände rücken auf mich zu. Ich weiß, ich bin falsch in diesem Raum, es ist ein falscher Ort, aber ich scheine dort hineinzugehören, so sieht das Script es vor. Ich bin unentrinnbar Teil eines sich verengenden, verhärtenden, aufrüstenden Europas, und meine Hilflosigkeit schützt nicht davor, mitschuldig zu werden. Denn für das Kind in einem Grenzgefängnis ist mein Widerwille bedeutungslos.

„Nicht in meinem Namen!“, zu rufen, hätte nur Berechtigung, wenn es eine geistige, eine politisch-philosophische Gegenkultur gäbe, die sich der aufgezwungenen Versicherheitlichung unseres Lebens widersetzt. Doch scheint das Gespür für die ethische Unerträglichkeit bestimmter Verhältnisse verloren gegangen zu sein und damit die Voraussetzung, über diese Verhältnisse hinaus zu denken.

Die Entwicklung, welche die Grünen genommen haben (und lange zuvor die Sozialdemokratie), hat zur Folge, dass radikal fortschrittliche Politik in essentiellen Fragen keine organisierte Stimme mehr hat. Kompromissloser Schutz von Menschenrechten, eine universalistische Ethik der Gerechtigkeit und die Überzeugung: „Eine andere Welt ist möglich“, haben bei den Grünen keine Heimat mehr.

Wo bleibt die Rebellion auf der Straße?

Dieser Zustand verlangt nach einer ungebärdigen außerparlamentarischen Opposition, gerade zu den Anliegen einer globalen Ethik, wozu Klimaschutz ebenso wie der Schutz Geflüchteter gehören. Das grüne Führungspersonal scheint gar nicht mehr zu begreifen, dass es andere Auffassungen dessen gibt, was politisch ist, etwa bei der Letzten Generation: Stören wollen, provozieren, irritieren, den kapitalistischen Lebensalltag unterbrechen.

Dabei lehrt alle Erfahrung, wie der politische Betrieb von außen her zu beeinflussen ist; der Aufstieg der Grünen wäre anders gar nicht vorstellbar. Heute sind sie indes eine Kraft der Disziplinierung, der Einhegung geworden, der Betäubung und Verbravung des Denkens. Während sich andere verzweifelt ans Pflaster kleben, sind die Grünen mit den herrschenden Verhältnissen verleimt. In der Ampelregierung hat sich diese politische Degeneration in ungeahnter Weise beschleunigt.

Gerade zu einer Zeit, wo radikales Andersdenken und -handeln so nötig ist, wird Radikalität nun bekämpft, diffamiert, inhaftiert. Jüngst sprachen territoriale Demonstrationsverbote in mehreren Städten trotz ganz verschiedener Anlässe eine gemeinsame Sprache: Ganze Gruppen der Bevölkerung werden pauschal der Neigung zu Gewalttätigkeit bezichtigt, weswegen ihre Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können.

Die Präventivhaft, die mittlerweile gegen Klimaschützer angewandt wird, damit sie sich einem geplanten Protest gar nicht erst nähern können, ist die kleine Schwester der präventiven Internierung von Asyl­be­wer­be­r:in­nen an den EU-Grenzen. Die Politik der Versicherheitlichung setzt Grundrechte außer Kraft, die Allgemeinheit nimmt daran keinen Anstoß, und bestimmte Medien hetzen zuverlässig gegen jene, denen die Rechte genommen werden.

Die Grünen stehen auf der falschen Seite

Der Polizeikessel jüngst in Leipzig erinnerte mich an den ersten bundesdeutschen Kessel dieser Art; Hamburg 1986. Danach protestierten 50.000 Menschen gegen die Polizeigewalt; ein Gericht erklärte den Kessel später für rechtswidrig. 37 Jahre ist das her. Die Grünen waren damals ein verlässliches Element in einem Milieu, das einen Begriff von Solidarität, Bürgerrechten und Widerstand hatte. Heute stehen sie häufig eher auf der anderen Seite.

Wie sich die Definitionen von Gewalt und Sicherheit sukzessive verschieben, das markiert durchaus den Geländegewinn rechter Gesellschaftskonzepte – und wenn sie nun gegendert daherkommt, ändert das nicht ihren Charakter. Während die Angriffe gegen Geflüchteten-Unterkünfte steigen, denkt sich die Bundesinnenministerin ein Verbot von Küchenmessern in Bussen und Bahnen aus, mit „stichpunktartigen Kon­trol­len“ – mit anderen Worten: Racial Profiling. Die „Messermänner“ von Alice Weidel sind in der Sozialdemokratie angekommen, so wie Seehofers Grenzgefängnisse nun grün angestrichen Wirklichkeit werden.

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Oben           —      Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.

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Revoltierende Soldaten

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

PUTINS BRÖCKELNDE HEIMATFRONT

Von Alexeï Sakhine und Lisa Smirnova

Was die Drohnen über dem Kreml bedeuten, weiß man nicht. Für den Hausherrn bedrohlicher ist die Stimmung im Land. Während die Siegeszuversicht sinkt, wächst das Misstrauen gegenüber den Eliten und die Kritik am System Putin, die jedoch aus unterschiedlichen Richtungen kommt und nicht unbedingt friedliebend ist.

Auf den ersten Blick scheint das russische Staatsschiff dem Sturm standzuhalten, den der Kreml mit dem Überfall auf den ukrainischen Nachbarn ausgelöst hat. Mehr als ein Jahr nach Kriegsausbruch befindet sich die russische Wirtschaft zwar in der Rezession, aber das Minus von 2,1 Prozent für das BIP 2022 bedeutet noch keinen Zusammenbruch. Und glaubt man den Umfragen auch staatsunabhängiger Meinungsforschungsinstitute, ist eine Mehrheit der Bevölkerung weiterhin für eine Fortsetzung der „Spezialoperation“.1

Allerdings werden die Risse in der russischen Gesellschaft stetig tiefer. Und erstaunlicherweise sind sich Menschen sehr unterschiedlicher politischer Orientierung in einem Punkt zunehmend einig: Unabhängig von ihrer Einstellung zum Krieg misstrauen immer mehr Russinnen und Russen den „Eliten“. Dieses Phänomen war bereits vor Februar 2022 zu beobachten, nun nimmt es an Bedeutung weiter zu.

In einem Klima der Angst, das sich laufend verstärkt, ist es sehr schwierig, der Gesellschaft den Puls zu fühlen. Angesichts dessen mag ein Blick auf die methodischen Anmerkungen der unabhängigen Meinungsforschungsinstitute zu ihren Ergebnissen hilfreich sein. Was sagt uns zum Beispiel der starke Rückgang der Antwortquoten? Laut einem Institut für Marketingstudien und Meinungsumfragen namens „Rus­sian Field“ antworten aktuell nur noch 5,9 bis 9,3 Prozent der Befragten auf alle die „militärische Spezialoperation“ betreffenden Fragen. Das entspricht nur einem Drittel bis einem Viertel der vor Kriegsausbruch üblichen Quote.2

Bei einer im Februar 2023 durchgeführten Umfrage bat Russian Fields die Teilnehmenden, sich entweder für Maßnahmen zur Verstärkung der Offensive oder für Frieden auszusprechen. Nur 27 Prozent der Befragten unterstützten eine Eskalation der Kämpfe, während sich 34 Prozent Schritte in Richtung Frieden wünscht

Zwischen Ultranationalisten und Kriegsmüden

Dabei kann man deutlich drei Gruppen unterscheiden: Die „Kriegspartei“, der 25 bis 37 Prozent der Befragten zuzurechnen sind, befürwortet die Verfolgung Protestierender, verurteilt Deserteure und ist bereit, Einschränkungen in der Sozialpolitik zugunsten militärischer Ziele in Kauf zu nehmen. In dieser Personengruppe sind ältere Bürgerinnen und Bürger sowie Menschen mit höherem Einkommen überproportional vertreten.

Zur „Friedenspartei“ am anderen Ende des Spektrums zählen 10 bis 36 Prozent der Befragten, bei denen es sich vor allem um junge Russinnen und Russen sowie sehr arme Personen handelt. Zwischen diesen beiden Extremen befinden sich diejenigen, die eigenen Angaben zufolge zu keiner klaren Meinung kommen oder die widersprüchliche Antworten geben. Viele Menschen aus dieser dritten Gruppe lehnen zwar eine militärische Eskalation ab, vertrauen aber der offiziellen Position der Behörden.

Die Kriegspartei nutzt die sozialen Netzwerke als Sprachrohr – darunter die Plattformen von Gruppen, die man als „Ultranationalisten“ bezeichnen könnte. Sie kann sich derzeit noch uneingeschränkt äußern, löst aber bei der politischen Führung eine gewisse Beunruhigung aus. So erklärte im Februar der Duma-Abgeordnete Oleg Matwei­tschew von der Präsidentenpartei Einiges Russland: „Einen liberalen Maidan müssen wir nicht fürchten, denn die Liberalen sind alle geflohen.“ Die einzige Gefahr für den Staat sei „ein ultra­na­tio­na­lis­ti­scher, leicht links eingefärbter Maidan und entsprechende Debatten über die Korruption.“4

Seit Beginn der Invasion füttern sogenannte Kriegsberichterstatter – Anhänger der extremen Rechten mit militärischen oder paramilitärischen Befugnissen – die sozialen Netzwerke mit Nachrichten über die militärischen Operationen. Der Bekannteste unter ihnen ist Igor Strelkow, ein früherer FSB-Geheimdienstoffizier mit monarchistischen Überzeugungen. 2014 eroberte er an der Spitze einer Einheit russischer Freiwilliger die Stadt Slawiansk im ukrainischen Donbass. Zwar hat Moskau die Separatisten militärisch unterstützt, aber ihre Anführer sind aufgrund ihrer Unberechenbarkeit und ihres Fanatismus auch dem Kreml nicht geheuer.5 Strelkow musste deswegen den Donbass verlassen. Heute beklagt er auf seinem Telegram-Kanal, dass der Kreml den ukrainischen Feind nicht hart genug bekämpft. Telegram nutzen fast 1 Mil­lion Menschen. Nach den militärischen Rückschlägen im Herbst 2022 prangerten Strelkow und andere radikale Na­tio­na­lis­ten die Fehler des Putin-Regimes an. Sie kritisierten die schlechte Organisation des militärischen Nachschubs, die Schwäche der Rüstungsindustrie, die Inkompetenz und Bestechlichkeit der Generäle und eine mediokre Führungselite, die im Luxus schwelge, während das Vaterland in Gefahr sei. Und sie mutmaßen, ein Teil von Putins Entourage wolle sich heimlich mit dem Westen aussöhnen, selbst wenn das die Kapitulation bedeuten sollte.

„Wenn sie Russland in diesem Krieg aufgeben, können wir ihren lieben Partnern aus dem Westen wahrscheinlich nichts anhaben“, schrieb Strelkow am 3. Februar 2023. „Aber wir werden alles tun, um sie selbst dann zu kriegen.“ Er bezweifelt, dass die Regierung den Krieg gewinnen wird. Noch weiter geht Maxim Kalaschnikow, ein Verbündeter Strelkows und Stalin-Bewunderer: „Es wird unvermeidlich zu einer großen Umwälzung kommen. Die da oben wissen das und machen sich Sorgen. Unser Ziel ist es, diese Umwälzung dann in einen nationalen, patriotischen Sieg umzumünzen.“6

Der Zorn der nicht zum eigentlichen Herrschaftssystem gehörenden Patrioten hat mittlerweile auch die loya­len Anhänger des Kriegslagers erfasst, was den Kreml enorm beunruhigt. Der Chef der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, dessen Privatmiliz in der Ukraine kämpft und der mit den Generälen der Armee rivalisiert, spricht offen über Probleme wie soziale Ungleichheit, Korruption und Unfähigkeit innerhalb der Militärhierarchie.

Doch Prigoschins öffentlicher Aktivismus hat das Präsidialamt verärgert, das ihm mittlerweile den Zugang zu den russischen Gefängnissen verwehrt, wo er unter den Häftlingen Freiwillige für die Front rekrutiert hatte. Der neue Generalstabschef Waleri Gerassimow reduzierte außerdem den Munitionsnachschub für die Gruppe Wagner. Doch Prigoschin revanchierte sich rasch: Er wies seine Kämpfer an, Videos nach Strelkow-Art zu drehen, in denen der Militärführung und den Beamten Verrat vorgeworfen wird. In einem dieser Clips steht ein Söldner vor mehreren Leichen und sagt: „Hört auf mit dem Unfug. Lasst uns kämpfen, lasst uns unser Vaterland verteidigen.“7

Die Wut auf das Regime hat auch die Soldaten und Offiziere in den Schützengräben erfasst. Im Rahmen der Ende September 2022 verkündeten Mobilisierung wurden nach offiziellen Angaben 320 000, nach unabhängigen Schätzungen 500 000 Soldaten eingezogen.8 Die Zahl dürfte sich angesichts der im April 2023 von der Duma verabschiedeten Vorschriften noch erhöhen: Diese sehen eine elektronische Einberufung, ein Ausreiseverbot für Einberufene sowie das Einfrieren des Im­mo­bi­lien­ver­mö­gens von Exilrussen vor.

Die Mobilisierung hat vor allem die ärmsten Regionen getroffen – insbesondere die Kleinstädte und Dörfer rückständiger Provinzen, also die traditionellen Wahlhochburgen Putins. Die Behörden beriefen zunächst Reserveoffiziere und Reservisten mit militärischer Spezialausbildung ein: Männer mittleren Alters mit niedrigem oder mittlerem Einkommen aus Regionen fern von Moskau. Sie zählen mehrheitlich zu den „Neutralisten“, also jener gesellschaftlichen Gruppe, die den Krieg nicht aus militaristischer Überzeugung, sondern aus Loyalität unterstützt. Sie tragen mittlerweile die Hauptlast der Kampfeinsätze.

Quelle          :       LE MONDE diplomatique          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —         Владимир Путин на заседании Государственной Думы был утвержден Председателем Правительства Российской Федерации

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L – A armselige Skyline

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

In Los Angeles leben etwa 50.000 Menschen auf der Straße.

Downtown L.A.

Aus Los Angeles von Johannes Streek

Die demokratische Bürgermeisterin Karen Bass will das ändern. Wie das nachhaltig gelingen kann, ist unter sozialen Trägern jedoch umstritten. Ein Ortsbesuch in einer der ärmsten Gegenden der USA. An einem lauen Morgen im Juni ist es noch ruhig auf der San Pedro Street in Los Angeles. An einer Ecke frühstücken ein paar Leute aus Styroporbehältern, etwas weiter fegt jemand den Bürgersteig. Andere sitzen sind in Decken gehüllt am Straßenrand, ihnen ist die Kühle der vorherigen Nacht noch anzusehen.

„Skid Row“ heißt dieser Abschnitt der Stadt, der um einem mittlerweile stillgelegten Bahnhof entstanden ist. Rund 5.000 Menschen leben hier auf der Straße, in Autos oder Zelten. Andere wohnen vorübergehend in den Räumlichkeiten der hier ansässigen sozialen Einrichtungen. Diese gibt es zum Teil schon seit über 100 Jahren, so lange ist die Skid Row von Los Angeles schon ein Wohnort für all jene, die sonst kein Zuhause haben. Und die so schnell auch keins finden werden.

Der Name Skid Row bezeichnet ein Gebiet von 50 Wohnblocks inmitten der Innenstadt von Los Angeles. Es ist ein Ort, der wohl wie kein anderer zeigt, was Armut in den USA bedeutet. Seit Jahrzehnten ist das Stadtbild des Industrieviertels geprägt von Menschen, die auf der Straße leben, während im Hintergrund moderne Hochhäuser in der kalifornischen Sonne schimmern. Die Gegend ist eine Ansammlung trauriger Superlative. Laut einer im Jahr 2020 veröffentlichten Studie sind die drei gefährlichsten Nachbarschaften der USA auf der Skid Row zu finden. Krankheiten grassieren durch den mangelnden Zugang zu Wasser. Im Jahr 2017 brach in der Gegend eine Hepatitis-Epidemie aus, die auch in andere Stadtteile überschwappte. Eine längere Dürrezeit hatte zu einer Anhäufung von menschlichen Fäkalien auf den Bürgersteigen geführt, der lang erwartete Regen spülte sie in die Kanalisation. 2.201 Wohnungslose sind allein im Jahr 2021 in Los Angeles gestorben, fast jedes vierte Mordopfer ist eine Person ohne festen Wohnsitz.

Entgegen ihres anarchischen Rufes ist es auf der Skid Row weder besonders laut noch sehr viel schmutziger als in anderen Abschnitten der Innenstadt. Neben den vielen Wohnungslosen, die auf der Straße unterwegs sind, trifft man hier auch auf Streetworker verschiedener Organisationen, die Essen verteilen oder rudimentäre Gesundheitsversorgung anbieten und so staatliche Versorgungslücken schließen. Während viele in der Autostadt Los Angeles fast alle Wege mit ihrem Fahrzeug zurücklegen, sind auf der Skid Row die meisten Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Zwischen den gut befestigten Zelten, die vielerorts mit blauen Bauplanen verstärkt sind, schneiden sich Leute gegenseitig die Haare, lesen oder sitzen auf Klappstühlen und unterhalten sich. „Guten Morgen, wie geht’s?“ werden Besucher gefragt, die sich auf dem Bürgersteig einen Weg zwischen den Zelten bahnen.

Auch Brittany Robbins gehört zu den Menschen, die in und um die Skid Row ohne festen Wohnsitz leben. Die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln sitzt auf einem kleinen Plastikhocker an einem Imbiss und erzählt von ihrem Alltag. „Ich wohne gleich da hinten im Weingart,“ sagt sie. Das ist eine der großen Herbergen, die Wohnungslosen auf der Skid Row Übergangszimmer, Essen und Duschen zur Verfügung stellen. „Ich mag es da, die Angestellten sind nett.“ Robbins erzählt ein wenig aus ihrem Leben, ihrer Zeit beim amerikanischen Militär, und, dass sie bereits in 49 der 51 Bundesstaaten war. Für den Stress der Streetworker und Stadtangestellten, mit denen sie zu tun hat, zeigt sie Verständnis. „Ich habe selber soziale Arbeit studiert, ich kenne also beide Seiten ein bisschen.“ Vom Elend der Skid Row ist Robbins nichts anzusehen, sie trägt saubere Kleidung und scheint unbeirrt vom Treiben um sie herum.

Gefragt, ob sie sich Sorgen um ihre Sicherheit auf der Skid Row mache, schüttelt sie energisch den Kopf. „Ich vertraue auf meinen Menschenverstand,“ sagt sie. „Wenn ich mich in einer Situation unwohl fühle, dann versuche ich einfach auf mein Bauchgefühl zu hören.“ Für Robbins ist zudem der christliche Glaube ein wichtiger Anker. „Ich glaube, ich werde durch Gott beschützt,“ sagt sie. „Mein Leben gehört mir sowieso nicht, und das gibt mir Kraft und nimmt mir ein wenig von der Angst.“ Bevor sie nach Los Angeles kam, war Robbins länger in Austin, Texas. Die Einrichtung, in der sie dort gelebt hat, habe ihr überhaupt nicht gefallen. Während ihrer Zeit hat sie mehrere Schießereien sowie einen Mord miterlebt, direkt vor ihrem Fenster. Durch ein Fernstudium bei der christilch-konservativen Liberty University macht Robbins nun ihren Master, größtenteils über ihr Handy und den Computerraum der nahegelegenen Stadtbücherei. „Ich versuche gerade, mit dem Wohnungsamt zusammenzuarbeiten, um hoffentlich eine längerfristige Lösung zu finden“, sagt sie lächelnd. Sie könnte sich vorstellen, später einmal ins Ausland zu gehen, um dort Englisch zu unterrichten, aber das sei alles noch nicht entschieden.

In Kalifornien, dem wirtschaftlich stärksten Bundesstaat der USA, ist die Wohnungslosigkeit besonders hoch. Rund 115.000 Menschen haben hier keine feste Bleibe, fast jeder dritte Mensch ohne Wohnsitz lebt in dem großen Staat am Pazifik. Das hängt auch mit den immensen Lebenskosten zusammen, eine Einraumwohnung in Los Angeles kostet rund 2.000 US Dollar Miete im Monat. Eine, die sich diesem schwierigen Thema annehmen will, ist Karen Bass. Sie wurde im letzten November zur Bürgermeisterin von Los Angeles gewählt. Mit dem Versprechen, durch umfangreiche Investitionen die grassierende Wohnungslosigkeit in der Stadt zu bekämpfen, hat sie Wahlkampf gemacht. 1,3 Milliarden Dollar sollen in den nächsten Jahren fließen, um temporären und festen Wohnraum zu schaffen. Kürzlich hat Bass bekanntgegeben, dass rund 14.000 Menschen seit ihrem Amtsantritt ein Zuhause finden konnten. Mindestens 50.000 bleiben damit im Bezirk Los Angeles noch auf der Straße.

Ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt in der Skid Row ist die Midnight Mission (dt. „Mitternachts-Mission“) auf der San Pedro Street. Georgia Berkovich leitet die Öffentlichkeitsarbeit der sozialen Einrichtung. Gerade führt sie zu einer Wandtafel, an der die Geschichte der Midnight Mission erzählt wird. 1914 begann der Geschäftsmann Tom Liddecoat mit nächtlichen Essensausgaben. Sie waren für die damals noch vorwiegend männlichen und weißen Menschen gedacht, die mittellos in der Innenstadt von L.A. landeten. „Vor dem Essen mussten sie sich aber zunächst seine Predigten anhören“, sagt Berkovich über den Gründer. „Der Name entstand, weil es oft schon Mitternacht war, bis sie endlich essen durften.“ Auf der Wandtafel sind Fotos von Männern in Anzügen und Hüten zu sehen, die über ihr Essen gebeugt sind. In den 30er Jahren wurde die Organisation hinter der Midnight Mission säkular und versorgte tausende Menschen durch die Brachzeiten der großen Wirtschaftskrise. Während Berkovich erzählt, führt sie auf den kleinen Vorhof der Einrichtung und erklärt, warum dieser eigentlich zu jeder Tageszeit voll ist. „Bis vor Kurzem hatte die Midnight Mission hier die einzigen Toi­letten, die 24 Stunden am Tag verfügbar waren,“ sagt sie und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. „Eine Toilette für 5.000 Menschen.“ Zudem verfügt der Vorhof über große Ventilatoren, die an heißen Sommertagen für etwas Abkühlung sorgen. Für kalte Nächte gibt es Heizstrahler, an denen sich die Menschen aufwärmen können. „Die Leute wollen nicht glauben, dass es in Kalifornien Kältetote gibt, aber das passiert hier regelmäßig“, sagt Berkovich. Allein im Jahr 2022 starben in Los Angeles 14 Menschen an den Folgen von Kälte.

Hinter den schmucklosen Betonmauern des Gebäudes verbirgt sich die Infrastruktur einer Kleinstadt. Berkovich führt durch die vielen Etagen, in einen Musikraum, zu einer Bücherei und einem kleinen Friseursalon. Im Erdgeschoss findet gerade die Essensausgabe für all jene statt, die derzeit in der Midnight Mission leben und an einem der Rehabilitationsprogramme teilnehmen. „Jede Stadt in den USA hat eine eigene Skid Row,“ sagt die Mitarbeiterin, während hinterher Menschen in die Kantine strömen, um sich Salat, Kartoffeln und Fleisch auf ihre Tabletts geben zu lassen. Für sie ist das Ende der Obdachlosigkeit in Los Angeles das endgültige Ziel ihrer Einrichtung. „Wir versuchen uns seit dem Jahr 1914 die eigene Existenzgrundlage zu nehmen,“ sagt Berkovich über den Kampf gegen Wohnungslosigkeit, „aber ehrlich gesagt wird es immer schlimmer.“

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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»Festung Europa«

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Oder: Was die Mauern mit uns machen

Von Volker M. HeinsFrank Wolff

Erneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen.

Einige dieser Bilder sind längst ikonisch geworden und haben sich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, leblos am Strand an der türkischen Mittelmeerküste. Das Bild zweier Golfer, deren Partie von einem Dutzend Flüchtlinge gestört wird, die jenen haushohen Zaun überwinden wollen, der nicht nur den Golfplatz rahmt, sondern der auch die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Oder vielleicht auch jenes Bild von der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem linksseitig des frisch errichteten Grenzzauns Dutzende Flüchtlinge zu sehen sind, die in der Kälte eng beieinander im Feuerrauch hocken, während rechts vom Nato-Zaun Grenzschützer in einem schweren Humvee-Geländewagen auf dem freigeräumten Kontrollweg patrouillieren.

Solche Schlüsselbilder erzählen wortlos ihre Geschichte. Eine Geschichte über extreme globale Ungleichheit, über Not und Verzweiflung und über das Antlitz der europäischen Abschottung. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer.

Auch als im Herbst 2021 Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen, Ägypten, dem Irak und dem Iran versuchten, über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, schlug ihnen massive Gewalt entgegen. Polnische Grenzbeamte trieben die Flüchtlinge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Verantwortlichen mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“. Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden erlassen, Zäune errichtet. Gelder flossen. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten. 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 an der Grenze zwischen Polen und Belarus bestätigt.[1] Die Europäische Union hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato versprach ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“. Im öffentlichen Diskurs kollidierte eine militarisierte politische Sprache des Selbstschutzes mit den Bildern von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten mit Entsetzen und dem Ruf nach Wahrung der Menschenwürde, des internationalen Rechts und der europäischen Werte. Doch welche Seite steht für Europa?

Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“[2] Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr dabei nicht bewusst zu sein.

Andere Politiker ließen dagegen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung von Bildern notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas im „Tagesthemen“-Interview im November 2021. Wir müssten sie „aushalten“, forderte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im selben Monat.[3] Diese Aussagen bezogen sich auf das Leiden an der europäischen Außengrenze, richteten sich aber allein nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich fertiggestellt wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie wird mit ihnen aber die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern adressiert. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der begrenzten „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind. Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, die ebenfalls auf Abwehr umschwenken soll. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere Politiker und Kommentatoren forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sein sollen.

Die Utopie Europas – als einer unberührten Insel

Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans „Utopia“. Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs besteht darin, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, sodass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist.[4] Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, wenn sie sich radikal nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Wer hinter Mauern lebt, lebt zunehmend von ihnen bestimmt. Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist.

Die Mördertruppe der Frotex gehört nicht in freie Länder

„Wir“, die Einheimischen, bleiben nicht unberührt von der Gewalt, die in unserem Namen „anderen“ an der europäischen Außengrenze zugefügt wird. Die westlichen Gesellschaften wandeln sich und nehmen selbst Schaden durch die gewaltsame Abwehr von Migranten. Die Gewalt gegen Menschen jenseits der Grenze wirkt auch auf die Menschen diesseits der Grenze. Diesseits der Grenze müssen Menschen ausgebildet und Apparate aufgebaut werden, die zur Ausübung von Gewalt an der Grenze bereit und fähig sind. Die rasant wachsenden Budgets für diese Apparate bedürfen – ob direkt beschlossen oder als Teil größerer Haushaltsposten – der parlamentarischen Zustimmung. In der Hoffnung, ihre Effizienz zu erhöhen, werden Grenzschutzakteure einer allzu strikten, unabhängigen Kontrolle entzogen. Dafür bedarf es diesseits der Grenze einer Öffentlichkeit, die entweder nichts über die Grenzgewalt und ihre Folgen für unschuldige Zivilisten erfährt oder die wegschaut, die Gewalt akzeptiert oder sie sogar aktiv begrüßt und unterstützt. Dies wiederum erfordert es, die kollektiven Affekte zu formen und der Bevölkerung einzureden, dass sie allen Grund hat, sich vor Migranten zu fürchten. All dies hat Folgen für den Rechtsstaat, die Medienberichterstattung und politische Mobilisierungen – Folgen, die in ihrer Summe eine Gefahr für die offene Gesellschaft darstellen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gefährdung immer intendiert ist. Die Vordenker und Planer der neuen Mauern gegen unerwünschte Migration mögen vielmehr darauf setzen, dass die Gewalt an den Grenzen verbleibt und nicht in die zu schützende Gesellschaft diffundiert. Die Vorstellung wird gestützt durch das altbekannte literarisch-philosophische Motiv der „schmutzigen Hände“, also der Vorstellung, dass man gelegentlich illegale oder unmoralische Maßnahmen ergreifen müsse, um höhere moralische Ziele wie den Schutz der freien Gesellschaft zu gewährleisten. Dieses Motiv übersieht jedoch die mögliche „moralische Korrumpierung“[5] des Kerns der Gesellschaft durch die Gewalt an ihren Rändern oder, in einer anderen Theoriesprache, die „Spillover-Effekte“, durch die Handlungen oder Ideen von einem gesellschaftlichen Bereich auf andere Bereiche übergreifen.[6]

In der politischen Theorie wird häufig argumentiert, dass stabile liberale Demokratien auf eine umfassende Migrationskontrolle und „geschlossene Grenzen“ angewiesen seien.[7] Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall, die liberale Demokratie wird durch die restriktiven Grenzregimes der Gegenwart beschädigt. Letztlich ist die Demokratie, wie als Erster der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, die einzige politische Ordnung, die darauf angelegt ist, die Bedingungen einer nach innen und außen geschlossenen, abgeschotteten Gesellschaft zu überwinden.[8] Sie verträgt sich daher nicht mit geschlossenen Grenzen.

Hinzu kommt, dass die Grenzen nicht für alle gleichermaßen geschlossen und die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind. Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend war allerdings, dass die Aufnahmebereitschaft bei jenen Flüchtlingen aus der Ukraine an ihre Grenzen stieß, die aus Afrika oder Asien stammten, aber in der Ukraine arbeiteten oder studierten.[9] Und ebenso irritierend waren viele implizit vergleichende Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“.[10] Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext.

Generell lässt sich festhalten, dass die Fluchtgründe weißer Flüchtlinge aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die syrischer Flüchtlinge vor und nach 2015, obwohl oft sogar die Truppen desselben Landes, nämlich Russlands, die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten.[11] Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge“.[12]

Solche Stimmen ignorieren, dass einige europäische Gesellschaften auch dann sehr wohl in der Lage sind, mit hohen Zahlen von Migranten konstruktiv umzugehen, wenn sich die Zuwanderung ungeplant vollzieht. Außerdem erinnern sie uns daran, dass wir über Rassismus sprechen müssen.

Die Grenzregimes der Gegenwart sind ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen. Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt und zum anderen eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral fördert durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche.[13] Die gewaltsame Migrationsabwehr ist nicht zu haben ohne eine Enthemmung der Machtausübung an den Grenzen. Das „tödliche Gift hemmungsloser Macht“ beschädigt aber nicht nur seine Opfer, sondern auch die Täter und ihre Gesellschaft, wie bereits Frederick Douglass, der große Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den USA, schrieb.[14]

In Europa entfalten sich die Konflikte um Migration und Grenzregimes vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses. Dieser Prozess führt einst verfeindete Staaten zusammen, setzt aber gleichzeitig mächtige Zentrifugalkräfte frei, die den Trend zur Abschottung Europas durch Ansätze einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten noch überbieten. Die offene Frage lautet also, wie die werdende europäische Gesellschaft aussehen wird. Wie offen wird diese Gesellschaft sein? Wie mächtig werden die neuen Mauern um Europa herum in unseren Köpfen werden? Und welche Bedeutung werden die „Würde des Menschen“ und die Menschenrechte haben, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen?[15]

Die neue Militanz Europas

Quelle          :          Blätter-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben           —       Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.

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Fluggastdatenrasterung :

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

KI-Modelle zur Terrorismusabwehr ungeeignet

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :         

In einer kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung kritisiert Jura-Professor Douwe Korff den Einsatz von KI-Modellen zur Terrorismusabwehr im Rahmen der EU-Richtlinie zur Verarbeitung von Fluggastdaten. Mindestens 500.000 Personen würden demnach jedes Jahr zu Unrecht verdächtigt.

Die EU-Richtlinie zu Fluggastdatensätzen (PNR-Richtlinie) verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten seit 2016 dazu, europaweit Daten über Fluggäste zu erheben und untereinander auszutauschen. Ein EuGH-Urteil im Jahr 2022 beschränkte diese Massenüberwachung bei Flugreisen und legte auch ein Diskriminierungsverbot fest. Die PNR-Richtlinie blieb jedoch bestehen.

Die PNR-Daten sollen vor allem sogenannte terroristische Gefährder identifizieren – unter anderem mit Hilfe sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI). Mehrere europäische Länder (pdf) – darunter auch Deutschland – setzen KI bereits für die Strafverfolgung und die Vorhersage von Verbrechen ein.

Ebendies kritisiert Douwe Korff, Jura-Professor an der London Metropolitan University und Anwalt für Menschenrechte, in seiner kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung. Er zählt drei grundlegende Probleme auf, die all jenen algorithmischen Verfahren gemein sind, die dem Profiling von potenziellen Gefährder:innen dienen.

500.000 potenzielle Terrorist:innen

Als Erstes benennt er einen statistischen Fehlschluss, den sogenannten Prävalenzfehler. Dieser Fehler beschreibt, dass vermeintlich zuverlässige statistische Modelle dazu neigen, besonders unwahrscheinliche Ereignisse disproportional häufig vorherzusagen.

Selbst wenn beispielsweise ein KI-Modell Terrorist:innen in 99,9 Prozent der Fälle frühzeitig erkennen könnte, würde das Modell viele Unschuldige gleichermaßen verdächtigen, da die absolute Häufigkeit von Terrorist:innen in der Bevölkerung außerordentlich gering ist. Dieses Problem ist weitgehend unabhängig vom Anwendungsfall und beschreibt eine grundlegende Eigenschaft statistischer Verfahren.

Die Auswertung der Fluggastdaten in der EU würde nach Einschätzung des Wissenschaftlers – selbst bei dieser unrealistisch hohen Trefferquote – jedes Jahr etwa 500.000 Personen fälschlicherweise als potenzielle Terrorist:innen kennzeichnen. Bei einer plausibleren Trefferquote geriete eine noch höhere Zahl Unschuldiger ins Visier der Ermittler:innen. Bereits in der Vergangenheit hatte Korff die EU-Kommission auf diesen Umstand hingewiesen, allerdings sei die Warnung folgenlos geblieben.

Software erbt unsere Verzerrungen

Darüber hinaus neigt Profiling-Software dazu, gesellschaftliche Vorurteile zu replizieren und zu verstärken. Ein solcher Bias (Verzerrung) sei allerdings laut EU-Kommission bei der Analyse von Fluggastdaten ausgeschlossen, da Eigenschaften wie Ethnie oder politische Einstellung ignoriert würden. Diese zu verwenden sei gesetzlich auch verboten.

Korff widerspricht und weist erstens darauf hin, dass die entsprechende Richtlinie es den Mitgliedsstaaten erlaube, auch umfangreiche Datenbanken anderer Behörden in die Analyse einzubeziehen. Diese enthielten durchaus auch sensible personenbezogene Daten.

Zweitens wiesen auch Datensätze ohne sensible personenbezogene Daten starke Verzerrungen auf, die dann die statistische Auswertung beeinflussen würden, so Korff. Besonders marginalisierte Gruppen müssten damit rechnen, disproportional häufig und ohne nachvollziehbare Gründe verdächtigt zu werden.

Software ist intransparent

Denn, so kritisiert Korff schließlich, Behörden könnten selbst die Details solcher Software nicht einsehen. Aus diesem Grund seien sie außerstande, die Ergebnisse der Datenanalyse zu hinterfragen. Ihre Verdachtsfälle könnten sie damit auch nur unzureichend begründen. Aus diesem Grund bezeichnet Korff die Profiling-Algorithmen aus wissenschaftlicher Sicht als fragwürdig und für den polizeilichen Gebrauch als ungeeignet.

Korffs Kritik richtet sich in dem wissenschaftlichen Artikel insbesondere gegen die PNR-Richtlinie der EU-Kommission. Sie sei jedoch auf alle KI-basierten Profiling-Verfahren anwendbar, etwa bei der Chatkontrolle.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —         Frankfurt Airport, Germany

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Guatemala: Failed State

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Am 25. Juni wurde in Guatemala gewählt.

Guatemala City

Menschenrechte – davon hat auch in Europa kaum jemand etwas von gehört.

Ein Debattenbeitrag von Knut Henkel

Doch das Land wird von einer korrupten Elite kontrolliert. Daran sind die USA und die EU nicht unbeteiligt. Die letzte unabhängige Bastion der Demokratie war die Ombudsstelle für Menschenrechte.

Ganze 40 Jahre Haft für den Gründer und ehemaligen Direktor der kritischen Tageszeitung elPeriódico hat Guatemalas Staatsanwaltschaft am 30. Mai gefordert. Geldwäsche, Korruption und Erpressung werden dem 66-jährigen José Rubén Zamora vorgeworfen – belastbare Beweise: Fehlanzeige.

Der Fall ist der jüngste in einer langen Kette von Strafprozessen, die dazu dienen, diejenigen hinter Gitter zu bringen oder außer Landes zu drängen, die für ein anderes Guatemala stehen. José Rubén Zamora ist ohne jeden Zweifel so einer. Der hagere Mann mit dem zurückgekämmten Haar hat sich sein ganzes Leben lang für ein kritisches Mediensystem in Guatemala engagiert. Nun droht ihm, für Jahre weggesperrt zu werden – wie so vielen anderen auch.

Guatemala, das größte Land Mittelamerikas, dass hierzulande vielen für guten Kaffee, die Rui­nen der Maya-Hochkultur und wenigen für den überaus blutigen Bürgerkrieg (1960–1996) bekannt ist, schmiert ab. In gerade acht Jahren ist das Land, das im September 2015 noch als Hoffnung für einen „mittelamerikanischen Frühling“ galt, zu einem autoritären Regime mutiert. Die Präsidentschaftswahlen vom Sonntag, 25. Juni, sind dafür das beste Beispiel, denn erstmals wurde ganz offen manipuliert: nicht an der Urne und während der Stimmauszählung, sondern schon davor.

Indigene Kandidatin vorab ausgeschlossen

Schon vor der Wahl spielten sich zwei Gerichte, das Oberste Wahlgericht und das Verfassungsgericht, die Bälle zu: Drei Kandidat:innen, darunter die aussichtsreiche indigene Kandidatin Thelma Cabrera, waren von beiden Gerichten unter dubio­sen Begründungen von den Wahlen ausgeschlossen worden. Mit Edmond Mulet wartete am Ende ein vierter Kandidat auf sein endgültiges Urteil von der höchsten juristischen Instanz des Landes. Vieles deutete darauf hin, dass auch der ehemalige UN-Diplomat seine politischen Ambitionen beerdigen muss.

Thelma Cabrera.

Alles andere wäre eine Überraschung, denn viele der 17 Millionen Gua­te­mal­te­k:in­nen wissen, dass Richter und Richterinnen in Schlüsselpositionen in Guatemala mittlerweile handverlesen sind. Dafür sorgt ein intransparentes Nominierungssystem, das schon vor Jahren hätte reformiert werden sollen. Nun befindet es sich in den Händen einer korrupten und überaus mächtigen Allianz: des Pakts der Korrupten.

So wird das Bündnis aus Militärs, einflussreichen Unternehmerfamilien, korrupten Politikern und der organisierten Kriminalität genannt, das sich ab 2015 langsam reorganisierte und peu à peu die Institutionen übernahm. Die Justiz war zwischen 2007 und 2015 zu einem immer unbequemeren und unkalkulierbaren Faktor geworden.

Das hatte seinen Grund, denn seit dem Dezember 2006 war die UN-Kommission ­gegen Straflosigkeit in Guatemala (Cicig) im Einsatz und sorgte dafür, dass sich die Strukturen im Justizsektor spürbar änderten. Richter:innen, die die Hand aufhielten, wurden vor die Tür gesetzt, neue Gerichtshöfe eingerichtet. All das sorgte 2015 für eine demokratische Zäsur: den unfreiwilligen Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina.

Der ehemalige General des militärischen Geheimdiensts verlor, nachdem die Ermittlungsbehörden ordnerweise Beweise für Korruption ins Parlament gekarrt hatten, am 1. September 2015 seine Immunität. Am nächsten Tag trat er zurück, und 150.000 Menschen ­feierten vor dem Nationalpalast die für Guatemala vollkommen ungewohnte Sternstunde der Demo­kratie. Selbst Experten wie der Menschenrechtsanwalt Edgar Pérez witterten Morgenluft und sahen ein Land auf der Kippe: zwischen Demokratie und dem Rückfall in autoritäre Strukturen.

Zwei Jahre später, im Sommer 2017, sorgte Präsident Jimmy Morales für eine Zäsur: er attackierte die international hochgelobte UN-Kommission Cicig. Zentraler Grund für die Attacken aus dem Präsidentenpalast war die Tatsache, dass die Cicig nicht nur gegen einen Sohn und den Bruder des Präsidenten, sondern auch gegen Morales selbst wegen illegaler Wahlkampffinanzierung er­mittelte.

An den Parallelstrukturen gescheitert

Das war zu viel für den korrupten Präsidenten, der für eine mit ehemaligen Militärs durchsetze national-konservative Partei ange­treten war. Erst erklärte er den damaligen Direktor der Cicig, den kolumbianischen Richter und heutigen kolumbianischen Verteidigungsminister Iván Velásquez, zur unerwünschten Person und entzog dann der Cicig im September 2019 ihr Mandat.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben      —      Guatemala City

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PRIGOZHIN via PUTIN

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

PRIGOZHINS MEUTEREI GEGEN MOSKAU

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Von der Washington Post angekündigt

Es war ausgerechnet die Washington Post (s.Link), die im Mai behauptete, dass der Inhaber des Söldnerunternehmens, das unter dem Namen „Wagner-Gruppe“ bekannt ist, der aktuellen ukrainischen Regierung strategische Unterlagen der russischen Armee angeboten haben soll. In einem Krieg der Oligarchen – der Chef der Wagner-Gruppe Yevgeny Prigozhin gehört auch zu dieser einflußreichen Gruppe in Russland – spielt Geld nicht nur eine Rolle für den Waffenkauf, sondern auch für die jeweilige Loyalität. Es ist denkbar, dass die Ukraine-Oligarchen Prigozhin einfach genug für den Seitenwechsel geboten haben: Seine Truppe marschiert jetzt gegen Russland.

Kapitalisten kennen kein Vaterland

Schwer vorstellbar ist, dass die russische Regierung die Information ignoriert hat. Doch offenkundig war sie vor der Ankündigung der Washington Post einer Meuterei gegen die russische Militärführung nicht informiert genug, um rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Dieser Mangel wiegt um so schwerer, als Prigozhin seit seinen Sankt Petersburger Tagen in der Umgebung von Wladimir Putin verortet wurde: Er erhielt eine Reihe von Staatsaufträgen, unter anderem lieferte er Essen an die Russische Armee. Die Meuterei Prigozhins bestätigt die marxistische Erkenntnis, dass Kapitalisten kein Vaterland kennen, ihre Heimat ist der Profit. Die Meuterei, da darf man sicher sein, war nicht billig.

Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland

Bisher gelang es Wladimir Putin, den Ukraine-Krieg unter der Flagge der Nation zu führen. Tatsächlich soll der Krieg die nationalen Interessen sichern. Denn solange es den USA und ihrer NATO gelingt, die Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland zu formieren, solange ist die internationale Position Russlands erheblich geschwächt. Diese Schwäche würde sich auf Dauer auch auf die russischen Handelsbedingungen auswirken, von der Verteidigungsfähigkeit des Landes ganz zu schweigen.

Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung

Prigozhins Meuterei muß als Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung gewertet werden. Die erfahrenen britischen Imperialisten lassen Prigoschins Meuterei durch ihr Verteidigungsministerium als „die größte Herausforderung für den russischen Staat in jüngster Zeit“ einschätzen. Wladimir Putin selbst bestätigt diese Wertung, wenn er sagt, der Aufstand sei „genau die Art von Schlag gewesen, der Russland 1917 zugefügt wurde, als das Land den Ersten Weltkrieg führte, aber der Sieg wurde ihm genommen. Intrigen, Streitereien, Politik hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum größten Schock: der Zerstörung der Armee und dem Zusammenbruch des Staates, dem Verlust riesiger Gebiete. Am Ende – die Tragödie des Bürgerkriegs.“

Niederlage Russlands wäre ein schwerer Schlag für freie Nationen

In den nächsten Tagen und Wochen wird sich das Schicksal Russlands entscheiden. Und mit ihm die Frage, ob Europa komplett unter die Stiefel der USA gerät. Falls die Russen den Kampf gegen die USA nicht gewinnen würden, kann das auch die Chinesen nicht unberührt lassen: Ein Sieg der USA würde das internationale Kräfteverhältnis zugunsten der westlichen Kräfte verschieben. Für die Handlungsspielräume aller Nationen, die ihre Selbstständigkeit, ihre Freiheit und Unabhängigkeit schätzen, wäre eine Niederlage Russlands ein schwerer Schlag.

https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/05/14/prigozhin-wagner-ukraine-leaked-documents/

Urheberrecht

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Oben      —       Prime Minister Vladimir Putin looked over the factory’s production chain and was shown new vending machines that accept cards. The factory’s director, Yevgeny Prigozhin, remarked that they are produced by companies that previously manufactured slot machines. „They have been retrofitted,“ Prime Minister Putin said. „It’s very good and useful.“ He asked Leningrad Region Governor Valery Serdyukov whether the parents of school students are satisfied with the meals. The governor replied that it took some time for them to get used to the new meal system but all issues have been resolved and the students are satisfied. Mr Prigozhin said that his factory does not use frozen food products or preservatives. The cost of an adult meal produced by Concord is 32 roubles.

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Irgendwas mit Internet:

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Der Schlüssel für Open Source in den Verwaltungen ist das Vergaberecht

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Ein Grund für zu wenig Open-Source in der Verwaltung ist das Vergaberecht. Es muss auch eine politische Entscheidung sein, welche digitalen Infrastrukturen man betreibt und nutzt.

Wir haben 2023 und die meisten von uns haben, abgesehen von ELSTER, in der Regel noch nie eine funktionierende digitale Behördenanwendung in freier Wildbahn gesehen. Dabei sollte längst alles digitalisiert sein und zwar schon seit Jahrzehnten. Aber das ist nicht das Thema meiner Kolumne und Lilith Wittmann hat auf der vergangenen re:publica schon viel zu diesem Aspekt gesagt.

Mir geht es um den Einsatz von Open-Source-Software in der Verwaltung, einem Thema, das mich schon länger beschäftigt als es dieses Blog mit der passenden Domain gibt. Denn schon am Anfang dieses Jahrtausends gab es eine Debatte darüber, dass der Einsatz von Open-Source-Software bei der Digitalisierung der Verwaltungen viele Chancen biete. Das Bundesinnenministerium hatte dazu sogar einmal ein Referat eingerichtet.

Diskutiert wurde vor allem über den Umstieg bei den Betriebssystemen und Office-Programmen, um unabhängiger von Microsoft zu werden. Das Unternehmen dominierte damals den Markt wie kein anderes und verdiente gut durch die Abhängigkeit und damit verbundene Lizenzgebühren für die Nutzung ihrer Software von der Stange. Vom Unternehmen angeworbene ehemalige CDU-Politiker machten Lobbying für Microsoft gegen Linux und sorgten für viele Jahre dafür, dass sich unter der Merkel-geführten Bundesregierung nichts änderte.

Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen

Die Ampel-Koalition überraschte mit einem ambitionierten Koalitionsvertrag, der zumindest kurzfristig etwas Hoffnung gab. Diese ist mittlerweile bei den meisten Beobachter:innen weitgehend verschwunden, aber noch immer finden sich spannende Versprechungen im Koalitionsvertrag, die man mal mit Leben füllen könnte, wie z.B.

„Für öffentliche IT-Projekte schreiben wir offene Standards fest. Entwicklungsaufträge werden in der Regel als Open Source beauftragt, die entsprechende Software wird grundsätzlich öffentlich gemacht.“

Das war und ist eine Forderung, die bereits 25 Jahre alt ist und immer wieder aus der Open-Source-Welt und der digitalen Zivilgesellschaft in die Politik reingebracht wurde. „Public Money, Public Code“ heißt die passende Kampagne der Free Software Foundation Europe dazu, hinter der alle stehen. In Kurzform heißt das einfach: Öffentlich-finanzierte Software, also durch Steuergeld finanzierte Software sollte möglichst allen wieder zur Verfügung stehen. Und das als Default und nicht als mögliche Option.

Bisher ist es anders herum und nur in Einzelfällen war es hochmotivierten Menschen manchmal möglich, viele Widerstände zu umgehen. Dabei lagen die Vorteile von Open-Source-Software schon lange auf der Hand: Der Aufbau von Ökosystemen wird erleichtert, Verwaltungen auf allen Ebenen können sich zusammenschließen, gemeinsame Infrastrukturen betreiben und Weiterentwicklungen finanzieren. Daraus ergibt sich auch eine Herstellerunabhängigkeit – oder auf Neudeutsch ganz viel „digitale Souveränität“.

Public Money, Public Code

Eine der größten Hürden war und ist das Vergaberecht. Gegner von Open-Source-Software bezogen sich immer darauf, dass man ja niemand benachteiligen dürfe, der keine Open-Source-Software nutzt und verkauft. Und damit wurde immer das Steuerungselement boykottiert, denn es ist einfach eine politische Frage, auf welcher Basis die eigenen digitalen Infrastrukturen funktionieren sollen!

Die Diskussion über eine Reform des Vergaberechts ist alt und geht weit zurück hinter der Münchener Linux-Entscheidung. In den Nuller-Jahren gab es dazu auch Anhörungen im Bundestag, aber die Microsoft-nahe CDU/CSU verhinderte jede Reform.

Die Folgen kennen wir: Massive Lock-In-Effekte und Abhängigkeiten von Microsoft, das die Lizenzkosten immer weiter anhebt. Es gibt in den Verwaltungen kaum Personal, dass auch mal in anderen IT-Infrastrukturen außerhalb der Windows-Welt denken und klicken kann. Das zusammen ist ein Teufelskreis.

Aber Microsoft ist auch nur ein Nutznießer, wenn auch der mit Abstand absolut Größte. Im vergangenen Sommer veranschaulichten Ulf Buermeyer und Philip Banse in ihrem Podcast Lage der Nation, wie es um Teile unserer eGovernment-Infrastruktur steht: „Keine weiteren Fragen“. Sie besuchten im Rahmen eines Roadtrips für zwei Podcast-Folgen Verwaltungen und ließen sich zeigen, wie die Software vor Ort funktioniert und welche Abläufe damit abgebildet werden.

Eines der Hauptprobleme: Softwareunternehmen verkaufen geschlossene Lösungen für ein Problem und haben bisher kein Interesse, dass ihre Software durch Offene Standards mit anderen Lösungen kommuniziert. Die Folgen sind Ausdrucken und Einscannen zwischen Fachanwendungen. Das klingt wie Realsatire, beschreibt aber den Status Quo in Deutschland in Sachen eGovernment im Jahre 2023.

Man ist nicht mal auf den Gedanken gekommen, die Hersteller solcher Fachanwendungen zu offenen Standards zu verpflichten, was das mindesteste hätte sein müssen!

Das Vergaberecht richtig reformieren

Das muss sind endlich ändern. Die CDU/CSU ist gerade nicht mehr in der Bundesregierung, die Debatte ist wieder eröffnet und das Wirtschaftsministerium arbeitet gerade an einer Reform des Vergaberechts. Im vergangenen Monat zeichnete die Open Source Business Alliance in einem in Auftrag gegebenen Gutachten verschiedene Optionen auf, wo der Gesetzgeber an welchen Stellschrauben drehen könnte. Einige Bundesländer wie Thüringen und Schleswig-Holstein sind da schon weiter und haben das schon längst geregelt.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Maik Außendorf beauftragte den wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, in einem Gutachten aufzuarbeiten, wie diese Frage, die ja auch eine europarechtliche Frage ist, in unseren EU-Partnerstaaten gelöst wird. Das Ergebnis gibt Hoffnung, es gibt sehr viele Möglichkeiten, der Tenor ist: Man muss es nur wollen und dann machen.

Was klar ist: Es gibt nicht die einzelne große Schraube, aber der Status Quo muss nicht bleiben. Was fehlt ist erst mal der politische Wille auf allen Ebenen, das Versprechen des Koalitionsvertrages und vieler anderer aktueller Papiere zur Verwaltungsmodernisierung auch umzusetzen. Und Open-Source-Software und Offene Standards überall dort zu bevorzugen, wo es geht. Vielleicht wird es dann auch mal was mit der Digitalisierung der Verwaltung – wenn man parallel den Kompetenzaufbau innerhalb der Behörden nicht vergisst.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Wasserstoff aus Chile

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Schiefes Geschäft mit Wasserstoff aus Chile

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Aus Chile von Sophia Boddenberg

Deutschland will für die Energiewende grünen Wasserstoff aus dem windreichen Chile importieren. Das Land könnte dadurch eigene Umweltprobleme bekommen.

n der Heimat von Alejandro Núñez, der Insel Feuerland im chilenischen Patagonien, weht ein eisiger Wind. Er hat die knorrigen Bäume der Insel schräg zur Seite verbogen. Und er soll der deutschen Wirtschaft dabei helfen, klimaneutral zu werden. Der 45-jährige Tierarzt Alejandro Núñez ist stolz auf seine Heimat. „Ich wünsche mir, dass auch meine Kinder und Enkel noch diese unberührte Natur bewundern können“, sagt er und blickt auf einen See, die Laguna de los Cisnes. Núñez hat sich dafür eingesetzt, dass sie zum Naturschutzgebiet erklärt wurde.

Der südlichste Zipfel des amerikanischen Kontinents, nicht weit von der Antarktis entfernt, wird auch „das Ende der Welt“ genannt. Gletscher und Fjorde zeichnen die Landschaft, in der Königspinguine und Guanakos zu Hause sind. Auch hier macht sich der Klimawandel bemerkbar. Die Temperaturen steigen, es schneit und regnet weniger. Núñez hat die Organisation Ciudadanos y Clima („Bürger und Klima“) gegründet, um gegen den Klimawandel zu kämpfen. Er ist für eine Energiewende. Aber er macht sich Sorgen, dass seine Heimat den Preis für die Energiewende des Globalen Nordens zahlen muss. Obwohl dieser die Klima-krise überhaupt erst verursacht hat.

In der Región de Magallanes, die den chilenischen Teil der Insel Feuerland umfasst – ein anderer Teil gehört zu Argentinien – soll bald grüner Wasserstoff produziert und in die Welt exportiert werden. Tausende von Windrädern, Industrieanlagen, neue Straßen und Häfen sollen in den nächsten Jahren gebaut werden. Wasserstoff ist ein Gas; wenn er mit erneuerbaren Energien hergestellt wird, spricht man von „grünem Wasserstoff“.

Da der Transport in Gasform teuer und die Wege zu den Importländern lang sind, sollen zunächst Folgeprodukte wie Methanol, synthetische Kraftstoffe und Ammoniak exportiert werden, für die es bereits Schiffe und Tanks gibt. In der Nähe von Punta Arenas betreibt das kanadische Unternehmen Methanex eine Methanolanlage und einen Hafen.

Die Hoffnung der deutschen Energiewende

Grüner Wasserstoff soll eine wichtige Rolle in der deutschen Energiewende spielen, weil er vielfältig einsetzbar ist: zum Beispiel als Ersatz von fossilem Gas oder als synthetischer Kraftstoff in Industrie und Verkehr. „Wenn wir nicht 5 oder 10 Prozent der Landesfläche mit Windkraftanlagen vollstellen wollen – das halte ich für absurd – brauchen wir Wasserstoffimporte“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Februar 2022.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, kündigte auf ihrer Südamerikareise im Juni einen Fonds von 225 Millionen Euro an, um Wasserstoffprojekte zu fördern. Bis 2030 will die Europäische Union 10 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff jährlich importieren. Mit Chile habe sich die EU darauf geeinigt, „an einer strategischen Partnerschaft für nachhaltige Rohstoffe“ zu arbeiten, sagte von der Leyen auf der Pressekonferenz in Santiago.

Nach Einschätzung des Bundeswirtschaftsministeriums müsste Deutschland etwa 70 Prozent seines Bedarfs an grünem Wasserstoff importieren. Der grüne Wasserstoff könnte zum einen als Basis für die Herstellung von synthetischen Kraftstoffen und Ammoniak eingesetzt werden, beispielsweise in der Stahlherstellung und Chemieindustrie, heißt es in der Nationalen Wasserstoffstrategie. Zum anderen könnte er als Energiespeicher dienen, er lässt sich nämlich wieder in Strom zurückverwandeln.

Derzeit ist die Herstellung von grünem Wasserstoff teuer und energieaufwändig. Deshalb fördert das Bundeswirtschaftsministerium Pilotprojekte in möglichen Partnerländern, die aufzeigen sollen, „ob und wie grüner Wasserstoff und dessen Folgeprodukte dort nachhaltig und wettbewerbsfähig produziert und vermarktet werden können“, heißt es weiter in der Nationalen Wasserstoffstrategie. Der internationale Handel mit Wasserstoff sei „ein bedeutender industrie- und geopolitischer Faktor“. Gefördert werden Projekte in Ländern wie Brasilien, Marokko, Ägypten oder auch in Chile.

Das Land sei ein „Paradies für erneuerbare Energien“, sagt Reiner Schröer, Leiter des Programms für Erneuerbare Energien der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in seinem Büro in einem gläsernen Hochhaus in Santiago de Chile. Das liege zum einen an der „Verfügbarkeit von Flächen“ und zum anderen am starken Wind in Patagonien und der hohen Sonneneinstrahlung in der Atacama-Wüste.

Einer Analyse der GIZ und des chilenischen Energieministeriums zufolge habe Chile das Potenzial, 70-mal so viel Strom aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen, wie es für den Eigenbedarf braucht. Das schmale Land in Südamerika könnte demnach die Hälfte des Bedarfs an grünem Wasserstoff von einem Industrieland wie Deutschland abdecken. Chile sei außerdem ein „Experimentierfeld“, das deutschen Unternehmen erlaube, „Technologien zu testen“, so Schröer.

Auch Chile hat eine Nationale Wasserstoffstrategie. Sie sieht vor, dass das Land bis 2030 das wichtigste Produktions- und Exportland von grünem Wasserstoff weltweit werden und diesen zum niedrigsten Preis von 1,50 US-Dollar pro Kilo Wasserstoff anbieten soll. Momentan liegt der Preis zwischen 10 und 15 US-Dollar pro Kilo.

Ein Problem ist bisher noch der lange Transportweg. Einer Studie der GIZ zufolge sind die Produktionskosten von grünem Wasserstoff in Chile aber so niedrig, dass der Transport nur einen Bruchteil der Kosten ausmachen würde. Aber die Schiffe, die den grünen Wasserstoff oder seine Folgeprodukte transportieren sollen, werden derzeit noch mit Schweröl betankt. „Das ist das größte Problem zurzeit, nachhaltige Lösungen für den Schiffstransport zu finden“, sagt Schröer von der GIZ.

Die GIZ berät das chilenische Energieministerium im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums. Mehr als 60 Projekte für die Produktion von grünem Wasserstoff sind in Chile geplant, die vor 2030 in Betrieb gehen sollen.

Ein Rettungsanker für deutsche Sportwagen

Zurück in Patagonien. Rund 30 Kilometer nördlich von Punta Arenas läuft Rodrigo Delmastro über eine Baustelle. Ein eisiger Wind pfeift, Bagger dröhnen und graben Erde aus. Das Zementfundament für das erste Windrad ist bereits gegossen. Es ist die Baustelle eines der Pilotprojekte, die das Bundeswirtschaftsministerium fördert. 8,23 Millionen Euro haben Siemens Energy und Porsche für das Projekt Haru Oni erhalten. Es ist die weltweit erste kommerzielle Anlage zur Herstellung von E-Fuels. Beteiligt sind auch der US-Ölkonzern ExxonMobil, der italienische Energieversorger Enel sowie die chilenischen Unternehmen ENAP und Gasco.

Hier vermisst er gerade die Welt mit seinen Hammelpfoten

Rodrigo Delmastro ist Geschäftsführer des chilenischen Unternehmens Highly Innovative Fuels (HIF), Partner von Porsche und Siemens Energy und verantwortlich für die Projektentwicklung. „In den nächsten zehn Jahren wollen wir hier 14 Millionen Tonnen CO2 aus der Atmosphäre filtern“, sagt er mit vor Stolz glänzenden Augen. Dafür soll das Verfahren „Direct Air Capture“ angewandt werden – eine Technologie, die sich noch im Entwicklungsstadium befindet. Das Ziel des Pilotprojektes sei es, „die verschiedenen Technologien im Produktionsprozess zu integrieren und davon zu lernen.“ Es sei „ein Experiment“.

Während der Pilotphase soll die Anlage 130.000 Liter E-Fuels pro Jahr produzieren, bis 2026 dann bis zu 550 Millionen Liter im Jahr. Die E-Fuels sollen im Motorsport und in Seriensportwagen eingesetzt werden. So will das Unternehmen unter anderem den berühmten Rennwagen Porsche 911 und seinen röhrenden Motorsound retten.

„Wir werden einen Kraftstoff produzieren, der in konventionellen Autos verbraucht werden kann. So muss die Technik des Autos nicht zu einem Elektroauto umgewandelt werden“, sagt Delmastro.

In Deutschland setzt sich vor allem die FDP für den Einsatz von E-Fuels in Verbrennungsmotoren ein. Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP steht in engem Kontakt mit Porsche-Chef Oliver Blume. Das Verbrenner-Aus in der EU wurde mit einer Ausnahme beschlossen – mit E-Fuels betriebene Neuwagen mit Verbrennungsmotoren dürfen auch nach 2035 zugelassen werden. Und Lindner will für diese Fahrzeuge Steuererleichterungen durchsetzen.

Porsche ist Mitglied der E-Fuel-Alliance, einem Industrieverband von 130 Automobil- und Mineralölunternehmen. Diese haben ein besonderes Interesse an E-Fuels, weil sie den Verbrennungsmotor länger am Leben erhalten und über das bestehende Tankstellennetz vertrieben werden können.

Die Anlage Haru Oni in Punta Arenas hat Lindner schon mehrfach als Vorzeigeprojekt gelobt. Im Dezember 2022 nahm sie ihren Betrieb auf. Angetrieben mit Windstrom spaltet ein sogenannter Elektrolyseur Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Der Wasserstoff wird in Verbindung mit aus der Luft gefiltertem CO2 in Methanol und schließlich in E-Fuels verwandelt, strombasierte Kraftstoffe. E-Fuels gelten als „klimaneu­trale Kraftstoffe“, weil beim Verbrennen genau so viel Kohlenstoffdioxid entsteht, wie vorher bei der Herstellung aus der Atmosphäre gefiltert wurde. Was diese Klimabilanz aber nicht berücksichtigt, sind die Emissionen, die der Transport in Tankern verursacht, und die Umweltfolgen bei der Herstellung.

Auswirkungen auf die Umwelt

Auch Alejandro Núñez hat vom Projekt Haru Oni gehört. In der Pilotphase läuft die Anlage mit nur einem Windrad. Langfristig sollen aber große Windparks mit bis zu 1.000 Windrädern entstehen, auch auf der Insel Feuerland, wo Núñez lebt. Er macht sich unter anderem Sorgen um die Vögel, die in den vielen Windrädern sterben könnten. „Ich bin für saubere Energie, aber nicht, wenn dafür die Umwelt zerstört wird“, sagt er.

Außerdem sorgen ihn die Abfälle, die bei der Produktion der E-Fuels entstehen könnten. Chile leidet unter einer schweren Dürre, auch in Patagonien ist das Grundwasser knapp. Für die Elektrolyse wird aber Wasser benötigt. Deshalb wollen die Unternehmen für das Projekt Haru Oni eine Meerwasserentsalzungsanlage bauen. Doch die Anlage produziert nicht nur Wasser, sondern auch ein Abfallprodukt: konzentrierte Salzlake.

In Chile gibt es bereits Meerwasserentsalzungsanlagen, vor allem für den Bergbau im Norden des Landes. Sie leiten die Abfälle ins Meer zurück. Der erhöhte Salzgehalt des Wassers könnte Auswirkungen auf das marine Ökosystem haben, die noch nicht erforscht sind.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —         Wasserstofffabrik von Praxair, USA

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Unten         —       Christian Lindner, Mitglied des Deutschen Bundestages, während einer Plenarsitzung am 11. April 2019 in Berlin.

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Die Letzte Generation

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

„Schluss mit der Präventivhaft“

Von    : Herta Däubler-Gmelin als Gastbeitrag

Herta Däubler-Gmelins Expertise ist gefragt: als Vorsitzende der Berliner Kommission „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ ebenso wie zur Kriminalisierung der Letzten Generation. Die Ex-Bundesjustizministerin (SPD) in einem Exklusiv-Beitrag für Kontext.

Die Aktionen der Letzten Generation spalten die Öffentlichkeit. Viele von uns unterstützen ihre Ziele mit gutem Grund: Wir wissen längst, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um die Klimakrise nicht vollends zur Klimakatastrophe zu machen. Wir alle sehen auch, dass die Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten die notwendigen Veränderungen zu zögerlich vorantreiben können, weil der Einfluss der Lobby zu stark und die Trägheit vieler Bürgerinnen und Bürger zu groß ist. Viele lassen sich auch allzu gern von populistischen Beschwichtigern einlullen, obwohl wir jeden Tag mehr erleben, dass jedes weitere Verschieben der längst bekannten überfälligen Entscheidungen doppelt kostet und sich rächen wird.

Also: Alle müssen mehr tun, wir müssen unsere gewohnte Lebensweise verändern. Und zwar bald. Darauf muss immer wieder aufmerksam gemacht werden. Durch bessere politische Kommunikation – das ist eine wichtige Aufgabe nicht nur für Politiker:innen und Parteien, sondern auch für Journalisten, die sich heute viel zu viel darauf begrenzen, genüsslich den Streit und die Konflikte in der Regierung zu beschreiben.

Demonstrationen und Aktionen der Zivilgesellschaft gehören dazu. Die gibt es glücklicherweise, und sie sind, ebenso wie Kritik, nicht nur erlaubt, sondern geradezu Bürgerpflicht. Sie können Öffentlichkeit und Druck erzeugen und auf diese Weise mithelfen, die längst als erforderlich erkannten Änderungen gerade noch rechtzeitig genug umzusetzen.

Mehr Kreativität und Hirn

Das muss gelingen. Die Nachdenklichen unter den jungen Leuten wissen, was alle spüren: Heute wird über ihre Zukunft entschieden. Meine Enkelinnen und Enkel und weitere Generationen müssen die Chance bekommen, auch künftig selbstbestimmt in einer Gemeinschaft mit Freiheit, Schutz und Solidarität leben zu können. Das fordern sie in vielen Demonstrationen und Aktionen, von denen die meisten beeindruckend kreativ sind und bemerkenswert wenig über die Stränge schlagen.

Nicht so manche Aktivitäten der Letzten Generation: Deren Aktionen des zivilen Ungehorsams verletzen häufig Vorschriften, auch Gesetze. Das ist ein Problem, ohne Zweifel; in jedem Einzelfall müssen Ziel und Mittel in rechtsstaatlicher Balance stehen. Ihre Klebeaktionen beispielsweise sind ein Grenzfall. Sie nerven nicht nur die für die Trägheit politisch Verantwortlichen, sondern auch viele „normale“ Bürger, die sich ungern behelligen lassen, obwohl auch sie aufgerüttelt werden müssen: Wer, wie ich, im E-Auto in Berlin (nicht in Tübingen, da hat sich OB Palmer vernünftigerweise mit den Aktivisten auseinandergesetzt) mehr als eine Stunde in einem Kleber-Stau stand, hat für den Zorn vieler Aufgestauter durchaus Verständnis. Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Empörten, die bei solchen Gelegenheiten am liebsten in die Reporter-Mikrofone beißen würden, sich in den heute normalen verkehrsbedingten Staus vergleichbar echauffieren.

Ich finde auch die Farb- oder Kartoffelbreiattacken auf berühmte Museumsbilder und manches andere schlicht blöd und wünsche mir mehr Kreativität und Hirn, um durch bessere Demonstrationsformen die notwendige Klimapolitik im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten und nicht durch die Aufregung über zweifelhafte Methoden abzulenken. Die Forderung der Letzten Generation nach „Bürgerräten“ halte ich für politisch falsch und für eher naiv. Zwar sehe ich, dass damit die Zuständigkeit der verfassungsgemäß gewählten Parlamente keineswegs verdrängt werden soll. Ich sehe jedoch nicht, warum und wie Bürgerräte eine weniger träge oder weniger durch Lobbyisten beeinflusste Klimapolitik durchsetzen könnten. Vorgeschaltete Beratungen von Bürgerräten würden die Willensbildung nur weiter verlängern. Tempo 30 in Ortschaften und Tempo 100 im Übrigen wäre konsequenter und wirksamer.

Söder sollte besser Bäume umarmen

Söder – Holz zu Holz und Hirn zu Hirn

Kritik ist also nicht nur an der Trägheit der Regierenden und unserer Gesellschaft geboten; ich halte auch die Auseinandersetzung über manche Aktivitäten der Letzten Generation für völlig berechtigt!

Aber ist es deshalb vertretbar oder gar richtig, diese Gruppe als „Terroristen“, „Ökoterroristen“ oder Kriminelle abzustempeln, wie das von besonders prägnanten Lautsprechern der politischen Rechten mittlerweile geschieht? Und ist es zulässig, Mitglieder dieser Gruppe durch Polizei und Justiz entsprechend strafrechtlich zu verfolgen? Klare Antwort: nein, ganz sicher nicht.

Quelle       :          KONTEXT-Wochenzeung-online        >>>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Mehr Infos: www.mehr-demokratie.de/erfahrungsbericht-karlsruhe.html

2.) von Oben      —     Der Aufstand der Letzten Generation blockiert Straße am Hauptbahnhof, stehend Lina Eichler, Berlin, 28.01.22

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Unten       —

Letzte Generation Löwenbräukeller Munich Dachauer Strasse 2023-06-12

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Die Lobby der Rüstung

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Wer den Krieg anheizt und von ihm profitiert

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Matthew Hoh /   

Wie der militärisch-industrielle Komplex Politik und Medien beeinflusst – Die Kosten und Risiken des Kriegs werden verdrängt.

upg. Keine westliche Provokation rechtfertigt den brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Trotzdem stellt sich die Frage, ob das unermessliche Elend und die flächendeckenden Verwüstungen hätten vermieden werden können.
In einem ersten Teil erinnerte Matthew Hoh an Warnungen schon vor Jahren. In diesem zweiten Teil geht es darum, wer vom Krieg profitiert, wer auf westlicher Seite die Information beeinflusst, welche Kosten und Risiken der Krieg verursacht und wie es um einen Frieden steht.
Neue Märkte für den militärisch-industriellen Komplex

Hinter dem diplomatischen Fehlverhalten und dem damit einhergehenden Grössenwahn (siehe 1. Teil) steht der militärisch-industrielle Komplex der USA (hier und hier und hier).

Vor mehr als 60 Jahren hatte Präsident Dwight Eisenhower in seiner Abschiedsrede vor «dem Potenzial für den verhängnisvollen Aufstieg einer fehlgeleiteten Macht» gewarnt. Er beschrieb damit den immer grösser werdenden Einfluss, wenn nicht gar die Kontrolle der Politik des militärisch-industriellen Komplexes.

Am Ende des Kalten Krieges befand sich der militärisch-industrielle Komplex in einer existenziellen Krise. Ohne einen Gegner wie die Sowjetunion wäre es schwierig gewesen, die massiven Rüstungsausgaben der USA zu rechtfertigen. Die NATO-Erweiterung eröffnete neue Märkte. Die osteuropäischen und baltischen Länder, die der NATO beitraten, mussten ihre Streitkräfte aufrüsten und ihre Bestände aus der Sowjetzeit durch westliche Waffen, Munition, Maschinen, Hardware und Software ersetzen, die mit den Armeen der NATO kompatibel waren. Ganze Armeen, Seestreitkräfte und Luftstreitkräfte mussten neu aufgestellt werden. Die NATO-Erweiterung war ein Geldsegen für eine Waffenindustrie, die ursprünglich die Not als Frucht des Endes des Kalten Krieges sah.

Von 1996 bis 1998 gaben die US-Rüstungsunternehmen 51 Millionen Dollar (heute 94 Millionen Dollar) für Lobbyarbeit im Kongress aus. Weitere Millionen wurden für Wahlkampfspenden ausgegeben. Als die Waffenindustrie das Versprechen der osteuropäischen Märkte erkannte, war es vorbei mit dem Wunsch, die Schwerter zu Pflugscharen zu schlagen.

In einem zirkulären und sich gegenseitig verstärkenden Kreislauf stellt der Kongress dem Pentagon Geld zur Verfügung. Das Pentagon finanziert die Rüstungsindustrie, die wiederum Think Tanks und Lobbyisten finanziert, um den Kongress zu weiteren Ausgaben für das Pentagon zu bewegen. Wahlkampfspenden der Waffenindustrie begleiten diese Lobbyarbeit. Das Pentagon, die CIA, der Nationale Sicherheitsrat, das Aussenministerium und andere Glieder des nationalen Sicherheitsstaates finanzieren direkt die Denkfabriken und sorgen dafür, dass jede Politik, die gefördert wird, die Politik ist, welche die staatlichen Institutionen selbst wollen.

Präsenz in Medien, ohne Interessenkonflikte offenzulegen

Nicht nur der Kongress steht unter dem Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes. Die gleichen Rüstungsunternehmen, die Kongressabgeordnete bestechen und Think Tanks finanzieren, beschäftigen oft direkt oder indirekt die Experten, die in Cable News zu sehen sind und denen in Medienberichten viel Platz eingeräumt wird.

Selten wird dieser Interessenkonflikt von den amerikanischen Medien erkannt. So treten in den Medien Männer und Frauen auf, die ihre Gehaltsschecks Lockheed, Raytheon oder General Dynamics verdanken, und plädieren für mehr Krieg und mehr Waffen. Diese Kommentatoren und Experten geben nur selten zu, dass ihre Wohltäter immens von der Politik für mehr Krieg und mehr Waffen profitieren.

Drehscheibe zwischen Rüstungsindustrie und Regierung

Die Korruption reicht bis in die Exekutive hinein, da der militärisch-industrielle Komplex viele Verwaltungsbeamte beschäftigt. Ausserhalb der Regierung wechseln republikanische und demokratische Beamte vom Pentagon, der CIA und dem Aussenministerium zu Rüstungsunternehmen, Denkfabriken und Beratungsfirmen.

Wenn ihre Partei das Weisse Haus zurückerobert, kehren sie in die Regierung zurück. Dafür, dass sie ihre Rotationskartei mitbringen, erhalten sie üppige Gehälter und Vergünstigungen. In ähnlicher Weise gehen US-Generäle und Admiräle, die aus dem Pentagon ausscheiden, direkt zu Rüstungsunternehmen.

Diese Drehtür erreicht die höchste Ebene. Bevor sie Verteidigungsminister, Aussenminister und Direktor des Nationalen Nachrichtendienstes wurden, waren Lloyd Austin, Antony Blinken und Avril Haines für den militärisch-industriellen Komplex tätig. Im Fall von Minister Blinken gründete er eine Firma, WestExec Advisors, die sich dem Handel und der Vermittlung von Einfluss für Waffenverträge widmete.

Interessen auch der Öl- und Gasindustrie nicht ausblenden

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gibt es eine breitere Ebene der kommerziellen Gier, die nicht abgetan oder ignoriert werden kann. Die USA versorgen die Welt mit fossilen Brennstoffen und Waffen. Die US-Exporte von Erdölprodukten und Waffen übersteigen inzwischen die Exporte von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen.

Der Wettbewerb um den europäischen Brennstoffmarkt, insbesondere um Flüssigerdgas, war in den letzten zehn Jahren ein Hauptanliegen sowohl der demokratischen als auch der republikanischen Regierungen. Die Beseitigung Russlands als wichtigster Energielieferant für Europa und die Begrenzung der weltweiten Ausfuhren fossiler Brennstoffe aus Russland haben amerikanischen Öl- und Gasunternehmen grosse Gewinne gebracht. Neben umfassenderen kommerziellen Handelsinteressen sind die schieren Geldbeträge, die das amerikanische Geschäft mit fossilen Brennstoffen einbringt, nicht zu vernachlässigen.

Die Kosten des Krieges

Hunderttausende sind wohl bei den Kämpfen getötet und verwundet worden. Die nachhaltigen psychologischen Schäden sowohl bei den Kämpfern als auch bei der Zivilbevölkerung könnten noch grösser sein. Millionen von Menschen wurden obdachlos und leben nun als Flüchtlinge.

Die Umweltschäden sind unabsehbar, und die wirtschaftlichen Zerstörungen beschränken sich nicht nur auf das Kriegsgebiet, sondern haben sich auf die ganze Welt ausgeweitet, die Inflation angeheizt, die Energieversorgung destabilisiert und die Ernährungssicherheit beeinträchtigt. Der Anstieg der Energie- und Lebensmittelkosten führte zweifellos zu einer Vielzahl von Todesfällen weit über die geografischen Grenzen des Krieges hinaus.

Der Krieg wird sich wahrscheinlich zu einer langwierigen Pattsituation mit sinnlosem Töten und Zerstörung entwickeln. Am Schlimmsten wäre es, wenn der Krieg eskaliert – vielleicht unkontrolliert zu einem Weltkrieg und möglicherweise zu einem Atomkonflikt. Egal, was die verrückten Realisten in Washington, London, Brüssel, Kiew und Moskau sagen mögen, ein Atomkrieg ist nicht kontrollierbar und schon gar nicht zu gewinnen. Selbst ein begrenzter Atomkrieg, bei dem vielleicht jede Seite zehn Prozent ihrer Arsenale abfeuert, wird zu einem nuklearen Winter führen, in dem wir zusehen müssen, wie unsere Kinder verhungern. Alle unsere Bemühungen sollten darauf gerichtet sein, eine solche Apokalypse zu vermeiden.

Das Potenzial für Frieden

Die beiden Teile dieser Analyse sollten darlegen, wie Russland die bewussten Provokationen der USA und der NATO wahrnimmt. Russland ist eine Nation, deren derzeitige geopolitische Ängste von der Erinnerung an die Invasionen durch Karl XII., Napoleon, den Earl of Aberdeen, den Kaiser und Hitler geprägt sind.

Karikatur der Lobby im House of Commons (Vanity Fair, ca. 1886)

US-Truppen gehörten zu den alliierten Invasionstruppen, die im russischen Bürgerkrieg nach dem Ersten Weltkrieg erfolglos gegen die siegreiche Seite intervenierten. Historische Zusammenhänge zu kennen, den Feind zu verstehen und strategisches Einfühlungsvermögen für den Gegner zu haben, ist weder hinterlistig noch schwach, sondern klug und weise. Dies wird uns auf allen Ebenen des US-Militärs beigebracht.

Es ist auch nicht unpatriotisch oder unaufrichtig, sich gegen die Fortsetzung dieses Krieges auszusprechen und sich zu weigern, Partei zu ergreifen.

Präsident Bidens Versprechen, die Ukraine «so lange wie nötig» zu unterstützen, darf kein Freibrief für die Verfolgung unklarer oder unerreichbarer Ziele sein. Eine solche Politik könnte sich als ebenso katastrophal erweisen wie die Entscheidung von Präsident Putin im letzten Jahr, seine kriminelle Invasion und Besetzung zu starten.

Es ist moralisch nicht vertretbar, die Strategie zu unterstützen, Russland bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen. Und es ist auch nicht moralisch zu schweigen, wenn die USA Strategien und Politiken verfolgen, welche die erklärten Ziele nicht erreichen können. Dieses sinnlose Streben nach einer Niederlage Russlands im Geiste einer Art von imperialem Sieg aus dem 19. Jahrhundert ist unerreichbar.

Nur ein sinnvolles und echtes Bekenntnis zur Diplomatie mit dem Ziel eines sofortigen Waffenstillstandes sowie Verhandlungen ohne disqualifizierende oder prohibitive Vorbedingungen werden diesen Krieg und das damit verbundene Leid beenden, Europa Stabilität bringen und das Risiko eines nuklearen Krieg ausschliessen.

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Dieser Beitrag erschien am 6. Juni in Substack und in Scheerpost am 9. Juni. Übersetzt und leicht gekürzt von Infosperber, auch mit Unterstützung von Deepl.

Autor Matthew Hoh

Hoh ist seit 2010 Senior Fellow am Center for International Policy in Washington. Im Jahr 2009 trat er aus Protest gegen die Entwicklung des Krieges in Afghanistan von seinem dortigen Posten zurück. Zuvor beteiligte sich Matthew an der Besetzung des Irak, zunächst 2004/5 in der Provinz Salah ad Din mit einem Team des Aussenministeriums für Wiederaufbau und Regierungsführung und dann 2006/7 in der Provinz Anbar als Kompaniechef des Marine Corps. Wenn er nicht im Einsatz war, beschäftigte sich Hoh bis 2008 im Pentagon und im US-Aussenministerium mit den US-Einsätzen in Afghanistan und in Irak.
2022 kandidierte Hoh als Aussenseiter der Green Party für einen Senatssitz in Washington, erhielt aber nur 1 Prozent der Stimmen.

Am 16. Mai 2023 veröffentlichte er als stellvertretender Direktor des Eisenhower Media Network in der NYT einen ganzseitigen offenen Brief unter dem Titel «The U.S. Should Be a Force for Peace in the World». Unterzeichnet hatten ihn 14 ehemalige US-Sicherheitsbeamte, darunter der US-Botschafter in Moskau unter Ronald Reagan. Sie forderten in der Ukraine eine diplomatische Lösung «bevor es zu einer nuklearen Konfrontation kommt». Kurz vorher hatte die Biden-Regierung jegliche Verhandlungen abgelehnt. Zuerst müsse die Gegenoffensive der Ukraine erfolgreich sein.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Karikatur von 1891 zur Lobbyarbeit für Gesetzesentwürfe (engl. bill) bei einem US-amerikanischen Abgeordneten

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Nur Rationierung ist gerecht

Von Ulrike Herrmann

Wassermangel im Dürresommer. Angeblich leben wir in einer Marktwirtschaft. Doch wenn wichtige Güter knapp werden, hilft die nicht weiter. Dann muss rationiert werden.

Wer bekommt wie viel Wasser? Und wofür? Wie lange darf man noch den Rasen sprengen oder Pools füllen? Solche Fragen werden auch in Deutschland relevanter. In den vergangenen Wochen hat es kaum geregnet, ein Ende der Dürre ist nicht abzusehen. Vor allem im Osten Deutschlands sind die Dürrekarten tiefrot eingefärbt.

Es steht ein Wort im Raum, das eigentlich nur aus Kriegszeiten bekannt ist, wenn alles knapp wird: Rationierung. Ganz selbstverständlich arbeitet die Berliner Umweltsenatorin schon an einem Notfallplan, und auch die BürgerInnen staunen nicht, dass Wasser demnächst staatlich zugeteilt werden könnte.

Diese allgemeine Erwartung an den Staat, dass er die Regie übernehmen soll, ist jedoch längst nicht so naheliegend, wie die meisten BürgerInnen offenbar intuitiv annehmen. Denn angeblich leben wir in einer „Marktwirtschaft“. Zumindest FDP und Union sind davon fest überzeugt. In einer „Marktwirtschaft“ würde jedoch der Preis regeln­, wer wie viel Wasser bekommt. Marktwirtschaft wäre: Wenn Wasser knapp ist, wird es eben teuer. Der Effekt wäre, dass die Reichen weiter ihre Pools füllen und Golfplätze bewässern lassen, weil sie sich die erhöhten Wasserpreise mühelos leisten können. Dafür würde es dann in den armen Quartieren nicht mehr für eine Wassertoilette reichen.

Doch offenbar sind die Deutschen keine Marktwirtschaftler, wenn wichtige Güter wie Wasser knapp werden. Dann soll nicht mehr der Preis regieren – sondern die Gerechtigkeit. Jede soll mehr oder minder das Gleiche bekommen. Wenn die Reichen dann auf Pools und Golf verzichten müssen, haben sie eben Pech gehabt.

Das hat einen sehr rationalen Kern: Deutschland ist eine Demokratie, geht also davon aus, dass alle Menschen gleich sind und daher jeder eine Stimme hat. Dieser fundamentale Gleichheitsgedanke wird auch ökonomisch zentral, wenn es darum geht, wichtige Güter zu verteilen, sobald sie knapp werden.

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Nun ist Wasser ein Extrembeispiel, weil Menschen nicht lange überleben können, wenn sie nicht regelmäßig trinken. Da liegt es nahe, auf Rationierung zu setzen, damit alle versorgt sind. Spannend wird es bei Gütern, die nicht unentbehrlich sind. Werden auch sie irgendwann rationiert? Da ist zum Beispiel das Fliegen, ein Lieblingshobby der Deutschen. Schon jetzt ist klar, dass es der Luftfahrt in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingen wird, klimaneutral zu werden. Klimaneutralität ist nur möglich, wenn man aufs Fliegen verzichtet. Software-Milliardär Bill Gates weiß auch schon, wie er dieses Problem gern lösen würde: Kerosin muss eben sehr teuer werden. Dann könnte er weiterhin mit seinen Privatjets fliegen, während der große Rest finanziell überfordert wäre und am Boden bleiben muss.

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Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Eine bittere Kiwi Ernte

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Die pontinische Ebene gehört zu den fruchtbarsten Gegenden Italiens. 

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Von  :    CHARLOTTE AAGAARD   —   KUSUM ARORA  —  FRANCESCA CICCULLI   —   STEFANIA PRANDI

Hier werden Kiwis angebaut, die in ganz Europa gegessen werden. Auf den Feldern arbeiten viele Inder. Oft unter unwürdigen Bedingungen, gefan­gen in einem System aus Schulden und Angst.

Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das Balbir Singh nie vergessen wird.

In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.

Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet hatten.“

Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit heute.

Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu dem italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.

Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo schließlich zur Polizei.

„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen waren oder bevor sie morgens aufstanden.

Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen Chef vor Gericht brachte.

Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle Instanzen gegangen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.

Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.

Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind sie zurückhaltend.

Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.

Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. Sein Fall sorgte für Schlagzeilen. Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie Lokalzeitungen berichteten.

Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.

In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.

Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.

Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.

Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.

Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden fehlten oft, sagt Omizzolo.

Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.

Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni Gioia.

Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.

Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem Bereich gibt.

Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.

Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, die er am selben Morgen gepflückt hatte.

Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro wert ist.

Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, schaute er weg und gab nur vage Antworten.

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Oben     —     Der Süden der Pontischen Ebene bei Terracina (Parco Nazionale del Circeo)

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Kolumne-Fernsicht-Uganda

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Zwei Gegner für Uganda: USA und Dschihadisten

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Von Joachim Buwembo

Seit Uganda 2007 eine afrikanische Militärintervention in Somalia anführte, die somalische Staatlichkeit wiederherstellte und die islamistischen al-Shabaab aus Mogadischu und anderen Landesteilen vertrieb, ist es zur Zielscheibe von Dschihadisten weltweit geworden.

Diese sehen in Uganda einen Statthalter der USA am Horn von Afrika. 2010 töteten Shabaab-Selbstmord­attentäter fast 100 Menschen, die in Ugandas Hauptstadt Kampala das Fußball-WM-Finale verfolgten. Das Bestreben, Uganda und seinen Präsidenten Yoweri Museveni zu bestrafen, hat nie nachgelassen.

Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit. Heute sind die Beziehungen zwischen Uganda und den USA angespannt wegen des neuen ugandischen Gesetzes, das gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiert. Die USA haben gedroht, ihre Uganda-Hilfen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar im Jahr – die Hälfte davon fließt in die Behandlung der 1,2 Millionen HIV-Kranken in Uganda – auszusetzen. Präsident Joe Biden hat sich persönlich zu Wort gemeldet, das US-Außenministerium hat eine Reisewarnung ausgesprochen, und US-Aktivistengruppen warnen vor Tourismus in Uganda und sagen, das Land sei nicht sicher.

Zugleich haben die Dschihadisten tödliche Schläge gegen Uganda ausgeführt. Sie überranten 120 Kilometer südlich von Mogadischu eine ugandische Armeebasis und behaupteten, 137 Soldaten getötet und viele andere gefangen genommen zu haben; Uganda spricht von 54 Toten. Noch schockierender war vor einer Woche der Angriff auf ein Internat im Westen Ugandas nahe der kongolesischen Grenze, wo die dschihadistische Gruppe ADF (Allied Democratic Forces) seit drei Jahrzehnten Ugandas Regierung bekämpft. 42 Teenager wurden bei lebendigem Leibe verbrannt und etwa 20 weitere verschleppt, vermutlich zum Zwangsdienst bei der ADF in Kongos Wäldern.

Der Angriff erfolgte genau 25 Jahre nach einem ADF-Angriff auf eine technische Hochschule im Westen Ugandas, bei dem rund 80 Teenager verbrannten. Die ADF hat bereits im vorletzten Jahr in Kampala Bomben hochgehen lassen.

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Waren nicht die Religionen schon immer der Anlass für die meisten Kriege Welt – weit?

Islamistische Dschihadisten bekämpfen Museveni seit dem ersten Tag seiner Machtergreifung 1986. Damals hatte er sich die Solidarität mit den schwarzen Nationalisten in Südsudan, die für die Befreiung Südsudans von der islamisch-fundamentalistischen Regierung in Sudans Hauptstadt Khartum kämpften, auf die Fahnen geschrieben. Ugandas militärische Unterstützung war entscheidend für den Erfolg der Unabhängigkeitskämpfer Südsudans. Khartum unterstützte im Gegenzug mehr als zwei Jahrzehnte lang die christlich-fundamentalistische LRA (Lord’s Resistance Army) von Joseph Kony in Norduganda und die islamisch-fundamentalistische ADF im Ostkongo.

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Auszeit vom realen Horror

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Bevor das nächste Kind tot daliegt

Ein Debattenbeitrag von Shoko Bethke

Eine Studie stellt eine leicht wachsende Nachrichtenmüdigkeit fest. Doch es gibt Möglichkeiten, auf schlechte Nachrichten konstruktiv zu reagieren.

Das Bild des zweijährigen Alan Kurdi kehrt ins Gedächtnis zurück. Sein lebloser Körper am Strand, bekleidet mit einem roten T-Shirt, einer blauen Hose, an den Füßen dunkle Turnschuhe. Er liegt auf dem Bauch, seine Arme dicht am Körper, an das Gesicht klatschen wiederkehrende Wellen. Das Foto des toten syrischen Kindes am türkischen Strand war im September 2015 ein Weckruf für viele, für die der Krieg in Syrien wie ein Ereignis aus weiter Ferne wirkte. Die Bilder sorgten für Entsetzen und offene Münder – und für einen kurzen Augenblick für Empathie in der Politik und das Bedürfnis, den Geflüchteten doch noch irgendwie zu helfen.

Empörung ist kräfteraubend, aber wichtig, bevor das nächste Kind leblos am Strand liegt

Wenn Bootsunglücke wie jene in Griechenland oder vor den Kanaren zunehmen, wird es bald den nächsten Alan Kurdi geben. Am vergangenen Mittwoch sank ein Fischkutter mit vermutlich über 700 Menschen an Bord; sie wollten von Libyen nach Italien fahren. Zehn bis fünfzehn Minuten verblieb den Schutzsuchenden, ehe das Boot komplett unterging. Die griechische Küstenwache rettete 104 Menschen aus dem Wasser, 78 Tote wurden geborgen. Zwei Tage später stellte die Küstenwache die Suche nach weiteren Leichen ein.Unter den Passagieren sollen auch Menschen ohne jegliche Schwimmkenntnisse gewesen sein.

An diesem Mittwoch dann wieder: Vor der spanischen Inselgruppe kamen 39 Menschen ums Leben, die Küstenwache bestätigte den Tod eines Säuglings.

So eine Überfahrt macht niemand freiwillig. Wie gewaltig muss ihre Notlage gewesen sein, wie bedrohlich die Lage für ihre Familie, dort, wo sie zuvor gelebt hatten? Und wann begreift Europa das eigentlich?

Jeder zehnte Erwachsene meidet Nachrichten

Am vergangenen Mittwoch wurde auch der „Digital News Report 2023“ des Reuters-Institut für Journalismus-Studien in Oxford veröffentlicht. Ergebnis der Studie: In Deutschland meidet jeder zehnte internetnutzende Erwachsene Nachrichten. Die Befragung wurde im Januar dieses Jahres durchgeführt, doch da auch im Jahr 2022 jede zehnte Person aktiv Nachrichten aus dem Weg ging, dürfte sich die Zahl im halben Jahr nicht besonders verändert haben.

Insgesamt versuchen 65 Prozent der Deutschen mindestens gelegentlich Nachrichten auszuweichen. Fast ein Drittel geht gezielt bestimmten Themen aus dem Weg, am häufigsten werden Nachrichten zum Krieg in der Ukraine gemieden. Während im vergangenen Jahr noch 57 Prozent der Deutschen äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert waren, sind es dieses Jahr nur noch 52 Prozent.

Das Bedürfnis, sich eine Auszeit von schrecklichen Meldungen nehmen zu wollen, ist nachvollziehbar. Denn zusammen mit Bildern des überfüllten Bootes kehren auch Ohnmachtsgefühle und Hilfslosigkeit zurück.

Ukraine, MeToo, Klimawandel und Rechtsruck

Dabei ist die Nachrichtenlage ohnehin schon schwer verdaulich: Der Krieg in der Ukraine ist seit fast anderthalb Jahren ein Dauerereignis, außerdem entflammt hierzulande eine neue #MeToo-Debatte. Was neue Gesetze zur Bekämpfung des Klimawandels angeht, tritt die Ampel praktisch auf der Stelle, und die AfD bekommt in neusten Umfragen mit 19 Prozent mehr Stimmen als die Partei des Bundeskanzlers. Außerdem ragt der Rechtsruck über nationale Grenzen hinaus und führte zur Einigung der EU, die Grenzen vor Geflüchteten zu „schützen“.

Unter anderem deshalb fühlen sich Politik und ihre Entscheidungen wie Beschlüsse aus der Ferne an, auf die man als Einzelperson keinen Einfluss nehmen kann. Für die Psyche kann es also gesund sein, sich eine Auszeit von Nachrichten zu nehmen, sei es, das Handy wegzulegen oder den Fernseher auszuschalten. Neu­ro­wis­sen­schaft­le­r:in­nen erklären, dass der permanente Konsum schlechter Nachrichten einen dauerhaften Stresszustand im Gehirn und Körper verursachen kann. Daraus resultierende Folgen können Gereiztheit, Schlafstörungen und in schlimmen Fällen auch Depressionen sein.

Deshalb ist es sinnvoll, sich gezielt eine Auszeit zu nehmen. Statt nach der Zeitung zu greifen, lieber einen Roman oder ein Kochbuch schnappen. Einen neuen Sport ausprobieren, vielleicht mal länger schlafen und allgemein auf die Bedürfnisse des Körpers hören.

Nachrichtenentzug darf kein Dauerzustand sein

Doch so wichtig Rückzug und Ablenkung auch sind, muss man sich bewusst machen, dass dies kein Dauerzustand sein kann. Die Weltlage vollständig auszublenden bringt die Toten nicht zurück, im Gegenteil. Denn wenn überhaupt jemand an der Lage etwas verändern kann, dann ein medialer und gesellschaftlicher Aufschrei – siehe die Debatte um Till Lindemann.

Quelle        :         TAZ-online         >>>>>         weiterlsen

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Oben         —         Graffiti-Kopie des Fotos der angeschwemmten Leiche von Alan Kurdi. Ein Werk der Künstler Justus „Cor“ Becker und Oguz Sen an der Osthafenmole in Frankfurt am Main, Titel „Europa tot – Der Tod und das Geld“

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Chatkontrolle :

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Was du jetzt dagegen tun kannst

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :     

Die Kritik an der sogenannten Chatkontrolle reißt nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Einige Menschen lassen sich davon nicht entmutigen. Wir wollten von ihnen wissen: Wie können sich Interessierte politisch engagieren, um das Überwachungsgesetz zu stoppen?

Eigentlich will die EU-Kommission mit einem Gesetzesvorschlag aus dem letzten Jahr sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Netz bekämpfen. Doch auf der einen Seite zweifeln Expert:innen die Wirksamkeit des Vorschlags an, zum anderen schätzen sie die Pläne als grundrechtswidrig ein. Ein Teil des Vorschlags ist die sogenannte Chatkontrolle: Anbieter von Kommunikations- oder Hostingdiensten sollen auf Anordnung auch die privaten Daten ihrer Nutzenden nach Hinweisen auf mögliches Missbrauchsmaterial oder Grooming scannen. So nennt man es, wenn Erwachsene mit sexuellem Interesse Kontakt an Minderjährige anbahnen.

Seit mehr als einem Jahr bricht die Kritik an den Plänen der EU-Kommission nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Das ist für Gegner:innen frustrierend. Lässt sich der Kommissionsvorschlag überhaupt noch verändern oder sogar verhindern – und was können Menschen tun, die sich irgendwie engagieren wollen? Wir haben Aktivist:innen gefragt und konkrete Handlungswege aufgeschrieben.

Herausfinden, wo gerade verhandelt wird

Tom Jennissen engagiert sich beim Bündnis „Chatkontrolle stoppen“ und dem Verein Digitale Gesellschaft – und er ist optimistisch. „Wir haben auf jeden Fall noch die Möglichkeit, die Pläne zur Chatkontrolle zu verhindern“, schreibt er auf Anfrage von netzpolitik.org. „Dazu müssen wir jetzt den Druck erhöhen, denn die Zeit bis Ende September wird entscheidend sein.“

Bis Ende September werden die wichtigen Gremien im EU-Parlament ihre Positionen zum Kommissionsentwurf verhandeln. Dort beschäftigt sich federführend der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) mit dem Gesetzentwurf. Außerdem ist der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) relevant. Er hat eine beratende Rolle und will noch vor der parlamentarischen Sommerpause im August seine Position beschließen. LIBE plant, Ende September über die Änderungsanträge aus dem Ausschuss abzustimmen.

Auch Elina Eickstädt engagiert sich bei „Chatkontrolle stoppen“ und ist Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC). Sie empfiehlt: „Vor der Abstimmung wäre es also sehr gut, nochmal dediziert IMCO-Mitglieder anzuschreiben, besonders die von der Fraktion Renew.“ Renew Europe ist eine Fraktion im EU-Parlament, in der unter anderem Abgeordnete der FDP vertreten sind. Während sich deutsche Renew-Abgeordnete wie Moritz Körner gegen die Chatkontrolle einsetzen, sehe das bei den Kolleg:innen aus anderen Mitgliedstaaten anders aus.

Europa-Abgeordnete identifizieren

Ein erster Entwurf für eine IMCO-Stellungnahme des maltesischen Sozialdemokraten Alex Agius Saliba aus dem Februar adressierte bereits viele kritische Punkte zur Chatkontrolle. Er wandte sich gegen die Schwächung verschlüsselter Kommunikation, gegen Alterskontrollen und gegen die Erkennung von Grooming.

Eickstädt schlägt vor: „Man kann deutlich machen, dass einem Bericht nicht zugestimmt werden darf, der nicht den Schutz von verschlüsselter Kommunikation gewährleistet und Aufdeckungsanordnungen in ihrer aktuellen Form unterstützt. Diese müssen immer gezielt und spezifisch sein.“ Sie gibt zu Bedenken: „Wenn der gute Report von Saliba in der Abstimmung scheitert, geht es wieder zum Kommissionstext zurück.“ Es könnte also helfen, die Abgeordneten auf diese oder andere kritische Punkte hinzuweisen.

Im LIBE-Ausschuss sehe es ähnlich aus, auch hier gehören viele Renew-Abgeordneten zu den Wackelkandidat:innen. Außerdem enttäuschte der erste Berichtsentwurf des konservativen Berichterstatters Javier Zarzalejos die Kritiker:innen. Da bis zur geplanten LIBE-Abstimmung am 21. September noch etwas Zeit ist, schlägt Eickstädt vor, sich zunächst auf die Berichterstatter:innen zu konzentrieren.

Für jeden Ausschuss gibt es eine:n Berichterstatter:in, diese Person leitet den Prozess bis zu einer finalen Ausschussposition. Von den anderen Fraktionen gibt es sogenannte Schattenberichterstatter:innen, die jeweils für ihre Fraktionen versuchen, Kompromisse auszuhandeln.

Europa-Abgeordnete kontaktieren

Alle Mitglieder der jeweiligen Ausschüsse sind auf den jeweiligen Ausschussseiten mit Angabe ihrer Fraktion gelistet. Ihre E-Mail-Adressen, Telefon- und Faxnummern erscheinen bei einem Klick auf ihr Foto in der Übersichtsseite.

Einen guten Überblick bietet auch die Seite Parltrack. Hier lassen sich auch leicht die Berichterstatter:innen und Schattenberichterstatter:innen der einzelnen Fraktionen herausfinden.

Falls man Abgeordnete per Telefon kontaktieren will, wird man meist bei ihren Mitarbeitenden landen. Sie sind aber auch gute Gesprächspartner:innen, weil sie die Positionen der Abgeordneten mit vorbereiten. Es ist gut, sich vorher ein paar Punkte zu notieren, die einem besonders wichtig sind. Ein Kontakt per E-Mail ist natürlich auch möglich. Anregungen für eine solche E-Mail gibt das Team von „Chatkontrolle stoppen!“.

Bundestagsabgeordnete ansprechen

Neben der EU spielt auch Deutschland eine wichtige Rolle. „Die deutsche Politik darf sich nicht wegducken“, schreibt Jennissen. „Die Bundesregierung hat sich immer noch nicht durchringen können, ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag als Position für die fast schon beendeten Verhandlungen im Rat festzulegen – das Scannen privater Kommunikation abzulehnen.“ Fast ein Jahr hatte die Bundesregierung über ihre Position zur Chatkontrolle gestritten. Nun lehnt sie zwar das Scannen verschlüsselter Nachrichten ab, bei unverschlüsselten Daten jedoch nicht.

Jennissen kritisiert, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) „weit davon entfernt“ sei, „die Chatkontrolle aktiv abzulehnen oder auch nur die Minimalposition der Bundesregierung zur Ablehnung von Client-Side-Scanning offensiv zu vertreten.“

Dass Faeser selbst zu einer solchen Ablehnung zu bewegen ist, bezweifelt Jennissen. Doch der Bundestag könne noch etwas tun: „Durch eine Erklärung gemäß Artikel 23 Grundgesetz kann er die Bundesregierung auffordern, die Chatkontrolle abzulehnen und diese Position auch aktiv in Brüssel zu vertreten.“

Schon im Dezember hatten FDP und Grüne im Bundestag einen Entwurf für eine solche Stellungnahme erstellt, doch besonders die Innenpolitiker:innen der SPD blockieren das Vorhaben. Die Position scheint sehr festgefahren. Dennoch gehört der Austausch mit Wähler:innen zum Alltag von Bundestagsabgeordneten. Eine Übersicht von Innenpolitiker:innen der SPD-Bundestagsfraktion gibt es auf der Seite zur Arbeitgruppe Inneres.

Mit ausreichend Druck aus dem Bundestag könnte Deutschland seine Position im Rat ändern. „Damit würde eine Sperrminorität im Rat in greifbare Nähe rücken“, schreibt Jennissen. Sperrminorität heißt: Eine Minderheit kann einen Vorschlag im Rat blockieren. Sie lässt sich etwa mit vier Staaten erreichen, die gemeinsam 35 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Mitgliedsländer, die Chatkontrolle kritisch sehen, sind Österreich und die Niederlande. Würden diese gemeinsam mit Deutschland gegen den Entwurf stimmen, bräuchte es nur noch ein weiteres Land.

Protest auf die Straße bringen

Neben der Möglichkeit, Abgeordnete zum Handeln aufzufordern, lässt sich auch noch anders für Aufmerksamkeit sorgen. „Solange es keine klare, ablehnende Position der Bundesregierung gibt, die sich auch in den Verhandlungen niederschlägt, müssen wir den Protest weiter auf die Straße tragen“, schreibt Jennissen. „Öffentliche Proteste und Demos – gerade auch außerhalb Berlins – können den Ampelparteien deutlich machen, dass es keine gute Idee ist, mit dem offenen Bruch eines Versprechens in die Europawahl im nächsten Jahr zu starten.“

Interessierte können dich dabei bestehenden Protesten anschließen oder auch selbst etwas auf die Beine stellen. Beim Organisieren der ersten eigenen Demo oder Kundgebung können vor allem 12 Tipps helfen. „Ohne öffentlichen Druck ist weder von den Abgeordneten noch der Regierung etwas zu erwarten“, schreibt Jennissen.

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Ein Loblied 300 Jahre später

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

Mehr als die „unsichtbaren Hände“

Kirkcaldy, Fife, Scotland – In direkter Nähe zum Geburshaus von Adam Smith, welches im Jahre 1834 abgerissen wurde.

Ein Debattenbeitrag von Konstantin Peveling

Zum 300. Geburtstag von Adam Smith. – Der Geburtstag des Moralphilosophen wurde in der linken Szene distanziert zur Kenntnis genommen. Dabei ist es Zeit, ihn zu umarmen.

In der vergangenen Woche wäre Adam Smith 300 Jahre alt geworden. Während die einen fröhlich auf den schottischen Moralphilosophen anstießen, nahm man dies in der linken Szene höchstens distanziert zur Kenntnis. Zu groß ist die Abneigung gegenüber dem vermeintlichen Verfechter eines „von unsichtbarer Hand“ gelenkten, ungebändigten Marktes. Dabei wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, ihn aus der Umklammerung von Fehlinterpretationen und Klischees zu befreien, ihm mit frischem Blick zu begegnen.

Liest man Smith als Ganzes, lernt man einen großen Menschenfreund kennen

Smiths 1759 erschienene „Theory of Moral Sentiments“ und 1776 veröffentlichte „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ wurden schnell zum Hit und in viele Sprachen übersetzt. Mit dem Erfolg kam leider auch der Missbrauch seines Werkes: Öko­no­m:in­nen und Po­li­ti­ke­r:in­nen beriefen sich immer selektiver auf sein Denken und verzerrten damit die Wahrnehmung dessen.

Das berühmte Bild von der „unsichtbaren Hand“ ist ein trauriges Beispiel dafür. In der damaligen Zeit war es einfach nur eine geläufige Metapher, die Smith selbst nicht mit eigenem Gehalt aufgeladen hat und die auch keine zentrale Rolle in seinem Werk spielt; verwendete er die Wortdoppelung insgesamt nur dreimal. Als später die Metapher nicht mehr geläufig war, stürzten sich Öko­no­m:in­nen aller Lager auf sie und arbeiteten sich an ihr ab. Man glaubte, daraus ableiten zu können, dass egoistisches Verhalten auf dem Markt immer zu einer Steigerung des Gemeinwohls führe und Smith jeden Eingriff zu unterbinden befahl. Der Schotte verkam zum Posterboy der Anhänger von Egoismus und Minimalstaat.

Davon abgesehen, dass Smith so was nie behauptet hat, versperren solche Bilder den Blick auf ihn. Liest man Smith als Ganzes und nicht nur ein paar kurze Textauszüge, lernt man einen großen Menschenfreund kennen, der in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit die tragenden Werte der Gesellschaft sah. So ist er auch nicht Gründer der Volkswirtschaftslehre, sondern Moralphilosoph. Noch viel wichtiger: Er dachte ganzheitlich über Wirtschaft, Moral und Politik nach und sah sie als unzertrennlich an.

Adam Smith und die Nächstenliebe

Smith war tiefgehend damit beschäftigt, die Prozesse zu verstehen, durch die Menschen ihre moralischen Urteile bilden. Laut ihm tragen Menschen sowohl die Eigenschaft zur Eigenliebe als auch zur Nächstenliebe in sich. Die Fähigkeit, Mitgefühl für die Emotionen und Perspektiven anderer Menschen zu empfinden, nannte er „Sympathy“ – Sympathie.

Durch sie würden moralische Urteile gebildet und würde moralisches Verhalten entwickelt, was altruistisches Verhalten und die Förderung des Gemeinwohls hervorbringe. Er unterstreicht auch die Bedeutung sozialer Bindungen und gesellschaftlichen Miteinanders. Gleichzeitig sei Sympathie nicht bedingungslos. Sie könne durch Faktoren wie persönliche Vorurteile, Voreingenommenheit und begrenzte Wahrnehmung beeinflusst werden.

Smith entwickelte ein Modell, das auf einem gesellschaftlichen Prozess basiert, mit dem Ziel, Eigen- und Nächstenliebe in ein Gleichgewicht zu bringen. Beide seien für ein gesellschaftliches Miteinander wichtig, solange sie nicht außer Kontrolle geraten. Das Wissen darüber, wann die Eigenliebe in selbstsüchtigen und gemeinwohlschädlichen Egoismus umschlage, komme nicht aus dem Nichts. Es sei auch nicht angeboren, sondern entwickele sich durch die Sympathie, die Reaktionen anderer Menschen und eine aufgeklärte Selbstreflexion.

Sollten wir die Toten nicht dort belassen wo sie begraben wurden ? Was werden wohl die späternen Generationen mit den heutigen politischen Versagern machen? Verheizen ??

Ein solch interaktiver, austarierender Prozess benötigt individuelle Freiheit und Unabhängigkeit. Als liberaler Denker der Aufklärung trat Smith vehement für diese ein, kämpfte gegen die Obrigkeit und für die Abschaffung ihrer Privilegien, etwa die der Zünfte. Zudem dachte er egalitär, heißt: In seinem Denken sind alle Menschen und Staaten gleich. So war er sowohl gegen die Sklaverei als auch antikolonial; eine Position, die in der Zeit nicht überall mehrheitsfähig war.

Was Linke heute von seinem Denken lernen können

Als An­hän­ge­r:in linker Ideen muss man Smith nicht verehren. Allerdings ist es vielleicht an der Zeit, die eigene Abneigung zu überwinden und ihn stattdessen freundschaftlich zu umarmen. Zum einen sind viele seiner Ideen linken Positionen nicht vollkommen fremd, zum anderen kann man viel von ihm lernen. Genau wie zur Zeit der schottischen Aufklärung geht es heute im Angesicht der Klimakrise um die Frage: Reform oder Revolution?

Vielen ging es auch damals nicht schnell genug und sie forderten einen revolutionären Umsturz des Systems – Smith gehörte nicht dazu. Nicht, weil er nostalgisch an Dingen festhalten wollte, im Gegenteil. Ihm ging es darum, institutionelles Wissen nicht zu verlieren. Eine Revolution würde nicht nur ein System plattmachen, sondern alles Gelernte gleich mit. Der schrittweise, reformerische Ansatz von Adam Smith hingegen öffnet die Tür für entdeckerfreudige Lern- und Experimentierprozesse. Ideen umsetzen, Fehler machen, korrigieren. In etlichen Reformen sammeln wir Wissen und verändern die Gesellschaft wie ein Mosaik, in dem die Steine getauscht werden.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     2009 photograph of a 19th-century building near the house where philosopher, economist and author Adam Smith lived, 1767-1776. 220 High Street, Kirkcaldy, Fife, Scotland. At this location, Smith wrote „The Wealth of Nations“, according to a plaque on the pictured building. The original house was torn down in 1834.

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Eure Yachten unser Hitze

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

Holstein: Protest im Yachthafen Neustadt

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :  pm

Auf den Yachten werden Banner entrollt, auf denen unter anderem zu lesen ist “Euer Luxus = unsere Ernteausfälle” und “Für wen machen Sie Politik, Kanzler Scholz?”

Unterstützer:innen der Letzten Generation protestieren heute morgen im ancora Marina Yachthafen in Neustadt an der Ostsee gegen den zerstörerischen Lebensstil der Superreichen und dem planlosen Zusehen der Bundesregierung dabei. Dafür begaben sie sich an Bord von zwei Yachten, färbten das Wasser mit Hilfe von Uranin giftgrün ein und besprühten die Yachten mittels präparierter Feuerlöscher orange an. Im Anschluss hängten sie Banner auf. Während des Protestes tragen sie Schwimmwesten.

Theodor Schnarr erläutert als ein Sprecher der Letzten Generation, an wen sich die Protestaktion richtet: „Unsere Fragen richten sich an Kanzler Scholz: Was nützen den Reichen und ihren Kindern und Enkelkindern ihre Luxusyachten, wenn sich die Meere in eine stinkende giftgrüne Brühe verwandelt haben? Was nützen ihnen ihre klimatisierten Villen und Bunker in Neuseeland, wenn sie dort in einer Art freiwilligen Verbannung leben? Olaf Scholz, handeln Sie und sorgen Sie mit einer mutigen Politik dafür, dass ein Gesellschaftsrat einberufen wird, der Sie bei der mutigen Entscheidung die Exzess-Emissionen der Reichen zu stoppen unterstützt.“

Die giftgrüne Färbung des Hafenbeckens warnt, dass unsere Meere zu kippen drohen. Wenn die Meere aufgrund der globalen Erwärmung sich weiter erwärmen, versauern sie und vermehrtes Algenwachstum wird das Wasser giftgrün färben. Hierdurch verlieren sie ihre Fähigkeit, CO2 aufzunehmen. Dies ist eine äusserst bedrohliche Veränderung, die todbringende Konsequenzen für das Leben auf der Erde hat. [1] Das bei der heutigen Protestaktion im Hafenbecken eingesetzte Färbemittel Uranin ist eine für Menschen, Tiere und Pflanzen unbedenkliche Substanz. [2]

Der ancora Marina Yachthafen ist mit 1440 Liegeplätzen der grösste private Yachthafen an der Ostsee. Eine Superyacht verursacht mehr CO2 als 600 durchschnittliche Bürger:innen Deutschlands. [3] Des Weiteren zahlt der Handwerker, der seinen Transporter tankt, darauf eine CO² Steuer, Besitzer:innen einer Superyacht nicht.[4]

„Während in Deutschland über die Rationierung von Wasser diskutiert wird und erste Kommunen den Wasserverbrauch ihrer Bürger:innen einschränken mussten [5], während in Indien bereits heute Menschen zu dutzenden Menschen an extrem hohen Temperaturen sterben [6] und auch bei uns mit tausenden Hitzetoten zu rechnen ist [7], geht die Party der Reichen weiter. Wir fragen uns, für wen machen sie eigentlich Politik, Herr Scholz?” erklärt Regina Stephan, warum sie sich an der Protestaktion beteiligt. Sie studiert Medizin und ist nebenbei auf einer Intensivstation tätig.

Weiter sagt sie: „Während die Stadtviertel von Ärmeren und der Mittelschicht überhitzen, können sich die Superreichen in ihre klimatisierten Villen und Yachten schützen. Es könnten so viele Menschenleben gerettet werden, wenn die Regierung jetzt endlich handelt.”

Die Klimaschutzbemühungen der Bundesregierung sind völlig ungenügend und sozial ungerecht. Im Gesellschaftsrat können wir eine gerechte Lösung finden, die für die grosse Mehrheit der Bevölkerung gut ist. Parlament und Regierung sollen anschliessend über die vom Gesellschaftsrat erarbeiteten Massnahmen abstimmen. [7]

Fussnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/klimawandel-ozeankonferenz-warnt-vor-versauerung-der-meere-100.html

[2] www.sigmaaldrich.com/DE/de/sds/sigma/46960

[3] theconversation.com/private-planes-mansions-and-superyachts-what-gives-billionaires-like-musk-and-abramovich-such-a-massive-carbon-footprint-152514

[4] www.tagesschau.de/investigativ/ndr/jachten-treibhausgase-klima-101.html

[5] www.agrarheute.com/management/recht/wassermangel-deutschland-wasser-rationierung-fuer-buerger-bauern-608061

[6] www.sueddeutsche.de/politik/indien-hitze-klimaveraenderung-tote-1.5947316

[7] www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/lauterbach-hitzeschutzplan-100.html

[8] letztegeneration.org/gesellschaftsrat/

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   blicke auf die schiffe

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

„Krieg und Frieden“
Einreiseverbot in Georgien: Franz Kafka lässt grüßen

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Aus Jerewan Filipp Dzyadko

Nur noch zwei Schritte, dann wäre ich zu Hause, bei meiner Familie. Doch der Grenzer sagt: „Ihnen wird die Einreise verweigert.“ Ohne Angabe von Gründen. Herzlich willkommen, nicht zu Hause, sondern in der Welt von Franz Kafka.

Georgien ist eines der Hauptziele russischer Migranten. Nach dem 24. Februar 2022 kamen überstürzt Zehntausende, die Putins Krieg nicht unterstützen. Auch ich habe mit meiner Familie ein Jahr lang in Georgien gelebt. Und erlebte dann für 24 Stunden so etwas wie der Protagonist im Spielberg-Film „Terminal“, gespielt von Tom Hanks. Als Bürger einer osteuropäischen Diktatur ist dieser gezwungen, auf einem Flughafen zu leben. Er wird dort als „unerwünschtes Element“ bezeichnet.

Ich kam von einer Dienstreise aus Berlin zurück. Bei der Passkontrolle in Tbilissi hieß es, es gäbe einen „Systemfehler“. Das Foto aus meinem Pass wurde irgendwem per WhatsApp geschickt. 23 Stunden verbrachte ich daraufhin in einer Arrestzelle, um dann zu hören: „Einreise verweigert“. Immer öfter können Menschen aus Russland nicht mehr nach Georgien einreisen. Vielleicht möchte das Land nicht als Hort von Putin-Gegnern gelten. Vielleicht liegen dort Listen des russischen Geheimdienstes aus. Oder die Regierung der Kaukasusrepublik weiß schlicht nicht, wie sie mit der neuen Realität umgehen soll.

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Mir wurde gleich am Flughafen vorgeschlagen, ich solle mir doch ein Flugticket „irgendwohin“ kaufen. Ich kaufte dann eins ins benachbarte Armenien, um in der Nähe meiner Familie zu sein, die in Georgien blieb. Und ich dachte: Wo sollen wir jetzt eigentlich neu anfangen? Meine Frau, meine Tochter, die das Schuljahr in ihrer georgischen Schule beenden muss.

Warum ich nicht einreisen durfte? Jemand meinte, es sei vielleicht wegen meines Romans „Radio Martyn“. Darin geht es um einen oppositionellen Piratensender und die Giganten, die Putins Welt und seine Propaganda zerstören. Eine andere Vermutung: Vor zehn Jahren war ich aktiv im „Koordinierungsrat der Opposition“. Oder: Weil mein Bruder Chefredakteur des oppositionellen russischen TV-Senders Doshd ist. Was immer auch die Erklärung sein mag, meine Einstellung zu Georgien ändert das nicht: Ich werde das Land weiter lieben. Denn ein Staat und die Menschen, die darin lieben, sind zwei unterschiedliche Dinge.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>     weiterlesen

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Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Die Linken Hasenfüße

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Regierungen sind nicht in Stein gemeißelt

Ein Schlagloch von Robert Misik

Progressive Regierungen sollen auf die Meinungen der Mehrheit Rücksicht nehmen, heißt es. Doch die sind nicht in Stein gemeißelt. Wer nur darauf aus ist, in der Bubble der Überzeugten eine Heldin zu sein, tut niemandem einen Gefallen.

Häufig kursieren in den sozialen Medien lustige Memes von der Art: „Viele Zitate im Internet sind erfunden (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes Falschwissen zu untergraben.

Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist seit vielen Jahren: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ Leider beging ich unlängst den Fehler, die Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch das ein Falschzitat ist und nicht von Keynes ist. Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich der Wiener Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht. So fand er für ein kursierendes Zitat des legendären sozialistischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky die Ursprungsquelle in einer Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom Mai 1976. Der sagte: „Solange ich da bin, wird rechts regiert.“

Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen kann. Damit hat er radikale ökonomische Forderungen seiner linken Parteifreunde gemeint (wie weitgehende Reichensteuern und Verstaatlichungen), aber auch gesellschaftspolitische Modernisierungen wie die Frauen­eman­zi­pation. Kreisky hat beispielsweise die Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch eingeführt, aber im Grunde musste er von den kämpferischen Frauen in seiner Partei dazu gezwungen werden. Diese und andere progressive Gesetze hatten am Ende viel Unterstützung hinter sich, aber Kreisky hätte damit nicht gerechnet.

Ein bisschen Hasenfuß war er schon. Übrigens nicht viel anders als der legendäre Anführer der italienischen Eurokommunisten, Enrico Berlinguer. Der gewann eine Volksabstimmung über die Fristenlösung, die er eigentlich nicht wollte, weil er sicher war, diese niemals gewinnen zu können. Und das ist nur ein Beispiel einer einstmals sehr umkämpften gesellschaftspolitischen Reform. Man kann hier die vielen anderen Thematiken – Diversität einer Zuwanderergesellschaft, moderne Staatsbürgerschaftsgesetze, LGBTIQ-Rechte – dazu denken. Linke Regierungskunst heißt ja, den Königsweg zwischen ambitionierter Radikalität und beruhigender Mäßigung zu finden, und dieser Königsweg ist leider nicht auf Landkarten verzeichnet. Wenn Robert Habeck anmerkt, wie unlängst beim Kölner Philosophie-Festival, dass Ideen untauglicher Schrott sind, wenn sie so radikal seien, dass sie politisch nichts nützen, dann ist das wie ein moderner Nachklang des Kreisky-Aperçus. Der Realist will seine Ansichten so formulieren, dass sie an die vorherrschenden Meinungen in einer Gesellschaft zumindest anschlussfähig sind.

Völlige Zustimmung, nur gibt es eine kleine Kompliziertheit: „vorherrschende Meinungen“ oder Konventionen sind keine unveränderbaren Konstanten. Je furchtsamer man ist, umso weniger wird man sie vielleicht in eine progressive Richtung verändern. Auch bei Sozialdemokraten gab es in den vergangenen Jahrzehnten starke Stimmen, die drängten, man müsse sich an einen konservativen Zeitgeist anpassen, um stärker zu werden, was aber oft nur dazu geführt hat, dass die Sozialdemokratie schwächer und der rechte Zeitgeist stärker wurde.

Gern wird heute auch angeführt, dass die Progressiven die Wäh­le­r:in­nen mit sozialpolitischen und ökonomischen Themen gewinnen können, sie aber mit zu viel gesellschaftspolitischem Klimbim oder der Thematisierung von Trans-Toiletten abschrecken würden. Oft unterschätzt man jedoch die potenzielle Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft, weil man kein präzises Bild vom wirklichen Meinungstohuwabohu der Leute hat. Und außerdem haben wir jetzt schon ein paar Jahre lang die Erfahrung gemacht: Wenn Linke in „die Mitte“ rücken, dann führt das nur dazu, dass sich diese „Mitte“ nach rechts verschiebt.

Quelle          :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      — Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Balken & Torten:

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

So schlecht argumentiert das BKA für die Vorratsdatenspeicherung

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Frage an Radio Eriwan: „Warum nehmen Politiker-innen einen solchen Job an, wenn sie eine so große Angst um ihre Sicherheit haben?“ Aus reiner Gier – einmal im Blick der Öffentlichkeit zu stehen ? Oder geht es ums Geld?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :         

Das Bundeskriminalamt macht mal wieder Stimmung für die Vorratsdatenspeicherung. Das geht aus Folien einer Präsentation hervor, die wir veröffentlichen. Sie enthält Ungereimtheiten und verschleiert Zusammenhänge.

Das Bundeskriminalamt (BKA) kämpft seit Jahren für die Vorratsdatenspeicherung. Die Begründung wechselt von Terrorismus über Organisierte Kriminalität zu (seit einiger Zeit) Kindesmissbrauch.

Bei einem Fachgespräch im Familienausschuss des Bundestages am Mittwoch wird BKA-Vizepräsidentin Martina Link eine Präsentation mit dem Titel „Bedeutung der IP-Adresse in der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen“ halten. Die Polizeibehörde wirbt damit wieder für die derzeit rechtswidrige Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen. Wir haben uns die Folien, die wir an dieser Stelle veröffentlichen (PDF), angeschaut und haben irreführende Aussagen gefunden. Nicht zum ersten Mal.

In der ersten inhaltlichen Folie wird skizziert, wie sich die Fallzahlen bei verschiedenen Straftaten entwickeln. Hier vermischt das BKA Straftaten, die Kinder unmittelbar betreffen – etwa Tötungsdelikte und Missbrauchsfälle – und Straftaten, die mit einer Verbreitung von Inhalten im Internet zu tun haben. Aber nur für manche dieser Straftaten ist eine IP-Adresse relevant.

Aufhellung Dunkelfeld unterschlagen

Eine Grafik sticht besonders hervor. Sie betrifft den Zeitraum zwischen 2016 und 2022 und beschreibt Verdachtsfälle von „Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornographischer Schriften § 184b StGB“. Hierzu gebe es eine Steigerung von 640 Prozent. Diese Zahl braucht eine genaue Einordnung. Ansonsten entsteht der Eindruck, dass hier ein Kriminalitätsfeld mit unglaublicher Geschwindigkeit wachse. Folgende Einordnungen fehlen auf der Folie:

Die vom NCMEC veröffentlichten Zahlen werden oftmals falsch wiedergegeben oder in einen falschen Kontext gesetzt, wie unsere Analyse aus dem vergangenen Jahr gezeigt hat. Das heißt: Auch eine höhere Anzahl von Meldungen des NCMEC an das BKA muss nicht bedeuten, dass es wirklich mehr Straftaten gibt.

Erfolgreich ohne Vorratsdatenspeicherung

In der vierten Folie wird präsentiert, mit welchen Fahndungsmethoden das BKA in Folge einer NCMEC-Meldung Erfolg hat. Demnach machen IP-Adressen – auch ohne Vorratsdatenspeicherung – 41 Prozent der erfolgreichen Ermittlungen aus, es folgen Telefonnummern mit 28 Prozent und E-Mail-Adressen mit 6 Prozent. 25 Prozent aller NCMEC-Meldungen führen demnach nicht zu einem Ermittlungserfolg. Die Erfolgsquote nach einer NCMEC-Meldung liegt nach der präsentierten Statistik also bei 75 Prozent. Damit liegt diese Quote um knapp 20 Prozentpunkte höher als der Durchschnitt aller Straftaten: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik werden allgemein nämlich 57,3 Prozent aller Fälle aufgeklärt.

In der fünften Folie werden die Erfolgsquoten anderer Fahndungsansätze wie Telefonnummern und E-Mail-Adressen näher untersucht. Sie kommen demnach zum Einsatz, wenn der Ansatz per IP-Adresse nicht funktioniert. Telefonnummern können zum Beispiel bei der Verbreitung von Materialien über Messenger wie WhatsApp oder Signal als Fahndungsmerkmal dienen. Spannend ist hier die niedrige Erfolgsquote von nur 49 Prozent. Immerhin lässt sich über die Telefonnummer per Bestandsdatenabfrage herausfinden, auf welchen Namen der Telefonvertrag läuft. Diese Ermittlungsmethode ist aber nur knapp erfolgreicher als die über eine IP-Adresse, die nach dem Ende der Vorratsdatenspeicherung oftmals nur sieben Tage lang gespeichert wird.

Längere Speicherung bringt nur geringe Vorteile

Die sechste Folie lässt sich ohne weiteren Kontext nicht mit Sicherheit deuten. Eine Tabelle listet das „Alter“ einer IP-Adresse in Tagen auf und ordnet diesem Alter einen Ermittlungserfolg in Prozent zu.

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Wir interpretieren das so, dass mit dem „Alter“ der IP-Adresse die Speicherdauer der Adresse beim Provider gemeint ist. In diesem Fall würde die Folie zeigen: Auch wenn Provider die Daten nach sieben Tagen löschen, wären ihre Ermittlungen in mehr als drei Vierteln der Fälle erfolgreich. Eine Verdoppelung der Speicherfrist auf 14 Tage brächte gerade 8 Prozentpunkte mehr Fahndungserfolg. Eine weitere Erhöhung der Speicherfrist auf 26 Tage brächte dann noch einmal 6 Prozentpunkte. Das zeigt: Die längere, grundrechtlich bedenkliche Vorratsdatenspeicherung würde nur minimale höhere Erfolgsquoten erzielen.

Das ist schon lange bekannt; auch eine wissenschaftliche Studie belegt, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung nicht zu nennenswert schlechteren Ermittlungserfolgen führt. Einschränkungen für die Polizei, ob nun durch Verschlüsselung oder durch fehlende IP-Adressen, haben bislang immer dazu geführt, dass die Polizei auf alternative Ermittlungsmethoden zurückgegriffen hat und damit auch erfolgreich war. Hinzu kommt, dass die Polizei aufgrund der Digitalisierung auf eine noch nie dagewesene Fülle von Daten zurückgreifen kann.

In der Ampel gibt es weiterhin Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Während das Justizministerium von Marco Buschmann (FDP) die Vorratsdatenspeicherung ablehnt und stattdessen schon einen Entwurf für das Quick-Freeze-Verfahren vorgelegt hat, will Innenministerin Nancy Feaser (SPD) eine neue Vorratsdatenspeicherung und an das Äußerste gehen, was das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zulässt.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —   Bundeskanzlerin Merkel mit Personenschützern des BKA

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Vom Nildelta in den Tod

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Bootsunglück im Mittelmeer

Aus Kairo von Karim El-Gawhary

Viele der auf dem letzte Woche verunglückten Boot kamen aus Ägypten. Im Nildelta beginnt eine der Routen eines perfiden Schmugglersystems.

Der Untergang des Schiffes voller Migranten vorige Woche im Mittelmeer ist eine griechische Tragödie. Doch es ist auch ein ägyptisches Drama. 43 der 104 Überlebenden sind Ägypter, enthüllte die ägyptische Migrationsministerin Soha Gindi am Montag. Neun der Überlebenden, die wegen Verdachts der Schlepperei festgenommen und dem Haftrichter vorgeführt wurden, sind ebenfalls Ägypter. Auch unter den restlichen Menschen an Bord – insgesamt waren es Schätzungen zufolge rund 750 – soll sich eine hohe Zahl an Ägyptern befunden haben. Sie wurden entweder bereits tot geborgen oder gelten als vermisst.

Inwieweit die neun verhafteten Ägypter als Schlepper gearbeitet haben, ist jetzt eine Frage für die griechische Justiz. Vor dem Haftrichter erklärten die Männer ihre Unschuld. „Mein Mandant sagt, er sei auch nur ein Opfer und habe eine erhebliche Summe für eine Reise von Ägypten nach Italien gezahlt“, erklärte Dimitris Drakopoulos, ein Pflichtverteidiger eines Angeklagten. Er sei von sich aus ins Meer gesprungen, um Wasserflaschen zu holen, die ein Frachter zuvor abgeworfen hatte, nachdem auf dem Migrantenschiff das Wasser ausgegangen sei.

Wenn es sich bei den Verhafteten tatsächlich um Schlepper handelt, dann wohl nur um die ganz kleinen Fische. Es ist üblich, dass die Organisatoren der Schiffe günstigere Preise machen, wenn man an Bord Handlangerdienste leistet. Laut der unabhängigen ägyptischen Nachrichtenplattform Mada Masr berichteten Angehörige zweier der Festgenommenen, dass diese erst vor wenigen Wochen Ägypten verlassen hätten, um nach Europa zu reisen.

Die Hinterleute sitzen woanders. Einer der Namen, die im Zusammenhang mit der Tragödie genannt werden, ist der des Libyers Muhammad Abu Sultan, genannt „Kaiser des Meeres“, der auch der Besitzer des gesunkenen Boots sein soll. Mit seinen Brüdern Salem Abu Sultan, auch genannt „der Führer“, und Ali Abu Sultan unterhält er einen Schmugglerring in Tobruk, schreibt die ägyptische Nachrichtenseite Veto. In der ostlibyschen Stadt war das Boot gestartet.

Tausende Euro für eine Überfahrt

Doch das gesamte System der Schmuggler lässt sich nicht an einigen Namen festmachen, die auf lokaler Ebene zu Schmugglergrößen geworden sind. Es ist ein riesiger Schmugglerring, der sich aus dem Inneren Afrikas über Ägypten, Libyen und Tunesien bis nach Europa zieht. Von einem „gigantischen Spinnennetz“ spricht Gamal Gohar, der für die überregionale arabische Tageszeitung Asharq al-Awsat als Investigativreporter in Sachen Migration und Libyen arbeitet. „Das ist wie ein Markt mit Angebot und Nachfrage, und die Nachfrage wächst immer mehr.“

Die Menschen würden von einer Schlepperbande an die nächste übergeben, bis sie ihr Ziel erreicht haben. „Das ist wie ein Bewässerungssystem im Nildelta. Eine Pumpe transportiert das Wasser in einen Kanal und von dort wird es über andere Pumpen in weiter entfernte Kanäle geleitet“, beschreibt Gohar das System gegenüber der taz.

Im Nildelta in Ägypten befindet sich auch einer der Anfangspunkte des Systems. In den ärmlichen Dörfern sprechen sich die Namen der Ansprechpartner der Schlepper herum, auch über sozialen Medien. Sie fungieren unter falschem Namen, meist als „Hagg soundso“. Hagg ist im Arabischen die Anrede für einen ehemaligen Pilger nach Mekka, eine perfekte anonyme Anrede.

Auf den Weg machen sich vor allem junge Männer, aber auch Kinder und Minderjährige. Er kenne viele 13- oder 14-Jährige, die die Reise angetreten haben, oftmals mit einem älteren Bruder, sagt der ägyptische Investigativjournalist. Armut sei fast immer das Hauptmotiv.

Laut Weltbank leben zwei von drei Ägyptern unter der Armutsgrenze oder drohen in diese abzustürzen. Im ländlichen Nildelta sind die Zahlen noch höher. Die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahr liegt offiziell bei 33 Prozent, bei Nahrungsmitteln ist die Preissteigerung zum Teil noch höher. Das ägyptische Pfund hat seit März letzten Jahres die Hälfte seines Wertes verloren. Viele Familien stehen mit dem Rücken zur Wand. Oft erscheint die Fahrt übers Mittelmeer trotz aller Risiken als einzige Perspektive.

Der Preis für die Überfahrt nach Europa ist Verhandlungssache. Bis zu umgerechnet 4.500 Euro werden bezahlt. Viele Familien können sich das nur leisten, wenn sie ihr Vieh verkaufen oder sich massiv verschulden. „Sie versuchen, alles, was sie besitzen, zu Geld zu machen, um eines ihrer Kinder nach Europa zu schicken“, sagt Gohar.

Drogen für die Kinder

Kommt man ins Geschäft, liegt das erste Ziel hinter der libyschen Grenze. Dort werden die Menschen an eine andere Bande übergeben und in entlegenen Häusern „zwischengelagert“, wie es im Schmugglerjargon heiße, erzählt Gohar. Jetzt kommt es darauf an, in wessen Hände sie geraten sind. Handelt es sich um einen „ehrlichen Schlepper“, werden die Menschen nachts auf zehn- bis zwölfstündige Fußmärsche durch die Wüste geschickt.

Die nächtlichen Wanderungen wiederholen sich, bis die Gruppe ihr Ziel erreicht hat. Kindern wird dabei oft Tramadol verabreicht, ein Opioid, das eigentlich ein starkes Schmerzmittel ist. In Ägypten ist Tramadol zu einem Suchtproblem geworden, weil es oft bei schweren Arbeiten eingesetzt wird, etwa in Marmor-Steinbrüchen. Manchmal haben die Wanderungen durch die Wüste Westlibyen zum Ziel. In letzter Zeit geht es oft aber nur bis ins ostlibysche Tobruk, von wo die Gruppen dann nach Europa ablegen. Bei der Ankunft in Europa wird die zweite Hälfte des vereinbarten Geldes bezahlt.

Handelt es sich jedoch um eine Schlepperbande, die auf anderem Wege zu schnellem Geld kommen möchte, dann endet die Reise in Libyen in einem der Zwischenlager. Besonders verwundbar sind die Kinder. Die werden an andere Banden verkauft und enden als Feldarbeiter, Bettler oder in der Prostitution in Libyen. „Die Liste der in Libyen vermissten Kinder und Minderjährigen im ägyptischen Außenministerium ist lang“, sagt Gohar. Von so manchen hörten die Angehörigen nie wieder etwas, entweder weil sie in Libyen als Zwangsarbeiter eingesetzt würden oder weil sie im Mittelmeer ertrunken seien.

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Afrika, Nildelta und Landenge von Sues (3 Punkte=Ruine, Dreieck=Pyramide)

Title
Lange-Diercke – Sächsischer Schulatlas       /   Publisher    :      Georg Westermann (Braunschweig)
Carl Adlers Buchhandlung (Dresden)

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Unten     —     Tubruk

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Ein Unsozialer Ausstieg?

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

 Unter den Preisen werden in erster Linie die Ärmeren leiden

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In unmittelbarer Nähe von Atommüll-Lagerstädten sind sicher noch Wohnungen frei

Ein Debattenbeitrag vin Leon Holly

Das Ende der AKW-Nutzung verschärft die sozialen Verwerfungen der Energiewende. Die kleine Stromverbraucherin subventionierte industrielle Windparkbetreiber und gut betuchte Eigenheimbesitzer.

Mitte April war es also vorbei. In Deutschland gingen auch die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz. Vor allem im Lichte der Klimakrise erschien die Reihenfolge der deutschen Energiewende – erst aus der Atomkraft raus, dann aus der Kohle, und dann irgendwann auch aus dem Gas – mit der Zeit immer merkwürdiger. Statt mit der Kohle anzufangen, entledigte man sich zunächst einer fast CO2-freien Energiequelle.

Neben dem Weltklima leidet aber auch das oft beschworene soziale Klima unter dem Atomausstieg. Der Plan, das Stromnetz von fossiler und atomarer Grundlastversorgung auf 100 Prozent Erneuerbare umzustellen, bringt nämlich gewaltige Kosten mit sich bringt, unter denen besonders die Ärmsten ächzen.

Zwar können Fotovoltaik und vor allem Windkraft im Alltag recht billig Strom gewinnen. Doch die Gesamtkosten für die Transformation des Energiesystems sind gewaltig. So wollen die Treiber der Energiewende in den kommenden Jahrzehnten eine riesige Infrastruktur aus Kurzzeit- und Langzeitspeichern aus dem Boden stampfen, die bei Bedarf für die wetterabhängigen Erneuerbaren einspringen können. Darüber hinaus muss Deutschland auch das Stromnetz aus- und umbauen, neue Versorgungsleitungen legen und zur Harmonisierung der vielen dezentralen Energiequellen die Digitalisierung voranbringen. Schon heute sehen sich die Netzbetreiber häufig gezwungen, mit teuren „Redispatches“ (Anpassungen) einzugreifen, um Stromproduktion und -nachfrage im Gleichgewicht zu halten.

Alle diese Maßnahmen vergrößern die Rechnung für die Energiewende. Man könnte diese Kosten abmildern, würde man statt der Totaltransformation die Atomkraft als CO2-armen Grundlastsockel für Wind und Sonne beibehalten oder sie gar weiter ausbauen, wie es andere Länder planen. Schon 2021 zog der Bundesrechnungshof bittere Bilanz: Die Energiewende „droht Privathaushalte und Unternehmen finanziell zu überfordern“; die Kosten des Netzumbaus „treiben den Strompreis absehbar weiter in die Höhe“. Dazu kommt der Preis der CO2-Zertifikate, der in den kommenden Jahren weiter steigen und die noch fest verankerte fossile Grundlastproduktion mit Kohle und Gas verteuern wird.

Am Ende zahlen die Verbraucherinnen. Erst vor Kurzem hat die Bundesregierung die EEG-Umlage gestrichen, mit der alle Stromkunden jahrelang den Ausbau von Solar- und Windkraft bezuschussten. Auch die kleine Stromverbraucherin subventionierte darüber großindustrielle Windparkbetreiber und gut betuchte Eigenheimbesitzer, die Solarzellen auf ihre Dächer pflasterten – eine Umverteilung von unten nach oben. Nach über zwanzig Jahren Energiewende und Subventionen in Höhe von Hunderten Milliarden Euro hat Deutschland nicht nur das fossillastigste Netz Westeuropas, sondern auch mit die höchsten Strompreise auf dem Kontinent. Teuer an der Kernenergie wiederum ist vor allem der Bau von AKWs. Im Alltagsbetrieb produzieren sie hingegen effektiv und damit auch günstig Strom, wie Zahlen der Internationalen Energieagentur zeigen – Endlagerungs- und Rückbaukosten eingeschlossen. Besonders eine Laufzeitverlängerung bestehender Meiler hätte also ein Gegenmittel für steigenden Strompreise sein können.

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Die Politik hat mittlerweile erkannt, dass der Abbau gesicherter Leistung zum Problem werden könnte – und setzt deshalb bei der Nachfrage an. Das Umweltbundesamt bezeichnet „die Reduktion des Energieverbrauches“ als „eine der größten Herausforderungen der Energiewende“. Um das Stromsparen zu erleichtern, sollen alle Anbieter variable Stromtarife anbieten: Der Preis wird dann stündlich schwanken, abhängig davon, ob die Sonne gerade scheint oder der Wind weht.

Bis 2032 will die Bundesregierung zudem digitale Strommessgeräte in jedes Haus bringen. Auf den sogenannten Smart Metern können Kunden in Echtzeit erkennen, wie hoch der Strompreis ist und ihr Verhalten daran anpassen. „Demand Management“ nennt die Regierung das. Was nach neoliberalem Sprech klingt, atmet auch ebenjenen Geist: Sind die Strompreise in der Dunkelflaute gerade hoch, werden sich Menschen mit geringem Einkommen wohl zweimal überlegen, ob sie sich den Tarif leisten können. Sie werden einfach aus dem „dynamischen“ Markt gedrängt – oder müssen entsprechend Geld berappen.

In Großbritannien will die Regierung Smart-Meter-Nutzern nun sogar Geld für eingesparten Strom bezahlen. Kritiker warnen zu Recht: Arme Menschen, die bereits nicht viel Energie nutzen, könnten ihren Basisverbrauch noch weiter einschränken, um am Ende des Monats etwas mehr Geld auf dem Konto zu haben. Die gesicherte Leistung aus AKWs könnte solche Angebots- und Preisschwankungen abschwächen. Der Kurs der Bundesregierung droht indes auch hierzulande, den Armen eine neue Art der Austeritätspolitik aufzuerlegen: Sobald die Gesellschaft zum Sparen aufgerufen wird, spüren es die Armen als Erste.

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Vessels used for keeping the used radioactive waste. OAP stands for w:Office of Atoms for Peace. OAEP stands for w:Office of Atomic Energy for Peace.

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Süd- und Mittelamerika:

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

 Was in vielen unserer Medien unterging

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :     Romeo Rey /   

Linke Reformpolitik hat in vielen Ländern keine Chance, weil sich konservativ dominierte Parlamente mit aller Kraft dagegenstemmen.

In mehreren Ländern Lateinamerikas, wo linksgerichtete Kandidaten in letzter Zeit die Präsidentschaftswahlen gewonnen haben, erweisen sich konservative Mehrheiten in den Parlamenten wie erwartet als entscheidende Bremsklötze. Gesetzes- und Verfassungsprojekte, die auf strukturelle Reformen hinauslaufen sollten, prallen an einer Wand des Widerstands ab. Allerdings kann man auch nicht übersehen, dass die Anhänger des Wandels mangels politischer Erfahrung und innerer Geschlossenheit oft jedes Fingerspitzengefühl vermissen lassen.

Ein typischer Fall für dieses Scheitern ist Chile, das Ende 2021 den kaum 35-jährigen ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric zum Präsidenten der Republik wählte, eine linke Mehrheit im Kongress jedoch klar verfehlte. Jener Urnengang schien zu bestätigen, dass das politische Spektrum in diesem Andenstaat in drei ähnlich grosse Drittel zerfällt, wobei die mittlere Fraktion normalerweise eher nach rechts als nach links tendiert. Dieser Trend verstärkte sich gerade noch mal beim Plebiszit über eine neue Staatsverfassung und erst recht bei der kürzlich erfolgten Wahl eines nur noch 51 Personen zählenden Verfassungsrats, in dem nun Konservative und Ultrarechte fast nach Belieben schalten und walten können. Diesen in dem Ausmass von niemandem erwarteten Umschwung kommentiert die britische Tageszeitung «The Guardian» mit Projektionen auf andere Teile des Subkontinents.

Eine Analyse in «Nueva Sociedad» befasst sich mit dem Umstand, dass die Teilnahme an diesen Urnengängen – entgegen früherer Regelungen – obligatorisch war, was offenbar zu starken Verwerfungen zwischen den Blöcken führte. Fatal war auch, dass sich die Linken nicht als Einheit präsentierten, sondern den Eindruck von Zerwürfnis in manchen zentralen Punkten hinterliessen. In naher Zukunft wird die konservative Mehrheit im Verfassungsrat in eben diesen heiklen Fragen (privates oder staatliches Übergewicht in der Alters- und Krankenversicherung sowie im Schul- und Hochschulwesen) Farbe bekennen müssen. Mit simplen Status-quo-Lösungen dürfte sich die Mehrheit des chilenischen Volkes kaum abfinden wollen. Auch für neuere Probleme dürfte es keine Patentformeln geben, z. B. für die Stagnation in der Wirtschaft, das Auflodern der Inflation, die illegale Einwanderung im Norden des Landes, den andauernden Konflikt mit den indigenen Mapuches im Süden und die zunehmende Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel.

Ein ähnliches Panorama offenbart sich den regierenden Linken in Kolumbien. Präsident Gustavo Petro sah sich kaum ein Jahr nach der Amtsübernahme veranlasst, eine gründliche Umbildung seines Kabinetts vorzunehmen. Sieben der achtzehn Minister mussten den Hut nehmen. Praktisch bei allen Entscheiden muss der Staatschef sorgfältig abwägen, wie er die sehr heterogene Truppe seines Pacto Histórico zusammenhalten kann, während er gleichzeitig in den Reihen der seit zwei Jahrhunderten (mit)regierenden Liberalen und Konservativen die nötigen Stimmen zusammenkratzen muss, um seine wichtigsten Projekte durch das ihm mehrheitlich feindlich gesinnte Parlament hindurchzuschleusen.

Eigentlich sollte die Regierungspolitik in erster Linie darauf hinauslaufen, die Lebensbedingungen für die ärmere Hälfte Kolumbiens substanziell zu verbessern. Doch die bürgerliche Opposition verzögert mit allen Mitteln, Tricks und Vorwänden alle Bemühungen um die versprochene Landreform. Auch die Umsetzung der Friedensabkommen mit verschiedenen Guerillas kommt kaum vom Fleck, berichtet die Online-Zeitung amerika21. Die linken Ultras drohen die Geduld zu verlieren, und auf der Gegenseite lauert im Hintergrund Expräsident Álvaro Uribe, der schon immer «gewusst hat», dass die Verhandlungen mit den Aufständischen nie zu einem für ihn und seine Anhängerschaft akzeptablen Ergebnis kommen würden.

Und wie sieht es aus in Brasilien? Kommt der wiedergewählte Lula da Silva in seinem dritten Mandat mit seinen ähnlich lautenden Plänen in Fahrt? Dass der altverdiente Mann der brasilianischen Arbeiterbewegung – wie seine an die Schalthebel der Regierungsgeschäfte gekommenen Kolleginnen und Kollegen in diesem Erdteil – leisten und liefern möchte, steht ausser Zweifel. Doch auch im südamerikanischen Riesenstaat zählen über kurz oder lang nur die konkreten Ergebnisse. Die Lobbys der reichsten Fazendeiros, der Rohstoffkonzerne, der Bau- und Möbelholzindustrie, der Goldgräber, Viehzüchter und jene der modernen Bergbauindustrie sind landesweit bestens organisiert. Ihre Tentakel reichen in alle legislativen, exekutiven und juristischen Bereiche hinein. Gegen eine solche Übermacht hat auch das formale Oberhaupt eines der grössten Staaten der Welt nicht viel zu bestellen, wie ein Bericht in der NZZ deutlich macht. Vor allem dann nicht, wenn manche Interessenkonflikte tief in die eigene Anhängerschaft hineinreichen.

Etwas anders gelagert sind die Probleme, mit denen sich die Regierung von Nicolás Maduro herumschlägt. Zum einen mochte er einen Punkt für sich verbuchen, als die Meldung in Caracas eintraf, dass sein bis anhin wichtigster Rivale Juan Guaidó schliesslich die Segel streichen musste und sich in die USA abgesetzt hat. Guaidó hatte vor ein paar Jahren erreicht, dass ihn rund 60 Staaten (vor allem der Alten Welt sowie einige konservativ regierte in Lateinamerika) als «legitimen Präsidenten» von Venezuela anerkannten. Rückblickend ist nun festzustellen, dass solche Illusionen kaum mehr als eine peinliche Schaumschlägerei waren.

Zum andern muss Maduro nun zuschauen, wie Washington Venezuelas einst rentabelstes Unternehmen im Ausland ausschlachtet und den Meistbietenden zum Kauf anbietet. Wörtlich aus der Depesche von amerika21: «Mit drei Raffinerien und einem Netz von mehr als 4000 Tankstellen in den USA hat Citgo im vergangenen Jahr einen Gewinn von 2,8 Milliarden US-Dollar erzielt und könnte mit 13 Milliarden Dollar bewertet werden. Caracas hat jedoch seit 2019 keine Einnahmen mehr erhalten, nachdem Washington die Selbstausrufung Guaidós zum ‹Interimspräsidenten› anerkannt und die Leitung von Citgo an einen Ad-hoc-Vorstand der Opposition übergeben hatte.» Lateinamerika wird die Abwicklung dieses Falles aufmerksam verfolgen, um eigene Schlüsse über die Sicherheit von fremdem Eigentum in den USA zu ziehen.

Auf der Kippe scheint das Schaukelspiel zwischen links und rechts in Ecuador zu stehen. Dort hat der konservative Staatschef Guillermo Lasso denselben Schritt unternommen wie sein damaliger linksgerichteter Amtskollege Pedro Castillo im benachbarten Peru. Beide wollten den gordischen Knoten zwischen ihrer Regierung und der Opposition mit der Schliessung des Parlaments und nachfolgenden Neuwahlen lösen, was man im Äquatorstaat hochoffiziell als muerte cruzada (gleichzeitiger Tod) bezeichnet. Dem Amtsinhaber in Quito könnte laut amerika21 dieses Manöver gelingen, während der Schuss in Lima nach hinten losging. Als möglicher Profiteur in dieser verzwickten Situation lauert Ecuadors früherer Präsident Rafael Correa.

In Argentinien, wo man sich auf allgemeine Wahlen im Oktober vorbereitet, ist mittlerweile ein neuer wertgrösster Geldschein in Umlauf gesetzt wurden. Er lautet auf 2000 Pesos, zum offiziellen Wechselkurs beträgt sein Wert derzeit umgerechnet knapp 8 Franken / Euro / US-Dollar, zum parallelen oder «schwarzen» Kurs gar nur die Hälfte davon. Bis zum Jahresende rechnet man in Buenos Aires mit einer Inflationsrate von 140 Prozent. Das Karussell der Anwärter auf die Nachfolge des diffus populistischen Präsidenten Alberto Fernández dreht sich schwindelerregend, und viele fragen sich, was für einen Reiz es haben könne, sich um ein derart giftiges Erbe zu streiten.

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Oben      —   Citgo-Tankstelle in Belleville (Wisconsin)

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Er wird bleiben

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Berlusconi war längst eine Randfigur, die Medien ihm gegenüber milde geworden.

Ein Debattenbeutrag von Francesca Polistina

Sein Tod wird keine breitere kritische Distanzierung zur Folge haben. Es ist beängstigend und pathetisch zugleich, dass nun von einem außergewöhnlichen Leben die Rede ist.

Die italienischen Medien neigen oft zur Übertreibung, doch nach Silvio Berlusconis Tod am 12. Juni schienen manche von ihnen jedes Maß verloren zu haben. Ganze 20, sogar 30 Seiten widmeten die wichtigsten Zeitungen dem Ereignis. Dass der Tod aufgrund des hohen Alters und der Krankheit erwartet worden war und die Redaktionen Zeit hatten, sich vorzubereiten, half in Sachen Knappheit nicht. Doch abgesehen von der Berichterstattung zu der Trauerfeier im Mailänder Dom, die bis ins kleinste, unnötige Detail erzählt wurde, gab es in den vielen Beiträgen wenig Neues zu lesen.

Berlusconi ist seit zehn Jahren keine zentrale politische Figur mehr, obwohl seine Partei für die Bildung der Meloni-Regierung entscheidend war und immer noch ist. In den vergangenen Jahrzehnten ist über ihn fast alles gesagt worden. Ja, es bleibt noch einiges Wichtige zu klären, seine Verstrickung in verbrecherische Strukturen wie die Mafia zum Beispiel, es ist aber fraglich, ob das je passieren wird. Über Berlusconi als Unternehmer und Medienmogul, als Freund der Neofaschisten, als moralisch verwerflicher Politiker, als erster Populist seiner Art und Inspirationsquelle für alle Trumps der Welt wurden allerdings genügend Zeilen geschrieben. Wohlgemerkt: ohne dass das je zu einer eindeutigen Zuordnung seiner politischen Figur geführt hat. Denn obwohl die ausländische Presse meistens eine klare Meinung zu Berlusconi hat: in Italien gibt es die schlicht nicht. Von seinen Anfängen in der Politik 1993/1994 bis zu seinem Tod hat Berlusconi die öffentliche Meinung in Italien immer gespalten. Viele hassen ihn, viele andere verehren ihn.

Was wird also bleiben? Die Frage bezüglich seiner Partei Forza Italia wird sich in den nächsten Monaten klären. Berlusconi hat sich nie um einen politischen Nachfolger gekümmert, er ist immer der Chef – besser: die Partei selbst – gewesen. Die Forza Italia ist nun kopflos, eine Auflösung nach 30 Jahren nicht ausgeschlossen. Sollte das tatsächlich passieren, könnten die jetzigen Parteimitglieder zu Giorgia Meloni oder eventuell zu Matteo Salvini wechseln. Der Terzo Polo (dritter Pol), eine politische Gruppe aus der Mitte um Carlo Calenda und Matteo Renzi, könnte zwar manche Berlusconi-Anhänger anlocken, doch angesichts der schlechten Wahlergebnisse hat er gerade eine geringe Anziehungskraft. Schlüsselfigur innerhalb der Forza Italia ist der Koordinator und ehemalige Präsident des Europaparlaments Antonio Tajani, aber auch Berlusconis Lebensgefährtin und seine Kinder werden das Sagen haben.

Doch sollte auch Berlusconis Partei verschwinden: der „Berlusconismus“, wie man das von ihm initiierte politische und soziale System nennt, ist inzwischen vom Land absorbiert worden – und er wird bleiben. Berlusconi hat so lange regiert wie kein anderer Ministerpräsident seit der Gründung der italienischen Republik, dennoch hat sich sein Versprechen einer „liberalen Revolution“ keineswegs bewahrheitet. Die Bilanz seiner vier Kabinette ist miserabel – keine signifikanten Reformen, schlechte Gesetze wie das Migrationsgesetz, eine schlechtere wirtschaftliche Lage für das Land. Dennoch sind sich Befürworter wie seine Kritiker einig: Dieser Mann hat die italienische Politik und das Land selbst tief verändert.

Berlusconi hat jedes Tabu gebrochen. Er hat die Partei Alleanza Nazionale, die aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano hervorging, in die Regierung geholt und somit einen Präzedenzfall für das heutige Meloni-Kabinett geschaffen. Er hat mit politisch unkorrekten Äußerungen gehetzt und systematisch Lügen propagiert – manchmal war es zu absurd, um wahr zu sein, aber es funktionierte. Er hat das private Fernsehen nach Italien gebracht und es ausgenutzt, um mit den Wählerinnen und Wählern direkt zu kommunizieren, lange bevor die Sozialen Netzwerke kamen. Er hat die Justiz diskreditiert, Gesetze zu seinen Gunsten bewilligt und Sexparties mit Minderjährigen organisiert. Er hat Straftaten wie illegales Bauen und Steuerhinterziehung toleriert, ja gar gefördert. Er hat gegen die Institutionen selbst gewettert und sich über jede Art von Bürgersinn lustig gemacht. Er hat sich mit Kriminellen umgeben. Gewiss, bestimmte Tendenzen existierten in der italienischen Politik bereits früher. Doch Berlusconi hat sie beschleunigt und ins Extreme getrieben. Dass nun in Italien eine rechtsextreme Koalition regiert und die öffentliche Meinung anfällig ist für Populismen jeder Couleur, hat durchaus mit ihm zu tun.

Es ist also legitim, sich zu fragen: Was wird man über ihn in den Geschichtsbüchern lesen? Berlusconi hinterlässt eine Spaltung innerhalb der ohnehin schon gespaltenen Bevölkerung – und wer glaubt, mit der Zeit würde er klarer einzuschätzen sein, der irrt: Selbst der Faschismuserfinder Benito Mussolini wird noch von einem erheblichen Teil der Italiener als „guter Diktator“ gesehen, eine allgemein geteilte Interpretation zu ihm sucht man vergebens. Die Hoffnung, die Menschen würden sich künftig von Berlusconi distanzieren, ist also naiv.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —         All eight members of the G-8 at their summit in Italy in July 2009. From left to right: Prime Minister of Japan Taro Aso, Prime Minister of Canada Stephen Harper, President of the United States Barack Obama, President of France Nicolas Sarkozy, Prime Minister of Italy Silvio Berlusconi, President of Russisa Dmitry Medvedev, Chancellor of Germany Angela Merkel, Prime Minister of the United Kingdom Gordon Brown, Prime Minister of Sweden Fredrik Reinfeldt, and President of the European Commision José Manuel Barroso.

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Von EU und Staatstrojanern

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Blankoscheck für Geheimdienst-Überwachung der Presse

Logo

Logo von: Komitee zum Schutz von Journalisten 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :    , Harald Schumannon

Ein geplantes Medienfreiheitsgesetz der EU sollte Journalist:innen vor Überwachung schützen. Doch Europas Regierungen planen eine Blankoausnahme für „nationale Sicherheit“, die den Vorschlag praktisch aushöhlen würde.

Kein Journalist darf wegen seiner Arbeit bespitzelt werden. Mit diesem klaren Satz begründete EU-Kommissarin Věra Jourová im vergangenen Herbst ihren Vorschlag für ein Gesetz, das die Pressefreiheit in allen EU-Staaten stärken soll.

Die EU-Kommission reagierte damit auf Enthüllungen über das Ausspähen von Journalist:innen, NGOs und Oppositionspolitiker:innen in mehreren EU-Staaten. In Ungarn ließ die Regierung von Viktor Orban Handys von Reportern hacken, die über Korruptionsvorwürfe berichteten. In Griechenland spionierte die Regierung Journalist:innen aus, die Finanzskandale enthüllten. In Spanien ging es gegen Journalist:innen im Umfeld der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Liste lässt sich fortsetzen. Expert:innen warnen, die sich ausbreitende Überwachung von Journalisten sei eine Bedrohung für die Pressefreiheit.

Das Mittel der Wahl bei den Überwachungsaktionen: Staatstrojaner. Berüchtigt ist insbesondere Pegasus, ein Trojaner der israelischen Firma NSO Group, der Handys praktisch unbemerkt infiltrieren kann. Dadurch kann selbst verschlüsselte Kommunikation über Dienste wie WhatsApp oder Signal ausgelesen werden. Journalist:innen, die mit Pegasus oder anderen Trojanern gehackt wurden, müssen die Preisgabe ihrer Quellen fürchten.

Um solchen Übergriffen einen Riegel vorzuschieben, verbietet der Gesetzesvorschlag der Kommission ausdrücklich den Einsatz von Staatstrojanern gegen Journalist:innen. Das Europäische Medienfreiheitsgesetz sollte außerdem jede Form von Überwachung oder Repressalien untersagen, mit denen die Offenlegung journalistischer Quellen erzwungen werden soll.

Doch die EU-Staaten arbeiten hinter verschlossenen Türen an einem Gegenvorschlag, der diese Vorschläge der Kommission praktisch wirkungslos macht. Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Recherche von netzpolitik.org mit dem Rechercheteam Investigate Europe.

Frankreich drängte auf Blankoausnahme

Der Rat der EU-Staaten will die Schutzbestimmungen für Journalist:innen durch eine generelle Ausnahme für die „nationale Sicherheit“ aushebeln. Das geht aus einem Textentwurf der schwedischen Ratspräsidentschaft vom 7. Juni hervor, den wir durch eine Informationsfreiheitsanfrage erhielten und im Volltext veröffentlichen. Der Rat geht damit über frühere Vorschläge zur Verwässerung des Textes hinaus, über die wir zuvor berichteten.

Schon der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah vor, dass der Staatstrojaner-Einsatz „im Einzelfall“ aus Gründen der nationalen Sicherheit gerechtfertigt sein soll. Aus dem Einzelfall soll nun eine Blanko-Erlaubnis werden, die nicht nur das Trojaner-Verbot aufweicht, sondern auch das generelle Verbot der Überwachung von Journalist:innen zur Ermittlung ihrer Quellen aushebelt. Außerdem schwächt die Ausnahme das Recht, eine Beschwerde bei einer unabhängige Behörde einzureichen, wie es der ursprüngliche Vorschlag vorgesehen hätte.

Diese Blanko-Ausnahme für „nationale Sicherheit“ in Artikel 4 des Gesetzesentwurfs hat Frankreich durchgesetzt. Unterstützung erhielt die Regierung in Paris dafür auch von Deutschland. Das geht aus einem vertraulichen Drahtbericht der deutschen Ständigen Vertretung in Brüssel hervor, den wir ebenfalls im Volltext veröffentlichen. Den Vorschlag unterstützte demnach außerdem Griechenland, wo die Regierung ihre Überwachungsaktionen gegen Journalist:innen mit Verweis auf die „nationale Sicherheit“ rechtfertigte.

Um den Schutz von Medienschaffenden gibt es nicht nur in der EU Streit. In Deutschland gibt es Verfassungsbeschwerden, weil Journalist:innen und ihre Quellen nicht ausreichend vor Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst geschützt seien. Eine davon richtet sich auch explizit gegen Staatstrojanereinsatz, insbesondere weil es für Betroffene besonders schwer ist, sich gerichtlich gegen die heimliche Ausspähung zu wehren.

„Nationale Sicherheit als Vorwand“

Der griechische Journalist Thanasis Koukakis, der mit dem Trojaner Predator gehackt wurde, zeigte sich auf Nachfrage empört über die geplante Verwässerung des EU-Gesetzes. „Mein Fall zeigt deutlich, wie einfach die nationale Sicherheit als Vorwand für Drohungen gegen Journalist:innen und ihre Quellen benutzt werden kann.“ Die französische Journalistin Rosa Moussaoui, die Opfer von Pegasus wurde, kritisierte die Haltung Frankreichs. Eine allgemeine Ausnahme für nationale Sicherheit passe „perfekt zur Politik“ der französischen Regierung, sich nicht um den Quellenschutz zu kümmern.

Ein Sprecher der zuständigen grünen Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, erklärt auf Anfrage, es sei „in keiner Weise“ das Ziel der Bundesregierung, „die Ausspähung von Journalisten zu legalisieren“. Die Ausnahmeregelung zur nationalen Sicherheit im Ratsentwurf soll lediglich sicherstellen, „dass die im Vertrag der Arbeitsweise der Europäischen Union bestimmten Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich der nationalen Sicherheit unberührt bleiben.“

Dem hält allerdings der Europäische Journalistenverband entgegen, dass die Blankoausnahme keine Schutzmaßnahmen zur Sicherung von Grundrechten enthalte. Dadurch ignoriere der Rat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der klargestellt habe, dass die nationale Sicherheit die EU-Staaten nicht von ihrer Verpflichtung zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit befreie. Durch die Ausnahme werde das geplante Medienfreiheitsgesetz in eine „leere Hülle verwandelt“. Auch Tom Gibson vom Committee to Protect Journalists warnt, der Rat erteile dadurch „willkürlicher Überwachung durch Länder mit geschwächter Rechtsstaatlichkeit“ seinen Sanktus.

Heftige Kritik gibt an den Plänen der EU-Staaten gibt es aus dem EU-Parlament. Die niederländische Abgeordnete Sophie in ‚t Veld aus der liberalen Fraktion Renew nennt den Ratsvorschlag eine „Katastrophe“. Die SPD-Politikerin Katarina Barley betont, „pauschale Ausnahmen ohne weitere Vorkehrungen gehen gar nicht“.

Der Bedenken zum Trotz planen die EU-Staaten einen Beschluss noch im Juni. Kommt kein entschiedener Widerstand aus dem EU-Parlament, das bislang noch keine eigene Position festgelegt hat, dann könnte das Medienfreiheitsgesetz die Blankoausnahme für Überwachungsmaßnahmen zur „nationalen Sicherheit“ festschreiben. Die Absicht von Kommissarin Jourová, Journalist:innen in ihrer Arbeit vor Überwachung zu schützen, bliebe damit ein frommer Wunsch.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —       Logo     –      Komitee zum Schutz von Journalisten – https://cpj.org/

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Unten         —       Plastische Darstellung des Bundestrojaners vom Chaos Computer Club im Profil. Originalbeschreibung: im Chaos Computer Club Berlin: the Federal Troian Horse

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Die Welt – Finanzkrise

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Die Schuldenkrise wird multipolar

Zunächst gibt es zwischen den 17 betrachteten Staaten bis etwa 1995 noch deutliche Renditeunterschiede, die Bandbreite verringert sich aber zunehmend; um 2000 sind die Renditen fast auf gleicher Höhe, nachdem anschließend einige weitere Staaten aufgenommen werden wird das Spektrum 2002 zunächst wieder etwas weiter, bis schließlich auch diese um das Jahr 2006 in einem ca. 2,5-Prozenzpunkte-Spektrum zwischen 2,5 und 5 Prozent liegen. Ein erstes Auffächern lässt sich nach 2008 zur Finanzkrise feststellen, ab Ende 2009 (Beginn Eurokrise) werden die Differentiale immer größer, wobei insbesondere Griechenland nach oben ausbricht (Spitzenwert knapp unter 30 Prozent); der deutsche Wert unterliegt seit 2008/9 einem Abwärtstrend.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Immer mehr Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien sind überschuldet oder stehen sogar vor dem Bankrott. Von dieser Krise ist als Kreditgeber auch China betroffen, das Notkredite vergeben muss, um eigene Banken vor Zahlungsausfällen zu schützen.

Die Zinserhöhungen der westlichen Notenbanken, mit denen diese die hartnäckige Inflation bekämpfen wollen – in den USA liegt der Leitzins mittlerweile bei fünf bis 5,25 Prozent, im Euro-Raum bei 3,75 Prozent –, haben in den USA bereits zum Kollaps von drei Regionalbanken geführt und dämpfen das Wirtschaftswachstum beiderseits des Atlantik. Doch sind diese Turbulenzen nichts im Vergleich zu den Erschütterungen, denen viele wirtschaftlich schwächere Länder ausgesetzt sind. Weil es immer teurer wird, neue Kredite aufzunehmen, fällt es diesen immer schwerer, ihre zumeist in US-Dollar laufenden Auslandsschulden zu bedienen.

Insbesondere in Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten finden sich immer mehr Länder in einer klassischen Schuldenfalle wieder, bei der konjunkturelle Stagnation, Rezession und steigende Kreditkosten in eine fatale Wechselwirkung treten. Die Situa­tion wird bereits mit dem »Volcker-Schock« von 1979 verglichen, als der damalige Präsidentder der US-Notenbank, Paul Volcker, die Leitzinsen in den USA auf zeitweise über 20 Prozent anhob, um die langjährige Stagflation zu bekämpfen, was besonders in Ländern in Südamerika und Afrika eine Schuldenkrise auslöste.

Mitte April meldete die Financial Times unter Berufung auf eine Studie der NGO Debt Justice, dass der Auslandsschuldendienst einer Gruppe von 91 der ärmsten Länder der Welt in diesem Jahr durchschnittlich 16 Prozent ihrer staatlichen Einnahmen verschlingen werde, wobei dieser Wert im kommenden Jahr auf 17 Prozent ansteigen dürfte. Zuletzt wurde ein ähnlich hoher Wert 1998 erreicht. Am stärksten betroffen ist demnach Sri Lanka, dessen Schuldendienst in diesem Jahr rund 75 Prozent der prognostizierten Einnahmen entspricht, weswegen die Financial Times erwartet, dass der Inselstaat in diesem Jahr »den Zahlungen nicht nachkommen« werde.

Sambia, das wie Sri Lanka schon im vergangenen Jahr einen Staatsbankrott durchstehen musste, ist ebenfalls akut gefährdet. Ähnlich schlimm sehe es in Pakistan aus, wo in diesem Jahr 47 Prozent der Regierungseinnahmen zur Bedienung von Auslandskrediten aufgewendet werden müssten. Die Folgen für die Bevölkerung sind in diesen und vielen anderen Ländern bereits jetzt dramatisch: Regierungen können beispielsweise Gehälter nicht mehr zahlen oder Importe von Energieträgern oder Nahrungsmitteln nicht finanzieren, der Wertverfall ihrer Währungen verschärft Inflation, Armut und Hunger.

Doch nicht nur die ärmsten Länder sind bedroht. In Argentinien beispielsweise, wo die Zentralbank Geld druckt, um das Haushaltsdefizit zu finanzieren, beträgt die Inflation inzwischen 109 Prozent und droht, in eine destruk­tive Hyperinflation überzugehen. Wie viele andere Krisenstaaten hat Argentinien ein Notprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abgeschlossen, das Kredite in Höhe von 44 Milliarden US-Dollar im Gegenzug für Austeritätsmaßnahmen vorsieht. Mitte Mai forderte der argentinische Präsident Alberto Fernández angesichts einer dürrebedingten Missernte beim wichtigsten Exportgut Weizen Neuverhandlungen mit dem IWF. Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner nannte das Abkommen gar »skandalös« und einen »Betrug«.

Eine besondere Rolle spielt in der derzeitigen Schuldenkrise China, das in den vergangenen Jahren zu einem der größten weltweiten Kreditgeber aufgestiegen ist. Allein im Rahmen des weltweiten Entwicklungsprogramms der Belt and Road Initiative, auch bekannt als »Neue Seidenstraße«, wurden bis Ende 2021 Kredite und Transaktionen im Umfang von mindestens 838 Milliarden US-Dollar getätigt, um damit zumeist Infrastruktur- und andere Großprojekte in Afrika, Asien und Lateinamerika zu finanzieren. Den Großteil der Kredite vergaben chinesische Banken. China wollte damit die Grundlage für eine künftige wirtschaftliche Hegemonie legen.

Doch inzwischen – nach der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine, dem globalen Inflationsschub und einer Verlangsamung des Wachstums in China selbst – sind chinesische Banken zurückhaltender bei der Vergabe von Krediten in ärmeren Ländern. Einer Studie der Rhodium Group zufolge sind bereits 2021 rund 16 Prozent der aus China im Ausland vergebenen Kredite mit einem Wert von etwa 118 Milliarden US-Dollar vom Zahlungsausfall bedroht gewesen und hätten nachverhandelt werden müssen.

Nur ein Jahr später hat sich die chinesische Auslandsschuldenkrise laut ­einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) bereits stark ausgeweitet. Demnach sollen 2022 schon 60 Prozent der Kredite ausfallgefährdet gewesen sein, so dass Peking an 22 Schuldnerländer 128 Notkredite im Umfang von 240 Milliarden US-Dollar vergeben musste. Hierbei wird den Schuldnerstaaten zumeist nur ein Aufschub gewährt, indem neue Darlehen zur Tilgung fälliger Zahlungen vergeben werden, was eine »Verlängerung von Laufzeiten oder Zahlungszielen« ermögliche; ein Erlass von Schulden finde »nur äußerst selten statt«, so das IfW.

Die meisten dieser Refinanzierungskredite vergab die chinesische Zentralbank, die damit effektiv jene chinesischen Banken rettet, die die Kredite ursprünglich vergeben haben. Die Autoren der IfW-Studie vergleichen das derzeitige Vorgehen Chinas deshalb mit der Vergabe von sogenannten Rettungskrediten an Griechenland und andere südeuropäische Länder während der Euro-Krise, bei der es ebenfalls um die Rettung von Banken ging, denen Zahlungsausfälle drohten.

Krisen- und Überbrückungskredite fließen vor allem an »Länder mit mittlerem Einkommen«, da auf diese 80 Prozent des chinesischen Auslandskreditvolumens entfallen und sie damit »große Bilanzrisiken für chinesische Banken« darstellten, so das IfW. Länder mit niedrigem Einkommen hingegen erhielten kaum Krisenkredite, da deren Staatspleiten den chinesischen Bankensektor kaum gefährden könnten. Die Verzinsung der chinesischen Krisenkredite soll außerdem durchschnittlich fünf Prozent betragen; beim IWF sind zwei Prozent üblich. Zu den Schuldnerstaaten, die mit Krisenkrediten versorgt wurden, zählen Länder wie Sri Lanka, Pakistan, Argentinien, Ägypten, die Türkei und Venezuela.

Das IfW merkte zudem an, dass bei einem Großteil der Rettungskredite die Modalitäten und der Umfang der Kreditprogramme nicht öffentlich zugänglich sind. Dadurch werde insgesamt »die internationale Finanzarchitektur multipolarer, weniger institutionalisiert und weniger transparent«. Diese Intransparenz betreffe auch zuvor von chinesischen Banken vergebene Kredite. Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) zitierte kürzlich in einem ausführlichen Bericht über die Schuldenkrise Ergebnisse einer Untersuchung der Forschungsgruppe Aid Data, die allein bis 2021 chinesische Kredite in Höhe von mindestens 385 Milliarden US-Dollar in 88 Ländern registriert hatte, die »versteckt oder unzureichend dokumentiert« gewesen seien.

Picture of a Greek demonstration in May 2011

100.000 Menschen protestieren in Athen gegen die Sparmaßnahmen ihrer Regierung, 29. Mai 2011

Viele der ärmsten Länder in Afrika oder Asien griffen auf dem Höhepunkt der globalen Liquiditätsblase zwischen 2010 und 2020 gerne auf die chinesischen Gelder zu, um damit Infrastruktur- und Prestigeprojekte zu finanzieren, die sich im gegenwärtigen Krisenschub immer öfter in Investitionsruinen verwandeln. Für diese Länder stellt die Geheimhaltung nun ein ernsthaftes Problem dar, denn im Fall einer Zahlungsunfähigkeit müssen sich die internationalen Gläubiger des betroffenen Lands darüber verständigen, wer in welchem Ausmaß Kredite stundet oder auf Rückzahlungen verzichtet. Westliche Kreditgeber und Institutionen wie der IWF oder die Weltbank verweigern derzeit jedoch in vielen Fällen Notfallprogramme, da die Modali­täten der chinesischen Kreditprogramme unklar seien und sie sich mit China nicht einigen könnten. Einige arme Staaten befänden sich deshalb in einem »Schwebezustand«, schreibt AP, da China nicht bereit sei, Verluste hinzunehmen, während der IWF sich weigere, niedrig verzinste Kredite zu ­gewähren, wenn damit nur chinesische Schulden abgezahlt würden.

Belastet werden die Verhandlungen der Kreditgeber zusätzlich von der sich verschärfenden weltpolitischen Konkurrenz zwischen den westlichen Staaten und China. Die zunehmende Fragmentierung der Weltwirtschaft erschwere es, »Staatsschuldenkrisen zu lösen, besonders, wenn es unter den entscheidenden staatlichen Kreditgebern geopolitische Spaltungen gibt«, warnte die Direktorin des IWF, Kristalina Georgiewa, im Januar.

Die westlichen Staaten hoffen unterdessen, die chinesische Auslandsschuldenkrise nutzen zu können, um den Einfluss, den sich China durch seine Kreditvergabe in vielen Weltregionen aufgebaut hat, wieder zurückzudrängen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte im Mai, für die G7-Staaten und ihre Partner gebe es jetzt eine »günstige Gelegenheit«, nachdem »viele Länder im Globalen Süden schlechte Erfahrungen mit China« gemacht hätten und sich in »Schuldenkrisen« wiederfänden, während Russland nur »Söldner und Waffen« im Angebot habe. Der Westen könne, wenn er schnell agiere, Partnerschaften mit diesen Ländern eingehen, die von beiderseitigem Nutzen wären. Unternehmen und Banken könnten an der Ausarbeitung »umfassender Pakete« beteiligt werden, die auch Teile der Produktionsketten in Entwicklungsländer verlagern würden. Die EU wolle »nicht nur die Extraktion der Rohstoffe, sondern auch deren lokale Weiterverarbeitung und Veredelung« fördern. Von der Leyen spekuliert damit auf ein schlechtes Gedächtnis ihrer potentiellen »Partner« im Globalen Süden, die bereits seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts leidvolle Erfahrungen mit westlichen Kreditprogrammen sammeln konnten.

Erstveröffentlicht unter:  https://jungle.world/artikel/2023/22/die-schuldenkrise-wird-multipolar

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Grafikquellen       :

Oben       —       Abb. 4| Zinskonvergenz und -divergenz: Renditen 10-jähriger Staatsanleihen von Mitgliedern der Eurozone, 1993–2017 (EZB)

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Der Westen wie der Osten

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Der westliche Doppelstandard rechtfertigt Russlands Krieg nicht

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Andreas Zumach / 

In Leserspalten wird die Abspaltung des Kosovo zitiert, um die Abspaltung der Krim und des Donbas zu rechtfertigen.

Im Kosovo habe es im Gegensatz zum Donbas nicht einmal eine Volksabstimmung gegeben, wird gesagt. Das ist richtig. Doch einige Darstellungen und Schlussfolgerungen sind falsch.

Der Gewaltkonflikt, der seit 2014 im Donbas stattfindet, ist ein Bürgerkrieg zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und russisch-stämmigen Milizen und Sezessionisten. Russland unterstützt sie mit Waffen, Munition und Söldnern.

Die Beobachterberichte der OSZE belegen, dass bis zur russischen Invasion beide Seiten etwa gleich stark beteiligt waren an kriegerischer Gewalt, Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht sowie am Nichteinhalten beziehungsweise Nichtumsetzen der Abkommen Minsk 1+2. Auch die Zahl der Opfer war laut OSZE auf beiden Seiten etwa gleich hoch.

Es wird immer wieder kolportiert, der Internationale Gerichtshof in den Haag (IGH) habe im Jahr 2010 «die Unabhängigkeit Kosovos bestätigt». Zwar stellten dies viele westliche Medien und Regierungen damals so dar. Doch der IGH hatte sich überhaupt nicht zum völkerrechtlichen Status des Kosovo geäussert, sondern lediglich auf Bitten der UNO-Generalversammlung in einem Rechtsgutachten, das völkerrechtlich nicht verbindlich ist, festgestellt, dass «die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo» nicht gegen das Völkerrecht und gegen die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrates verstosse (Siehe LTO: «Was der IGH wirklich entschied»).

Der IGH hat es unterlassen zu entscheiden, wie weit das in der UNO-Charta enthaltene Recht auf Selbstbestimmung der Völker geht und unter welchen Bedingungen ein Recht auf Sezession besteht.

Es bleibt deshalb im Fall Kosovo offen, ob es sich völkerrechtlich um einen unabhängigen Staat handelt. Eine einseitige, gegen nationales Recht verstossende Unabhängigkeitserklärung wie im Kosovo oder auf der Krim oder im Donbas hat laut diesem Gutachten nur eine innerstaatliche Bedeutung, aber vorerst keine völkerrechtliche Wirkung.

Lediglich 108 der 193 UNO-Mitglieder haben eine Eigenstaatlichkeit des Kosovo anerkannt. Auch vier EU-Staaten, nämlich Spanien, Griechenland Zypern und Malta haben das bis heute nicht gemacht.

Anders als es die NATO-Staaten dem Kosovo zubilligten, lehnen sie ein Selbstbestimmungsrecht der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine ab und entsprechend auch ein Recht auf eine Sezession.

Einmischung von Drittstaaten in Sezessionsbestrebungen

Für Drittstaaten, die sich in den Prozess einer Sezession einmischen, sieht es völkerrechtlich wie folgt aus.

Im Fall von Kosovo verstiessen Nato-Staaten gegen das Völkerrecht, als sie Serbien ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats bombardierten. Über 12’000 Menschen kamen dabei ums Leben. Wirtschaftliche Sanktionen und andere Massnahmen gegen die völkerrechtswidrig handelnden Nato-Staaten wären legitim gewesen. Doch kein Land hat solche Massnahmen ergriffen.

Zwischen den Fällen NATO/Serbien/Kosovo ab 1998 und Russland/Ukraine/Donbass ab 2014 kommen eine Reihe spezifischer Unterschiede hinzu, die einer Analogie entgegenstehen.

Russland hatte und hat keine Schutzverantwortung für die russischstämmigen oder -sprachigen Bevölkerungen im Donbas, auf der Krim oder sonstwo in der Ukraine. Deshalb verstösst Russland gegen das Völkerrecht sowohl mit dem seit Februar 2022 geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und mit der Unterstützung der russischstämmigen Milizen und Sezessionisten im Donbas.

Richtig ist, dass der seit Februar 2022 geführte russische Krieg gegen die Ukraine kein Präzedenzfall war für die Anwendung militärischer Gewalt in Europa nach 1990 sowie für die gewaltsame Veränderung von Grenzen – wie von westlichen Medien und PolitikerInnen fast unisono behauptet. Der Präzedenzfall war vielmehr der NATO-Luftkrieg gegen Serbien im Jahr 1998 und die Abspaltung des Kosovo.

Der doppelte Standard des Westens ist keine Rechtfertigung für Russland

Autoren auf Infosperber haben über die Kritik an diesem NATO-Luftkrieg gegen Serbien sowie an anderen völkerrechtswidrigen Kriegen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten wie etwa in Irak oder Afghanistan immer wieder informiert – ebenso wie über die Kritik an der Selektivität und den doppelten Standards, mit denen westliche Regierungen die seit 1945/48 universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen anwenden (siehe weiterführende Informationen).

Doch alle notwendige Information und Kritik zu den Völkerrechtsverstössen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten darf nicht dazu führen, die Verstösse und Verbrechen Russlands oder anderer Länder zu relativieren, zu verharmlosen, zu rechtfertigen oder gar zu leugnen. Wer das tut, ist mitverantwortlich für die Schwächung der universellen Normen.

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Oben      —     Straßenszene in Belgrad (1999)

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Unten     —        Picture: <a href=“http://stephan-roehl.de/“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a>

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Ozeanien-vs-Eurasien

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Ozeanien-Eurasien-USA-und-China-im-Konflikt-um-Taiwan

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Angesichts bröckelnder Wirtschaftsmacht geht Washington in der Auseinandersetzung mit China zu einer Strategie bloßer militärischer Dominanz über

Es ist gut möglich, dass rückblickend der Krieg um die Ukraine als erster Akt eines globalen Großkrieges, als bloßes Vorspiel für die in Taiwan drohende militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und China angesehen werden wird. Die Spannungen in der Straße von Taiwan scheinen zu einem prekären Dauerzustand zu werden, während der Blutzoll des russischen Angriffskrieges inzwischen in die Hunderttausende geht.

Beide Konflikte können tatsächlich auch als Momente eines globalen Hegemoniekampfes begriffen werden, der zwischen den fragilen Bündnissystemen der absteigenden USA und dem aufstrebenden China geführt wird. Auf der geopolitischen Ebene ließe sich von einem Kampf des von China angeführten Eurasiens gegen das Ozeanien der Vereinigten Staaten sprechen. Washington verfolgt eine Eindämmungsstrategie gegenüber der chinesisch-russischen Allianz, bei der über den Pazifik und Atlantik hinausgreifende Bündnissysteme eine zentrale Rolle spielen. Und Taiwan ist im pazifischen Raum ein essenzieller Baustein dieser Containment-Strategie, bei der Washington bemüht ist, auch Südkorea, Japan, die Philippinen, Vietnam und Australien einzubinden.

Mit dieser Eindämmungsstrategie werden mehrere Ziele verfolgt: Zum einen soll die ungehinderte Formierung der rasch wachsenden chinesischen Militärmacht verhindert werden. Die globale Interventionsfähigkeit bildete die militärische Grundlage der Hegemonie der USA in den Dekaden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Peking forciert derzeit ein gigantisches, rasch voranschreitendes Flottenrüstungsprogramm, um die US-Marine zu überflügeln. Bis 2024 soll die Zahl chinesischer Kampfschiffe von 340 auf rund 400 ansteigen, während die US-Navy nur über knapp 300 Schiffe verfügt. Die Effektivität dieser chinesischen Marinemacht würde aber von US-Stützpunkten unterminiert, die Washington am liebsten in allen Nachbarstaaten Chinas errichten würde, die den Machtzuwachs Pekings mit Unbehagen beobachten.

Andererseits geht es bei diesem Containment auch darum, angesichts der sich zuspitzenden sozioökologischen Krise die ungehinderte Extraktion von Rohstoffen und Energieträgern in der Peripherie des Weltsystems durch Peking zu verunmöglichen. Die militärische Absicherung der Schifffahrtswege ist für China unmöglich, solange Washington Bündnispartner vor der chinesischen Küste hat.

Eskalationsdynamik im Spätkapitalismus

Wo verlaufen die Grenzen Ozeaniens und Eurasiens? Diese geopolitische Frage, die in der Ukraine militärisch ausgefochten wird, stellt sich auch in Taiwan, das Peking als Teil Chinas betrachtet. Der Taiwan-Konflikt ist folglich innerhalb Chinas besonders stark national und ideologisch aufgeladen, während eine überwältigende Mehrheit der Bewohner*innen Taiwans für die Beibehaltung des Status quo oder gar die Unabhängigkeit plädiert. Der Hegemoniekampf zwischen den USA und China ist aber auch ein Kampf um die technologische Dominanz. Washington bemüht sich mit immer weitergehenden Sanktionen, den verbliebenen technologischen Vorsprung gegenüber der Volksrepublik aufrechtzuerhalten. Und Taiwan ist ein wichtiger Standort für IT und Hightech-Produktion. Die wichtigsten Fabrikationsstätten für Computerprozessoren und Chips befinden sich auf der Pazifikinsel. Washington will den Zugriff Pekings auf diese Fertigkeiten verhindern.

Die sich im Pazifik entfaltende Eskalationsdynamik bleibt aber unverständlich, wenn die zunehmenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisentendenzen im spätkapitalistischen Weltsystem ausgeblendet bleiben. Es sind die systemischen Krisenprozesse, die sich immer deutlicher abzeichnenden inneren und äußeren Schranken des Kapitals, die die Staaten in die Konfrontation treiben. Auch der Angriff Russlands auf die Ukraine, der einem Akt nackten Wahnsinns gleicht, bleibt unverständlich, wenn die Aufstände in Belarus und Kasachstan kurz zuvor unberücksichtigt bleiben.

Auf globaler Ebene befinden sich die USA in einer ähnlich schwierigen Lage wie Russland in seinem abgetakelten und sozial zerrütteten postsowjetischen Hinterhof. Das jüngste »Bankenbeben« in den Vereinigten Staaten, das durch den Wertverfall von eigentlich als sicher geltenden US-Staatsanleihen ausgelöst wurde, ist Ausdruck der systemischen Sackgasse, in der die um den Dollar als Weltleitwährung zentrierte neoliberale Globalisierung steckt: Dem an seiner Produktivität erstickenden Weltsystem fehlt ein neuer industrieller Leitsektor, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet werden könnte, es läuft auf Pump. Die globale Verschuldung steigt schneller an als die Weltwirtschaftsleistung.

Dieser globale Verschuldungsprozess vollzog sich vermittels immer größerer Spekulationsblasen in der Finanzsphäre, wobei die Globalisierung zur Ausbildung von Defizitkreisläufen führte. Wirtschaftsstandorte mit Exportüberschüssen führten ihre Waren in Defizitländer aus, die immer größere Schuldenberge anhäuften. Die USA und China waren in diesem Prozess eng miteinander verstrickt. Im großen pazifischen Defizitkreislauf konnte China gigantische Exportüberschüsse gegenüber den USA erzielen, um diese sogleich in amerikanische Staatsanleihen zu investieren. Von China wurden über den Pazifik gigantische Warenmengen in die USA befördert, während in die Gegenrichtung US-»Finanzmarktwaren« (zumeist besagte Staatsanleihen) flossen, die China zu einem der größten Gläubiger der USA machten. (Ein ähnliches »Ungleichgewicht« zwischen dem deutschen Zentrum und der südlichen Peripherie prägte auch die Eurozone bis zum Ausbruch der Eurokrise.)

Mit dem Ende des Nachkriegsbooms, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich somit die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems, das zuvor von der fordistischen Expansion getragen worden war: Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden zum »Schwarzen Loch« des Weltsystems, das die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und der BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung und Verschuldung im eigenen Land. Ohne den US-Dollar wäre dies nicht möglich gewesen. Der Greenback als Weltleitwährung verschaffte Washington die Option, sich im Wertmaß aller Warendinge zu verschulden, um etwa seine Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen ein Erdo?an die Geldpresse anwirft, dann wächst einfach die Inflation.

Bürgerliche Krisenpolitik in der Falle

Diese auf Pump laufende globale Finanzblasenökonomie wurde in den letzten Jahrzehnten immer krisenanfälliger. Die Krisenschübe fielen immer heftiger aus, die Aufwendungen der Politik zur Stabilisierung des Systems wurden immer größer, die Abstände zwischen den Krisenschüben immer kürzer. Mit der einsetzenden Inflationsphase scheint die neoliberale Epoche der Krisenverzögerung am Ende zu sein.

Die bürgerliche Krisenpolitik befindet sich in einer Falle: Sie müsste die Zinsen anheben, um die Inflation zu bekämpfen, während sie zugleich die Zinsen senken müsste, um den aufgeblähten Finanzsektor vor dem Kollaps und die gigantischen Schuldenberge vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Die USA sind im Rahmen der kollabierenden Finanzblasenökonomie und der besagten Defizitkreisläufe nicht mehr in der Lage, als »Schwarzes Loch« der Weltwirtschaft zu fungieren, womit das ökonomische Fundament der US-Hegemonie untergraben wird. Mit den zunehmenden Absetzbewegungen vom US-Dollar in der Semiperipherie des Weltsystems, wo etliche Staaten zu bilateralen Zahlungssystemen mit China übergehen, scheint die Zeit des Greenback als Weltleitwährung abzulaufen, was die Vereinigten Staaten zu einem riesigen, militärisch hochgerüsteten Schuldenstaat degradieren würde.

Die einzige Option, die Washington noch bleibt, um das erodierende Bündnissystem des »Westens« aufrechtzuerhalten, ist die der militärischen Dominanz. Das eigentliche Rückgrat der Vormachtstellung der USA wie auch der Stellung des Dollar als Weltleitwährung bildet der US-Militärapparat. Deswegen ist Washington bereit, dem chinesischen Expansionsstreben mit einer Konfrontationsstrategie zu begegnen – solange die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten noch besteht.

Erstveröffentlicht unter : https://www.akweb.de/ausgaben/693/ozeanien-vs-eurasien-usa-und-china-im-konflikt-um-taiwan/

Tomasz Konicz

Dist Autor und Journalist. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört«. Mehr Texte und Spendenmöglichkeiten (Patreon) auf konicz.info.

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Oben       —       The World War II Pacific Theater as it appeared in August, 1942.

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Die Illusion der Kontrolle

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Die Grünen bezahlen für ihr Ja einen Preis

Bündnis 90 - Die Grünen Logo.svg

Von:      Stefan Reinecke

Der EU-Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration, er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen. Der Kompromiss befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer Kontrolle unterwerfen kann.

Der Mann ließ im Bundestag kein gutes Haar an dem Asylkompromiss. „Anstatt das Asylrecht zu bewahren, soll es nun so weit eingeschränkt werden, dass das einer Abschaffung gleichkommt“, sagte der Bündnisgrüne. Man errichte „Mauern aus Gesetzen und Abkommen“, um sich die Geflüchteten vom Leib zu halten und sie schnell in Drittstaaten zu entsorgen. Wer aus einem Nachbarland kam, hatte kein Recht auf Asyl mehr. Das war ungefähr so, als wenn Irland beschließen würde, dass nur, wer zu Fuß kommt, Asyl beantragen darf.

Diese Szene spielte sich 1993 ab. Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90, redete vergeblich der SPD ins Gewissen. Das Grundgesetz wurde mit SPD-Stimmen geändert.

Der Asylkompromiss vor 30 Jahren und der EU-Asylkompromiss 2023 ähneln sich im manchem. Das Ziel ist: Migranten abschrecken. Dafür werden die Rechte von Asylbewerbern beschnitten, ohne das Asylrecht komplett zu streichen. Auch der Schmierstoff dieser Operation ist ähnlich: Es ist die Konstruktion der sogenannten sicheren Drittstaaten. Ein syrischer Flüchtling, der aus der Türkei in die EU kommt, kann künftig wieder zurückgeschickt werden – auch wenn er in der EU Anrecht auf Asyl hat. Ob und wie oft das passieren wird, ist offen. Aber es ist möglich. Auch die Asylzentren, Kernstück der EU-Reform, folgen einem Vorbild, das 1993 in Deutschland erfunden wurde. Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen, landen seitdem nicht in Deutschland, sondern in einer Art Transitraum, in dem die „Fiktion der Nichteinreise“, so der juristische Ausdruck, gilt. Auch in den geplanten EU-Asylzentren finden sich Geflüchtete in einem fiktiven Europa wieder.

Bekannte Argumente, gemischte Gefühle. Das Ganze wirkt wie ein Remake. Nur die Grünen spielen diesmal nicht die tapfere Opposition, sondern die Rolle der SPD. Halb fallen sie, halb zieht es sie hin. Am Ende werden sie wohl, nach ausreichend öffentlich dargebotener Zerknirschung, dem stählernen Gebot der Realpolitik folgen.

Auch wenn die Rhetorik 2023 nicht so aggressiv und fremdenfeindlich klingt wie 1993, tauchen in dem Diskurs ähnlich suggestive Bilder auf. In Talkshows und Bundestagsdebatten werden – mehr oder weniger verklausuliert – drei Erzählungen bedient. Alle drei haben die gleiche Botschaft: Wir müssen uns schützen. Das erste Bild: „Nur ganz wenige Migranten sind Verfolgte. Das Gros sind Wirtschaftsflüchtlinge.“

So ist es nicht – jedenfalls derzeit. Im Jahr 2022 bekamen fast drei Viertel aller Asylsuchenden Schutz und wurden als Verfolgte anerkannt. Nur in 28 Prozent der Fälle wurde der Asylantrag als unbegründet abgelehnt. Trotzdem werden Flüchtlinge generell als Schwindler verdächtigt.

Das zweite Bild: „Die illegalen MigrantInnen kommen nach Deutschland – und arbeiten dann nicht.“ Auch das stimmt so nicht. Es ist kompliziert, die Daten etwas schütter. Aber: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist aus demografischen Gründen günstig. Auch Ungelernte werden verzweifelt gesucht. So gehen Experten davon aus, dass trotz Hürden wie der Sprache rund 55 Prozent jener Migranten arbeiten, die 2015/16 nach Deutschland kamen. Tendenz steigend. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist aufwendig und kostspielig. Aber Leute, die hier sind, auszubilden ist effektiver, als Arbeitskräfte in der Ferne zu umwerben, die dann lieber nach Kanada gehen. Das Bild vom Flüchtling, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, ist jedenfalls falsch.

Wer Menschen ausschliesst – sperrt sich selber ein !

Drittens: „Wir müssen an der Grenze durchgreifen und die illegalen Migranten (böse, weil Wirtschaftsflüchtlinge) von den verfolgten Asylsuchenden (nehmen wir auf, weil wir gute Menschen sind) trennen.“ Dieses Bild ist vielleicht das wirksamste. Und abgründigste. Es legt nahe, dass die Politik an der Grenze für Ordnung sorgen kann, wenn sie es nur will. Hart, aber fair. Repressiv, aber gerecht. Man muss nur entschlossen das richtige Anreiz- oder vielmehr Abschreckungssystem etablieren – schon lässt sich globale Migration steuern, und das Problem ist wenn nicht gelöst, so doch entscheidend gemildert. Dieses Bild ist so fatal, weil es eingängig und schwer zu widerlegen ist. Migration ist ein vielschichtiger, komplexer, verwirrender, sich wandelnder Prozess. Gerade deshalb ist es attraktiv, an einfache, gerade Lösungen zu glauben, die man sich nur trauen muss.

Diesem Geist entspricht der EU-Asylkompromiss mit den geplanten haftähnlichen Lagern und verkürzten Verfahren. Er befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer weitgehenden Kontrolle unterwerfen kann.

Doch das wird nicht so sein – und das ist der Unterschied zwischen 1993 und 2023. Deutschland gelang es damals auch mittels Drittstaaten, Zahlen radikal zu senken: von fast einer halben Million im Jahr 1992 auf 19.000 im Jahr 2007. Die Bundesrepublik machte sich einen schlanken Fuß auf Kosten geduldiger Nachbarn. Als 2011 auf Lampedusa Tausende Flüchtlinge ankamen, erklärte CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einer bemerkenswerten Mixtur aus Dummheit und Arroganz, das sei Italiens Problem. Das kam 2015/16 als Bumerang zurück.

Die Lage in der EU ist 2023 anders. Denn die dienstbaren Drittstaaten, die Flüchtlinge abwehren, existieren so nicht. Die EU hat zwar moralisch abgründige Deals mit Autokraten in Afrika geschlossen, die rosafarben „Mobilitätspartnerschaften“ getauft wurden. Entwicklungshilfe und Handelsvergünstigungen für Länder wie Ägypten, Marokko und Niger wurden an die Bedingung gekoppelt, Migrantenrouten zu unterbrechen. Die EU hat kreativ ein komplexes Netz entworfen, um zweifelhafte Regime mit Geld dazu zu bringen, Abgeschobene wieder zurückzunehmen.

Staatsgrenzen zeichnen sich nicht mehr, wie der Staatstheoretiker Thomas Hobbes einst schrieb, dadurch aus, dass sie „bewaffnet sind und auf die anliegenden Nachbarn gerichtete Kanonen haben“. Grenzen im globalen Kapitalismus sind flexible, oft nach vorne verlagerte Systeme, mit denen sich die reichen Zentren die Zuwanderung aus den armen Peripherien vom Leib zu halten versuchen. Der Soziologe Steffen Mau hat diese Grenzen mit ausgefeilten Überwachungssystemen und diffusen Rechtsräumen griffig als „Sortiermaschinen“ beschrieben. Sie haben etwas Ausuferndes. Im Vergleich mögen die Grenzen der Ära der klassischen Nationalstaaten mit ihren Schlagbäumen wenn nicht harmlos, so doch verlässlich und übersichtlich erscheinen.

Lesbos refugeecamp - panoramio (2).jpg

Doch so beängstigend diese Sortiermaschinen mitunter wirken – sie sind prekär, anfällig, fragil. Die EU ist auf die politischen Kalküle autokratischer Regime angewiesen. Die EU verfügt nicht über die imperiale Macht, den (nord)afrikanischen Staaten den eigenen Willen zu diktieren. Einzelne europäische Länder haben mehr als 300 Rücknahmeabkommen mit Staaten geschlossen, um Migranten wieder loszuwerden – mit durchwachsenem Erfolg. Fast 80 Prozent der Abschiebebefehle wurden 2021 in der EU nicht umgesetzt. Auch der gerade heftig umworbene tunesische Staatschef hat wenig Neigung, als Europas gekaufter Grenzpolizist zu gelten.

Die Sortiermaschinen funktionieren manchmal, mal stottern sie, mal fallen sie aus, dann laufen sie wieder auf Hochtouren. Migration ist nur bedingt regulierbar. Sogar die repressive Grenze zwischen Mexiko und den USA, an der Trump brutal Tausende Kinder von ihren Eltern trennte, funktioniert – aus US-Sicht – nur wie ein mehr oder weniger guter Filter. Auch unter Joe Biden werden Millionen festgenommen, abgewiesen, abgeschoben. Trotzdem leben in den USA mehr als elf Millionen sogenannte illegale Migranten.

In einem hoch vernetzten, weltumspannenden Markt mit extremem Wohlstandsgefälle, in dem Kapital und Waren, Informationen und Datenströme so frei und schnell wie nie zuvor fließen, ist es ein Kinderglaube, dass man Flüchtlinge nach Belieben stoppen und in brauchbare und lästige aufteilen kann. Im globalen Dorf weiß man auch in Ecuador und Nigeria, welche Migrationsrouten gerade funktionieren.

Die Idee, man werde mit dem EU-Kompromiss nun „die Zahlen in den Griff kriegen“, so CSU-Mann Manfred Weber, hat etwas Einfältiges. Denn wer in Westafrika viel Geld investiert, den Tod in der Sahara und das Ertrinken im Mittelmeer riskiert, sich Schlepperbanden anvertraut, Kriminelle und Frontex einkalkuliert, der wird sich kaum davon abschrecken lassen, dass die EU beschleunigte Verfahren einführt. Dieser Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration. Er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen.

Quelle          :            TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Recherche: Kölner IL-Outing

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Fragen an K3 und an das verkündete Ende der Recherche

People Shadow.JPG

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      K4 Recherche

Wir sind Menschen aus verschiedenen Städten, mit guten Kontakten zu Menschen in Köln, die Zugriff auf einige der Informationen haben, die auch K3 für ihre Untersuchung genutzt hat.

Lange Zeit standen wir der Arbeit von K3 sehr wohlwollend gegenüber. Umso mehr, weil die IL ein Nichtverhalten an den Tag legt, das uns ebenso wütend macht wie K3! Zudem haben wir eine grundsätzliche Kritik an Inhalt und Praxis dieser „postautonomen“ Organisation.In letzter Zeit kommen uns aber auch Zweifel an der Vorgehensweise von K3. Von aussen betrachtet scheint es uns, als ob K3 nun genauso mit Tricks, Halb- und Unwahrheiten zu arbeiten beginnt, wie wir es von Anfang an bei der IL erlebt haben.Anders als K3 halten wir das Schreiben des Anwalts von X., datiert auf den 28.4.2023, für höchst bedeutsam. Hierbei werden wir uns zunächst auf vier Aspekte beschränken:

  • Was ist mit der Sprachnachricht, die „Täterwissen“ offenbart?
  • Doch keine gefälschte Mail mit den zwei Fotos?
  • Doch keine Unkenntnis über korrekte Namensschreibung?
  • Wie viele Personen wussten etwas?

Zu 1. Der Anwalt von X. weist darauf hin, dass C. in einer Sprachnachricht vom 3.1.2022 „Täterwissen“ offenbart habe. Nach den uns vorliegenden Informationen wird die Echtheit dieser von C. an X. übermittelten Sprachnachricht von keiner Seite in Frage gestellt. Der Anwalt von X. führt aus:

K4 Recherche

Nach den bisherigen Darstellungen soll es im Oktober 2021 auf einem Treffen der IL eine Warnung vor C. gegeben haben. Dabei sollen mehrere Namen von FLINTA genannt worden seien. Ein Name war demnach der von X., die weiteren Namen sind nach unserem Kenntnisstand nirgends jemals erwähnt worden.

Wenn C. in der Sprachnachricht jedoch Namen nennt, stellt sich für uns die Frage, woher er diese kennt, wenn die bisherige Darstellung von K3, dass die gesamte Geschichte eine Konstruktion von X. oder der IL sei, korrekt wäre.

Sollte die Darstellung des Anwalts von X. aber der Wahrheit entsprechen, so müsste K3 einräumen, dass Teile der C. belastenden Darstellungen zutreffend sein könnten.

Während wir bislang davon ausgingen, dass C. zu unrecht beschuldigt sein könnte, erschüttert dieser Umstand, der vom Anwalt als „Täterwissen“ eingeordnet wird, unsere Annahme. Hier sehen wir unbedingt Aufklärungsbedarf.

Zu 2) K3 hat in ihren Veröffentlichungen nahegelegt, dass die Mail von JH an X vom 14.01.2022 nicht existieren würde oder manipuliert sei oder keine Fotos als Anhang gehabt habe. Hierzu müssen wir selbstkritisch feststellen, dass diese Position, die wir bisher geglaubt haben, nach dem Schreiben des Anwalts von X, dem der Ausdruck einer Mail mit korrektem Header beigefügt wurde, nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.

K4 Recherche

Zu 3)

Wir gingen nach den Veröffentlichungen von K3 bislang davon aus, dass X. keine Kenntnis von der korrekten Schreibweise des Namens von C. habe und ebenso wie JH die falsche Schreibweise mit Q. benutzt. K3 hatte seinerzeit geschrieben:

K4 Recherche

Nun kann der Anwalt von X. jedoch nachweisen, dass X. die korrekte Schreibweise sehr wohl in Kommunikationen benutzte.

K4 Recherche

Die bisherige Darstellung von K3 lässt sich deshalb nicht aufrechterhalten

Zu 4)

Ausweislich des Schreibens des Anwaltes von X., das sich auf beigefügte Kommunikation zwischen X. und C. stützt, wird deutlich, dass C. unterschiedliche Versionen darüber verbreitet, ob er überhaupt mit anderen Menschen über seinen Sex mit X. gesprochen hat bzw. mit wie vielen Menschen:

K4 Recherche

Für uns bleibt die Frage offen, wer im Vorfeld und im Nachgang des Treffens zwischen X. und C. welche konkreten intimen Informationen von C. erhalten hat und an wen diese Informationen weitergegeben wurden. Hinzu kommt, dass der Anwalt von X. geltend macht, dass JH in diesem Zusammenhang Prognosen über das zukünftige Verhalten von C. macht, die sich seiner Ansicht nach bewahrheitet hätten:

K4 Recherche

Wir fragen uns, ob K3 genügend Anstrengungen unternommen hat, um auszuschliessen, dass JH eine der von C. selbst informierten Personen ist.

Alles in allem sind wir verunsichert. Gewissheiten, die wir nach dem Schweigen der IL und den Veröffentlichungen von K3 hatten, existieren nicht mehr. Wir sehen auf ALLEN Seiten den Versuch, selbstkritische Fragen bezüglich diverser Behauptungen, Indizien und Fakten zu vermeiden.

Wir haben hier nur einige wenige Punkte herausgestellt und wir erheben auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir sind keine Ermittlungsgruppe und in einigen Punkten fehlt uns schlicht die technische Expertise, um qualifizierte Aussagen treffen zu können. Wir halten jedoch anders als K3 die Recherche und die Bewertung derselben nicht für abgeschlossen.

Nachtrag 13. Juni:

Wir sind in den letzten Tagen von verschiedenen Personen und Gruppen angesprochen worden, ob wir an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Dafür reicht unser Vertrauen nicht aus und wir sind auch keine klassische Ermittlungsgruppe. Aber wir haben den Anspruch an IL und K3, dass sie ihre Arbeit gründlich und transparent machen. Wir haben einige Punkte genannt, werden jetzt abwarten und uns zu gegebener Zeit wieder melden.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   I took this photo in March 2003

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US – Geheimdienste:

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Lizenz zur weltweiten Überwachung läuft aus

 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der US-Kongress verhandelt derzeit, wie US-Geheimdienste weltweit Menschen überwachen und Daten auswerten dürfen. Trotz Reformen stehen missbräuchliche Abfragen auf der Tagesordnung. Die EU-Kommission will den transatlantischen Datentransfer wohl trotzdem weiter zulassen.

Es ist ein Abschnitt im US-Recht, der laufend Kopfzerbrechen bereitet – kürzlich dem US-Konzern Meta, der ein milliardenhohes Bußgeld bezahlen und den transatlantischen Datentransfer einstellen muss. Section 702 des Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) heißt die Passage, sie regelt die praktisch schrankenlose Überwachung von Menschen außerhalb der USA. Nicht zuletzt der Whistleblower Edward Snowden hatte vor einem Jahrzehnt das Ausmaß der technisierten Massenüberwachung offengelegt, mit bis heute andauernden Konsequenzen.

Doch laufen mit Ende des Jahres die Befugnisse für die US-Behörden aus. Schon seit Monaten ringt der US-Kongress darum, wie es mit dem umstrittenen Gesetz weitergehen soll. Im Zentrum der Debatte stehen freilich nicht die Sorgen europäischer Datenschützer:innen, das zeigte einmal mehr die Anhörung im Rechtsausschuss des US-Senats am Mittwoch.

Dort warben hochrangige US-Beamte, unter anderem der stellvertretende NSA-Chef George Barnes, für eine Verlängerung der Überwachungserlaubnis. Vor allem Cyberangriffe aus dem Ausland – und nicht mehr Bombenanschläge – habe das geheime Anzapfen von Datenströmen in den letzten Jahren vereitelt oder aufgeklärt, heißt es. „So wichtig die 702-Berechtigung heute schon ist, sie wird in den nächsten fünf Jahren nur noch wichtiger, da ausländische Cyberangriffe immer raffinierter und häufiger werden“, sagte der stellvertretende FBI-Chef Paul Abbate.

Massenhafter Missbrauch

Dass besagte Section 702 verlängert wird, steht kaum außer Frage. Offen bleibt aber vorerst, unter welchen Vorzeichen. Er werde dem nur zustimmen, wenn es bedeutsame Reformen gebe, sagte der Ausschussvorsitzende Dick Durbin. Insbesondere brauche es bessere Schutzmaßnahmen, um US-Bürger:innen vor illegaler Überwachung zu schützen sowie eine bessere Aufsicht durch den Kongress und Gerichte, so der Demokrat aus Illinois.

An sich erlaubt Section 702 nicht, US-Bürger:innen oder Menschen innerhalb der US-Grenzen zu überwachen. Dennoch kommt es ständig zu missbräuchlichen Abfragen der Datenbank. So hatte jüngst ein Gerichtsdokument enthüllt, dass massenhaft Daten illegal abgefragt wurden, etwa von Black-Lives-Matter-Demonstrant:innen, Spender:innen politischer Kandidat:innen oder auch Protestierender, die am Sturm des Kapitolgebäudes teilgenommen hatten.

Allein im Jahr 2022 habe das FBI über 200.000 unberechtigte Anfragen abgesetzt, um an Informationen über US-Bürger:innen zu gelangen, lässt sich dem jüngsten Bericht der zuständigen Aufsichtsbehörde entnehmen. Zwar beteuert das FBI, seine internen Prozesse inzwischen geändert zu haben. Aber nicht nur dem Demokraten Durbin reicht das nicht, auch manche Republikaner:innen drängen auf tiefgreifende Reformen.

NGOs fordern harte Reformen

Konkrete Vorschläge kommen aus der Zivilgesellschaft, darunter einem breiten Bündnis von Grundrechteorganisationen, etwa der American Civil Liberties Union, der Electronic Frontier Foundation und Wikimedia. Unweigerlich würden die globalen Spionagetätigkeiten unter Section 702 auch viele Daten von US-Bürger:innen aufsaugen, wie die NGOs darlegen.

Die Reformen aus dem Jahr 2018, als das Überwachungspaket zuletzt verlängert wurde, seien jedoch weitgehend erfolglos geblieben und müssten künftig deutlich härter ausfallen. Dabei gewonnene Daten müssten möglichst minimiert werden, zudem dürfe die Kommunikation von US-Bürger:innen nur mit einem Durchsuchungsbefehl abgefragt werden. Außerdem müsse es bessere Möglichkeiten geben, sich vor Gerichten zu wehren.

Auch sollen sich US-Behörden nicht mehr an Gesetzen vorbei bei Datenbrokern bedienen, um massenhaft Daten zu horten. Die Praxis, aus Smartphone-Apps oder sonstigem Online-Verhalten gewonnene Daten in staatliche Überwachungssysteme einfließen zu lassen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dies würde eine „einzigartige Gefahr für die Privatsphäre“ darstellen und müsste klar begrenzt sowie reguliert werden, fordert das Bündnis.

Mit Blick auf die EU müssten aber auch die Auswirkungen auf Wirtschaft und Privatsphäre bedacht werden, die mit ausufernder Überwachung einhergehen, schreiben die NGOs. Bereits zwei Mal hat der Europäische Gerichtshof die Rechtsgrundlage für den Datentransfer aus der EU in die USA gekippt. Dem noch nicht final abgesegneten Nachfolger des Rechtsrahmens, der das Datenschutzniveau in den USA erneut für angemessen erklärt, dürfte das gleiche Schicksal drohen, erwarten Beobachter:innen. Und es drängt sich die Frage auf: Wenn die USA nicht einmal die Grundrechte ihrer eigenen Bürger:innen schützen können, wie soll ihnen das bei EU-Bürger:innen gelingen?

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       Illinois Senator Dick Durbin Youth Climate Strike Chicago Illinois 5-3-19_0472

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Verbände für Kopfsalat und Ehrenirgendwas

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Deutschland ist das Land der Verbände. Wer etwas auf sich hält, muss einen gründen. ADAC, VDI, Taubenzüchtende, Fleckviehhaltende, Bobbycar-Sportverband, Deutscher Fußballbund, Verband zum Erhalt des Wunders von Stuttgart, die Liste ist endlos. Mein Lieblingsverband ist ja bekanntlich der BDZV. Das Kürzel steht seit ein paar Jahren für Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger.

Bei Verbänden, zumal solchen mit Landesverbänden, gibt es klassischerweise einen Schweinezyklus. Das gilt auch dann, wenn sie gar nichts mit Landwirtschaft zu tun haben. Mal ist dann ein ganz großer, wichtiger, mächtiger Mensch die Rampensau, und der Rest hat verhältnismäßig wenig zu melden. Wenn die Rampensau zu lange auf dem Eis war oder zu absurde Pirouetten dreht, wird sie abserviert. Dann schlägt die Stunde der Lan­des­fürs­t*in­nen.

Die übernehmen in einem fein austarierten Gleichgewicht des Schreckens die Verbandsführung, bis auch das regelmäßig schiefgeht. Wer gar nicht mehr an die Verbandsspitze passt, wird Ehrenirgendwas für die Visitenkarte. „Also braucht es die Verbände gar nicht so, weil sie ja doch nur das Abbild der Gesellschaft mit ihren niederen Zielen sind“, meint die Mitbewohnerin.

BDZV-Insider*innen können ja die Namen mal zuordnen. Und ja, der große Mensch ist natürlich Mathias Döpfner. Der Springer-Boss hat bis letzten Herbst den BDZV geführt, weshalb die Funke-Mediengruppe aus dem Verband austrat. Und weil der BDZV sich dann demonstrativ von Döpfner abwandte, trat später die Neue Osnabrücker Zeitung aus. „Wir wollen auch weg von diesem Blick der Öffentlichkeit auf eine Person“, hat BDZV-Geschäftsführerin Sigrun Albert der dpa zum Auftakt des BDZV-Digital-Kongresses diese Woche erzählt. Es ginge nicht darum, „einen Star zu haben, der für alle alles bestimmt“.

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Den Kongress bestimmte dafür das Thema KI, es ging aber auch um ganz reale Fragen. Denn die Presseförderung kommt und kommt nicht. Nicht mal die zuständige Politik ließ sich beim Kongress blicken, wo doch früher die Kanzlerin mitgemacht hat. Und in vielen Verlagshirnen ist jetzt Kopfsalat, weil sie gerade auch nicht mehr wissen, was sie wirklich wollen. Dafür gibt es einen neuen Schlachtruf bei den Zeitungen: „Mehrwertsteuer Null.“

Quelle         :        TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Spaltung der Linken

Erstellt von Redaktion am 15. Juni 2023

Sozialismus mit rechtem Code

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Ein Debattenbeitrag von Thorsten Holzhauser

Nationalisten und „Linkskonservative“ – ein Blick ins europäische Ausland gibt eine Ahnung vom Programm einer möglichen neuen Wagenknecht-Partei.

Die politische Zukunft von Sahra Wagenknecht ist offen, nach dem jüngsten Beschluss des Linken-Vorstands umso mehr. Und trotzdem zeichnet sich bereits das Programm einer möglichen Wagenknecht-Partei ab. Nimmt man ihre Bücher und Stellungnahmen als Richtschnur, dann setzt Wagenknecht auf eine Mischung aus linken, konservativen und nationalen Positionen: klassische Sozialstaatspolitik; „Friedenspolitik“, die sich ungeachtet von Putins Kriegen um gute Beziehungen zu Russland bemüht; und ein gesellschaftspolitisch konservativer Kurs, der sich nicht mit den Rechten „immer kleinerer und immer skurrilerer Minderheiten“ aufhält, wie Wagenknecht es ebenso plakativ wie polemisch umschreibt. Sie will damit die vermeintlich „normale“ Bevölkerung ansprechen, die sie als Opfer linksliberaler Eliten und ihres Kosmopolitismus sieht.

Ganz neu ist dieser von Wagenknecht selbst als „linkskonservativ“ bezeichnete Politik-Mix nicht. Während europäische Linke und Sozialdemokraten wie aktuell in Österreich darüber streiten, wie viel konservative Rhetorik ihrem Profil guttut, haben sich vielerorts rechte Populisten gezielt sozialdemokratischer Rezepte bedient. Politikerinnen wie Marine Le Pen greifen längst linke Schlagworte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf und bauen sie zu einem wohlfahrtschauvinistischen Nationalismus um. Sie haben sich so als Anlaufstelle für sozialen Protest und als Sprachrohr jener etabliert, die sich als Inbegriff „des Volkes“ verstehen.

Le Pen ist längst nicht das einzige Beispiel. Besonders verbreitet ist die Melange aus links und rechts, national und sozial, in jenen Ländern Mittel- und Osteuropas, die Wagenknechts Erfahrungen mit einer liberal-kapitalistischen Transformation teilen. In vielen postsozialistischen Gesellschaften war es in den 1990er Jahren unerheblich, ob die Reformer aus dem postkommunistischen oder „bürgerlichen“ Lager stammten – sie betrieben eine Transformationspolitik, die ihren Bevölkerungen mehr Rechte und Freiheiten brachte, aber auch erhebliche soziale Pro­bleme verursachte. In den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger wurde der westliche Liberalismus so zum Inbegriff sozialer, politischer und kultureller Zumutungen – ein Bild, das auch Sahra Wagenknecht gerne zeichnet.

Die Reaktion war nach der Jahrtausendwende ein Comeback antiliberaler Kräfte, die in Form neuer nationalpopulistischer Sammlungsparteien auftraten, vereint hinter einer prominenten Führungspersönlichkeit. Die bekanntesten von ihnen, Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen, haben sich als Antikommunisten hervorgetan, treten aber mit einer ökonomischen Rhetorik auf, die aus dem linken Schulbuch zu stammen scheint. So versprechen sie ihren Bevölkerungen, sie vor ökonomischer Ausbeutung und kulturellen Veränderungen gleichermaßen zu schützen.

Marine Le Pens wohlfahrtschauvinistischer Nationalismus bedient sich linker Schlagworte

Was aber passiert, wenn sich Sozialisten rechter Codes bedienen, zeigt das Beispiel Slowakei. Dort gründete der Postkommunist Robert Fico 1999 eine neue politische Plattform namens „Smer“ (zu deutsch „Richtung“), die sich schnell als maßgebliche Partei links der Mitte etablieren konnte. Mit einer sozialdemokratischen Identität und scharfer Kritik an der Austeritätspolitik der Vorgängerregierungen gewann Fico die slowakische Parlamentswahl 2006 – und regierte fortan, sehr zum Ärger seiner Partner aus der europäischen Sozialdemokratie, im Bündnis mit Nationalisten und Rechtspopulisten.

Giorgia Meloni, Ursula Von der Leyen

Als langjähriger Regierungschef tat sich Fico mit Kritik an der EU und ihrer Russland-Politik hervor, versprach, die Slowakei vor Einwanderung zu schützen, und machte den amerikanischen Unternehmer George Soros als Schuldigen für die politische Instabilität im Land aus. Ganz ähnliche Positionen vertritt die Parteivorsitzende der bulgarischen Sozialisten, Korneliya Ninova. Auch sie verspricht ihren Wählerinnen und Wählern eine Alternative zum liberalen Westen: In der Wirtschaftspolitik will sie zu linken Rezepten zurückkehren, in der Gesellschaftspolitik gegen die „Gender-Ideologie in den Schulen“ kämpfen – und die „Ehre“ Bulgariens vor „fremden Herren“ schützen.

Dass sich Ninova und Fico nicht als Rechte definieren, sondern als Sozialisten und Sozialdemokraten, haben sie mit Sahra Wagenknecht gemein. Ihre Positionen unterscheiden sich in vielem aber kaum von denen ihrer rechtsautoritären Pendants. Dass sich der starke protektive Nationalstaat nur dann aufrechterhalten lässt, wenn er sich auf die Interessen der „normalen“ Bevölkerung konzentriert, gehört zu ihren gemeinsamen Ideen. Mit ihrer Konstruktion einer antiliberalen „Normalität“ tragen sie aber zu einem politischen Diskurs bei, in dem sich Populisten mit autoritär-nationalistischen Parolen und Verschwörungserzählungen gegenseitig zu überbieten versuchen, zulasten gesellschaftlicher Minderheiten und des politischen Klimas.

Quelle         :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —    „maischberger. die woche“ am 13. November 2019 in Köln. Produziert vom WDR. Foto: Sahra Wagenknecht, Die Linke (ehemalige Fraktionsvorsitzende)

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2.) von Oben        —       Giorgia Meloni, Ursula Von der Leyen

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Tagesschau : Russen jagen

Erstellt von Redaktion am 15. Juni 2023

US-KETTENHUNDE DER ARD

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Hunde, die an der Kette liegen, sind besonders aggressiv. Sie beissen wild um sich, wenn sie ihr Territorium verteidigen. Die Tagesschau-Redaktion glaubt, dass sie das Deutschländchen verteidigen muß.

Und weil das Ländchen den USA gehört, muss der Feind der USA erst verbellt und dann gebissen werden. Den deutschen Redakteuren hat man lange genug eingeimpft, die Russen seien der Feind der USA und der Deutschen. Deshalb sind sie so besonders verbissen bei der Russenjagd.

Faß den Iwan!

Jüngst erzählte die Tagesschau von der Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Mit einer kommentierenden Zwischenüberschrift „Genaue Hintergründe noch unklar“, versucht die Redaktion den Russen die Schuld an der Zerstörung zuzuschieben. „Faß den Iwan!“. Dass die Washington Post Ende Dezember 2022 einen ukrainischen Generalmajor zu Wort kommen ließ, der ungeniert die Zerstörung des Staudamms erwog, war in der Tagesschau nicht zu lesen oder zu hören. Da hat man Beißhemmungen.

Taiwanesische Regierung liegt auch an der Kette

Keine Hemmungen kennt die ARD, wenn sie über die Bedrohung der Volksrepublik China berichtet. Unter der Überschrift „Penghu-Inseln Kriegsspiele, wo Taiwaner Urlaub machen“ breitet man sich zwar über das taiwanesische Militär aus, aber legt einer anonymen Touristin die antirussische Stoßrichtung in den Mund: „Angst, dass es so ausgeht wie in der Ukraine“. Die taiwanesische Regierung liegt auch an der Kette der USA, das schafft Solidar-Effekte.

Kläff, kläff – selten von Verstand begleitet

Dass man sogar von den Kettenfreunden beim SPIEGEL erfahren konnte, dass die USA ihren Militär-Stützpunkt auf Taiwan aufstocken, dass es also die USA sind, die mal wieder die internationalen Spannungen anheizen, das hat die Hundehütte der ARD nicht erreicht. „Kläff, kläff“ ist selten von Verstand begleitet.

Zuschauer machen mit

Auch diese Ausgabe der MACHT-UM-ACHT stützt sich auf eine Vielzahl von
Zuschauer-Zuschriften, die an diese Adresse gesandt wurden:
DIE-MACHT-UM-ACHT@apolut.net Dafür bedankt sich die Redaktion ganz
herzlich.

Hier geht es zum Video:

https://apolut.net/die-macht-um-acht-131/

Urheberrecht

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Oben      —     I found this quite amusing, that the guard dog was sitting under the guard dog sign! Black Jacks Cottage, near Harefield, Hillingdon, Greater London. Flickr’s autotags think this is a black bear. GOC Hertfordshire’s walk on 13 June 2015, in and around Rickmansworth and Batchworth Heath in Hertfordshire and Harefield in the London Borough of Hillingdon. Maritn T led this walk of 9.6 miles, with 14 attendees. The purpose of the walk was to have a view of the small part of Hertfordshire countryside that will be affected by the construction of HS2. Please check out the other photos from the walk <a href=“https://www.flickr.com/photos/anemoneprojectors/albums/72157661179076000„>here</a>, or to see my collections, go <a href=“https://www.flickr.com/photos/anemoneprojectors/collections/„>here</a>. For more information on the Gay Outdoor Club, see <a href=“http://www.goc.org.uk“ rel=“nofollow“>www.goc.org.uk</a>.

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Die USA und ihr Rest

Erstellt von Redaktion am 15. Juni 2023

USA zwischen zögerlicher Erkenntnis und obstinater Beharrlichkeit

Was Trump der ISA aus Deutschlan mitbrachte.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Während der Präsident der USA obstinat alles in Feindbildern sieht, was sich nicht im Einflussbereich der USA tummelt, sieht sein oberster General, zunächst zögerlich seit 2021, heute klar eine tripolare Weltordnung mit den USA, China und Russland.

Noch auf dem letzten G7-Gipfel ausgerechnet in Hiroshimaerklärte Biden China zum Feind Nr.1. Dabei ist dieüberwiegende Weltbevölkerung – inklusive der Europäer – da ganz anderer Meinung und hält China bei aller möglichen Kritik für einen „notwendigen Partner“. Das ergab eine Umfrage in 16 europäischen Ländern, von BRICS und deren Sympatisantenganz zu schweigen. Dabei haben die USA mit ihrem gemeuchelten Präsidenten John F. Kennedy ein strahlendes Vorbild, wie man mit anderen Ländern und Völkern umgehen soll.

Genau vor 60 Jahren hielt er nämlich eine Rede, in der er sich gegen den Kalten Krieg und die herrschende Mentalität aussprach und die Frage stellte: „Welche Art von Friedenwollen wir?“ Seine klare Antwort: „Nicht eine Pax Americana, die der Welt durch US-amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird. Nicht Friedhofsruhe oder die Sicherheit von Sklaven. Ich spreche von echtem Frieden, der Art von Frieden, die das Leben auf der Erde lebenswert macht, der Art, die es Menschen und Nationen ermöglicht, zu wachsen, zu hoffen und ein besseres Leben für ihre Kinder aufzubauen – nicht nur Frieden für Amerikaner, sondern Frieden für alle Männer und Frauen – nicht nur Frieden in unserer Zeit, sondern Frieden für alle Zeit.“

Leider hat keiner seiner Nachfolger diese Vision zu realisieren versucht. Ganz im Gegenteil. Seit demZusammenbruch der Sowjetunion 1991 behaupten sich die USA obstinat als Hegemon über die Welt mit 800 Militärstützpunkten ausserhalb ihres eigenen Landes und einer auf den Dollar zugeschnittenen Finanzpolitik, um die Welt an ihrer Kandare zu führen. Nicht nur der oberste US-General, sondern auch zunehmend US-Wissenschaftler haben erkannt, dass die Hegemonie der USA schwindet und starke Völker einzeln oder im Verbund die Weltordnung mitbestimmen. So ist auch der britische Historiker Adam Tooze der Meinung, dass es für die Politik an der Zeit ist, dem weit überwiegenden Friedenswillen der Völker zu folgen.

Vergleicht man das heutige Gebaren der USA und ihrer Vasallen im Ukraine-Konflikt und dem Kriegsgerede um Taiwan mit den Vorstellungen von Kennedy 1963, muss man eine todbringende Verschlechterung der westlichen Politik feststellen. Und sie beharrt darauf obstinat. Ja sogar deroberste US-General, der endlich offen über die schoneingetretene multipolare Weltordnung spricht, kann sich offenbar von der herrschenden Mentalität nicht frei machen. Vor 630 Militär-Studenten beschwor er, dass es für die USA bei den kommenden Veränderungen kritisch sei, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen und die regelbasierte internationale Ordnung aufrecht zu erhalten. Und wörtlich zu den Studenten: „Und ihr, jeder von euch, werdet diese Veränderung anführen.“ Also trotz besserer Erkenntnisse doch obstinat weiter mit „America First“, bis es ihnen im Halse stecken bleibt und sie schließlich nur noch röcheln?

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Oben       —     Rosenmontagszug Düsseldorf.

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KOLUMNE – NAFRICHTEN

Erstellt von Redaktion am 15. Juni 2023

Es sind doch bloß Bauchschmerzen

Congrès international fasciste de Montreux 1934 (caricature).jpg

Von Mohamed Amjahid

Warum haben so viele deutsche Po­li­ti­ke­r*in­nen immer Bauchschmerzen? Ich kann verstehen, dass man bei Wärmepumpenkompromissen oder Details zur Bahnreform Bauchschmerzen verspürt, wenn man nicht hundert Prozent der eigenen Vorstellungen umsetzen kann. Aber bei der Abschaffung fundamentaler Menschenrechte? Bauchschmerzen? Eigentlich sollte man dabei umfallen und nie wieder aufstehen. Strikt politisch gesprochen, versteht sich. Die EU-Innenminister*innenkonferenz hat vor Kurzem mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems das Recht auf Asyl faktisch abgeschafft. Denn wenn die Reform umgesetzt werden sollte, werden Geflüchtete in Gefängnissen an den EU-Außengrenzen festgehalten. Dort soll ihre Aussicht auf Asyl in einem Turboverfahren innerhalb weniger Wochen geprüft werden. Wer den oberflächlichen Test nicht besteht, soll zurück in einen unsicheren Drittstaat oder ins Ursprungsland abgeschoben werden. Das wird freilich Schutzsuchende nicht daran hindern, Schutz zu suchen, aber Asyl zu beantragen wird in der EU faktisch unmöglich werden.

Die EU hat sich auf einen guten Weg gemacht ? Auf Scholz folgt das Holz ?

Vor allem viele Grüne klagten in den Tagen nach dieser historisch-katastrophalen Entscheidung öffentlichkeitswirksam über Bauchschmerzen. Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang schickte einen schmerzvollen Tweet in die Welt hinaus: „Das ist eine verdammt schwierige Entscheidung, die sich niemand leicht gemacht hat. Deshalb habe ich Respekt für alle, die in der Gesamtabwägung zu einem anderen Entschluss gekommen sind als ich.“ Da kommt einem der Magensaft hoch. Schlimme Dinge tun und sich dann öffentlich selbst bemitleiden, darin sind Deutsche erprobt. Es zeigt, dass es jenen Grünen, SPDlern und sogar einigen bei der FDP, die sich als „progressiv“ bezeichnen und die nun mal gerade das Sagen haben, nur um sich selbst geht. Wenn eine Reform so ausgeht, als ob die Union mit der AfD koalieren würde, stimmt etwas grundsätzlich nicht. Eine gute Behandlung gegen solche Schmerzen würde alles infrage stellen: Ernährung, Schlafrhythmus, politische Leitlinien, Kompromissbereitschaft zum Abbau von Menschenrechten.

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       Caricature de R. Fuzier sur le congrès international fasciste de Montreux. Outre les fascistes italiens en chemise noire, on reconnaît un franciste français et un nazi allemand (en réalité, le parti d‘Hitler n’était pas représenté au congrès).

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Wer profitiert davon ?

Erstellt von Redaktion am 14. Juni 2023

Die Macht der künstlichen Intelligenz

Plenarsaal

Ist so viel selbst aufgeblasene Intelligenz nicht schon zu viel für das Volk ?

Ein Schlagloch von Georg Diez

Die Machtfrage wird bei KI zu verengt gestellt. Es geht nicht nur um den technologischen, sondern auch um den ökonomischen Aspekt.

Wir leben in einer propagandistischen Periode. Das heißt, dass das Verhältnis von Wahrheit und Lüge durch die Interessen der Macht gekennzeichnet ist, vor allem derjenigen von Politik und Kapital, und sich stark zur Lüge hin verschiebt. Der Unterschied zum vorangegangenen Regime der Wahrheit besteht darin, dass sich die Wahrheit damals im politisch-medialen Raum in einem elastischeren Verhältnis zur Lüge verhielt. Man nannte das Spin, also den entscheidenden Dreh, der aus der Wahrheit etwas anderes machte als die Wahrheit selbst.

„Die Rente ist sicher“ ist so ein Spin-Satz oder „Merkel rettet Griechenland“ oder auch „Wir schaffen das“: Wahrheit plus Intention plus Interessen gab der Aussage einen Drall, aber die Verbindung zur Wahrheit war, im Unterschied zur Lüge, nicht vollständig gekappt. Ein Beispiel für Propaganda aus den letzten Tagen ist zum Beispiel der Satz von Innenministerin Nancy Faeser von der SPD, wonach die harsche neue EU-Richtlinie zur Migrationspolitik ein „historischer Erfolg“ sei „für den Schutz der Menschenrechte“.

Von ähnlich propagandistischer Qualität ist so gut wie alles, was in den vergangenen Wochen und Monaten von Google, Microsoft oder Sam Altman von OpenAI zum Thema künstliche Intelligenz gesagt wurde – hier warnten Menschen vor den Folgen der Technologie, die sie gerade selbst entwickeln, als hätten sie es nicht selbst in der Hand, diese Technologie so zu gestalten, dass sie nicht gefährlich ist.

Mehr noch, es sind mächtige Privatunternehmen wie Google, die seit Jahren genau die Stimmen stigmatisieren oder aus dem eigenen Unternehmen drängen, die bei der Entwicklung etwa von KI vor Rassismus oder Sexismus warnen – und daraufhin entlassen wurden, Kate Crawford etwa oder Timnit Gebru.

Ungleichheit durch unregulierten Einsatz von KI

Die Straßen sind nicht privat kontrolliert, warum sollte es die Infrastruktur im Digitalen also sein?

Seltsamerweise verbreiten fast alle Medien diese Propaganda ziemlich unhinterfragt und eins zu eins: Wenn sehr viele weiße Männer einen mahnenden Brief unterschreiben und davon raunen, dass die Technologie, noch mal, die sie selbst entwickeln, zur „Auslöschung“ der Menschheit führen könne – und diese Aussage eben nicht nur sci-fi-haft vage und unpräzise ist, sondern vor allem gegenwärtigen Machtmissbrauch genau dieser Firmen verschleiert – etwa in Bezug auf Kooperationen mit dem Militär oder der Überwachungspraxis auch in demokratischen Staaten oder auch mit Blick auf die „Auslöschung“ von Arbeitsplätzen oder die plausible Perspektive exponentiell wachsenden Reichtums verbunden mit massiv zunehmender Ungleichheit durch den unregulierten Einsatz von KI.

Wenn nun etwa Sam Altman einen PR-Blitz mit dem US-amerikanischen Kongress und Ursula von der Leyen und allen möglichen Staatschefs vollführt und davon spricht, dass seine Industrie dringend reguliert werden sollte, dann muss man eigentlich kein Gedankenkünstler oder Hardcore-Marxist sein, um zu vermuten, dass er sicher nicht meint, dass er etwas von der Macht oder dem Einfluss oder dem Gewinnpotenzial der Firma ­OpenAI abgeben will, die er mitbegründet hat.

Aber weil der Diskurs über Digitalisierung im Allgemeinen und künstliche Intelligenz im Speziellen so einseitig und kurzatmig geführt wird, bleiben die Fragen der politischen Ökonomie weitgehend ausgeblendet: Wer profitiert also von „Regulierung“, die ja am Ende doch weitgehend selbst gestaltet sein sollte, so die Logik, und vor allem den technologischen und nicht den ökonomischen Aspekt betrifft.

Technologie nicht von Ökonomie zu trennen

Tatsache ist aber, dass die Technologie nicht von der Ökonomie zu trennen ist. Gefährlich wird die künstliche Intelligenz auf absehbare Zeit vor allem dadurch, dass sie eben kapitalistischen Profitinteressen unterworfen ist: Erst dadurch entsteht die eklatante Intransparenz bei der Entwicklung, das Zukunftsversprechen als „Blackbox“.

Erst dadurch ergeben sich das manipulative Potenzial und die private Kontrolle über einen gewaltigen technologischen Entwicklungssprung, der wie alle technologischen Entwicklungen letztlich eine Form von Infrastruktur annimmt. Die (allermeisten) Straßen sind auch nicht privat kontrolliert, warum sollte es die Infrastruktur im Digitalen also sein?

Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und Simon Johnson haben auf diese notwendigen marktwirtschaftlichen Fragen der Regulierung von KI gerade in einem Essay für die New York Times hingewiesen. Letztlich kommen sie zu dem Schluss, dass nicht in erster Linie die Macht von KI, sondern die Macht- und vor allem die Kapitalkonzentration der Firmen wie Microsoft oder Google das drängendste Problem sind.

Höhere Steuern für Google

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben      —     Plenarsaal

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Solidarität – Julian Assange

Erstellt von Redaktion am 14. Juni 2023

Ein mörderisches System gegen Pressefreiheit und die Dokumentation von Kriegsverbrechen

Demonstration in front of Sydney Town Hall in support of Julian Assange, 2010, December 10

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von               :      Thespina Lazaridu (Free Assange Köln) /

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 479, Mai 2023, www.graswurzel.net

Julian Assange ist der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Ihm drohen 175 Jahre Gefängnis für die Veröffentlichung von Dokumenten, die Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak dokumentieren. (1)

Julian Assange: „Wir sind nicht in dem Geschäft, um Likes zu sammeln. WikiLeaks macht Dokumente über mächtige Organisationen öffentlich. Für die Mächtigen werden wir immer die Bösen sein.“Seit 2010 ist er seiner Freiheit beraubt. Seit mehr als vier Jahren ist er in Isolationshaft im Londoner Hochsicherheitsknast Belmarsh, eingesperrt und psychischer Folter ausgesetzt.WikiLeaks war eine Antwort auf das globalisierte Vakuum von Verantwortlichkeit und änderte die Spielregeln zugunsten der Gegenwehr von Einzelnen. Die Idee von WikiLeaks ist der freie Zugang zu Informationen, die öffentliche Angelegenheiten betreffen. Auf der Enthüllungsplattform können Dokumente anonym veröffentlicht werden, die durch Geheimhaltung als Verschlusssache, Vertraulichkeit, Zensur oder auf sonstige Weise in ihrer Zugänglichkeit beschränkt sind.

Julian Assange gründete Wiki-Leaks 2006 zusammen mit einer aus Männern und Frauen bestehenden internationalen Gruppe von Dissident:innen, Computerspezialist:innen und Journalist:innen. Immer schon gab es ein Missverhältnis zwischen den traditionellen Machtzentren und deren Kontrolle durch die investigative Berichterstattung. Konsortien, Banken, Regierungen und Geheimdienste steuern zunehmend die Informationsbereitstellung. Die Deutungshoheit über das, was im Interesse der Öffentlichkeit ist, wird zunehmend zu einer rigiden Machtdemonstration.

Die erstaunlichen Sicherheitsvorkehrungen von WikiLeaks garantieren internationalen Hinweisgeber:innen Sicherheit und Anonymität. Diese Whistleblower nutzen die Gelegenheit und geben mehr als zehn Millionen (!) geheimgehaltener Dokumente weiter, u.a. konkrete Nachweise zu Korruption, Umweltverbrechen, Folterungen und Kriegsverbrechen. Jedes einzelne Dokument wird vor der Veröffentlichung auf die Echtheit überprüft.

Ab 2010 intensivierten die US-amerikanische Regierung und ihre Geheimdienste die Anstrengungen, um WikiLeaks auszuschalten. Cloud-Dienste und Konten wurden gesperrt und Internetdomains, mit denen WikiLeaks arbeitete, wurden blockiert. Aber WikiLeaks erfuhr eine breite, auch finanzielle Unterstützung, spiegelte die Daten auf hunderte anderer Server, änderte Domainnamen und veröffentlichte weiter.

Die US-Behörden sahen sich gezwungen ihre Strategie zu ändern. Sie richteten den Fokus auf die Person Julian Assange, statt auf die Plattform WikiLeaks und die Hetzjagd begann. Julian Assange wurde nun zum heissen Eisen für die grossen Medienhäuser, die vorher von seinen Veröffentlichungen profitiert hatten. Sie liessen ihn fallen. Die investigative Presse bemühte sich nicht, die erhobenen Vorwürfe zu untersuchen. Nicht lange nach den Veröffentlichungen der grössten Leaks der US-Militärgeschichte und den Beweisen für Folter und Kriegsverbrechen, wurde Julian Assange der Vergewaltigung bezichtigt.

Zu den erfolgreichsten in Umlauf gesetzten Fake-News des vergangenen Jahrzehntes gehört, wie dank der Untersuchungen von Professor Nils Melzer offenbart wurde, die Erzählung, dass zwei Frauen im August 2010 bei der schwedischen Polizei gegen Julian Assange Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet hätten. Der WikiLeaks-Gründer hätte sich anschliessend durch Flucht nach England der schwedischen Justiz entzogen. Nils Melzer war bis 2022 UNO-Sonderberichterstatter für Folter. Er spricht fliessend Schwedisch und konnte somit alle Originaldokumente lesen.

Eine bizarre Geschichte kurz erzählt:

Eine Frau in Begleitung einer zweiten, erschien bei der Polizei. Die Frau wollte lediglich wissen ob sie, nach einvernehmlichem Sex mit Assange, ihn zu einem AIDS-Test verpflichten kann. Sie bemerkte, dass die Polizei offenbar etwas anderes daraus machen wollte, war schockiert und verliess die Wache. Bereits Stunden später titelte die schwedische Boulevardpresse: „Julian Assange der zweifachen Vergewaltigung beschuldigt“. Einen Tag nach der Einvernahme der ersten Frau bei der Polizei und der Schlagzeile in der Presse, erschien die Begleiterin und bezichtigte Assange, er habe gegen ihren Willen ungeschützten Sex mit ihr gehabt. Nach schwedischen Gesetzen käme das einer Vergewaltigung gleich.

Im Verlauf meldete sich Assange mehrfach bei der Polizei, um Stellung zu nehmen, die hielt ihn hin. Nils Melzer: „Die schwedischen Behörden waren an der Aussage von Assange nie interessiert. Sie liessen ihn ganz gezielt ständig in der Schwebe.“ Auf Assanges Bitte, das Land verlassen zu können, bekam er die schriftliche Einwilligung der Staatsanwaltschaft und reiste weiter nach London. Aber kaum, dass er das Land verliess, wurde ein internationaler Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er bot auch in London der schwedischen Justiz weiterhin seine Kooperation an.

Dann bekam er Wind von einem Komplott gegen ihn. Er forderte fortan von der schwedischen Regierung eine diplomatische Zusicherung, dass er nicht weiter an die USA ausgeliefert wird, wenn er in Schweden aussagt. Die Schweden mauerten und die britische Justiz mischte sich ein, um eine Einstellung des Verfahrens zu verhindern. Nils Melzer: „Stellen Sie sich vor, Sie werden neuneinhalb Jahre lang von einem ganzen Staatsapparat und von den Medien mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert, können sich aber nicht verteidigen, weil es gar nie zur Anklage kommt.“ Die grossen Medienhäuser wie die New York Times, der Guardian, der Spiegel und andere, hatten am Honigtopf der WikiLeaks-Informationen partizipiert.

Beispiele für die Aufklärungsarbeit von WikiLeaks

Durch die Arbeit von WikiLeaks wurden unter anderem folgende Informationen veröffentlicht: Korrupte Geschäftspraktiken der Schweizer Bank Julius Baer, Dokumente über die Praktiken der Scientology-Sekte, der Giftmüllskandal der Firma Trafigura, die illegale Rodung des Regenwaldes in Peru durch den norwegischen Ölkonzern Statoil, die enge Verbindung des damaligen französischen Präsidenten Hollande mit der französischen Waffenindustrie.

File:Reporters Sans Frontières manifeste à Londres en Soutien de Julian Assange.jpg

Das Dokument „Black-Shock“ der russischen Zentralbank mit Hinweisen auf den Diebstahl grosser Geldsummen aus dem staatlichen Haushalt. Ebenso E-Mail-Korrespondenzen der russischen Regierung zu geheimen Treffen mit dem Chef des Ölkonzerns BP, die die umstrittene Ölförderung auf der Insel Sakhalin offenlegten. US-Diplomatendepeschen mit Informationen über Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Russland und über seine politischen Führer, einschliesslich des Premierministers Putin.

Eine andere grosse Dokumenten-Sammlung enthüllte, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) in grossem Umfang E-Mails, Telefonate und Faxnachrichten von deutschen Bürger:innen ausspionierte und diese Daten mit dem US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) teilte.

Für Aufsehen sorgte auch die Dokumentation der TiSA-Leaks zu TTIP, dem transatlantischen Freihandelsabkommen zwischen USA und der EU. Weitere wichtige Publikationen betrafen die Spionage-Praktiken der CIA (Central Intelligence Agency) und die Verwendung von Hacking-Tools und Malware, um Computer-Systeme in europäischen Botschaften und Konsulaten zu infiltrieren und Daten abzufangen. Dokumente mit Hinweisen auf ein chinesisches Massen-Überwachungssystem zur Unterdrückung von Muslimen in Xinjiang wurden ebenfalls veröffentlicht.

Die „Afghan War Diary“ umfasste ca. 77.000 Afghanistan-Protokolle; Dokumente, die sich auf die Kriege in Afghanistan und im Irak bezogen. Darunter war ein interner Bericht der CIA, der PR-Strategien erörtert, wie in der Bevölkerung Deutschlands und Frankreichs die Akzeptanz für den Einsatz in Afghanistan weiter erhalten werden kann – demnach seien die Rechte afghanischer Frauen ideal, um den Kriegseinsatz in den Augen der Deutschen als human darzustellen. Sie enthalten auch Informationen über die Rolle Grossbritanniens in diesen Konflikten und belegen, dass britische Truppen Zivilist:innen töteten und Gefangene folterten.

Im April 2010 veröffentlichte WikiLeaks das Video „Collateral Murder“ und machte damit Kriegsverbrechen des US-amerikanischen Militärs im Irak bekannt. Das Video ist eine Aufzeichnung aus einem US-Kampfhubschrauber. Es zeigt, wie amerikanische Soldaten grundlos und mit zynischem Eifer auf irakische Zivilist:innen, auch auf bereits Schwerverletzte und Menschen, die zu Hilfe eilen, schiessen. Zwölf Menschen wurden dabei getötet, zwei Kinder schwer verletzt. Zwei der Getöteten waren Journalisten der Agentur Reuters. Die Weltgesellschaft reagierte mit Empörung.

Die „Iraq War Logs“ – tausende Feldberichte von 2004 bis 2009 von US-Soldaten, aus einer Datenbank des Pentagon – wurden öffentlich. Auch die Informationen, dass von den 109.032 irakischen Kriegsopfern 66.081 Zivilist:innen waren, kamen ans Licht. Es handelte sich also keinesfalls um einen „sauberen“ Krieg.

Es gab mehr als 700 Protokolle über das Gefangenen-Lager Guantanamo – Dokumente über Gefangene, die ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren Folter erlitten. Weitere Dokumente folgten, wie zum Beispiel zu undemokratischen Wahlkampftaktiken von Hillary Clinton und dem Betrug des Clinton-Teams an Bernie Sanders während der US-Präsidentschaftskampagne.

Dokumente und Informationen über CIA-Leaks „Vault 7“, ein geheimes CIA-Programm, das zu breiter Überwachung über verschiedene elektronische Geräte wie Smartphones, Fernseher und Computer abzielte, waren das grösste Leak in der Geschichte der CIA.

Alles oben aufgezählte ist nur eine kleine Auswahl der brisanten Informationen von WikiLeaks, die auch Hinweise auf das Schicksal von Julian Assange und seine Verfolgung geben. Julian Assange, der den Mächtigen der Welt die Stirn bot, verblasste hinter dem Bild eines Vergewaltigers. Aber damit war es nicht genug. Weitere Vorwürfe tauchten auf. Das Pentagon behauptete, Assange habe auf WikiLeaks Material veröffentlicht, ohne darin Namen zu schwärzen. Damit habe er Menschen in Gefahr gebracht. Ein damaliger Spiegel-Journalist, der an dem Material mit WikiLeaks arbeitete, belegte, dass zum einen Guardian-Journalisten verantwortlich für die Veröffentlichung waren und, dass zum anderen, Assange als er davon erfuhr, sofort das US-Aussenministerium anrief und warnte. Das Ministerium allerdings reagierte nicht.

Es ist den US-Behörden nicht gelungen, Nachweise für ihre Behauptung zu erbringen. Der Chaos Computer Club (CCC) meldete im Dezember 2022, dass er an hochsensible biometrische Daten von 2.632 afghanischen Personen gelangte. Das US-Militär habe massenhaft Geräte zur biometrischen Erfassung von Menschen in Afghanistan genutzt. Beim Abzug der US-Truppen blieben die Geräte zurück. Einige Geräte „erbeutete“ der CCC bei einem Online-Aktionshaus. Die Daten sind nicht verschlüsselt. Das US Department of Defense wurde informiert, verwies aber bloss an den Hersteller. Wie viele der Geräte den Taliban in die Hände fielen und ihnen eindeutige Personen-Identifikationen ermöglichten, ist nicht bekannt.

Bezüglich der Veröffentlichungen der E-Mails des „Democratic National Congress“ (DNC), die den Betrug des Clinton-Teams an Bernie Sanders offenbarten, wurde WikiLeaks immer wieder vorgeworfen, russischen Propagandazwecken und gezielter Desinformation zu dienen. Dabei hatte selbst der damalige US-Präsident Obama keine Hinweise auf eine Zusammenarbeit von WikiLeaks mit Russland. Inzwischen gehen sogar die US-Behörden davon aus, dass die Dokumente von einer privaten Firma gekommen sind, die für die CIA arbeitete. Ebenso sollen diese Veröffentlichungen für den Wahlsieg Donald Trumps verantwortlich gewesen sein. Dass viele Menschen Hillary Clinton und ihr politisches Lager womöglich auch wegen ihrer korrupten Machenschaften nicht mehr wählten, wird dabei ausser Acht gelassen.

Nach Obama und Trump ist Biden der dritte US-Präsident, der auf eine Auslieferung Assanges besteht. Das erklärte Ziel dürfte ein Schauprozess sein, in dem Assange kaum das Recht zugestanden wird, sich zu verteidigen. Denn die Inhalte, auf die er eingehen müsste, werden selbst vor Gericht weiterhin als Staatsgeheimnisse behandelt.

Nachdem dem Auslieferungsgesuch Schwedens von Grossbritannien zugestimmt wurde, ersuchte Julian Assange 2012 um Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Das Asyl wurde ihm gewährt und später wurde ihm auch die ecuadorianische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Fortan lebte er sieben Jahre auf winzigem Raum. Er konnte die Botschaft niemals verlassen. Vor dem Gebäude stand Tag und Nacht ein riesiges britisches Polizeiaufgebot, um ihn sofort zu verhaften. Assange wurde kein Tageslicht und auch kein Spaziergang gewährt. Ärztliche Behandlungen waren nur in der Botschaft möglich. Assange veröffentlichte mit WikiLeaks weiter. Internationale Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Presse kamen zu ihm.

Später stellte sich heraus, dass die Sicherheitsfirma, die die Botschaftsüberwachung betreute, heimlich für die CIA arbeitete. Die Räume waren verwanzt. Nicht nur Assange wurde rund um die Uhr ausspioniert, sondern auch alle seine Besucher und Besucherinnen. Die Anwaltsgespräche erfuhren besondere Aufmerksamkeit. Alle gesammelten Daten, inklusive gestohlener Dokumente, wurden an die US-Behörde weitergeleitet. Fast nichts blieb verborgen. UN-Experten kamen 2016 zu dem Schluss, dass Assanges Aufenthalt in der Botschaft einer willkürlichen Verhaftung gleichkomme und er auf freien Fuss gesetzt werden sollte.

Professor Melzers Vorwürfe gegen die Behörden in Schweden, Ecuador, Grossbritannien und den USA sind drastisch. Sie haben „mit ihrer geballten Macht“ aus „einem Mann ein Monster“ gemacht, ist in einem Interview zu lesen (2), und wesentlich umfassender in Melzers sehr empfehlenswertem Buch (3). Die Regierung Ecuadors wechselte und auf Druck der USA wurde Assange in der Botschaft immer restriktiver behandelt. 2019 wurde ihm unrechtmässig die Staatsbürgerschaft über Nacht aberkannt und die britischen Behörden bekamen Zugang.

Am 11. April 2019 wurde Assange verhaftet, gerade als die USA eine Anklageschrift enthüllten, in der Julian Assange eine kriminelle Verschwörung vorgeworfen wurde, die zu „einer der grössten Kompromittierungen von Geheiminformationen in der Geschichte der Vereinigten Staaten“ geführt habe.

Das Auslieferungsgezerre zog sich hin. Assange wurde nach seiner Verhaftung wegen Verstoss gegen Kautionsauflagen, ein Bagatellvergehen, 2019 in den Hochsicherheitsknast Bellmarsh eingesperrt und sitzt seitdem die meiste Zeit in Isolationshaft. 2021 urteilte ein britisches Gericht gegen die Auslieferung, da das Selbstmordrisiko Assanges bei einer Überstellung in unverantwortlichen Masse steigen würde. Assange blieb auch weiterhin in Isolationshaft in Belmarsh, die USA legten erfolgreich Berufung ein.

Sodann entschied der Oberste Gerichtshof Grossbritanniens, dass Assange keine Berufung gegen die Entscheidung der unteren Instanz einlegen könne, da sein Fall „keine vertretbare Rechtsfrage aufwerfe“. Einen Monat später wurde der Auslieferungsantrag der USA formell genehmigt und im nächsten Schritt in die Hände von Innenministerin Priti Patel übergeben, die den Auslieferungsbeschluss unterzeichnete.

Das britische Innenministerium erklärte, die britischen Gerichte hätten nicht feststellen können, dass eine Auslieferung mit Assanges „Menschenrechten, einschliesslich seines Rechts auf ein faires Verfahren und auf freie Meinungsäusserung“ unvereinbar sei. Die Verteidigung Assanges hat Revision eingelegt, eine Entscheidung ob sie angenommen wird, steht seit langer Zeit aus. Die Sprecherin des US-Justizministeriums bestätigte derweil kürzlich, dass die USA ihre Bemühungen um die Auslieferung fortsetzen werden. Soviel zum Überblick, trocken und mit vielen Auslassungen. Hoffentlich aber mit genügend Informationen, die euch neugierig machen.

Wir schreiben über den Fall von Julian Assange, weil wir versuchen, auch über Aktionen darauf aufmerksam zu machen. Warum tun wir das? Weil wir erkannt haben, welche Auswirkungen der politische und juristische Umgang mit Julian Assange auf unser aller Leben und Agieren hat. Julian ist ein Mensch, der systematisch vernichtet wird. Die vielgelobte Achtung der Menschenrechte, grade wieder viel beschworen, gilt nicht für ihn, der unter anderem US-amerikanische Kriegsverbrechen für uns öffentlich gemacht hat. Die Rechtsstaatlichkeit, derer sich demokratische Staaten rühmen und sich dadurch als demokratisch definieren, wird in den Verfahren gegen Assange ausser Kraft gesetzt. Nicht rechtsstaatlich, sondern willkürlich und roh geht die Justiz gegen ihn vor. Er hat niemanden geschont in seinen Veröffentlichungen, auch die Machteliten der sogenannten demokratischen Staaten nicht, inklusive der Presse, die sich vor der Macht wegduckt. Dafür rächen sie sich.

Aber es ist nicht nur Assange, um den es geht. Wir alle sollen an seinem Beispiel sehen, was uns geschieht, wenn wir uns auflehnen. Wir sollen lernen, dass es gesünder für uns ist, möglichst wenig Aufstand zu proben. Es soll eine Lektion in Sachen Wehrlosigkeit sein: „Wen interessiert, was ihr zu sagen habt oder durchsetzen wollt, ihr habt keine Chance; schaut, wie weit wir gehen können.“ Leider schauen viele weg, und lernen zu schweigen. Aber immer mehr und mehr durchschauen diese Machtdemonstration. Unsere Aktionsgruppe Free Assange Köln wird weiterhin hörbar und sichtbar auf Julian Assanges Situation aufmerksam machen; auf unser Recht und auf die Notwendigkeit von freier Information und die Auflehnung gegen Missstände.

Fussnoten:

(1) Vgl. Schwerpunkt GWR 456, Februar 2021: Freiheit für Julian Assange! Über Folter und Willkür westlicher Staatsräson, https://www.graswurzel.net/gwr/2021/02/freiheit-fuer-julian-assange/

(2) https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange

(3) Nils Melzer: Der Fall Assange – Geschichte einer Verfolgung, Pieper Verlag. Das Buch erscheint im Juni 2023 auch als Taschenbuch

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —       Demonstration in front of Sydney Town Hall in support of Julian Assange, 2010, December 10

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Innenministerkonferenz:

Erstellt von Redaktion am 14. Juni 2023

Polizei setzt ohne Rechtsgrundlage Handy-Blitzer ein,
die allen ins Auto filmen und das auswerten

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :       

Eine neue Überwachungstechnik im Straßenverkehr deutet sich im bundesweiten Einsatz an. Rheinland-Pfalz geht mit Kamera und Computerauswertung gegen Smartphonenutzer am Steuer vor. Doch ist dieser Eingriff wegen einer Ordnungswidrigkeit gerechtfertigt?

Die Polizei in Rheinland-Pfalz setzt ohne Rechtsgrundlage seit mehr als einem Jahr sogenannte „Handy-Blitzer“ ein, die eine verbotene Nutzung des Smartphones im Straßenverkehr dokumentieren sollen. Dabei wird mit einer Kamera anlasslos in alle vorbeifahrenden Autos hineingefilmt. Eine Software wertet die Aufnahmen aus und speichert dann die Fahrer:innen, die angeblich ihr Smartphone benutzen.

Die Polizei überprüft dann diese maschinell überführten Autofahrer:innen und leitet gegebenenfalls Bußgeldbescheide ein. Bei der Innenministerkonferenz will Rheinland-Pfalz nun diese neue Überwachungstechnik vorstellen, das Land Brandenburg prüft den Einsatz schon jetzt.

In einem Artikel im Spiegel wird die Technik folgendermaßen beschrieben:

Das System, die Monocam, besteht aus einem leistungsfähigen Laptop, einer Kamera und einer KI-gestützten Software, die sogenannte Ablenkungsverstöße voll automatisiert erkennt, also wenn jemand am Steuer ohne Freisprechanlage telefoniert oder in sein Handy tippt. Das Programm wurde vorher mit rund 20.000 Fotos von Fahrzeugführern gefüttert, die das taten. Die Kamera filmt dann den fließenden Verkehr, die Software gleicht das Geschehen auf der Straße mit den Bildern der Handysünder ab. Ist da ein Mobiltelefon im Bereich des Fahrers? Und falls ja, wird es von einer Hand umschlossen? Trifft das zu, signalisiert das Programm einen Treffer. Den schauen sich dann Kontrollkräfte vor Ort an. Am Ende entscheidet immer der Mensch, ob ein Verstoß vorliegt oder nicht.

Keine Rechtsgrundlage

Doch das Verfahren ist derzeit noch umstritten. Laut einem Bericht des ADAC dürfen nach geltender Rechtslage für Verkehrsverstöße verwertbare Foto- und Videoaufnahmen nur bei konkretem Tatverdacht, also nicht verdachtsunabhängig erstellt werden. Genau das passiert aber mit der neuen Überwachungstechnik aus den Niederlanden, bei der alle Autos gleichermaßen und verdachtsunabhängig überwacht werden. Rheinland-Pfalz will deswegen demnächst dafür eine Rechtsgrundlage schaffen.

Juristisch unklar ist auch, ob das bloße in der Hand Halten eines Smartphones ausreicht oder ob das Handy auch bedient werden muss, damit es strafbar ist. Klar ist: Wer kurz auf die Messenger-Nachricht antwortet oder mal eben mit einer Freundin telefoniert, dem drohen 100 Euro Bußgeld und ein Punkt in Flensburg. Bislang konnte die Polizei diese Art der Verkehrssünder nur überführen, wenn sie es selbst sah und dann einschritt. Mit der neuen Technik dürfte die Zahl der überführten Autofahrer:innen deutlich steigen.

Klar ist allerdings, dass die neuen Blitzer die Dichte der Überwachung im Straßenverkehr weiter erhöhen. Während für den Einsatz der Kennzeichenerfassung enge rechtliche Grenzen gelten und diese Fahndung nur bei schweren Straftaten eingesetzt werden darf, filmt der neue Handy-Blitzer grundrechtsinvasiv ins Auto hinein und wertet dann aus, was wir dort tun. Und das zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit. Hinzu kommen andere Überwachungsmethoden, wie die Section Control, bei der Kennzeichen erfasst werden und auf einer Strecke die Durchschnittsgeschwindigkeit ermittelt wird. Durch all diese Technologien wird das Netz der Überwachung auf den Straßen immer enger – die Überwachung, die in modernen Autos selbst und meist ohne unser Wissen stattfindet mal ganz außen vor.

Digitalcourage warnt vor Ausweitung

Die Datenschützer:innen von Digitalcourage lehnen das Vorhaben ab, so Konstantin Macher, ein Sprecher der Organisation: „Damit wird eine technische Infrastruktur installiert, die sich einfach auf andere Zwecke anpassen lässt.“ Während jetzt noch nach Handys gesucht werde, könnten mit einem Update auch nach anderen Gegenständen gesucht werden. Auch sei, wenn Kameras und „KI“ schon vorhanden seien, die automatisierte Gesichtserkennung nicht weit.

„Es ist besonders problematisch, so einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ohne Rechtsgrundlage umzusetzen. Das macht eine demokratische Kontrolle der eingesetzten Überwachungstechnik schwierig“, so Macher weiter. Man sei zwar dagegen, dass Menschen durch unaufmerksames Fahren andere Menschen gefährden, eine anlasslose Massenüberwachung sei aber keine verhältnismäßige Maßnahme, um dagegen vorzugehen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —       Automatic Number Plate Recognition (ANPR). ANPR (Automatic Number Plate Recognition) is now the world rage use of this software and camera. Now, parking and highway traffic management have become easier with the ANPR camera and the software. It also knows as license plate recognition(LPR). Now I discuss in detail the ANPR Camera and software. Advantages of ANPR camera and software. 1. Car Parking Management. We can manage our parking system with the ANPR camera when a car came to the front of the camera automatically scan the Number plate or license plate of this car and then store it in the database. 2. Journey Time Analysis. The camera keeps the data of the coming and going of the cars and give you the data when it came and when it goes. 3. Traffic Management An ANPR system can manage traffic also because if any vehicle breaks the rule of traffic then the camera automatically detects the car and keep the data in the case files. It can count the number of cars or vehicles that pass through the ANPR camera.

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Migration als Erpressung

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

„Team Europe“ nutzt Not Tunesiens

Ein Debattenbeitrag von Karim Ei-Gewhary

Was aussieht wie eine Situation, von der beide profitieren, ist de facto eine EU-Politik, die ihre Interessen in der Migrationspolitik durchzusetzt.

Tunesien braucht dringend eine Finanzspritze. Die EU ist bereit, 900 Millionen Euro zu bezahlen, wenn das nordafrikanische Land dafür sorgt, dass von seiner Küste keine Migrationsboote mehr Richtung Europa ablegen. Das hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Reise nach Tunesien am Wochenende in Aussicht gestellt. Außerdem will die EU ein gutes Wort beim Internationalen Währungsfonds (IWF) einlegen, dass dieser einen 1,9-Milliarden-Dollar Kredit für Tunesien freigibt.

„Die Europäer drehen den Tunesiern den Arm auf den Rücken“, beschreibt das Tunesische Forum für Wirtschaftliche und soziale Rechte den in Aussicht gestellten Deal: Tunesien im Bettlergewand und im Griff der EU. Tunesien hat immer wieder betont, dass es nicht die Rolle des EU-Grenzschützers übernehmen will. Doch es droht der wirtschaftliche Kollaps.

Das Land kann im Moment gerade seinen Schuldendienst schultern. Die Schulden machen fast 80 Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Jede Finanzspritze von außen sorgt dafür, dass Tunesien sich gerade so über Wasser hält. Viele Tunesier stehen ökonomisch und sozial mit dem Rücken zur Wand. Vier von zehn Jugendlichen sind arbeitslos. Auch ein Grund, warum unter den Migranten, die sich auf den Weg nach Europa machen, so viele Tunesier sind.

„Team Europe“ nannte von der Leyen sich und ihre nach Tunis mitgereisten EU-Politiker, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, den niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Das sollte neuen Schwung symbolisieren. Doch das „Team Europe“ redet bisher meist im Konjunktiv, denn die Inhalte des Deals und die Frage, wie weit die Tunesier mitmachen, sind noch alles andere als klar.

Nicht nur Grenzpolizei spielen

Dennoch sprach die italienische Rechtspolitikerin Meloni von einem „erreichten Meilenstein“. Ihre Vorstellung: Die Tunesier sollen nicht nur Grenzpolizei spielen, sondern auch noch alle Migranten zurücknehmen, die es nach Europa geschafft haben und dort als „illegal“ bewertet wurden – sofern sie auf ihrer Reise von der tunesischen Küste abgelegt haben. Ein alter rechtspopulistischer Traum in Europa: Das Flucht- und Migrationsproblem gegen Cash vollkommen auf Nordafrika abzuwälzen. Nur, dass dort bisher kein Land darauf eingegangen ist.

Wie weit sich Tunesien darauf einlassen wird, hängt nicht nur von seiner ökonomischen Verzweiflung, sondern auch von Präsident Kais Saeid ab. Der hat Ende 2021 das Parlament aufgelöst und regiert das Land inzwischen fast wieder nach dem Handbuch arabischer Autokraten. Zu den Neuwahlen des Parlaments, dessen Rechte er massiv beschnitten hatte, kamen vor ein paar Monaten gerade einmal acht Prozent der Wahlberechtigten zum Urnengang.

Saeid hat ein echtes Legitimationsproblem. Für nächstes Jahr stehen Präsidentenwahlen an; Saied braucht dringend eine Erfolgsgeschichte. Der EU-Deal könnte so eine Geschichte sein.

105 Millionen potenzielle Flüchtlinge

Aber nicht nur die EU verdreht die Arme, auch für Nordafrika steckt hier einiges Erpressungspotenzial. Der ehemalige Militärchef und ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi spricht bei Besuchen europäischer Politiker in Kairo immer gerne von angeblich 9 Millionen Migranten und Flüchtlingen in Ägypten und seiner eigenen, 105 Millionen zählenden Bevölkerung, von denen viele aufgrund ihrer ökonomischen Verzweiflung sich ohne Zögern auf den Weg nach Europa machen würden.

Allein diese Andeutungen öffnen den europäischen Geldbeutel. Mit Blick auf den EU-Tunesien-Deal wäre es für Ägypten geradezu ratsam, Migrationsboote in großem Stil von der ägyptischen Küste ablegen zu lassen, um dieses Erpressungspotenzial zu unterstreichen. Das Thema Migration steckt voll politischen Zynismus auf allen Seiten.

Im Fall Tunesiens entbehrt das auch nicht einer gewissen Ironie. Das Land hatte vor zehn Jahren infolge des Arabischen Frühlings als einziges ein demokratisches Experiment gewagt. Damals hätte es dringend eine Art europäischen Marschallplan gebraucht.

Man hätte aus dem Land ein demokratisches Schaufenster mitten in der autokratisch regierten arabischen Welt machen können, ähnlich wie einst Westberlin in Richtung Osten. Es hätte nicht viel gekostet, das kleine Tunesien mit seinen 12 Millionen Einwohnern zu einem demokratischen und wirtschaftlichen Musterland zu machen – zu einem Gegenmodell des vom Militär regierten Ägypten und der zutiefst antidemokratischen Golfmonarchien.

Aber Europa hat Tunesien im Stich gelassen. Außer ein paar Routineentwicklungsprogrammen und ein paar Präferenzen im Handel war da nicht viel. Tunesiens Demokratie ist an der Wirtschaft gescheitert, woraufhin der Möchtegern­auto­krat Saeid an die Macht kam.

Keine Strategie vorhanden

Quelle             :         TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —   In a debate with Council and Commission on tomorrow’s EU summit, MEPs demanded lower energy prices and allowing Bulgaria and Romania to join the Schengen area. On behalf of the Czech Presidency of the Council, Minister for European Affairs Mikuláš Bek denounced the Russian military’s use of “winter as a weapon” in Ukraine. EU leaders will discuss how to increase collective pressure on Russia to end its war of aggression, he said, and will continue working on a coordinated approach to minimise the social and economic impact of the steep rise in energy prices. Commission President Ursula von der Leyen advocated a determined push forward of the clean transition in Europe. To achieve it, she proposed both increasing public investment and adapting EU rules on how it is spent, including via a sovereignty fund. The EU should also, she said, address the proposed Inflation Reduction Act, though she also stressed that “It is not the time for a trade war.”. President Von der Leyen predicted that “Putin’s war of aggression will fail (…) first, due to the enormous bravery of the Ukrainian people and, second, thanks to the international community’s remarkable unity.” “Let’s stay strong, united,” she concluded. Many MEPs welcomed the use of the rule of law conditionality mechanism and called for an end to the use of unanimity by member states in the Council. They welcomed the Commission President’s proposals for the establishment of a sovereign fund to deal with measures taken by third countries. www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20221209IPR6442… This photo is free to use under Creative Commons license CC-BY-4.0 and must be credited: „CC-BY-4.0: © European Union 2022– Source: EP“. (creativecommons.org/licenses/by/4.0/) No model release form if applicable. For bigger HR files please contact: webcom-flickr(AT)europarl.europa.eu

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Ärzte rufen zum Boykott

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

Deutsche HNO-Ärzte weigern sich, Kinder zu operieren

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martina Frei /   

107 Euro für eine Operation seien zu wenig, sagen Fachverbände. Sie riefen zum OP-Boykott auf. Die Leidtragenden sind die Kinder.

Seit einem Jahr hört Lukas* schlechter. Während der Sprechstunde in der Praxis des bayrischen HNO-Arztes Rainer Jund sieht der Junge aus dem Fenster, sein Blick wirkt schläfrig. «Manchmal hat man den Eindruck, dass er völlig abwesend ist», berichtet Lukas Vater. Lukas ist heute bereits das dritte Kind mit denselben Problemen in der Sprechstunde.

Der Grund für Lukas Beschwerden sind seine riesigen Rachen- und Gaumenmandeln. Sie engen den Luftweg ein und erschweren dem Kind das Atmen. Um trotzdem ausreichend Luft zu bekommen, hat der Knabe den Mund ständig leicht geöffnet. Jede Nacht erwache sein Sohn zwei- bis dreimal, sagt der Vater. «Er schläft seit einem Jahr nicht mehr durch.»

Etwa eines von 100 Kindern bekommt wie Lukas beim Schlafen nicht genügend Luft und hat nächtliche Atemaussetzer. Die von solchen Schlafapnoen betroffenen Kinder sind tagsüber müde oder hyperaktiv. Ihr Blutdruck kann wegen des nächtlichen Sauerstoffmangels steigen. Meist hören sie auch schlechter, weil die grossen Rachenmandeln dazu führen, dass sich im Mittelohr Flüssigkeit ansammelt. Die Folge: Ihr Spracherwerb verzögert sich und sie können im Kindergarten oder in der Primarschule schlechter am Unterricht teilhaben. Ausserdem neigen sie zu wiederkehrenden Mittelohrentzündungen. All das schmälert ihre schulischen Leistungen.

Berufsverband warnt vor unterlassenen Operationen …

Manchmal bilden sich vergrösserte Mandeln von selbst wieder zurück. Wenn Kinder aber so schwer betroffen sind wie Lukas, dass sie im Schlaf zu wenig Sauerstoff bekommen oder schlecht hören, dann kann ihnen eine Operation helfen. «Häufig führt die Entfernung der Rachen- und Gaumenmandeln zu einem Verschwinden der Schlafapnoen und verhindert schwerwiegende Krankheitsfolgen», klärt eine Broschüre des Kinderspitals Zürich auf. Um den Mittelohrerguss zu beseitigen, wird bei dem Eingriff meist vorübergehend noch ein kleines, sogenanntes Paukenröhrchen ins Trommelfell gesteckt. In der Regel werden betroffene Kinder zwischen zwei und acht Jahren an den Mandeln operiert.

Doch in Deutschland weigern sich die meisten operierenden HNO-Ärzte seit Januar, Kinder wie Lukas zu operieren. «Einen Operationstermin haben wir erst in fünf Monaten bekommen. Eine andere Klinik hat diese Eingriffe ganz eingestellt», sagt die Mutter und sieht zu ihrem Jungen, der von all dem nicht viel mitzubekommen scheint.

Schon im Dezember 2022 betrug die Wartezeit für eine solche Operation in Deutschland laut dem «Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte» (DBHNO) in Spitälern sechs bis neun Monate, in ambulanten OP-Zentren drei bis vier Monate.

Gemessen an der Entwicklung eines Kindes, seien das «exorbitant lange Wartezeiten», die mehr als zehn Prozent der Lebenszeit bis zur Einschulung ausmachen könnten, gab der Präsident des DBHNO, Jan Löhler, zu bedenken. Er warnte, dass eine Verzögerung bei Kindereingriffen «oft nachhaltige Folgen» habe: Die Eingriffe seien notwendig für die Kinder hinsichtlich geistiger Störungen, Gedeihstörungen, Schlafstörungen und Sprachentwicklungs-Verzögerungen. Auch um wiederkehrende Infekte zu vermeiden spielten die Operationen «eine entscheidende Rolle».

… und ruft trotzdem zum Boykott auf

Dessen ungeachtet riefen im Januar der DBHNO und ein weiterer Berufsverband die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und -Ärztinnen auf, bei Kindern keine solchen Operationen mehr durchzuführen. 85 Prozent der ambulant operierenden HNO-Ärzte beteiligen sich angeblich daran.

Die Familien warten nun noch länger, bis sie einen Operationstermin erhalten. Oder sie fliegen in die Türkei, um ihr Kind dort für umgerechnet etwa 2300 bis 3400 Franken operieren zu lassen. Im Internet sind diverse solcher Angebote zu finden. Eine andere Familie, die zu Jund kam, machte eine Adresse in Österreich ausfindig. Junds Mitarbeiterinnen telefonieren für Lukas herum, um vielleicht doch noch irgendwo einen Operationstermin für ihn zu erhalten.

Der Grund für den OP-Boykott ist die aus Sicht der deutschen HNO-Ärzte «chronische Unterfinanzierung des ambulanten Operierens». Das Fass zum Überlaufen brachte eine Tarifreduktion. Seit Januar 2023 bezahlen die deutschen Krankenkassen nur noch rund 107 Euro für den Eingriff, der rund zehn bis zwanzig Minuten dauert. Etwa 174 Euro beträgt das Honorar, wenn mit Laser operiert wird. Auf diese Beträge hatten sich Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Krankenversicherer geeinigt.

Laut dem «GKV-Spitzenverband», der die Interessen der gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland vertritt, wurde das Honorar für die Mandel-Operationen um vier Euro, von 111 auf 107 Euro, reduziert. Das Honorar für andere Operationen sei hingegen aufgestockt worden.

Die Vergütung für die Mandel-Operationen sei nicht kostendeckend, sagen die HNO-Verbände. Kein Zentrum könne damit «die laufenden Kosten stemmen. Von der Summe müssen die OP-Miete (40 Euro), die Sterilisation der Instrumente (25 Euro), die OP-Assistenz (15 Euro) sowie weitere Posten wie die Instrumentenanschaffung, die Wartung der OP-Technik, die Haftpflichtversicherung sowie die Rufbereitschaft des Arztes nach einem Eingriff, bezahlt werden.» Unterm Strich würden dem Operateur etwa zehn bis 20 Euro vor Abzug von Steuern und Altersvorsorge als Honorar bleiben. «Durch die jahrelange Unterfinanzierung der HNO-Kinderoperationen haben viele ambulante Operateure Ihre OP-Tätigkeit in dem Bereich eingestellt», so Löhler.

«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen»

In Hamburg hätten 2019 noch 50 HNO-Ärztinnen und Ärzte Kinder operiert, 2022 seien es nur noch 20 gewesen, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». In Berlin habe sich die Anzahl halbiert, in Bayern sei sie um ein Fünftel gesunken. Der Protest sei nun das letzte Mittel, um die Verantwortlichen in Politik und bei den Krankenkassen «wachzurütteln und das schleichende Sterben der ambulanten HNO-Kinderchirurgie zu stoppen», so der DBHNO, der «die ideellen und wirtschaftlichen Interessen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte in Praxis und Klinik vertritt». Für Mandeloperationen gibt es klare Operationskriterien. Bei einer derart defizitären Vergütung in Deutschland sei davon auszugehen, dass die Operationen auch früher schon nicht unnötig erbracht worden seien, so Löhler.

«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen», schrieb das «Deutsche Ärzteblatt» im März 2023. «Der Verband spricht von einer ‹desaströsen Versorgungssituation›, unter deren Folgen die Patienten und ihre Familien litten.»

Im Januar betrug die durchschnittliche Wartezeit für einen Operationstermin in einem ambulanten Zentrum laut DBHNO bereits vier bis fünf Monate – «Tendenz steigend». Der Präsident des Verbands sprach Klartext: «Wir alle zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken, locker 1000 Euro für die Reparatur einer zerkratzten Stossstange bei unserem Auto. Gleichzeitig wird es offenbar gesellschaftlich akzeptiert, dass eine Operation im Rachen von kleinen Kindern, die mit vielen Risiken […] mit Blutungs- und Erstickungsgefahr sowie einer Vollnarkose verbunden ist, nur ein Bruchteil wert sein und unter den eigentlichen Betriebskosten verramscht werden soll.»

Das sehen die Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung anders. Insgesamt werde das Abrechnungsvolumen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte für ambulante Operationen um 2,3 Prozent steigen, prognostizieren sie. Der Grund: «Bei längeren Operationen, wie beispielsweise der plastischen Korrektur der Nasenscheidewand, hat sich die Vergütung von 261 Euro auf 304 Euro erhöht», so der «GKV-Spitzenverband».

«Es ist empörend, wie schamlos einige Ärzteverbände versuchen, immer mehr Geld aus den Taschen der Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung herauszuholen und nicht einmal vor Drohungen gegen die Gesundheit von Kindern haltmachen. Die Politik ist gefordert, diesem masslosen und unethischen Handeln dieser Verbände Einhalt zu gebieten», schrieb der «GKV-Spitzenverband». Ihm zufolge lag der durchschnittliche Reinertrag pro HNO-Praxisinhaber oder -inhaberin im Jahr 2019 bei 185’000 Euro.

Der Kampf ums ärztliche Honorar solle nicht auf dem Rücken der kranken Kinder ausgetragen werden, forderte ein Sprecher des «GKV-Spitzenverbands». Doch das ist eingetreten.

Auch andere Ärzteverbände fordern höhere Honorare

Den Vorwurf, die HNO-Ärzte handelten unethisch, weist Jan Löhler zurück: «Nicht die Operateure handeln unethisch, sondern die gesetzlichen Krankenkassen, welche die wichtigen Operationen nicht ausreichend finanzieren wollen. Die Aktion richtet sich nicht gegen die Patienten, sondern ist der Versuch, den Versorgungsnotstand zu beenden.»

Dem Beispiel der HNO-Ärzte könnten weitere folgen. Löhler zufolge liesse sich «die Liste lange fortsetzen». So würden etwa die Narkoseärzte seit Jahren höhere Honorare für Ihre Leistungen fordern.

In Bremen einigte sich die «Allgemeine Ortskrankenkasse Bremen» mittlerweile mit den dortigen HNO-Ärztinnen und -Ärzten auf ein höheres Honorar, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». Der Vorsitzende des Bremer Landesverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte stellte in Aussicht, dass die betroffenen Kinder nun wieder «zeitnah einen Operationstermin bekommen». Dort können Kinder wie Lukas nun – im wahrsten Sinn – aufatmen.

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Oben      — Ohreninspektion in Osttimor

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Unten      —     Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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Der KI Grenzen setzen

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

EU-Parlament zur künstlichen Intelligenz

Von Svenja Bergt

Am Mittwoch möchte das EU-Parlament über die weltweit bislang umfassendste Regulierung von KI abstimmen. Ex­per­t:in­nen fordern schon Nachbesserungen.

Es ist ein düsteres Szenario, das Meredith Whittaker da malt. Eine Welt, in der wenige große Unternehmen Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI) herstellen und kontrollieren. Eine Welt, in der unterbezahlte Ar­bei­te­r:in­nen diese KI-Systeme kuratieren und ihnen zuliefern müssen. In der die Interessen und Rechte der Nut­ze­r:in­nen und das Wohl der Gesellschaft sekundär sind. Mit diesem Szenario warnt Whittaker davor, die Unternehmen und den Markt einfach machen zu lassen: „Die KI-Systeme werden von Firmen gebaut, deren primäre Ziele Profit und Wachstum sind.“

Whittaker, einst Google-Mitarbeiterin, ist heute Präsidentin der Signal-Stiftung, die mit der gleichnamigem Messenger-App verbunden ist. Und sie ist Expertin in Sachen KI: Als Mitgründerin des AI Now Instituts an der New York University beschäftigt sie sich auch wissenschaftlich mit der Technologie. Auf der Bühne bei der Digitalkonferenz re:­pu­bli­ca spricht sie vor einem Publikum, das tendenziell der Digitalisierung gegenüber aufgeschlossen eingestellt ist.

Doch KI – das ist kein klassisches Digitalisierungsthema. Anders als neue Plattformen, von denen alle paar Jahre mal eine neue zum Star wird, wie aktuell Tiktok, anders als die permanente digitale Überwachung, an die sich die meisten längst gewöhnt haben, ist KI etwas grundlegend Neues. Etwas, das Hoffnungen weckt. Und Ängste.

Es ist nicht einmal zwei Wochen her, dass eine Reihe Expert:innen, darunter etwa Sam Altman, Chef des ChatGPT-Herstellers OpenAI, vor möglichen Risiken gewarnt hat: „Das Risiko einer Vernichtung durch KI zu verringern, sollte eine globale Priorität neben anderen Risiken gesellschaftlichen Ausmaßes sein, wie etwa Pandemien und Atomkrieg.“

OpenAI-Chef tingelt durch die Politikwelt

Dass die Warnung es bei diesem einen Satz beließ, sorgte umgehend für Kritik. Sie würde damit eher weitere Ängste auslösen, statt einen Weg für einen konstruktiven Umgang mit der neuen Technologie aufzuzeigen. KI-Expertin Whittaker bezeichnet die Idee der Überlegenheit von KI als „Mythos“. „Je mehr wir glauben, dass diese Systeme übermächtig sind, desto mehr Macht geben wir den Firmen dahinter“, sagt sie.

Zum Beispiel die Macht, gehört zu werden. So trifft Altman aktuell die Staats­che­f:in­nen zahlreicher Länder – und nahm auch am Treffen eines transatlantischen Kooperationsforums teil, auf dem Ver­tre­te­r:in­nen von EU und USA sich über gemeinsame Standards für KI-Anwendungen austauschten.

Tatsächlich ist die EU, was die KI-Regulierung angeht, ausnahmsweise mal nicht allzu weit hinter einer Technologieentwicklung zurück. Am Mittwoch soll das Parlament über den Artificial Intelligence (AI) Act abstimmen. Es ist die weltweit bislang umfassendste Regulierung zu künstlicher Intelligenz.

Die Abstimmung ist ein wichtiger Zwischenschritt, denn die Zeit drängt: Bis zum Jahresende sollen sich Parlament, Rat und EU-Kommission in den Trilog genannten Kompromissverhandlungen geeinigt haben. Weil es wegen Übergangsfristen danach noch zwei bis drei Jahre dauern wird, bis die Regelungen letztlich greifen, kündigten EU und USA nach dem Kooperationstreffen einen „freiwilligen Verhaltenskodex“ an, der diese Zeit überbrücken und die Weichen in Richtung der europäischen Regelungen stellen soll.

Positive Reaktionen auf Regeln

Tatsächlich haben nicht nur die EU, sondern auch die USA Interesse an gemeinsamen Regeln, die sich andere Länder zum Vorbild nehmen könnten. Doch was taugen die europäischen Regeln in der Form, wie sie aktuell geplant sind?

Spricht man mit Ex­per­t:in­nen für IT-Recht und -Ethik über den AI Act, sind die Reaktionen zumeist erst einmal positiv. Zum Beispiel, dass die EU einen sogenannten risikobasierten Ansatz verfolgt. Das heißt: Die Anwendungen sollen in Risikoklassen eingeteilt werden – je höher das Risiko, desto umfassender und strenger die Regeln.

Damit wird beispielsweise eine KI im Bereich Strafverfolgung stärker reguliert als ein Chatbot. Dazu kommen Vorschriften zu Transparenz und Erklärbarkeit der Systeme sowie Rechte für Betroffene, die sich gegen KI-Entscheidungen wehren wollen. Die beiden federführenden Ausschüsse des EU-Parlaments hatten zuletzt noch einmal nachgeschärft und weitere Anwendungen in die Kategorie „inakzeptables Risiko“ aufgenommen, in der sich die verbotenen Einsatzzwecke befinden, – unter anderem Systeme zur biometrischen Massenüberwachung.

„Der Schutz der Menschen steht im Mittelpunkt“, beschreibt Matthias Kettemann, Professor für Innovationsrecht an der Universität Innsbruck, den Geist des Gesetzesvorhabens. Und: Weil die Regulierung nicht bei technischen Vorgaben stehen bleibt, sondern die Auswirkungen auf die Gesellschaft im Blick habe, drohe der AI Act nicht von den technologischen Entwicklungen überholt zu werden.

Wer lässt sich zur Rechenschaft ziehen?

Auch Sandra Wachter, Professorin am Oxford Internet Institute der gleichnamigen Universität sieht viel Positives – aber in einigen Punkten auch deutlichen Nachholbedarf. Zum Beispiel sei aktuell vorgesehen, dass die Hersteller im Rahmen der vorgesehenen Zertifizierung selbst bewerten sollen, ob ihre Produkte den Regeln entsprechen, statt dafür externe Prü­fe­r:in­nen heranziehen zu müssen. Oder die Haftungsfrage, also: Eine KI richtet Schaden an – wer lässt sich dafür zur Rechenschaft ziehen? „Momentan liegt der Fokus der EU bei der Haftung noch sehr auf den Entwicklern der Foundation Models und das ist meines Erachtens nicht ausreichend“, sagt Wachter.

Quelle        :           TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Automatic Number Plate Recognition (ANPR). ANPR (Automatic Number Plate Recognition) is now the world rage use of this software and camera. Now, parking and highway traffic management have become easier with the ANPR camera and the software. It also knows as license plate recognition(LPR). Now I discuss in detail the ANPR Camera and software. Advantages of ANPR camera and software. 1. Car Parking Management. We can manage our parking system with the ANPR camera when a car came to the front of the camera automatically scan the Number plate or license plate of this car and then store it in the database. 2. Journey Time Analysis. The camera keeps the data of the coming and going of the cars and give you the data when it came and when it goes. 3. Traffic Management An ANPR system can manage traffic also because if any vehicle breaks the rule of traffic then the camera automatically detects the car and keep the data in the case files. It can count the number of cars or vehicles that pass through the ANPR camera.

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Google Street View II

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2023

Apple Look Around in Deutschland

Von Jimmy Bulanik

Der IT Konzern Apple Inc. will seinen Dienst „Apple Look Around“, was mitunter von kriminellen Personen und ebensolchen international operierenden Organisationseinheiten zur Vorfeldaufklärung von Straftaten wie Eigentumsdelikte verwendet wird. Niemand braucht sich das gefallen zu lassen.

Deshalb ist es sinnig das alle Menschen welche es wollen, bei dem US Konzern Apple Inc. indem der „USA Patriot Act“ gilt hier in der Bundesrepublik Deutschland gratis gegenüber dem Unternehmen, Apple GmbH proaktiv und schriftlich zu widersprechen. Apple war kein Freund, Apple ist kein Freund, Apple wird niemals ein Freund werden. Es ist eine profitorientierte juristische Person des privaten Rechtes welches persönliche Daten kultiviert, speichert und im Gegensatz zu dem US SIGINT Militärnachrichtendienst, National Security Agency obendrein monetarisiert.

Ungeachtet dessen in wessen Eigentum ein Grundstück, Objekt sich befindet, wie viele Personen darin wohnen. Bei einem gegen den Dienst, Apple Look Around schriftlich eingereichten Widerspruch aus dem Haus muss gesetzlich verpflichtend das gesamte, Grundstück und Gebäude im Internet unkenntlich gemacht werden. Diese rechtmäßige Macht sollte von allen sicherheitshalbar frühzeitig in Anspruch genommen werden. Deshalb wird ein juristisches Musterschreiben angeboten, welches durch meine Person zuvor gegenüber dem Apple Konzern in der Bundesrepublik Deutschland schriftlich eingereicht worden ist.

Anrede

Vorname, Nachname

Straße, Hausnummer

Postleitzahl, Ort

Apple GmbH

Betr. Apple Look Around

Katharina – von – Bora – Straße 3

80333 München

Email: MapsImageCollection@Apple.com

W i d e r s p r u c h

Hallo,

hiermit widerspreche ich der Aufnahme, auf jeden Fall aber der Wiedergabe, von Abbildern meines Hauses in Ihrem Dienst „Apple Look Around“. Betroffen ist die Anschrift (Straße, Hausnummer) in (Postleitzahl), (Ort). Dezidiert erwarte und verlange ich von Ihnen die sofortige und entgültige Entfernung der Aufnahme meines Hauses aus dem “Online – Angebot”, beziehungsweise “Online – Dienst” und aus ihrem Datenbestand.

Ich erwarte und verlange von Ihnen eine zeitnahe und schriftliche Bestätigung meiner Willenserklärung welche eindeutig ist, Löschung der von mir oben genannten Daten.

Im Fall einer Zuwiderhandlung wende ich mich schriftlich an:

Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein – Westfalen

Kavallerie Straße 2 – 4

40213 Düsseldorf

Telefon: 0211384240

Fax: 021138424999

Email: Poststelle@LDI.NRW.de

sowie an die:

Verbraucherzentrale Nordrhein – Westfalen e.V.

Mintrop Straße 27

40215 Düsseldorf

Telefon: 021138090

Fax: 02113809216

Email: Service@Verbraucherzentrale.NRW

um juristische Maßnahmen gegen Sie einzuleiten.

Hochachtungsvoll,

(Nachname)

Verstuurd vanaf mijn iPhone

Von dem Gebrauch dieses Rechtes ist allen natürlichen Personen anzuraten. Das gilt mitunter für Eigentümerinnen, Eigentümer, Mieterinnen, Mieter ohne Ansehen der Person. Das gilt auch für jüngere Menschen.

Der Mensch ist nicht frei geboren worden, um als ein Produkt zu Enden.

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Grafikquellen          :

Oben     —   Google Trike used for Google Street View

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Die Welt im Wandel

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2023

Der Fall kommt im Sog der Überheblichkeit

Das alles für eine Hand voll Dollar

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass sich die Welt seit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg manifest im Wandel befindet, verkürzt: weg von der US-Hegemonie.

Dass sich solch gewaltige Veränderungen nicht ohne Nebenwirkungen vollziehen und über Generationen dauern können, wird Tag für Tag deutlich und spürbar, überall auf der Welt. Zwar will die US-Politik davon nichts wissen oder verdrängt diese unaufhaltsame Entwicklung, aber selbst die US-Amerikaner haben den „American Dream“ aufgegeben und sehen die Zukunft ihres Landes weit überwiegend düster.

Laut einer Umfrage des Pew Research Center vom Frühjahr dieses Jahres schätzen die Lage der USA 2050 so ein: Wirtschaft der USA ist schwächer – 66%, USA weniger wichtig in der Welt – 71%, USA politisch gespaltener – 77%, Kluft zwischen Arm und Reich in den USA größer – 81%. Diese deutliche Volksmeinung wird von der Politik beharrlich mit „America First“ verdrängt. Ebenso plump wie arrogant schieben sie alle Übel auf den neuen Feind Nr.1, China.

Da gibt es z.B. seit 2009 die sog. BRICS-Staaten, die weder von den USA noch von den westlichen Industriestaaten so recht ernst genommen wurden und sich seitdem zu einem starken Wirtschaftsverbund entwickelt haben und schon heute ein reales wirtschaftliches Gegengewicht zu den G7-Staaten darstellen. Das demonstrieren sie auch deutlich durch das weitgehende Abkoppeln vom Dollar und den Handel untereinander in ihren Landeswährungen. Dadurch entfällt die arrogante Kontrolle durch die USA und die Weltbank und BRICS ist jetzt eine Alternative für viele Entweicklungsländer geworden.

Es hat zu politischen und kulturellen Veränderunegn geführt, dass z.B. China seine internationalen Aktivitäten friedvoll und zum gegenseitigen Nutzen betreibt, eine Einstellung, die den USA völlig unbekannt zu sein scheint. Die USA und in deren Schlepptau die G7 müssen ihre Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern aufgeben und nicht alles nur nach ihrem finanziellen Vorteil bewerten. Bestes Beispiel sind die Jahre von mitte 1970 bis 2015 im China-Handel.

Der Westen konnte nicht genug billig und gut in China fertigen lassen oder einkaufen, um es mit hohen Gewinnen zu verkaufen. Das Land und sein Volk hat keinen interessiert und die Entwicklung dort hat man total verschlafen, um heute entsetzt aufzuwachen und China als Feind Nr1 abzustempeln, weil es in Rekordzeit zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt geworden ist. Reiner Neid! Aber vor allem Dummheit und immer wieder nur kurzfristige und eigensüchtige Profitgeilheit!

Da folgen viele Länder lieber China und/oder BRICS, halten sich aus dem Ukraine-Konflikt heraus, plädieren für seine diplomatische Lösung und haben sich vom Dollar bereits deutlich gelöst. Diese markanten Umwälzungen in der Weltwirtschaft haben bereits dazu geführt, dass „seit 2000 der Anteil der in US-Dollar gehaltenen Währungsreserven der Zentralbanken um die Hälfte gesunken“ ist.

Die USA und der im blind folgende Westen müssen endlich runter von ihrem hohen Ross und die Probleme der Welt nicht mit Gewalt, sondern mit Respekt vor anderen Völkern und Kulturen lösen und, wenn nötig, deren Potential friedvoll entwickeln helfen. Waffen und Sanktionen sind keine Lösung, wie im Ukraine-Konflikt geradezu grotesk vorgefüht, weil sie dem Westen und der Welt mehr schaden als Russland. Wenn der US-geführte Westen sich nicht schleunigst von seiner Überheblichkeit und seinem hegemonialen Denken verabschiedet, wird er in deren Sog untergehen.

Urheberrecht
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Oben       — „US Mexico Israeli Style Wall“ by Carlos Latuff.

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CDU und Wirtschaft

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2023

Verhindern, verzögern, unterlassen

Wind Turbine der CDU von Merkel

Ein Artikel von Sabine am Orde, Christian Jakob, Nick Reimer und Benno Schirrmeister.

Die CDU ist eng mit der fossilen Industrie verbandelt. 20 Jahre lang blockierten Partei und Lobbyisten gemeinsam die Klimapolitik. Eine taz-Recherche.

s ist ein Dienstag Ende Mai, der Wirtschaftsrat der CDU hat zu seinem alljährlichen Höhepunkt geladen: dem „Wirtschaftstag“. Getagt wird unter riesigen Kronleuchtern im Hotel Marriott, am Rande des Tiergartens im Berliner Regierungsviertel. Vorstandschef*innen, Verbandsfunktionäre, Po­li­ti­ke­r:in­nen und Un­ter­neh­me­r*in­nen sind der Einladung gefolgt.

Gemeinsam mit Astrid Hamker, der Präsidentin des Vereins, zieht der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck in den Saal ein. Die Bild wütet in diesen Tagen fast täglich gegen Habecks „Heiz-Hammer“ – und die Union auch.

Der Applaus der über 2.000 Gäste für Habeck verebbt schnell, es ist ruhig im Saal – und der Weg bis zur Bühne weit. „Sie dürfen auch klatschen“, sagt die Moderatorin beschwörend in die Stille hinein. Dann steht Astrid Hamker, langes blondes Haar, Brille, blaues Kleid, am Redepult, links von ihr sitzt Habeck auf dem Podium, ziemlich einsam an einem langen Tisch.

Hamker ist Gesellschafterin der Osnabrücker Piepenbrock-Gruppe, einem Unternehmen mit über 27.000 MitarbeiterInnen und mehr als 600 Millio­nen Euro Jahresumsatz. Und sie ist Präsidentin des Wirtschaftsrats. Auf der Bühne holt sie jetzt den Holzhammer raus. Spricht von „Ernüchterung, Enttäuschung, Verärgerung“. Die Ampel, vor allem aber Habeck, würde „die Grundlagen unseres Wohlstands demontieren“. Eine „ideologiegetriebene Politik“ betreiben, „die sich einzig und allein dem Klimaschutz, aber nicht dem Wohl der deutschen Wirtschaft verpflichtet fühlt.“ Applaus. So geht es weiter: Atomausstieg, Verbrenner-Aus, Heizungstausch – aus ihrer Sicht macht Habeck alles falsch. Dass 16 Jahre lang die CDU an der Spitze der Regierung stand und manches davon zu verantworten hat – dazu kein Wort.

Die Klimasaboteure

Die Akteure

Das Wissen über die Klimakrise ist da, das gesellschaftliche Bewusstsein auch. Was fehlt, sind Konsequenzen: Politische Entscheidungen, die die nötigen Veränderungen zügig vorantreiben. Für diese Blockade sind nicht „die Verhältnisse“ verantwortlich, es gibt konkret Verantwortliche. Das sind Akteure, die die Interessen klimaschädlicher Industrien vertreten, an diesen verdienen und nötige Veränderungen verhindern oder verschleppen.

Die Serie

In der vom Weltklimastreik am 3. März bis zur COP 28, der Klimakonferenz in Dubai im Dezember, laufenden Serie „Klimasabotage“ fragt die taz: Wer sabotiert die Entscheidungen, die das Klima und unsere Lebensgrundlagen retten? Wer blockiert, was nötig ist – und warum? Wer führt uns in die Krise?

Der Schwerpunkt

Die Schwerpunktseite Klimasabotage auf taz.de versammelt bereits zahlreiche Texte zum Thema. Zuletzt haben wir uns unter anderem der fossilen SPD gewidmet: Das Blockieren von Klimaschutz ist schon in der Struktur der Partei angelegt – durch Verflechtungen mit der Wirtschaft, durch Gewerkschaftsnähe und durch Traditionen.

Während Hamker im Saal des Marriott-Hotels verbal auf ihn eintrümmert, macht sich Habeck Notizen. Als er das Wort erhält, outet Habeck sich als Fan der sozialen Marktwirtschaft, zitiert Norbert Blüm. Die Stärke der sozialen Marktwirtschaft sei die Fähigkeit, Widersprüche zu vereinen. Es ist ein rhetorischer Ritt, der den Wirtschaftsrat bei seinen Wurzeln packt. Habeck fordert „Lauterkeit der Argumente“ und sagt, in der Kritik der letzten Tage, Wochen und Monate sei einiges nicht durchdacht worden – was auch für die Worte der Präsidentin gelte.

Habeck wird mit Applaus verabschiedet. Doch an diesem Tag treffen Welten aufeinander.

In weniger als 22 Jahren soll Deutschland klimaneutral sein, die Auseinandersetzungen darum nehmen an Schärfe zu. Die Grünen verweisen auf „16 Jahre Stillstand“ – die Klimabilanz der Union sei der Grund, dass heute alles schwieriger ist, als es sein könnte.

Die Bewahrung der Schöpfung sei ein „urkonservatives Thema, das sich die Union seit je auf die Fahne geschrieben hat“, heißt es bei der Union gern. Doch der Parteivorsitzende Friedrich Merz findet, Klimaschutz dürfe „nicht verabsolutiert“ werden, während in Kanada die Wälder brennen und Südfrankreich kein Wasser mehr hat. Und das zieht: In der Sonntagsfrage kommt die Union mit 29 Prozent auf Platz 1.

Die Partei verweist gern darauf, dass es die CDUlerin Angela Merkel war, die 1997 als Umweltministerin den Verhandlungen für das Kyoto-Protokoll zum Durchbruch verhalf. Und es war die von ihr geführte Große Koalition, die das Pariser Klimaschutzabkommen 2015 vorantrieb und beschloss – ebenso wie das Klimaschutzgesetz, das CO2-Neutralität bis 2045 vorsieht.

Doch die Bilanz ist eine andere. Ob Kohleausstieg, Verkehrswende, Erneuerbare, Landwirtschaft: Die Union stellte seit 2005 viele der zuständigen Minister *innen – und blockierte den Klimaschutz, verschleppte ihn oder blieb untätig. Und das kommt nicht von ungefähr. Ihre Politik wird seit Jahrzehnten von Menschen mitbestimmt, die Klimaschutz aus wirtschaftlichen Interessen oder ideologischen Gründen sabotieren.

Der Wirtschaftsrat

Der Wirtschaftsrat ist dabei ein wichtiger Akteur. Seine Präsidentin Hamker und Friedrich Merz kennen sich gut. Bevor Merz Parteichef wurde, war er Hamkers Stellvertreter im Wirtschaftsrat und saß im Präsidium. Das aktuelle Ziel der Lobbyorganisation steht ganz im Einklang mit jenem der CDU: das Gebäudeenergiegesetz zu verhindern. „Das Gesetz muss komplett neu geschrieben werden“, sagt Hamker.

Sie betont, dass sich der Wirtschaftsrat zu den Klimazielen bekenne. Doch Klimaschutz und das Wohl der Wirtschaft – aus ihrer Sicht scheinen das gegensätzliche Pole zu sein. Was wohl heißt, dass man die Wirtschaft vor dem Klimaschutz schützen muss. Und genau daran arbeitet der Wirtschaftsrat seit Langem.

Der Wirtschaftsrat ist einflussreich. Er trägt die CDU im Namen, ist aber nicht ans Parteiengesetz gebunden

Er ist eine einflussreiche Lobbyorganisation, mit 12.000 Un­ter­neh­me­r*in­nen als Mitgliedern und in einer merkwürdigen Zwitterposition. Der Wirtschaftsrat trägt die CDU im Namen, ist aber keine Parteiorganisation. Doch Präsidentin Hamker gehört qua Amt dem CDU-Bundesvorstand an. Sie nimmt an dessen Sitzungen teil, hat Rederecht – und kann die Partei direkt beeinflussen.

Der Wirtschaftsrat, ein eingetragener Verein, ist also nicht an das Parteiengesetz und dessen Transparenz­regeln gebunden. Er vermeidet gleichzeitig durch seine Parteinähe das negative Image einer Lobbyorganisation. „Eine problematische Doppelrolle,“ sagt Christina Deckwirth von der NGO Lobbycontrol. Sie hat eine Studie zur Klimapolitik des Wirtschaftsrats erstellt. Ihr Urteil: Der Verein sei ein „besonders starker und einflussreicher Klimaschutz-Bremser“.

Der Rat warnt vor „Aktionismus beim Klimaschutz“. Im September 2021 forderte er gar ein „Verbot von Klimaklagen“ gegen Großkonzerne. Umweltschutzorganisationen versuchen mit solchen Klagen, Konzerne zur Einhaltung der Klimaschutzziele zu zwingen.

Die Fachkommission Energiepolitik des Wirtschaftsrates leitet das Eon-Vorstandsmitglied Patrick Lammers. Im Präsidium und Bundesvorstand sitzen die Auto-, Flugzeug- und Braunkohleindustrie.

2013 nahm der Wirtschaftsrat das Erneuerbare-Energien-Gesetz unter Beschuss und forderte eine Kürzung der Einspeisevergütung für Photovoltaik. 2019, während die schwarz-rote Bundesregierung über das Klimapaket stritt, konnte der Wirtschaftsrat seine Forderung nach „bezahlbarer Energie“ im CDU/CSU-Konzept ‚Klimaeffizientes Deutschland‘ festschreiben. „Der Einsatz des Wirtschaftsrats, dass Unternehmen möglichst wenig für die Energiewende zahlen sollen, kam bei der Union an“, urteilt Lobbycontrol.

Während laut Lobbycontrol andere Verbände Anfang 2020 ihre offiziellen Stellungnahmen zum Kohleausstieg beim Wirtschaftsministerium einreichten, drohte der Wirtschaftsrat direkt beim Minister, bei zu schnellem Ausstieg käme es kostspieligen Klagen. Die Ministeriumsspitzen trafen sich mit den Kohlekraftwerks-Betreibern EnBW, RWE, Uniper, Vattenfall, Steag. Laut Lobbycontrol hatten drei der fünf anwesenden Unternehmen im Jahr 2020 Veranstaltungen des Wirtschaftsrats gesponsert, an denen auch der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier und sein Staatssekretär Andreas Feicht teilnahmen. Am Ende, so Lobbycontrol, wurde ein Kohleausstiegsgesetz beschlossen, das „deutliche Zugeständnisse“ für neuere Steinkohlekraftwerke enthielt – unter anderem eine „Härtefallregelung“.

Doch was Sabotage wirksamen Klimaschutzes angeht, ist der Wirtschaftsrat bei Weitem nicht der einzige Akteur in der Union.

Das Bermudadreieck

Als Bermudadreieck der Energiewende in der Welt der CDU galten lange drei Politiker, die teils eng mit dem Wirtschaftsrat verbunden sind: Carsten Linnemann, Thomas Bareiß und Joachim Pfeiffer. Jede klimapolitische Idee, jedes Bemühen um substanziellen Klimaschutz, das in der Vergangenheit zwischen diese einflussreichen Unionspolitiker geriet, ging dort irgendwie verloren. Eine CO2-Steuer, Sektoren-Einsparziele, die Klimaabgabe für die Braunkohle, ein deutsches Klimaschutzgesetz – die drei CDUler wussten die Vorschläge stets zu verhindern oder zumindest zu verzögern.

Bermuda Triangle

Da ist zunächst Carsten Linnemann, der von 2013 bis 2021 Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), des Wirtschaftsflügels der CDU, war: Diese zählt 25.000 Mitglieder und bezeichnet sich selbst als „einflussreichster parteipolitischer Wirtschaftsverband in Deutschland“. Im Grundsatzprogramm der MIT, das Linnemann mitformulierte, heißt es: „Das Fördersystem für erneuerbare Energien gefährdet die Netzstabilität und verteuert den Strom in unzumutbarem Maße.“ Wegen der hohen Strompreise drohe die De-Industrialisierung Deutschlands nicht, „sie findet statt“.

Carsten Linnemann war aber nicht nur Chef dieser Parteivereinigung, seit 2009 ist er auch Abgeordneter und seit 2013 Bundesvorstand der CDU. Das ist praktisch, denn dadurch konnte er in die Politik der Union das einspeisen, was seine Organisation fordert: weniger erneuerbare Energie. Als Bundestagsabgeordneter hat sich Linnemann jahrelang für Abstandsregeln in der Windkraft starkgemacht. 2020 sagte er: „Ich sehe die Abstandsregeln als Chance, das Thema zu befrieden.“ Ein Kilometer zwischen Windrad und nächstem Haus sorgte vielerorts dafür, dass Projekte nicht gebaut werden konnten. Es war eine der wirksamsten Bremsen für den Ausbau der Windenergie in Deutschland. Linnemann hatte im MIT-Grundsatzprogramm argumentiert, dass Klimaschutz „nicht durch Planwirtschaft, Dirigismus und Verbote“ zu erreichen sei. 2022 wurde er stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Aktuell leitet er die Kommission für ein neues Grundsatzprogramm der Partei.

Der zweite im christdemokratischen Bermudadreieck ist Thomas Bareiß, von 2010 bis 2018 zuständig für Energiepolitik in der Unionsfraktion. Danach war er bis 2021 parlamentarischer Staatssekretär bei Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und auch dort zuständig für die Energiepolitik. Greenpeace listet im „Schwarzbuch Klimabremser“ Bareiß’ politisches Wirken seit 2005 auf und kommt zu dem Schluss, er habe „maßgeblich dafür sorgt, dass die Erneuerbaren Energien ausgebremst werden und die Bundesregierung ihre Klimaziele verpasst“.

Ohne Erdgas sei die Energieversorgung „nicht denkbar“, Gas „unverzichtbar“, sagte Bareiß 2019 in einer Publikation des Lobbyverbands „Zukunft Gas“, in dem Energiekonzerne wie Shell, Total, Wintershall Dea oder die Gazprom-Tochter Wingas Mitglied sind. Bareiß saß bis zu seiner Berufung als Staatssekretär 2018 dort im Beirat. Und bis 2021 war er Vorsitzender des „Beirats Energie“ der Lobbyorganisation „Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer Fragen“, in dem die Gas- und Braunkohleindustrie sitzt. Heute unterstützt Bareiß als verkehrspolitischer Sprecher der Union die Bemühungen der FDP gegen das Verbrenner-Aus.

Joachim Pfeiffer ist die dritte Koordinate im Bermudadreieck der Energiewende. Wie kaum ein anderer prägte der Betriebswirt aus dem schwäbischen Waiblingen die Klimapolitik der Union, zuletzt bis 2021 als wirtschafts- und energiepolitischer Sprecher der Unionsfraktion. Als Mitglied des Wirtschaftsausschusses schrieb der heute 56-Jährige die energiepolitische Gesetzgebung im Bundestag mit. Pfeiffer nannte Klimaschutz „Ersatzreligion“, die Debatte über die Erderhitzung „alarmistisch“, die Photovoltaikbranche bezeichnete er als „Solarmafia“, Klimaschützer wie die Deutsche Umwelthilfe als „semi-kriminelle Vereinigung“. Die Umsetzung der EU-Richtlinie zum Kyoto-Protokoll war für ihn eine „gezielte Deindustrialisierung Deutschlands“.

Deutsche Technologie zur Kohleverstromung hingegen könne „helfen, das Klima zu schützen“ – wer sich über solche Aussagen wundert, muss wissen, dass Pfeiffer langjähriges Mitglied im Beirat der Hitachi Power Europe GmbH saß. Der japanische Kraftwerkkonzern Hitachi lieferte 2009 unter anderem Kessel und Dampfturbine für das neue Kohlekraftwerk in Duisburg-Walsum. Pfeiffer war auch bis Ende 2014 Mitglied im Aufsichtsrat des Kraftwerk-Dienstleisters Kofler Energies Power AG und verdiente dort bis zu 30.000 Euro jährlich hinzu. Zudem war Pfeiffer Mitglied im Aufsichtsrat eines kanadischen Ölmultis. Dieses Mandat legte er Ende 2020 nieder.

In Groko-Zeiten waren fast alle klimapolitisch wichtigen Posten „vom Wirtschaftsflügel besetzt“, schreibt Greenpeace: „Wirtschaftsliberale, die im Klimaschutz vor allem Wettbewerbsnachteile sehen.“

Das hatte Folgen.

Die Merkeljahre

Die skandinavischen Länder fingen an, Wärmepumpen zu installieren, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde. Heute heizen dort bis zu 60 Prozent aller Haushalte mit einer Wärmepumpe – in Deutschland sind es 2,8 Prozent. Zu Beginn von Merkels Amtszeit stieß der deutsche Verkehr etwa 150 Millionen Tonnen CO2 im Jahr aus – 2021 war es fast exakt genauso viel. Japan drückte die Verkehrsemissionen in derselben Zeit um ein Drittel. In Merkels Amtszeit ging der jährliche Zubau der Solarenergie-Leistung von 46 Prozent im Jahr 2005 auf 9,6 Prozent im Jahr 2021 zurück. Dazwischen lag ein einzigartiger Abbau der Förderung erneuerbarer Energien, inklusive massenhafter Firmenpleiten.

Er „gebe zu, dass wir in den letzten Jahren auch Fehler gemacht und zu spät gehandelt haben“, sagte der Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmaier in einem Interview zur Klimabilanz schon im Jahr 2020. Doch viele andere in der Partei wollen diese Verantwortung bis heute nicht anerkennen. Lieber giften sie gegen das Heizungsgesetz der Ampel. Die Union verspricht den Menschen, ihnen die vermeintlichen Zumutungen des Klimaschutzes zu ersparen – und hat damit Erfolg. In Berlin stellt sie nach einem Anti-Verkehrswende-Wahlkampf den Bürgermeister – und der will Präventivhaft für Klimakleber und hält den Ausbau der Autobahn A 100 mitten durch die Stadt für „ganz entscheidend“.

Aus alldem ergibt sich das Bild einer Partei, die nie Programm-, sondern immer in erster Linie Machtpartei war. Deshalb hat sie bis heute statt einem echten Klimaschutzprogramm vor allem technokratische Luftschlösser und einen unerschütterlichen Glauben an den Markt, der das Klima schon retten werde, wenn man nur die richtigen Anreize setze.

Und deshalb kann sie auch der Versuchung nicht widerstehen, mit populistischem Klimaschutzbashing die Macht zurückzuerlangen. Nicht einfacher macht es der CDU ihr rechter Rand, für den Klimaschutz vor allem ein weiteres Feld im Kulturkampf ist. Dass aus den Reihen der Partei Habecks Heizungsgesetz als „Energie-Stasi“ attackiert wird, ist da nur folgerichtig.

Die grüne Union

Quelle           :          TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben      —     Wind turbine made of wood, Suetschach, municipality of Feistritz im Rosental, Carinthia, Austria, EU

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Unten         —       Map of Flight 19 „navigation problem #1“ route. 12345 flight path, yellow triangle bombing to excercise target at Hens and Chickens Soal.

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Wann ist sein Papagei dran?

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2023

PREIS FÜR HABECKS KATZE

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Am Rande der Hannover Messe wurde der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit einem Preis für die Energiewende ausgezeichnet. Der wurde ihm von seinem Bruder Hinrich überreicht. Hinrich ist nicht nur Habecks Bruder, sondern auch Chef der Wirtschaftsförderung Schleswig-Holstein. Die Wirtschaftsförderung wird von der Landesregierung Schleswig-Holstein finanziert und gesteuert.

Prinzip der Allparteien-Koalition

Wer die Tatsache, dass eine Landesregierung einem Bundesminister publikumswirksam einen Preis zuschanzt, für politischen Inzest hält, der versteht das Prinzip der deutschen Allparteien-Koalition nicht: Alle, die da mitmachen, sind preiswert zu korrumpieren. Dieser oder jener mit noch einem teuren Amt, andere mit einem fadenscheinigen Preis – bezahlt wird die komplette Kirmes vom Steuerzahler.

Wappentier ist die Blindekuh

Wie immer geht es um das Wichtigkeits-Karussell: Du findest mich gut, dann finde ich dich gut, später finden wir vielleicht auch einen guten Grund – die Geschlossenheit. Wer geschlossen ist, der macht kein Fass auf, der schließt vor jedem auftauchenden Polit-Verbrechen die Augen. Das Wappentier ist die Blindekuh, die Flagge besteht aus Löchern, die Hymne beginnt mit „Einigkeit“. „Recht und Freiheit“ sind aus Gründen der Koalitionsdisziplin gestrichen.

Keine Blutschande sondern Reinzucht

Dass der Bruder dem Bruder einen Preis zuschiebt, ist keine Blutschande sondern Reinzucht: Nur wer sich familiär im Kreise dreht, hält sich rein. Das wussten schon die alten Ägypter. Dort machte es der Bruder mit der Schwester. In Deutschland treibt es der Bruder mit dem Bruder: Platz da für neue Geschlechter ist ein grünes Prinzip.

Nur der Bruder ist kein Luder

Das Habeck- Prinzip „Nur der Bruder ist kein Luder“ ist so hermetisch, dass keinerlei Alternative möglich ist. Da bleibt die grüne Fahne hoch und die Reihen sind fest geschlossen. Wer aus der Reihe tanzt, wird zur Tarantella nicht unter drei Runden verurteilt.

Grüne Massensuggestion

Die Tanzopfer leiden unter Tarantismus, einer psychischen Erkrankung in Verbindung mit Massensuggestion. Wer diese Krankheit erwischt, der hält GRÜN für die Farbe der Hoffnung, Deutschland für eine Demokratie und seine Medien für vielfältig.

Eau de Robert bei Douglas

Noch ist das Höchstmaß an Geschlossenheit nicht erreicht. Erst wenn Habecks Katze den Grammy für ihr Maunzen bekommen hat, wenn sein Papagei mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde und sein Schweiß als Eau de Robert bei Douglas Höchstpreise erzielt, ist die Zeit für das Vierte Reich gekommen. Jenes Reich, in dem die Schließer die Macht übernommen haben und die Ketten als Schmuck für alle gelten.

Urheberrecht

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Oben      —   Hauskatze, langhaarig, weiß mit braun-grauen Tigerflecken

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Die Hängematte BIG-Tech

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2023

Ein schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Big Tech hat eine bequeme Hängematte aufgespannt, in der die halbe deutsche Verwaltung baumelt. Um da wieder rauszukommen, bräuchte es Willenskraft und Ideen, schreibt unsere Kolumnistin. Stattdessen deklarieren wir die Abhängigkeit von Microsoft, T-Systems und Google als „Souveränität“.

„Bianca, du könntest doch mal eine Kolumne dazu schreiben, was du auf der re:publica so erlebt hast, so was Einfaches.“ Mal was ganz Einfaches schreiben in dieser Ausgabe von Degitalisierung. Nach der re:publica 2023, Leitmotto Cash. Ich könnte mir das ja bequem machen. Also eigentlich.

Nun, leider ist gerade ein ziemlich schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit. Oder anders gesagt: Auf dieser re:publica wurde mir noch stärker bewusst, was Bequemlichkeit zum falschen Zeitpunkt für verheerende Folgen hat. Die Auswirkungen von schlecht getimter Bequemlichkeit merken wir heute aller Ort am Zustand der Digitalisierung in Deutschland. Aber nicht nur dort. Es geht weit tiefer. Letztlich betrifft uns ein bequemer Umgang mit Digitalisierung zum falschen Zeitpunkt als Gesellschaft.

Leider fürchte ich, dass uns diese Bequemlichkeit im Umgang mit Digitalisierung zu immer mehr Problemen führen wird. Auch wenn wir das noch so nett mit Floskeln wie digitaler Souveränität zu übertünchen versuchen. Der schwammige Begriff der digitalen Souveränität sei in diesem Text eher gelesen als die Möglichkeit, Kontrolle über Abhängigkeiten von digitalen Technologien oder Unternehmen selbstbestimmt ausüben zu können.

Selbstverstärkende Systeme

Aus der Eröffnungskeynote von Signal-Präsidentin Meredith Whittaker ist für mich vor allem ein Abschnitt wesentlich: „Die Technologieunternehmen, die das Geschäftsmodell der computergestützten Überwachung frühzeitig verfeinert haben, bauten massive Infrastrukturen, riesige Datenspeicher und große Nutzerbasen auf. Konkurrenten konnten das nicht einfach nachahmen oder kurzerhand einkaufen. Auf diese Weise verstärkte sich das System selbst.“

Big Tech hat systematisch ein feingliedriges Gesamtkonstrukt aufgebaut, das im Wesentlichen nichts wirklich besser kann in individuellen Aspekten, nur eben alles wesentlich bequemer als Gesamtpaket.

Beispiel Microsoft: IT-Infrastruktur auf Basis von Microsoft-Produkten ist nichts, was sich nicht auch mit anderen Produkten oder Open-Source-Lösungen anders umsetzen ließe. Es ist nur sehr bequem auf das ganze Ökosystem zu setzen. Microsoft Exchange als Basis zur Verwaltung von Unternehmenskonten, Office für Dokumente, dazu jetzt auch noch sogenannte KI mit ChatGPT. Selbstverstärkende Systeme auf vielen zueinander passenden Ebenen. Eine ganze Abhängigkeitskaskade.

Am Ende kommt dann aber wieder das große Wehklagen, wenn die finanzielle Abhängigkeit von Microsoft-Produkten etwa in der Bundesverwaltung von Jahr zu Jahr größer wird.

Versteckte Bequemlichkeit

Nun naht aber Abhilfe: eine Cloud, mit der „der öffentliche Dienst souverän“ bleibe. So zumindest die Ankündigung auf der Webseite von Delos, einer Cloudplattform auf Basis von Microsoft Azure und Microsoft 365 für die Verwaltung. Falls man nun meinen könnte, das sei doch wieder nur Microsoft, nein, nein. Das ist alles – ganz souverän – in deutschen Rechenzentren und unter eigenem Betrieb.

Bemerkenswerterweise übersetzt Delos-Chef Georges Welz die postulierte Souveränität eher als „Wahlfreiheit“. Das ist bemerkenswert anhand der tiefen Verzahnung einer Cloud-Office-Suite wie Office 365 mit allen Abhängigkeiten. Insbesondere dem De-Facto-Stillstand von Behörden ohne Zugriff auf Microsoft Office in eben dieser vermeintlich souveränen Cloud. Aber die Verfehlungen der letzten 20 Jahre könne man nun mal nicht „mit einem Fingerschnippen“ umkehren, befindet der Delos-Chef. Kannste nichts machen. Aber immerhin kann alles so bleiben wie es ist und das auch noch in der Cloud.

Klar, Clouds und deren zugrundeliegende Software gingen auch anders. Ebenfalls auf der re:publica gelernt habe ich, dass es problemlos möglich wäre, selbst aufgebaute Clouds in echten physikalischen Containern direkt in einem Wärmekreislauf aus Photovoltaik und Nahwärme zu Wohngebieten einzubinden.

Nur müsste man sich dann sehr genau damit beschäftigen, wie sich das mit „der Cloud“ in unsere gesellschaftliche Umgebung angemessen einfügen kann. Bequem ist das nicht. Stattdessen setzt der Markt lieber auf so fadenscheinige Produkte mit Spuren gefühlter Unabhängigkeit wie eine „T-Systems Sovereign Cloud powered by Google Cloud“.

Die in letzter Zeit oft beschworene digitale Souveränität geht also eigentlich in dem Moment verloren, an dem verzweifelt versucht wird, einen Weg zu finden, die eigenen kaum aufzulösenden Abhängigkeiten als „souverän“ zu deklarieren.

Schlimmer noch: Mit den bequem verzahnten Technologiestacks aus Clouds, Datenspeichern und darauf aufbauender sogenannter KI wird es immer schwieriger, eine wirklich selbstbestimmte und damit im eigentlichen Sinne souveräne Alternative zu wählen. Geht ja so bequem alles miteinander zusammen.

Wann sind wir falsch abgebogen?

Ein Hinweis, wann wir technologisch etwa in der Verwaltung abgebogen sind und aus Bequemlichkeit den Anschluss verloren haben, gab mir der kurzweilige Talk von Lilith Wittmann zum Thema Verwaltungsdigitalisierung. 1999 erschien ein Konzept namens Bund Online 2005. Ziel: Verwaltung digital bis 2005. Mit frappierender Ähnlichkeit zu aktuellen Vorhaben wie dem Onlinezugangsgesetz, auch in Version 2.0.

Im Konzept zu Bund Online lassen sich – neben der schon angesprochenen Abhängigkeit von Microsoft schon damals – folgende Perlen finden, die heute unverändert zutreffen: „Ein wichtiger Aspekt ist die zentrale Koordination der gesamten Aktivitäten. Zum einen müssen die einzelnen Aktivitäten in einer integrierten Gesamtarchitektur münden. Zum anderen können durch eine zentrale Koordination bzw. Bereitstellung einer Reihe von Basiskomponenten erhebliche Einsparungspotenziale bei gleichzeitig gesteigerter Qualität realisiert werden.“

Eigentlich wurde damals schon die Problematik des gebündelten Betriebs in Clouds heute und der Mangel an architektonischer Gesamtplanung klar umrissen. Eigentlich war alles absehbar, schon damals. Aus Bequemlichkeit und Verantwortungsdiffusion haben wir uns aber stattdessen tiefer in Abhängigkeiten und digitalen Zugzwang begeben. Immerhin hat das Tradition: „Das haben wir schon immer so gemacht“.

T.I.N.A.?

Technologie und ihre Abhängigkeitsfallen entwickeln sich aber weiter. Cloud-Infrastrukturen etwa sind gar nicht mehr die einzige Abhängigkeit, die wir auflösen müssten. Wir haben das Thema Clouds in der Digitalisierung in Deutschland auf einer so basalen Ebene verschlafen, dass der Verwaltung oder dem Gesundheitswesen droht, beim Hype-Thema KI nicht mehr hinterher zu kommen.

Die Entwicklung digitaler Technologien suggeriert oft, dass es keine Alternative gäbe. There is no alternative. T.I.N.A. Kannste nichts machen, musste hinterhergehen dem Trend.

Jedem technologischen Trend folgen zu müssen ist aber genauso gefährlich wie sich nicht verändern wollen. Es gilt einen sinnvollen Mittelweg zu finden zwischen den Polen „Haben wir schon immer so gemacht“ und „Hilfe, wir haben technologische Veränderungen verschlafen und müssen jetzt schnell unreflektiert Technologien einführen – obwohl sich gar kein gesellschaftlicher Mehrwert ergibt“.

Für mich ist die wesentliche Botschaft zur re:publica 2023 die aus tantes fabulösem Talk: Nichts, absolut nichts ist alternativlos.

Es ist mühsam und beschwerlich, sich ernsthaft mit technischen Entwicklungen und ihren Konsequenzen zu beschäftigen. Speziell wenn die Digitalisierung von Verwaltung und Gesundheitswesen Jahrzehnte im Rückstand ist. Aber diesen digitalen Rückstand werden wir nicht durch das hastige Aufbauen neuer versteckter Abhängigkeiten aufholen. Auch wenn es der vermeintlich einfache und bequeme Weg wäre.

Also ran an die Details neuer und verschlafener Technologien. Denn jetzt ist ein ganz und gar schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —       Digitalisierung in der British Library

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Ein Scheitern des Westens

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2023

Die demokratische Hoffnung von 2019 ist im Sudan zerstoben.

Von Simone Schlindwein

Auch die EU hat die Warlords des Landes erst groß gemacht. Russland nutzt seine Chance im drittgrößten Staat Afrikas. Die EU versprach dem Sudan einen Ausweg aus der Isolation, wenn sich Diktator Baschir als Türsteher für Europa einspannen ließe.

Wenn zwei Elefanten sich streiten, dann leidet das Gras – so lautet ein berühmtes afrikanisches Sprichwort, das sich auf zahlreiche Konflikte auf dem Kontinent anwenden lässt. Zuletzt auch auf die Kämpfe im Sudan. Dort liefern sich seit Mitte April quasi zwei rivalisierende Generäle erbitterte Schlachten, vor allem innerhalb der Millionenstadt Khartum, mittlerweile aber auch in anderen Landesteilen an der Peripherie. Es geht um die Macht.

Seit 2019 der übermächtige Diktator Omar al-Baschir nach 30-jähriger Herrschaft aus dem Amt gehievt wurde, befindet sich der flächenmäßig drittgrößte Staat Afrikas in einer Übergangsphase. Dass diese nach heftigen Machtkämpfen nun in einen blutigen Bürgerkrieg mündet, haben Afrika-Experten kommen sehen. Der Sudan ist ein Beispiel dafür, wie Länder Afrikas nach jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft nach dem Sturz eines übermächtigen Diktators in einen Bürgerkrieg abdriften. Eine internationale Strategie, dies zu verhindern, gibt es allerdings nicht. Und dies hat nun weitreichende Folgen.

Dabei hatten die Sudanesen so viel Hoffnung. Nach Jahrzehnten der Terrorherrschaft und der internationalen Wirtschaftssanktionen hatten sich 2019 die Menschen auf die Straße getraut – zum Protest. Der Grund: Die Lebensmittelpreise waren ins Unermessliche gestiegen. Kaum jemand konnte sich mehr ein Stück Brot leisten.

Die Zivilgesellschaft und Opposition organisierten sich. Sie kamen in der Hauptstadt zu Nachbarschaftskomitees und Protestaktionen zusammen, denen sich immer mehr Menschen anschlossen. Am 19. April 2019 versammelten sich Zehntausende zu einem Sitzstreik vor dem Armeehauptquartier, eine der zentralen Machtsäulen im Land. Die Demonstrierenden riefen die Generäle auf, Baschir zu stürzen, was sie letztlich auch taten. Der Diktator landete im Hochsicherheitsgefängnis, und die Generäle verhängten einen dreimonatigen Ausnahmezustand.

Von da an stand die Frage im Raum, welche Richtung eingeschlagen wird: eine Hinwendung zur Demokratie oder eine neue Militärherrschaft? Zunächst deutete alles in Richtung ziviler Regierung. Die Generäle einigten sich mit der Zivilgesellschaft auf eine Machtteilung. Ein gemeinsamer „Rat“ aus Militärs und Zivilisten wurde eingesetzt, der das höchste Organ der Staatsgewalt darstellen sollte, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet, Wahlen abgehalten und neue Institutionen gegründet würden. Es war der Moment, in welchem westliche Diplomaten mit viel Druck, Geschick und Geld die Zivilgesellschaft hätten stärken können, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.

Doch dies ist nicht passiert, zumindest nicht im nötigen Umfang. Und so bekamen die Militärs in Sudans Machtkampf die Oberhand. Doch was die Ereignisse jener Tage auch zeigten, war die interne Spaltung des Sicherheitsapparats. Nach dem Prinzip „teile und herrsche“ hatte Baschir innerhalb seiner Sicherheitsorgane rivalisierende Institutionen etabliert, die sich gegenseitig in Schach hielten. Ein wesentlicher Akteur ist die „Schnelle Eingreiftruppe“ (RSF) unter General Mohamed Hamdan Dagalo, bekannt unter seinem Kriegsnamen Hametti.

Der Neffe eines führenden Clanchefs aus der abgelegenen Region Darfur stellte seine Reitermiliz 2003 als Stoßtrupp Baschirs auf, um in Sudans Peripherie, wo seine Macht nur begrenzt hinreichte, Aufständische zu bekämpfen. Hametti wurde zum Handlanger des Präsidenten, um für ihn die Drecksarbeit zu erledigen. Dafür wurde er später grausamer Verbrechen bezichtigt. Als 2009 der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gegen Sudans Präsident einen Haftbefehl erließ, wurde darin auch Hametti als ausführender Befehlshaber vor Ort erwähnt. Der Vorwurf: Völkermord in Darfur.

Hamettis RSF war in den letzten Jahren von Baschirs Herrschaft mächtig geworden. Die Miliz unterstand direkt dem Präsidenten und lag außerhalb jeglicher Befehlsstruktur der Armee. Im Zuge der europäischen Migrationspolitik gegenüber Afrika konnte Hametti zu einem entscheidenden Akteur anwachsen: Denn Baschir hatte erkannt, welche Rolle sein Land in der EU-Migrationsverhinderungspolitik spielen konnte. Die EU versprach dem Sudan einen Ausweg aus der internationalen Isolation, wenn sich Baschir als Türsteher für Europa einspannen ließe. Er übergab daraufhin der RSF die Aufgabe, Sudans Grenzen in der Wüste zu überwachen. „Also arbeiten wir stellvertretend für Europa“, hatte Hametti 2016 bei einer Pressekonferenz in Khartum geprahlt und 800 festgenommene Migranten präsentiert.

Spätestens da war der Mann aus der Provinz in den höchsten Machtzirkeln Khartums angekommen. Als Baschir dann im April 2019 von Sudans Generalstab verhaftet wurde, ging es für Hametti um alles oder nichts. Klar war: Sollte Baschir an den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden, was die Zivilgesellschaft in ihren Sitzstreiks immer wieder forderte, wäre Hametti mit dran.

Als Vize-Vorsitzender des Übergangsrates konnte er dies nicht zulassen. Also schickte er seine RSF-Truppen los, um noch vor Ablauf des dreimonatigen Ausnahmezustands gegen die Protestierenden vorzugehen. Über 100 Menschen starben im Kugelhagel, unzählige wurden verletzt. Das brutale Vorgehen am 3. Juni 2019 ging unter dem Begriff „Khartum-Massaker“ in die Geschichtsbücher ein. Das war das endgültige Aus für einen möglichen Übergang in Richtung demokratische Zukunft.

Damit wurde der internationale Haftbefehl, der weitere Kriege verhindern sollte, zum Anlass für Hametti, einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen. Als dieser in den frühen Morgenstunden des 15. April 2023 seine Truppen in Khartum losschickte, um den Flughafen und andere strategisch wichtige Einrichtungen unter Kontrolle zu kriegen, brach der Machtkampf unter den sogenannten Elefanten offen aus. Jetzt leidet das Gras.

Ein Großteil der Kämpfe findet in dicht besiedelten Gebieten der Hauptstadt und anderen urbanen Zentren statt. Nach wochenlangen Gefechten liegt nun die Wirtschaft am Boden, weil Transportrouten blockiert sind und die Infrastruktur zusammengebrochen ist. Die UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet, dass in naher Zukunft mehr Menschen aufgrund des Mangels an grundlegender Versorgung und des Ausbruchs von Krankheiten sterben statt durch die Kämpfe an sich.

Eine humanitäre Katastrophe herbeizuführen, ist womöglich Teil der Strategie, die Hametti fährt. Denn derzeit wird das tägliche Überleben in der Millionenstadt lediglich durch die Selbstorganisation der Nachbarschaftskomitees aufrechterhalten, die noch 2019 die Proteste organisiert hatten. Es kann durchaus eine Taktik sein, diese letzten noch verbleibenden Reste der Zivilgesellschaft buchstäblich aushungern zu lassen, damit kein Zivilist mehr in der Hauptstadt übrig ist, der in naher oder ferner Zukunft an die Macht gelangen könnte.

Experten fragen zu Recht, welche Rolle Ex-Diktator Baschir spielt. Seit seinem Sturz 2019 saß er im Gefängnis in Khartum. Als sich im April dieses Jahres die Kämpfe rund um das Zentralgefängnis intensivierten, wurden von der RSF die Gefängnistore geöffnet; tausende Gefangene entkamen – darunter auch Baschir sowie wichtige Mitglieder des ehemaligen Regimes, etwa der ehemalige Vize-Innenminister Ahmed Haroun, neben Baschir einst einer der mächtigsten Männer innerhalb des Militärregimes.

Ganz offen wandte sich Haroun Ende April in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Er versicherte, er stehe dem sudanesischen Volk im aktuellen „Machtkonflikt“ zur Seite, der seiner Meinung nach von regionalen und internationalen Staaten unterstützt werde. Er betonte, er und andere inhaftierte Ex-Regimemitglieder hätten an einem anderen Ort „jetzt die Verantwortung für unseren Schutz in unsere eigenen Hände genommen“.

Quelle          :        TAZ-online       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —    April 2006: UNMIS, Sudan. Khartoum main centre and street life

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Unten      —       SE Gration meets with UNAMID’s Deputy Joint Special Representative (Center) and new UNAMID Force Commander, General Patrick Nyamvumba (Right)

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Flüchtende suchen Zuflucht

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2023

Flüchtlinge gelten als Feinde unseres Wohlstands

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Wird hier aus der EU – Ein- oder Ausgeschlossen  ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Heribert Prantl / 08  

Der Migrationsdruck wird ein grosses Thema dieses Jahrhunderts. Das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden.

Es gibt Interviews, die man nicht vergisst. Ein knappes Jahr nach der Änderung des Asylgrundrechts im Jahr 1993 habe ich mit dem damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) ein Gespräch darüber geführt, was diese Grundgesetzänderung bewirkt habe.  Kanther äusserte sich hochzufrieden. Wir sprachen auch über den Brandanschlag von Solingen: Drei Tage nach der Asyl-Abstimmung im Bundestag waren bei einem Brandanschlag fünf türkische Frauen und Mädchen von Rechtsextremisten ermordet worden. Den entsetzen Kommentar dazu konnte man damals auf eine Hauswand gesprüht lesen: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch“. Kanther sah das anders. Er sagte: „Jetzt kommen nicht mehr 30’000, sondern 10’000 Flüchtlinge (im Monat. Red.). Das ist immerhin etwas, dieses Ergebnis bestätigt die Richtigkeit unserer Politik. Es wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung – die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat.“ Er sagte tatsächlich „Hitzegrade“!

Zwanzig Jahre lang hatte der Asylstreit bis dahin gedauert. 1973 war im Bundestag zum ersten Mal von Asylmissbrauch die Rede gewesen. Die Debatte darüber hatte sich in den späten Achtzigerjahren ins Orgiastische gesteigert. Über den Artikel 16 des Grundgesetzes wurde geredet, als wäre er der Hort von Pest und Cholera. Der sogenannte Asylstreit hat das politische Klima in Deutschland verändert wie kaum eine andere Auseinandersetzung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Was Fliehkraft bedeutet

Davon handelt mein kürzlicher SZ-Plus-Text („Asylbetrüger … sind nicht Flüchtlinge, die Schutz vor Verfolgung und Hilfe in der Not suchen – sondern die Politiker, die ihnen Schutz und Hilfe verweigern“).  Er zeichnet den Weg nach von der deutschen Grundgesetzänderung im Jahr 1993 zu den EU-Elendslagern von heute und zu den Plänen für die „Festung Europa“, die nun bei der bevorstehenden EU-Ratssitzung verabschiedet werden sollen.

50 Jahre Asylstreit insgesamt. Die Flüchtlinge gelten als Feinde des Wohlstandes. Die EU schützt sich vor ihnen wie vor Straftätern. Sie werden betrachtet wie Einbrecher, weil sie einbrechen wollen in das Paradies Europa. Man fürchtet sie wegen ihrer Zahl und sieht in ihnen so eine Art kriminelle Vereinigung. Deswegen wird aus dem „Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit“, wie sich Europa selbst nennt, die Festung Europa.

Die Flüchtlinge, die vor dieser Festung ankommen, sind geflüchtet, weil sie eine Zukunft haben wollen. Sie sind jung, weil nur junge Menschen die Fliehkraft haben, die man als Flüchtender braucht. TV und Internet locken noch in dreckigsten Ecken der Elendesviertel mit Bildern aus der Welt des Überflusses. Noch bleibt der allergrösste Teil der Menschen, die wegen Krieg, Klimawandel und bitterer Not ihre Heimat verlassen, in der Welt, die man die dritte und vierte nennt. Mehr und mehr aber drängen sie an die Schaufenster, hinter denen die Reichen der Erde sitzen.

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Der Druck vor den Schaufenstern wird stärker werden. Ob uns diese Migration passt, ist nicht mehr die Frage. Die Frage ist, wie man damit umgeht, wie man sie gestaltet. Migration fragt nicht danach, ob die Deutschen ihr Grundgesetz geändert haben und womöglich noch einmal ändern wollen. Sie fragt nicht danach, ob die EU-Staaten sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen. Die Migration ist da und der Migrationsdruck wird ein ganz grosses Thema dieses Jahrhunderts sein. Und das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden, ob der europäischen Politik etwas anderes einfällt als Abriegelung und Mobilmachung gegen Flüchtlinge.

Seit 1992, seit den „Londoner Entschliessungen“ zur Ablehnung von Asylanträgen hat sich EU-Konferenz um EU-Konferenz mit den Bauplänen für die Festung Europa befasst; das Projekt lief immer unter dem Namen „Harmonisierung des Asylrechts“.  Nun, bei der bevorstehenden EU-Ratssitzung in ein paar Tagen, sollen die Pläne fertiggestellt werden. Es sind keine guten Pläne. Es gibt eine Formel, die eine Schlüsselformel für gute, für bessere Pläne sein könnte: „Asyl ist für Menschen, die uns brauchen. Einwanderung ist für die Menschen, die wir brauchen.“ Es ist dies, es wäre dies der Grundgedanke für eine gute europäische Migrationspolitik. Es braucht eine respektierte Autorität, die sie propagiert.

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Grafikquellen        :

Oben      —     Grenzpatrouille an der Anlage

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