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Der Feind in Asien

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2021

Die Versuche der USA, Chinas Aufstieg zu behindern

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Dr. Renate Dillmann

Seit geraumer Zeit ist von einem neuen „Kalten Krieg“ die Rede, den die USA gegen China begonnen haben. Und in der Tat: Trägt man zusammen, was US-Politiker im Lauf der letzten Jahre gegen die Volksrepublik unternommen haben, dann ist das nicht wenig.

Ein neuer Kalter Krieg?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei an folgende Punkte erinnert:

• Donald Trump hat einen Handelskrieg gegen China geführt, in dessen Verlauf chinesische Waren mit 550 Milliarden Dollar an Strafzöllen belegt wurden.1 Seine Diplomaten sorgten dafür, chinesische Firmen mit überlegenen Technologie-Angeboten aus westlichen Märkten zu drängen und im Fall von Huawei deren Managerin verhaften zu lassen. Die Biden-Administration führt die Schutzzoll-Politik ihrer Vorgängerregierung fort und hat sie um ein Gesetz ergänzt, das Regierungsbehörden untersagt, ausländische Waren und Dienstleistungen zu kaufen (Umfang 600 Milliarden Dollar).

• Im südostasiatischen Meer finden weitere US-Manöver statt; der sogenannte „Inselstreit“ wird von US-Seite mit kleineren Scharmützeln am Leben gehalten, amerikanische Stützpunkte in der Region werden reaktiviert und neu ausgestattet (Philippinen, Guam), die Aufrüstung Taiwans mit US-Waffen forciert.

• Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 hat der US-Verteidigungsminister Mark Esper in einer Brandrede die Notwendigkeit eines westlichen Bündnisses gegen China beschworen. Der G7-Gipfel in London 2021 – unter der Regierung Biden – diente explizit der Anbahnung eines solchen Bündnisses, weshalb auch Australien, Indien und Südafrika eingeladen wurden.2

• Begleitet wurde und wird diese Politik durch immer mehr und immer heftigere Anklagen gegen den chinesischen Staat in der westlichen Öffentlichkeit und den Vereinten Nationen. China wird inzwischen des Genozids an einer ethnischen Minderheit, den Uiguren, bezichtigt. Dazu treten im Wochenrhythmus wechselnde Vorwürfe wegen staatlicher Repression gegen Protestierende in Hongkong, Ausbeutung afrikanischer und asiatischer Staaten, Umweltverstößen und nicht zuletzt Schuldzuweisungen und Kritik am autoritärem Staatsverhalten in der Corona-Krise.3

Kampagnen dieser Art haben dafür gesorgt, dass der chinesische Staat in der Bevölkerung einen ziemlich schlechten Ruf hat – gerade auch bei denen, die dem hiesigen Staat nicht ohne Kritik gegenüberstehen. Dass die USA China so feindselig gegenübertreten und Verbündete für ein Anti-China-Bündnis sammeln, liegt allerdings nicht in den Vorwürfen begründet, die sie lancieren und dann zitieren. Die regierenden Politiker können Feindbild und Feindschaft besser auseinanderhalten als ihre Presse und ihr Volk.

Autoritäres Regieren ist für die USA, das Mutterland von Demokratie und Menschenrechten, per se jedenfalls kein Grund für Feindseligkeiten. Sie haben schon Herrscher von ganz anderem Kaliber zu Freunden erklärt (wie den Saudi-König Salman und den ägyptischen Putsch-General Al Sisi ) oder selbst an die Macht gebracht (wie den Schah im Iran oder Pinochet in Chile – übrigens jeweils gegen demokratisch gewählte Politiker). Und auch bei Menschenrechtsverletzungen gegen Minderheiten, ja selbst Genoziden – mal angenommen, das sei in China so, wie es die Westpresse darstellt4 – sind US-Präsidenten nicht gerade zimperlich, wenn es ihnen geopolitisch in den Kram passt (so hat der türkische Nato-Partner Erdogan mit Panzern und Bomben gegen seine Kurden bisher durchaus freie Hand).

Womit also hat sich China, an dem amerikanisches Kapital in den letzten Jahren enorm viel verdient hat und das auch aktuell gerade wieder einmal die Weltkonjunktur-Lokomotive darstellt, diese harte Feindschaftserklärung der USA verdient?

Ein ehemals sozialistisches Entwicklungsland wird kapitalistische Großmacht

Die Antwort lautet: China zieht diese Feindschaft auf sich, weil es sich so überaus erfolgreich in die amerikanische Geschäftsordnung integriert hat. Das hört sich paradox an und ist erklärenswert.

Die sozialistische Volksrepublik hat sich nach 1978, zwei Jahre nach Maos Tod, für westliches Kapital geöffnet und sukzessive ihre vorherige Art der Planwirtschaft aufgegeben; ausländische und zunehmend auch chinesische Firmen verdienen seitdem mit Waren aller Art, die chinesische Lohnarbeiter fertigen, viel Geld am Weltmarkt.

Dass der Zufluss von Kapital aus den etablierten kapitalistischen Ländern nicht zur üblichen „Karriere“ eines Entwicklungslandes geführt hat (Ausverkauf des nationalen Reichtums, insbesondere von Rohstoffen, zunehmende Verschuldung, IWF-Diktate, failing states etc.), ist ein welthistorischer Ausnahmefall. Dessen Gründe liegen auf der einen Seite in der Öffnungsstrategie der kommunistischen Führung des Landes, die gekennzeichnet war durch Vorsicht und Misstrauen gegenüber den westlichen5 Staaten und ihren Unternehmern. Die Kommunistische Partei hat zunächst nur spezielle Teile ihres Landes für auswärtige Kapitalanlage zur Verfügung gestellt – der Rest blieb davon unberührt; die Versorgung der Bevölkerung wie die Beziehungen zwischen den chinesischen Staatsbetrieben funktionierten zunächst weiter nach Plan. Für das anlagesuchende ausländische Kapital, das mit Sonderkonditionen gelockt wurde (billige chinesische Arbeitskräfte, miese Arbeitsbedingungen, wenig Steuern), gab es strikte Auflagen: Es musste chinesische Partner suchen (joint ventures), Technologietransfer zulassen und lokale Zulieferer einbeziehen; damit sorgte Chinas Führung für die Entwicklung eigener, weltmarktauglicher Unternehmen. Die chinesische Währung wurde an den Dollar gebunden, ausländisches Finanzkapital nicht zugelassen. Dass die internationalen Kapitale (und ihre Staaten) im Falle Chinas solche Restriktionen auf der anderen Seite hingenommen haben, lag an der Attraktivität, die die Aussicht auf diesen letzten großen weißen Fleck in der kapitalistischen Weltkarte für sie darstellte: Ein Land dieser Größenordnung, das nicht nur über ein riesiges Angebot an Billigarbeitern, sondern auch über 1,3 Milliarden potenzielle Konsumenten verfügte – das war schlicht so unwidersprechlich perspektivreich, dass keiner sich leisten wollte und konnte, bei diesem neuen Goldrush nicht dabei zu sein. Ganz gegen die populären Behauptungen von der per se gegebenen Nützlichkeit von Kapitalimporten ist also festzuhalten: Es müssen schon eine ganze Reihe von Bedingungen zusammen kommen, damit auswärtiger Kapitalzufluss für ein „zu spät“ in den Weltmarkt eintretendes Land zum Mittel seiner Entwicklung wird und nicht nur den Kapitalgebern dient.6

China ist auf diese Art und Weise nach und nach (einige Friktionen inbegriffen) selbst zu einem relevanten Teil des Weltmarkts geworden, von dem inzwischen der Rest der Welt (auch die USA) abhängen. Westliche Firmen finden heute dort einen wesentlichen Teil ihrer lohnenden Anlagemöglichkeiten und einen sich immer noch stark erweiternden Markt für ihre Produkte; umgekehrt machen es die von dort importierten billigen Konsumgüter möglich, die lohnabhängig Beschäftigten in den westlichen Ländern mit geringen Löhnen und Sozialtransferleistungen abzuspeisen (weder die deutschen Dumpinglöhne noch das Überleben der Hartz-Bevölkerung wäre möglich ohne chinesische Klamotten, Schuhe, Spielzeug). Daneben verkaufen chinesische Firmen inzwischen High-Tech-Produkte, für die es in den westlichen Ländern keine (jedenfalls so kostengünstigen) Alternativen gibt.

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 Um die Spratly Islands wird seit mehr als 40 Jahre gestritten.

Mit dem über Jahrzehnte anhaltenden Wachstum seines Standorts hat sich auch der chinesische Staat erhebliche Mittel verschafft. Steuern und ein stetiger Zufluss an harten Devisen durch Warenexport und Kapitalzufluss erlauben ihm eine Ausweitung seiner Haushaltspolitik – und damit eine beschleunigte Förderung von Wachstum, unter anderem in den bisher noch nicht kapitalistisch entwickelten Provinzen, die ziemlich planmäßig in Wert gesetzt werden. Gleichzeitig verwendet China viel Geld aus seinem Devisenschatz, der zeitweise auf über 3 Billionen US-Dollar angewachsen war, für ausgreifende Infrastrukturmaßnahmen (Projekt Neue Seidenstraße7), um seinen Unternehmen zuverlässigen Zugriff auf Rohstoffe und Absatzmärkte zu sichern – in Asien, Europa, Afrika und Südamerika – und hat damit auch seinen politischen Einfluss weltweit massiv gesteigert.

Die ehemals sozialistische Volksrepublik hat also erreicht, was die Vereinigten Staaten den entkolonialisierten Ländern der 3. Welt nach 1945 so generös versprochen hatten: sich zu entwickeln, selbst reich und mächtig zu werden, auf Augenhöhe zu den etablierten Nutznießern dieser Welt aufzuschließen.

Eine Konkurrenz neuen Typs

Und eben das halten vor allem die USA nicht aus – denn das haben sie weder vorhergesehen noch gewollt, als sie Chinas Öffnungspolitik 1978 so freudig begrüßt haben. Das zeigt rückwärts noch einmal, wie die damals kursierende Vorstellung von den „Entwicklungsländern“ nicht gemeint war: Das einzige Land, das „es geschafft hat“ und jetzt sogar zum Mond fliegt, wird jedenfalls nicht gerade mit Beifall begrüßt und gilt auch nicht als Modell für andere.

Das macht gleichzeitig unmissverständlich deutlich, welchen Anspruch die USA an „ihre“ Welt haben: Sie verlangen für sich den Nutzen aus der Ordnung, die sie der Welt gegeben nach 1945 haben.

Nachdem Deutschland mit zwei Versuchen gescheitert war, sich wesentliche Teile der Welt territorial unterzuordnen, haben die siegreichen USA nach Weltkrieg II ein neues Prinzip eingeführt: Globale Freiheit für Handel und Kapitalverkehr in einer Welt souveräner Staaten – eine Ordnung, die ihnen als modernster und produktivster kapitalistischer Macht den ökonomischen Nutzen garantieren sollte. Das richtete sich – nachdem die Konkurrenten Deutschland und Japan mit ihren Eroberungsplänen fürs erste erledigt waren – gegen den kolonialen Exklusiv-Besitz ihrer westlichen Alliierten und vor allem gegen den sozialistischen Staatenblock, der die westlichen Unternehmer einfach aussperrte und auf seine Art wirtschaftete. Gegen dessen Führungsmacht UdSSR haben die USA mit ihren Alliierten am Atlantik und Pazifik den ersten Kalten Krieg auf die Tagesordnung gesetzt – mit kleinen „heißen“ Stellvertreterkriegen. Diese Auseinandersetzung haben sie 1990 dank ihrer überlegenen Aufrüstung gewonnen; die Sowjetunion hat abgedankt und die Freiheit des Geschäftemachens gilt seither wirklich überall, die USA sind die unbestrittene und alleinige Weltmacht.

Allerdings ist ihnen in der Folgezeit innerhalb ihrer schönen Weltordnung mit China dann dieser unangenehme Konkurrent entstanden, der ihnen ökonomisch den Nutzen aus „ihrem“ Weltgeschäft streitig macht und politisch souverän genug ist, um sich nicht unterzuordnen. So hat sich für die USA ein Widerspruch ganz besonderer Art herausgebildet, denn die Volkswirtschaften dieser beiden Kontrahenten sind gewissermaßen symbiotisch miteinander verflochten:

Die USA brauchen China für das Wachstum ihrer Unternehmen – und sie leiden an dieser Abhängigkeit und den Konsequenzen, die das für ihren Standort hat. Sie brauchen Chinas Weltmarkterfolge und den chinesischen Staat, der damit ihre Staatsschulden kauft, mit denen sie die Kriege der letzten Jahre finanziert haben – und finden genau das gleichzeitig unerträglich. Sie profitieren sogar von den Aufbauleistungen, die China den ärmeren (und vom Westen nach 1990 Ländern in Asien, Afrika und Südamerika zukommen lässt (zurzeit zum Beispiel mit seinen Impfstoffen) – und wollen genau das nicht haben, weil es ihre unangefochtene Stellung als Weltmacht untergräbt.

Die Versuche der USA, Chinas Aufstieg zu behindern

Deshalb versuchen die USA, sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aus dieser Zwickmühle zu befreien. Schon vor Trump gab es diverse Anläufe der US-Präsidenten mit diesem Ziel: mit den Beitrittsverhandlungen zur und danach mit einer Reihe von Dumpingklagen innerhalb der WTO; indem die USA im Zuge der Finanzkrise ein verstärktes Gewicht Chinas im IWF blockiert haben; mit der Konstruktion diverser Freihandelsabkommen, die sich gegen China richteten (TPP und TTIP). Dass einige außenpolitische US-Aktivitäten Staaten aufs Korn genommen und schwer geschädigt haben, die gute Handelsbeziehungen zu China unterhielten (Iran, Sudan, Libyen) ist sicher auch kein Zufall, sondern zumindest gewollter Kollateralschaden. Trump hat die Palette der US-Bemühungen dann um die eingangs zitierten erweitert: massive Schutzzölle, die chinesische Waren verteuern; ein Gesetz, das chinesische Firmenkäufe in den USA unter Aufsicht stellt; Nötigung amerikanischer Unternehmen, ihre Investitionen in die US-Heimat (zurück) zu verlagern; eine Neuauflage der Cocom-Liste, die im Kalten Krieg den Export militärisch nutzbarer Technologie verhindert hat. Er hat seine Experten eine Strategie des „Decoupling“ ausarbeiten lassen, um notfalls alle ökonomischen Beziehungen zum chinesischen Feindstaat zu unterbrechen. Und er bekämpft mit dem Technologiekonzern Huawei exemplarisch das modernste chinesische Kapital, das sich gerade angeschickt hat, viele westliche Staaten mit seiner 5-G-Technik auszurüsten, die für viele künftige Schritte bei der Digitalisierung von Produktion, Transport und Kommunikation gebraucht wird (Stichwort: Industrie 4.0) und als Schlüsselindustrie wie Herrschaftsinstrument in der künftigen Konkurrenz der Unternehmen wie Nationen deshalb unverzichtbar ist.

Die ersten Schritte des neuen US-Präsidenten Joe Biden machen deutlich, dass er die China-Politik seines „unmöglichen“ Vorgängers Trump konsequent weiterverfolgen wird. Unmittelbar nach seiner Amtseinführung unterzeichnete Biden, der seine China-Politik unter das Motto „extremer Wettbewerb“ stellt, eine Verordnung, derzufolge US-Regierungsbehörden nur im eigenen Land erstellte Waren und Dienstleistungen kaufen sollen (dabei handelt es sich um etwa 600 Mrd. Dollar). Der zulässige Anteil im Ausland hergestellter Bauteile wird gesenkt, Ausnahmegenehmigungen erschwert.8

Bemerkenswert an diesen Kämpfen der Weltmacht ist: Sie offenbaren, dass den USA ihr bisheriges Konkurrenzmittel abhanden kommt. Bisher waren sie die Macht, die auf Freiheit im Welthandel und dem Abbau aller (Zoll-)Schranken beharrt hat – weil sie als kapitalistisch produktivste Ökonomie auf diese Art und Weise überall in der Welt Geschäft machen oder finanzieren konnte, damit also sicher den meisten Profit erzielte. Bisher waren sie die Macht, die allen anderen Staaten modernste Technik verkaufen konnte – nun nötigen oder bestechen sie andere Nationen, nicht bei China zu kaufen. Die Vereinigten Staaten sind dabei durchaus in der Lage, einiges für diese Politik in die Waagschale zu werfen: Die Drohung mit ökonomischen Nachteilen ist für jedes Land dieser Welt eine heikle Frage angesichts dessen, was seine Kapitale und Banken in den USA erwirtschaften bzw. angesichts dessen, was ein eventueller Ausschluss vom internationalen Finanzmarkt bedeuten kann, auch wenn man gar nicht unmittelbar mit oder in den USA handelt.

Mit dieser Politik unterminieren die amerikanischen Politiker allerdings die Prinzipien der Weltordnung, die sie selbst nach Weltkrieg II eingerichtet haben: Souveräne Staaten, die in freier kapitalistischer Konkurrenz nach ihrem Vorteil streben. Für dieses Prinzip steht inzwischen der chinesische Präsident Xi Jingping ein – ein deutlicher Ausdruck dessen, welche Nation im Augenblick den Nutzen aus dieser von den USA geschaffenen Weltordnung zieht…

Die amerikanischen Versuche, Chinas weiteren Aufstieg mit ökonomischen Gegenmitteln zu verhindern, haben bisher keinen durchschlagenden Erfolg gezeigt – kein Wunder also, dass der Übergang zu härteren Mitteln ansteht.

Dazu gehört die Unterstützung separatistischer Bewegungen in China. In der westlichen Provinz Xinjiang werden die muslimischen Uiguren unterstützt, deren Separatismus heute in dschihadistischer Form auftritt9; in Hongkong berät die CIA seit 2015 Joshua Wong, das „Gesicht“ der aktuellen Hongkong-Proteste.10 Die Befeuerung von Separationsbestrebungen ist schon immer ein probates Mittel gegen lästige Konkurrenten gewesen. Sie setzt am „empfindlichen“ Punkt – der staatlichen Hoheit – an und verwickelt den betroffenen Staat in unproduktive Auseinandersetzungen bis hin zu Bürgerkriegen. Die amerikanischen Freunde von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben dabei wenig Probleme, in Chinas Westprovinz die dort vorhandene Unzufriedenheit berechnend anzuheizen und dschihadistische Fundamentalisten für sich zu instrumentalisieren.11 Es ist insofern nicht verwunderlich, wenn die auf diese Weise attackierten Staaten ihrerseits mit aller Gewalt versuchen, solche Bewegungen bereits im Keim zu ersticken, womit sie natürlich wieder ihre ganze menschenrechtsverachtende Repressivität beweisen…

Dazu gehört auch das Schmieden von antichinesischen Bündnissen. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 hat amerikanische Verteidigungsminister Mark Esper die Europäer zu einer klaren Entscheidung gedrängt – die diesen angesichts der ökonomischen Bedeutung des chinesischen Markts nicht ganz leichtfällt. Er hat an den WTO-Beitritt Chinas vor 20 Jahren erinnert (den er mitverhandelt hatte): Ein Teil der US-Delegation hätte gehofft, durch verstärkte ökonomische Liberalisierung auch die politische voranzutreiben und China zu einem „verantwortungsbewussten globalen Akteur“ zu machen. Nun sei zu konstatieren, dass unter Präsident Xi Jinping das Gegenteil eingetreten sei: „mehr interne Unterdrückung, räuberischere wirtschaftliche Praktiken, mehr Härte und – für mich am besorgniserregendsten – eine aggressivere militärische Haltung“. China habe sich „durch Diebstahl, Zwang und Ausnutzung freier Marktwirtschaften“ Vorteile verschafft und sinne darauf, das System „zu untergraben und zu zersetzen“, das ihm seinen Aufstieg ermöglicht hat. Es strebe überall auf der Welt „neue strategische Beziehungen“ an und übe „Druck auf kleinere Nationen“ aus.12 Das sagt allen Ernstes der Vertreter der Weltmacht USA – Kommentar überflüssig.

Beim G7-Gipfel in London wiederholte der neue US-Außenminister Blinken den Vorwurf, China untergrabe die „auf internationalen Regeln basierende Ordnung, in die unsere Länder in so vielen Jahrzehnten so viel investiert haben“. Wenn ein Land – sei es China oder ein anderer Staat – diese Ordnung in Frage stelle, „werden wir aufstehen und die Ordnung verteidigen“.13

Das Selbstbild der USA sieht demgemäß so aus, dass sie mehr oder weniger selbstlos („so viel investiert“!) der Welt eine Ordnung spendiert haben, die sie nun ebenso selbstlos gegen einen Störenfried verteidigen wollen/müssen. Die Welt ist für die USA offenbar dann „fair“ und „in Ordnung“, wenn sie den größten Nutzen aus ihr ziehen und unbestritten das Sagen haben; alles andere kann für sie nur ein Fall von „untergraben“ und „zersetzen“ sein, gegen den sie ihren Vorteil sichern, pardon: gegen die sie „die Ordnung“ verteidigen müssen. Dass die Volksrepublik China sich ganz gemäß der „regelbasierten Ordnung“ des kapitalistischen Weltmarkts und mit amerikanischer Kapitalhilfe, an der US-Firmen über Jahrzehnte prächtig verdient haben und verdienen, zum heutigen Resultat hochgearbeitet hat, das den USA nun so überaus störend in die Quere kommt – diesen Fall kann es aus US-Sicht schlicht nicht geben. Also darf es ihn nicht geben – der neue „Kalte Krieg“ ist für die USA insofern eine unumgängliche Konsequenz, und das nicht für die „Falken“ oder „Hardliner“, sondern über alle Parteigrenzen hinweg.

China gibt nicht nach

China hält mit seinen Mitteln dagegen. Es setzt dabei auf das Gesetz der Konkurrenz und versucht, die größeren Wachstumspotenzen zu mobilisieren; insofern sind zurzeit tatsächlich „Frieden und Entwicklung“ seine Erfolgsmittel auf dem Weg zu erneuten Weltmachtstellung: Die USA sollen es wie eine Art Naturereignis hinnehmen, dass die chinesische Wirtschaft immer mehr wächst und der chinesische Staat immer mächtiger wird.

Zu diesem Programm gehört auch eine nachholende Aufrüstung.14 Vor allem will die chinesische Führung Sicherheit für ihre Im- und Exportrouten als ihr entscheidendes ökonomisches Mittel. Die will sie nicht durch eventuelle Boykott-Maßnahmen der USA stören lassen, wie sie aus vielen Fällen der jüngeren Geschichte bekannt sind und wie Chinas Strategen sie angesichts der zunehmenden Konkurrenz der beiden Mächte vorhersehen. Der Ausbau kontinentaler Verbindungswege im Zuge der Neuen Seidenstraße ist ein Teil des chinesischen Umgangs mit diesem Problem. Der andere liegt in der Aufrüstung der Marine und dem Versuch, mit einer vorgelagerten Stützpunktpolitik zumindest einige Verteidigungslinien in relativer Nähe zu ziehen – gegen die US-Stützpunkte in Japan, den Philippinen und Guam. Das ist der Kern des vor etwa zehn Jahren neu eröffneten „Inselstreits“, bei dem China einige völkerrechtlich umstrittene Inseln in Besitz genommen und militärisch ausgerüstet hat.

China war und ist nicht gewillt, in diesem Konflikt einzulenken – auch nicht um den Preis der angedrohten Verschlechterung der Beziehungen und einer eventuellen militärischen Konfrontation mit der Weltmacht USA, die in diesem Fall sehr prinzipiell agiert und das Recht der „Freiheit der Meere“ geltend macht. Die Volksrepublik machte zwar gewisse diplomatische Angebote, indem sie den militärischen Charakter des Inselausbaus kleinredete und umweltpolitische Zielsetzungen betont hat, um die Situation von sich aus nicht zu verschärfen. In der Sache aber blieb sie hart. China lässt sich keine Eindämmung von Ansprüchen bezüglich dieser Inseln bieten – nicht von seinen Nachbarn und auch nicht von der existierenden Weltmacht. Auch die Volksrepublik agiert in diesem Streitfall sehr prinzipiell. Sie exerziert daran exemplarisch ihr ungehindertes Recht auf ihren weiteren weltpolitischen Aufstieg und dessen militärische Absicherung durch und will dieses Vorgehen international anerkannt bekommen. 15

Die Perspektive heißt Krieg

Gegen alles Geschwätz von „Chimerica“ und einem globalisierten Welthandel „zum Nutzen aller“ wird an diesem Fall ein weiteres Mal deutlich, dass die Konkurrenz um den Nutzen aus dem Welthandel ihrer Natur nach ausschließend und deshalb in der letzten Instanz feindlich, ja kriegsträchtig ist. Auch wenn momentan tatsächlich keine der Parteien die „große Auseinandersetzung“ will, ist das der gewaltträchtige Kern ihres Verhältnisses.

Zur Autorin:

Dr. Renate Dillmann ist Politologin und arbeitet als Journalistin und Dozentin für Sozialpolitik. Soeben ist die Neuauflage ihres Buchs „China – ein Lehrstück für alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Großmacht“ mit aktuellen Ergänzungen erschienen: https://diebuchmacherei.de/produkt/china-ein-lehrstueck/

1 https://www.nzz.ch/wirtschaft/usa-gegen-china-die-wichtigsten-antworten-zum-handelsstreit-ld.1528336#subtitle-wie-ist-der-stand-des-zollstreits-second

2 https://www.heise.de/tp/features/Das-China-Dilemma-der-alten-G7-6036894.html

3 https://www.heise.de/tp/features/BILD-attackiert-China-4706074.html

4 Vgl. dazu den ausführlichen Artikel von Jörg Kronauer, Terror in Xinjiang, in Junge Welt 5.12.2019

5 „Westlich“ ist hier und im Folgenden weniger als geografische Bezeichnung gemeint denn als Zuordnung zu einem politischen Block von Staaten; sie schließt Japan und Australien mit ein.

6 Mehr zu diesem Ausnahmefall in: Renate Dillmann, China – ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Großmacht. 4. erweiterte Auflage Berlin 2021

7 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/schwer-zu-stoppen

8 Übrigens sind auch westliche Staaten, Kanada und Deutschland etwa, von diesen Regelungen negativ betroffen. Vgl. Jörg Kronauer https://www.jungewelt.de/artikel/395172.wef-biden-holt-sich-erste-kratzer.html

9 Juli 2009 Pogrom in Urumqui gegen Han-Chinesen mit 134 Toten (viele von ihnen brutal erschlagen); 2013 Selbstmordattentat auf dem Tienamen-Platz in Beijing mit einem SUV (3 Tote); 2014 Massaker am Bahnhof von Kunming, bei dem acht Attentäter 31 Passanten umbringen; Überfall auf ein Regierungs- und Polizeigebäude in Kashgar, bei dem 37 Zivilisten sterben; Überfall auf eine Kohlemine in Aksu mit 50 toten hanchinesischen Arbeitern. (Zu den Aktivitäten uigurischer Dschihadisten, deren Organisation ETIM von Al Quaida finanziert wurde, in Syrien, Indonesien, Thailand und Afghanistan s. Kronauer, Terror in Xinjiang, Junge Welt, 5.12.2019.)

10 https://www.nachdenkseiten.de/?p=54741

11 Mehr dazu in Dillmann ebd. „Einige Bemerkungen zu den Uiguren“, S. LI ff und „Zur Nationalitätenfrage“, S. 337 ff.

12 https://de.usembassy.gov/de/mark-t-esper-bei-der-muenchner-sicherheitskonferenz/

13 https://www.zeit.de/news/2021-05/04/g7-staaten-kurs-gegenueber-autoritaeren-staaten-abstecken

14 Zum Kräfteverhältnis: Alleine im Jahr 2020 haben die USA nach Informationen von SIPRI mit 778 Milliarden US-Dollar etwa 39% der weltweiten Rüstungskosten ausgegeben, China kommt auf 252 Milliarden und damit 13%.

15 Die Bundesrepublik will in diesem Konflikt nicht abseits stehen und entsendet im August die Fregatte „Bayern“ in Richtung Indopazifik. Schon jetzt wird die Frage aufgeworfen, ob man sich damit zufrieden geben soll, auf anerkannten Handelsrouten zu navigieren oder ob man sich ein wenig mehr Risikobereitschaft schuldig ist… https://www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehr-china-suedchinesisches-meer-indopazifik-1.5225101

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Gedenken zum 22. Juni

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2021

Gedanken zum deutsch – sowjetischen Krieg  1941 -1945

Russische militaire begraafplaats in Schönholzer Heide

Quelle:    Scharf  —  Links

Die richtige historische Darstellung gibt die stärkste Kritik. (…) Es ist so unendlich viel schwieriger zu handeln, als hinterdrein zu beurteilen, dass dem, der berufen war, im Drange der Begebenheiten selbst Entschlüsse zu fassen und sie auszuführen, die nachträgliche Würdigung des Geschehenen nur zu leicht als anmaßend erscheint. Ohnehin berührt die Darstellung eines eben erst beendeten Feldzugs bei dem Teil der unterlag, eine noch nicht vernarbte Wunde. Die Kritik wird ihr im Vergleich zum Handeln so geringes Verdienst in völliger Unparteilichkeit und in gewissenhafter Wägung und Benutzung aller Nachrichten zu suchen haben, die Licht über die Begebenheit verbreiten.

Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (1867)

Von René Lindenau, Cottbus

Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte. So verhält es sich auch mit dem deutsch – sowjetischen Krieg, den man als den Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet. Versuchen wir uns also mal in – historischer – Verhaltensforschung.

In den Jahren 1920 bis 1941 pflegten Deutschland und die Sowjetunion intensive Militärbeziehungen. Man besuchte sich gegenseitig, bot Ausbildungsprogramme an, tauschte Erfahrungen aus. Aus deutscher Sicht wohl besonders wichtig; man konnte in Kasan (Panzer) und in Lipezk (Luftstreitkräfte) technisches Gerät testen, was ihnen durch die Militärklauseln des Versailler Vertrages untersagt worden war. Die blutige Ironie der Geschichte war; viele sowjetische Exponenten dieser Zusammenarbeit Tuchatschewski, Jakir, Unschlicht, Jegerow, Primakow, Eidman) endeten an Stalins Schafott während hohe deutsche Offiziere mit Russland Erfahrung sich Jahre später auf den Kriegsschauplätzen des faschistischen Eroberungs – und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion wiederfanden (siehe Olaf Groehler Die Selbstmörderische Allianz Deutsch – russische Militärbeziehungen 1920 -1941,Vision Verlag Berlin 1992). Die Ermordung von insgesamt bis zu 35.000 Offizieren, etwa der Hälfte des Offiziersbestandes von Armee und Flotte, angefangen bei drei von fünf Marschällen durch Stalins Terrormillizen haben das Land in eine gefährliche Lage manövriert (siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 4, DVA 1983 Seite 50ff). Denn am Vorabend eines vorhersehbaren Krieges seine Armee, derart um die besten Köpfe berauben lädt den Gegner geradezu dazu ein, zuzuschlagen. Hitler hat dieser „kollektive Wahnsinn“ des Kremlherren bekanntermaßen gefreut. Auch wenn Stalin am Ende die Bühne dieses Kriegstheaters als Triumphator verließ. Aber wie viele Opfer hätten vermieden werden können? Verloren, weil man ungenügend auf den Krieg vorbereitet war, weil die Truppen schlecht geführt wurden und vor allem in der Anfangsphase mehr verheizt und in Kesselschlachten millionenfach aufgerieben wurden. Nicht zu vergessen, die ungeheuren materiellen und kulturellen Werte, die zerstört wurden. Wenige Wochen nach der deutschen Okkupation waren über 25 Millionen Sowjetbürger unter das Joch der Wehrmacht und der nachrückenden Einsatzgruppen geraten? Wer trug bzw. trägt eigentlich dafür die Verantwortung? Der rote Diktator suchte und fand lieber Sündenböcke. Einen fand er in Armeegeneral Dmitri Grigorjewitsch Pawlow. Nach dessen Niederlage in der Kesselschlacht von Bialystok und Minsk wurde er abberufen, nach Moskau beordert und am 22. Juli 1941 erschossen. Nur schrittweise wurde er in den kommenden Jahrzehnten rehabilitiert (1957,1965) u.a. gab man ihm den Heldenstern zurück. Erst in der Gorbatschow Zeit wurde erklärt, dass Pawlow nicht der Hauptschuldige an der Niederlage gewesen sei und die ihm gegebenen Befehle von niemandem hätten erfüllt werden können (siehe Dmitri Wolkogonow Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Econ-Taschenbuch-Verlag, Düsseldorf/Wien 1993, S. 575–579).

Ein dem Russlandkrieg von 1941 bis 1945 vorgelagertes Kriegsgeschehen war der Winterkrieg gegen Finnland der am 30. November 1939 mit dem sowjetischen Angriff begann. Als Grund mussten sowjetische Gebietsansprüche auf die Karelische Landenge und unabdingbare Sicherheitsinteressen von Leningrad herhalten. Im Land der tausend Seen drohte die überlegene Rote Armee zum Beispiel angesichts von Defiziten in der Führung und einem geringen Ausbildungsstand unterzugehen. Um wenigstens den Mangel an erfahrenen Offizieren zu mindern, wurden rund 4000 Inhaftierte aus dem GULAG entlassen. Nach einigen Anstrengungen und quasi ungeplant hohen Opfern konnte die Sowjetunion am 13.März 1940 dennoch das Schlachtfeld als Gewinner verlassen. Einen Erlebnisbericht über seine Teilnahme am Winterkrieg kann man bei Armeegeneral Anatoli Gribkow in „Im Dienste der Sowjetunion“ (edition q 1992, Seite 33 -73) nachlesen. Der spätere Stabschef des Warschauer Vertrages (1976 -1988) , der als Absolvent der Stalin Panzerschule im finnischen Raum seine Feuertaufe erlebte spart in diesem Kapitel auch nicht mit kritischen Hinweisen und Anmerkungen. Aber auch von außen wurde damals der sowjetische Auftritt gegen das kleine Finnland beobachtet und ausgewertet. Der US – Fünf Sterne General George S. Marshall schätzte demnach in einem Bericht an Präsident Franklin .D. Roosevelt ein, die Sowjetunion werde binnen drei Monaten zusammenbrechen (siehe Carl van Dyke: The Soviet Invasion of Finland 1939–40. Frank Cass Publishers, London, Portland 1997). Aber nicht nur der künftige Vertreter der Antihitlerkoalition sollte hier einer gewaltigen Fehleinschätzung unterliegen. Auch Entscheidungsträger der Wehrmacht wie zum Beispiel der Oberste Befehlshaber Adolf Hitler oder sein Generalstabschef Generaloberst Franz Halder (1938 – 1942) gelangten über den russischen Kriegsgegner zu falschen Prognosen, da sie ihn als weniger stark und als weniger widerstandsfähig einschätzten. Von Halder ist übrigens eine perfide Angewohnheit überliefert: Wenn er die Beine mit den seitlich der Hose angeordneten Generalstreifen übereinander schlug und sie vor eventuellen Schmutzpartikeln zu schützen suchte, legte er ein weißes Taschentuch dazwischen. Perfide, während er doch gleichzeitig Soldaten täglich durch Blut und Dreck in den Tod schickte. Derselbe Mann notierte nach dem Durchblättern der Morgenmeldungen vom 3. Juli 1941: „Es ist also nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass der Feldzug gegen Russland innerhalb von vierzehn Tagen gewonnen wurde“. Aber wie man weiß, der Koloss Russland stürzte nicht, so musste sich der Bayer korrigieren: „Unsere Kräfte sind ausgegeben… In der gesamten Lage hebt sich immer deutlicher ab, dass der Koloss Russland …von uns unterschätzt worden ist…Wir haben bei Kriegsbeginn mit 200 Divisionen gerechnet. Jetzt zählen wir bereits 360“ (siehe SPIEGEL 13/1964).

Mindestens auf ein Ereignis das vor dem finalen Vorkommnis am 22. Juni 1941 – dem deutschen Überfall auf die UdSSR stattfand sollte vorab noch eingegangen werden: Gehen wir auf den Nichtangriffspakt ein, der am 23. August 1939 von den Außenministern Molotow und Ribbentrop in Moskau unterzeichnet wurde. Dieser Pakt war wohl für beide Vertragsparteien ein eher taktisches Manöver auf dem diplomatischen Parkett. In den Krieg gerutscht war man trotzdem. Denn Hitler machte schon früh in seiner Schrift „Mein Kampf“ klar, wohin die Reise für ihn gehen soll: nach Osten. Und Stalin versuchte das Unausweichliche noch zu verzögern, um seine Armee personell, technisch auf einen besseren Stand zu heben, ihre Ausbildung verbessern sowie die begonnene Umstrukturierung der Streitkräfte fort – setzen.zu können. Einen für Gegner des Faschismus (damals wie heute) schwer verdaulichen Bonus hielt der Nichtangriffspakt für die stalinische Sowjetunion bereit. Es wurden Einflusssphären abgesteckt, wobei Stalin Ostpolen zufiel. Die neuen Waffenbrüder aus Moskau nahmen nach dem Weltkriegsbeginn im September 1939 gleich Besitz davon. So marschierten von der einen Seite deutsche Stiefel und von der anderen Seite sowjetische Stiefel auf die polnische Bevölkerung zu. Gefährlich war beider Tritt; siehe Katyn und Babi Jar. Man verstand sein Handwerk.

File:Sowjet Friedhof Baruth Panzer 301.jpg

Nun, irgendwann verriet der Blick auf den Kalender: es ist der 22. Juni 1941. Viel war in letzten Jahren passiert, was unmittelbar oder auch nur mittelbar mit dem zusammenhängen sollte, was jetzt begann: Krieg. Die Zeit der Täuschungen und des gegenseitigen Versteckspiels war vorbei. Die hitlerische Kriegsmaschine stand gut geölt bereit, um schließlich um 3:15/3:30 Uhr den Angriff auf die Sowjetunion zu beginnen. Mit drei Heeresgruppe in einer Stärke von über 3 Millionen Soldaten und ca. 600.000 Soldaten der verbündeten Satelliten (Ungarn, Rumänien, Slowakei, Finnland, Italien) sowie mit Tausenden Panzern,Geschützen und Flugzeugen startete die Wehrmacht befehlsgemäß die Umsetzung der Weisung 21. Das „Unternehmen Barbarossa“ war eröffnet. Zuvor haben deutsche Befehlsstellen einen Erlass zur Kriegsgerichtsbarkeit in Russland, Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland , den „Kommissarbefehl“, Hitlers Sonderauftrag an Himmler zur Ermordung jüdisch-bolschewistischer Bevölkerungsteile hinter der Front durch SS und SD Einsatzgruppen, sowie Anweisungen zur Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener verabschiedet – was auch gleich der Abschied von jeder Regel des Kriegsvölkerrechts war. Sowjetische Kriegsgefangene gab die deutsch-faschistische Soldateska millionenfach bewusst dem Hungertod preis.Was sich dann vom ersten Kriegstag an abspielte war ein besonders grausames,unerbittliches und blutiges Ringen, um jede Höhe, jeden Meter um jedes Haus. Ob die wochenlange Abwehr der Angriffe auf die Festung Brest, die zahlreichen Rückzüge, die verlustreichen Kesselschlachten, die verbrecherische Blockade von Leningrad, deren Bewohner durch die Faschisten ausgehungert werden sollten, das waren einige Stationen des Großen Vaterländischen Krieges. Er sollte 1418 Tage dauern, also kam da noch mehr: Siege, Niederlagen, der Verlust von unfassbar großen Opfern an Menschen und kulturellen wie wirtschaftlichen Werten. In der Schlacht um Moskau konnte die Rote Armee Hitlers Wehrmacht eine erste große Schlappe beibringen und deren Mythos der Unbesiegbarkeit zerstören. Die Schlacht von Stalingrad konnten die Sowjets auch Dank des Könnens von Kommandeuren wie den Generalen Wassili Tschuikow und Andrej Jeremenko für sich entscheiden Die gelungene Einschließung von Paulus´s 6. Armee bekam damals den Beinamen „Cannae des 20. Jahrhunderts“. Im Juli 1943 traf man sich im Kursker Bogen zur weltgrößten Panzerschlacht. Da kam beiderseits eine Menge Metall zum Glühen. Doch am Ende sollten die erfolgreichen Sowjettruppen nie mehr die strategische Initiative aus der Hand geben. Schlussendlich verstummte nach 4 schweren und opferreichen Jahren das Geheul der Waffen. Nachdem sie das eigene Land von den deutschen Okkupanten befreit hatten wie auch zahlreiche Länder in Südost,- Mittel und Osteuropas gleich mit, war die lange vermisste Stille des Friedens eingekehrt.

Dieser Beitrag sollte anhand des historischen Datums, dem 22. Juni 1941 eines deutlich machen: Geschichtliche Daten haben immer einen komplexen Vorlauf und ist nie zusammenhanglos, isoliert voneinander zu betrachten, erst Recht nicht zu erklären. Dafür gibt es stets zu viele Nebenschauplätze und letztlich Hauptschauplätze, wo das Ereignis kulminiert. Wie hier bei der Würdigung einer historischen Kriegshandlung wird man dem nicht gerecht, wenn man sich formelhaft nur auf die Beschreibung einzelner Schlachten und ihrer Handlungsträger zurückzieht und nicht das Ganze in den Blick nimmt. Das geht nicht ohne ein Tauwetter in der lange bestehenden „Eiszeit“ (Kalter Krieg) in der historischen Forschung, den Bruch von Tabus und Denkblockaden. Der Autor hat das versucht.

Urheberecht
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Grafikquellen      :

Oben  —   Soviet Cenotaph in Berlin (Schönholzer Heide)

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Unten     —          Baruth/Mark in Brandenburg. Der Panzer steht am Eingang des Sowjetischen Ehrenfriedhofes an der Zossener Straße in Baruth/Mark.

Author Clemensfranz          /        Source     –   Own work
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Donnerwetter im Gericht

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2021

Sie haben keine völkisch-nationalistische Haltung?“

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Wer möchte noch mal, wer hat noch nicht und spuckt der Freiheit ins Gesicht?

Aus Frankfurt am Main Daniel Schulz und Sebastian Erb

Im Prozess um die mutmaßlich geplanten Terroranschläge redet der Angeklagte Franco A. viel und sagt doch wenig. Dabei hat der rechtsextreme Bundeswehroffizier seine Rechnung nicht mit dem Vorsitzenden Richter gemacht.

Am vierten Verhandlungstag reicht es dem Vorsitzenden Richter. „Wir müssen jetzt was Organisatorisches besprechen“, so beginnt Christoph Koller seine Ansprache an den Angeklagten. Er sagt, Franco A. habe bisher nicht einmal das eingeräumt, was laut Aktenlage eigentlich klar sei. Er habe auch nicht sehr viel dazu beigetragen, die vielen Ungereimtheiten aufzuklären, die sich aus seinen Erzählungen und aus der Beweislage ergeben.

Ganze sieben Minuten lang redet Koller. Nur ein frühes Geständnis wirke strafmildernd, erklärt er. Sein freundliches Donnerwetter endet mit den Sätzen: „Das ist Zeitverschwendung.“ Und: „Soll da jetzt eine umfangreiche Einlassung kommen oder nicht?“ Stille. Zehn Sekunden, zwanzig, so lange, bis Koller fragt, ob denn mal eine Pause angebracht sei.

Der Prozess gegen Franco A. vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main ist ein außergewöhnlicher Prozess. Ein Offizier der Bundeswehr steht wegen Rechtsterrors vor Gericht. Und genau dieser Offizier hat 15 Monate lang ein Doppelleben geführt, und zwar als syrischer Geflüchteter. Franco A. behauptet, er habe so die Schwächen des deutschen Asylsystems offenlegen wollen. Der Generalbundesanwalt wirft ihm vor, er habe diese Tarnidentität für einen Anschlag verwenden wollen, um den Hass gegen Geflüchtete weiterzuschüren.

Bis zum Tag von Kollers Ansprache, Dienstag vor einer Woche, scheinen Franco A.s Verteidiger eine mehr oder weniger klare Strategie zu verfolgen: Sie wollen der Anklage eine eigene Erzählung entgegensetzen. Ausführlich schildern sie, wie Franco A. in die Welt blickt und wie sein Umfeld auf ihn. Er sei ein politisch Neugieriger und Suchender und in jedem Fall: harmlos. Sein äußerliches Auftreten passt dazu. Die Haare trägt er als langen Zopf, die Hemden kariert in Grün und Rot, manchmal kommt er auch im hellen Sommeranzug, Modestil Katholikentag. In den Verhandlungen sitzt er, der in Offenbach wohnt, allein. Soweit erkennbar, ist niemand aus seiner Familie oder dem Freundeskreis da. Er nennt Personen meist nur mit abgekürzten Namen, weil er sie nicht mit reinziehen wolle.

Im Saal stellt er sich als kritisch gegenüber der Politik dar, Angela Merkel etwa habe „quasiautokratisch“ als Kanzlerin „gegen die Interessen der BRD“ gehandelt, als Deutschland nahezu eine Million geflüchtete Menschen vor allem aus Syrien aufnahm. Franco A. sei kein Gewalttäter, das ist die Linie der Verteidigung, dieses Narrativ spinne nur die Bundesanwaltschaft, die von der Bundesregierung gelenkt und, verschwörerisch verbunden mit den Medien, ihn hinter Gitter bringen wolle. Eine Opfererzählung.

Eigentlich, so sagen es Franco A. und seine Verteidiger des Öfteren, könnte man das hier doch schnell abhandeln. Aber wie soll das funktionieren, wenn man zu den für das Verfahren relevanten Punkten so wenig preisgibt?

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Fragt der Esel seinen Reiter: „Wieviel hast du schon auf deinen Gewissen ?

Da wäre zum Beispiel die Pistole der Marke M. A. P. F., die Franco A. im Februar 2017 beim Pinkeln in einem Gebüsch in Wien gefunden haben will. Sicher ist, dass er die Pistole danach auf einer Toilette des Flughafens versteckte. Als er sie später wieder abholen wollte, tappte er in eine Falle der österreichischen Polizei. So flog Franco A. überhaupt erst auf, denn die Überprüfung seiner Fingerabdrücke in Deutschland ergab, dass diese zu einem Mann passen, der angeblich aus Syrien geflohen war.

Den Besitz dieser Pistole, geladen mit sieben Schuss, hat Franco A. eingeräumt, ebenso, dass er als syrischer Flüchtling widerrechtlich Sozialleistungen kassiert hat. Darüber hinaus gab er zu, 1.090 Schuss Munition besessen zu haben sowie 51 Spreng- und Knallkörper. Das war faktisch ohnehin nicht mehr zu leugnen.

Relevanter für das Verfahren aber ist, wie er an diese Pistole kam. Die Geschichte vom Zufallsfund beim Pinkeln hat er der österreichischen Polizei erzählt. Selbst versucht A. diese Darstellung inzwischen zu vermeiden, er liefert aber auch keine neue. „Ich hab da einige Schwierigkeiten damit“, sagte der Vorsitzende Richter Koller am Dienstag der vergangenen Woche, als das siebenminütige Donnerwetter über dem Gerichtssaal niedergeht. Vielleicht sei es ja so gewesen, aber er finde es „nicht so plausibel“. Ebenso leuchte ihm nicht ein, „dass man die Waffe dann vergisst und die weiter in der Jacke hat“.

Gerne und ausführlich redet Franco A. vor Gericht über Dinge, die mit dem Fall höchstens indirekt zu tun haben, etwa darüber, dass CDU und CSU ihre flüchtlingspolitischen Versprechen nicht umgesetzt hätten.

Auch von seinem Doppelleben als Flüchtling hat er ausführlich erzählt. Wie er sich eine Geschichte von einem französischsprachigen Syrer zusammengoogelte, der in seinem Mikrokosmos selten Arabisch sprach. Franco A. spricht fließend Französisch, weil er für seine Offiziersausbildung mehrere Jahre in Frankreich war, und er hat dort auch ein bisschen Arabisch gelernt. Es habe aber nie tiefer gehende Nachfragen gegeben. So klingt es auch in der Tonaufnahme seiner Anhörung beim Bamf, die A. angefertigt hat und die im Gericht abgespielt wird. Und so schlüpfte A. regelmäßig in diese Rolle, nahm seinen Flüchtlingsrucksack mit Dokumenten, Klamotten und Smartphone und fuhr nach Bayern, wo ihm eine Unterkunft zugeteilt worden war. Er habe das deshalb so lange gemacht, sagt A., weil der Schutzstatus erst im Januar 2017 rechtskräftig wurde – kurz bevor seine Pistole im Wiener Flughafen gefunden wird. Nachdem Franco A. dort festgenommen wird, darf er zunächst wieder gehen. Im April 2017 wird er dann unter Terrorverdacht verhaftet und sitzt mehrere Monate in Untersuchungshaft.

Zu seiner Person will Franco A. zunächst nichts sagen. Aber dann macht er es doch, berichtet von seiner Zeit an der Militärakademie Saint-Cyr in Frankreich, von der Ausbildung in den Alpen bis zum Dschungelkampf in Französisch-Guyana, wie sie zu Feierlichkeiten in der Schuluniform nach Paris fuhren und was er bei Studienaufenthalten in England erlebte. „Welche besonderen militärischen Fähigkeiten hat jemand, der diese Ausbildung gemacht hat?“, fragt Richter Koller. „Ich bin militärischer Laie.“

Da antwortet Franco A. gerne, wie ein Sachverständiger. Ein Kommandolehrgang sei Teil der Ausbildung gewesen, er habe Nahkampf gelernt und wie man Kommandoaktionen plane, Hinterhalte und Handstreiche. „Können Sie das mit dem Hinterhalt noch mal erklären?“, fragt der Richter.

Dass Franco A.s Strategie immer weniger verfängt, liegt auch an der geschickten Vorgehensweise des Richters. Christoph Koller drängt nicht und bleibt zuvorkommend. „Wenn wir über die Tatsachen einig sind, hören wir uns gerne auch ihre Motivlage an“, sagt er einmal. „Ist doch schön, dass wir so ins Gespräch kommen.“ Zwischendurch schmeichelt er Franco A. fast schon ein bisschen mit positiven Bemerkungen aus den Akten. Abiturnote: 1,5 und Studienabschluss als Zweitbester, „physisch gut drauf“.

Sobald Franco A. ins Reden kommt, redet er so viel, dass er mitunter die Kontrolle zu verlieren scheint. Etwa als es um seine Masterarbeit geht, die ein Gutachter als einen „radikalnationalistischen, rassistischen Appell“ bezeichnet hat. Er sagt, es sei ihm wichtig gewesen zu betonen, dass es bei Subversion „neben dem kulturellen Aspekt auch einen ethnischen Aspekt gibt“.

Der Richter fragt nüchtern nach: „Sie sagen, Sie sind kein Rechtsextremist, Sie haben keine völkisch-nationalistische Haltung?“

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Nein, sagt Franco A., er habe auch das Individuelle im Blick. „Abstammungstechnisch“ gebe es schon Unterschiede zwischen den Menschen. Ein Rassist sei aber nur jemand, der allein auf dieser Grundlage Menschen und Sachverhalte einordne. „Das liegt mir fern. Aber das zu verleugnen liegt mir ebenso fern.“

Seit jenem Dienstag, als der Richter sein Donnerwetter loslässt, kann Franco A. nicht mehr ungestört referieren. Er lässt sich unter dem Eindruck der Ermahnung tatsächlich länger ein – und gesteht, dass er drei weitere Waffen illegal besessen hat. Darunter ist ein Schnellfeuergewehr G3, das lange das Standardgewehr der Bundeswehr war. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm zwar den Besitz dieser Waffen vor, sie wurden aber nicht gefunden.

Richter Koller hakt nach, er fragt, woher er die Waffen hat, seit wann und wo gelagert. Mit seinen Einwänden wie dem, dass 75 Prozent der Munition „nicht letal“, also nicht tödlich gewesen sei, kann Franco A. sich keinen Raum mehr zur Selbstdarstellung verschaffen, und das irritiert ihn bis zur Bockigkeit. Als der Richter nicht lockerlässt, sagt Franco A., er habe den Besitz doch gestanden; von wem er die Waffen habe, sei doch wohl irrelevant.

Danach liefert sich A. noch ein Wortduell mit der Vertreterin des Generalbundesanwalts, die selten spricht. Franco A. möge doch Tatsachen vortragen, über deren Wichtigkeit entscheide das Gericht. Er, pampig: „Warum wird mir verwehrt, das zu sagen?“ Und: „Dann kann ich auch zu Hause bleiben“ – als sei das hier ein freiwilliger Debattierklub.

Quelle       :        TAZ          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Sicherheit für unsere Freiheit Kräfteverhältnis in Mitteleuropa Warschauer Pakt NATO … Eine starke Verteidigung ist notwendig zum Schutz unserer Freiheit. … Aber Frieden und Freiheit sind bedroht. Die ständige Aufrüstung der Sowjetunion und des Ostblocks, …, verschiebt das Gleichgewicht immer mehr zu Ungunsten des Westens. … Deshalb: Ja zur allgemeinen Wehrpflicht CDU sicher sozial und frei Abbildung: Soldaten der Bundeswehr vor der Kaiserpflaz in Goslar (Foto) Plakatart: Motiv-/Textplakat Auftraggeber: CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abt. Öffentlichkeitsarbeit, Konrad-Adenauer-Haus, Bonn Drucker_Druckart_Druckort: VVA Düsseldorf Objekt-Signatur: 10-025 : 105 Bestand: Wandzeitungen (10-025) GliederungBestand10-18: CDU-Bundesgeschäftsstelle Lizenz: KAS/ACDP 10-025 : 105 CC-BY-SA 3.0 DE

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2.) von Oben        —     Der Bundesminister der Verteidigung, Karl-Theodor zu Guttenberg und der Gastredner, Ewald-Heinrich von Kleist, bekräftigen das Treuebekenntnis per Handschlag. Feierliches Gelöbnis der Rekruten der 4. und 8. Kompanie des Wachbataillons beim Bundesministerium der Verteidigung vor dem Reichstag. ©Bundeswehr/S.Wilke

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Unten     —     Pictures from Berlin from the Corona years 2020 and 2021

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Bundeswehrskandal-Litauen

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2021

Geburtstagsständchen für Hitler

Von Matthias Gebauer

Vorwürfe gegen eine in Litauen stationierte Bundeswehreinheit sorgen im Verteidigungsressort für helle Aufregung. Die Militärführung erwägt, die betroffene Panzergrenadier-Einheit komplett zurückzuholen.

Als Annegret Kramp-Karrenbauer am Dienstagvormittag in Brüssel vor die Mikrofone trat, wollte die Verteidigungsministerin eigentlich gute Nachrichten verkünden. Zum ersten Mal seit längerer Zeit hatte sich AKK in einem sogenannten Quad-Treffen mit ihren Kollegen aus den USA, Frankreich und Großbritannien zusammengesetzt. Gemeinsam beriet man über große Themen wie das Ende der Afghanistan-Mission oder die Bedrohung durch Russland. Die Stimmung am Tisch, gab Kramp-Karrenbauer zu Protokoll, sei ziemlich gut gewesen.

Schon bei der ersten Nachfrage allerdings wurde AKK von den eher ätzenden Problemen mit der eigenen Truppe eingeholt. Was sie denn zu Vorwürfen gegen in Litauen stationierte deutsche Panzergrenadiere meine, wollte eine Reuters-Journalistin wissen. Kramp-Karrenbauer zögerte kurz. Dann aber wurde sie ziemlich deutlich. »Was immer passiert ist, ist in keinster Weise akzeptabel«, kommentierte die Ministerin die Ermittlungen. Nun müssten die Vorfälle »mit aller Härte verfolgt und auch bestraft werden«.

Die straffe Ansage illustriert, wie angefasst und nervös AKK wegen der Ermittlungen gegen ihre Soldaten ist. Ausgerechnet beim Auslandseinsatz in Litauen, wo deutsche Soldaten im Auftrag der Nato durch Übungen mit der lokalen Armee die Abschreckungsfähigkeit der Allianz gegenüber Russland stärken sollen, sorgt nun der zweite Zug des Panzergrenadierlehrbataillons 92 aus Munster für einen handfesten neuen Skandal. »Wenn sich das bestätigt«, stöhnt ein General in Berlin bereits, »steht nicht weniger als unser guter Ruf auf dem Spiel.«

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USA versus China :

Erstellt von Redaktion am 15. Juni 2021

Stolpert die Welt in einen großen Krieg?

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Während die USA und China auf dem Feld der Klimapolitik in eine fruchtbare Phase eines kooperativen Wettstreits um die besten Lösungen eintreten könnten, nimmt auf dem Feld der Geo- und Sicherheitspolitik die rhetorische Auseinandersetzung zunehmend bedrohliche Formen an. Nachdem wir in der April-Ausgabe mit Robert Kagan die Gedanken des vielleicht wichtigsten neokonservativen Vordenkers einer US-amerikanischen Suprematie dokumentiert haben, präsentieren wir nun mit Michael T. Klare einen dezidierten Kritiker einer US-amerikanischen Hegemonialstrategie. Im folgenden Text, den die »Blätter« in deutscher Erstveröffentlichung und in der Übersetzung von Karl D. Bredthauer zum Abdruck bringen, beschäftigt Klare sich mit einer möglichen kriegerischen Eskalation. Der Beitrag erschien am 1. April 2021 unter dem Titel »Stumbling into War?« auf www.tomdispatch.com und wird von dessen Herausgeber Tom Engelhardt eingeleitet: »Stellen wir uns so etwas wie einen zweiten Kalten Krieg vor – oder wie es US-Präsident Joe Biden in seiner ersten Pressekonferenz am 25. März formulierte: ›einen Ausscheidungskampf zwischen Demokratien und Autokratien um die Zweckmäßigkeit‹ der rivalisierenden Systeme im 21. Jahrhundert. Es geht dabei mit anderen Worten um ein Ringen zwischen den Vereinigten Staaten und Wladimir Putins Russland sowie vor allem natürlich Xi Jinpings China, denn das russische Wirtschaftspotential ist aktuell etwa auf die Größe des italienischen geschrumpft. In der Tat erscheint das Wort ›Kampf‹ eine zunehmend angemessene Bezeichnung dessen, was sich derzeit zusammenbraut: Wie bereits im ersten Kalten Krieg in Europa mit der Nato, versucht Washington nun im 21. Jahrhundert, und diesmal in Asien, eine neue Allianz der Demokratien zu bilden. Australien, Indien, Japan und die Vereinigten Staaten hoffen – im klassischen Stil des Kalten Kriegs – China ›eindämmen‹ zu können. Zwar ist das Stichwort ›containment‹ noch nicht gefallen, aber schon spricht man von den vier Mächten als ›the Quad‹. Eines jedenfalls, so Joe Biden in besagter Pressekonferenz, darf China nicht werden: ›das führende Land der Welt, das wohlhabendste Land der Welt und das mächtigste Land der Welt. Das wird nicht passieren, nicht mit mir, denn die Vereinigten Staaten werden weiterhin wachsen und expandieren.‹ Seither hat Biden, ohne eine Miene zu verziehen, Donald Trumps antichinesische Zölle aufrechterhalten. Auch seine tonangebenden außenpolitischen Berater scheinen China gegenüber kaum weniger feindselig eingestellt zu sein als die Mannschaft des vorherigen Präsidenten. Und das US-Militär visiert diesen ›Kampf‹ offensichtlich ebenfalls an: Jüngst erst näherte sich ein amerikanisches Spionageflugzeug der chinesischen Küstenverteidigung bis auf knapp 50 Kilometer, näher als je ein anderes zuvor, ehe es schließlich abdrehte. Inzwischen versucht das US-Militär, den Staub des Anti-Terror-Kriegs abzuschütteln und seine Kräfte in den nächsten Jahren derart umzugruppieren, dass sie Russland und China von der Arktis bis zum Südchinesischen Meer weitaus direkter als bisher gegenüberstehen.«

Die Führungen Chinas und der Vereinigten Staaten sind sicherlich nicht darauf aus, Krieg miteinander zu führen. Als ihre Hauptaufgaben betrachten sowohl die Biden-Administration als auch das Regime des chinesischen Präsidenten Xi Jinping die ökonomische Erneuerung ihrer Länder und wirtschaftliches Wachstum. Beide wissen, dass jeder militärische Konflikt zwischen ihnen, selbst wenn er auf Asien begrenzt bliebe und – was keineswegs gesichert erscheint – mit nichtnuklearen Waffen geführt würde, die Region katastrophal schädigen und möglicherweise die Weltwirtschaft abstürzen lassen würde. Keine Seite beabsichtigt daher, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Allerdings sind beide Lager durchaus entschlossen, ihre Kriegsführungsbereitschaft für den Fall, dass man sie herausfordert, unter Beweis zu stellen. Sie sind also gewillt, in den Gewässern (und dem Luftraum) vor Chinas Küste ein militärisches Hasardspiel zu spielen. Auf diese Weise sorgen beide Seiten dafür, dass ein Kriegsausbruch, so wenig er beabsichtigt sein mag, immer wahrscheinlicher wird.

Kriege beginnen nicht immer nach Plan

Wie die Geschichte lehrt, beginnen Kriege nicht immer nach Plan und zielgerichtet. Sicher, manchmal ist das der Fall, wie etwa bei Hitlers Einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 oder den japanischen Angriffen auf Niederländisch-Ostindien und Pearl Harbor im Dezember desselben Jahres. Doch häufiger zeigt die Geschichte, dass Länder sich in Kriege verstricken, die sie eigentlich vermeiden wollen.

So geschah es bekanntlich im Sommer 1914, als die wichtigsten Mächte Europas – Großbritannien, Frankreich, Deutschland und das Kaiserreich Österreich-Ungarn – allesamt in den Ersten Weltkrieg hineinschlitterten. Im Gefolge eines extremistischen Terroranschlags – der Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Gattin durch serbische Nationalisten in Sarajevo – mobilisierten diese Großmächte ihre Streitkräfte und stellten einander Ultimaten in der Hoffnung, ihre Rivalen würden schon nachgeben. Doch keine von ihnen tat dies. Stattdessen brach ein Krieg aus, der bald den ganzen Kontinent erfasste. Mit, wie wir wissen, katastrophalen Folgen.

Leider müssen wir heute, hundert Jahre danach, die Möglichkeit ins Auge fassen, dass in den kommenden Jahren eine ganz ähnliche Situation entstehen könnte. Eine gespenstische Szenerie zeichnet sich ab: Die drei militärisch bedeutendsten Mächte unserer Zeit – China, die Vereinigten Staaten und Russland – führen sich gegenwärtig allesamt ungefähr so auf wie die damaligen Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg. Alle drei stationieren Streitkräfte an den Grenzen ihrer Gegenspieler. Sie gefallen sich in Machtdemonstrationen und lassen die Muskeln spielen, um ihre Opponenten einzuschüchtern und zugleich Kampfbereitschaft für den Fall zu demonstrieren, dass man ihre Interessen missachtet. Und wie in den Jahren vor 1914 sind aggressive Manöver dieser Art hochgradig riskant, wenn sie zufällig oder versehentlich einen Zusammenstoß verursachen, der in einen ausgewachsenen Krieg, ja, schlimmstenfalls sogar in einen Weltkrieg führen kann.

Entlang der Grenzen zwischen Russland und europäischen Nato-Mitgliedern sowie in den Gewässern vor Chinas Ostküste kommt es derzeit fast täglich zu provokanten Militärmanövern. Welche Eskalationsgefahren von solchen Manövern in Europa ausgehen können, wäre ein ergiebiges Thema. Wir aber wollen uns auf die Situation rund um China konzentrieren, denn dort nimmt die Gefahr eines zufälligen oder unbeabsichtigten Zusammenstoßes schon seit geraumer Zeit stetig zu. Und anders als in Europa, wo die Grenzen zwischen Russland und den Nato-Staaten verhältnismäßig klar markiert und alle Seiten darum bemüht sind, Grenzüberschreitungen zu vermeiden, sind die Grenzen zwischen den chinesischen Territorien und denen der Vereinigten Staaten bzw. ihrer Verbündeten in Asien in vielen Fällen hochumstritten.

China beansprucht Grenzen, die weit draußen im Pazifik verlaufen – weit genug, um den unabhängigen Inselstaat Taiwan (den Peking als abtrünnige Provinz betrachtet) sowie die Spratly- und die Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer einzuschließen (auf die auch Malaysia, Vietnam und die Philippinen Anspruch erheben), aber auch die Diaoyu-Inseln (die sowohl China als auch Japan, das sie als Senkaku-Inseln bezeichnet, für sich beanspruchen). Zugleich haben die Vereinigten Staaten Vertragspflichten gegenüber Japan und den Philippinen. Und gegenüber Taiwan sind sie – infolge des 1979 vom Kongress verabschiedeten Taiwan Relation Acts – gesetzlich verpflichtet, den Inselstaat militärisch zu unterstützen. Seither haben wechselnde US-Administrationen Chinas weitreichende Gebietsansprüche einhellig für unrechtmäßig erklärt. Es gibt also im Bereich des Ost- und des Südchinesischen Meeres eine riesige Zone umstrittener Territorien – Orte, wo amerikanische und chinesische Kriegsschiffe und Flugzeuge immer häufiger in herausfordernder Weise und gefechtsbereit aneinandergeraten.

Grenzen austesten – und sie in Frage stellen

Die Regierungen der Vereinigten Staaten und Chinas pochen gleichermaßen darauf, dass sie ihre jeweiligen strategischen Interessen in den umstrittenen Gebieten entschlossen verteidigen werden. Für Peking geht es dabei um die beanspruchte Souveränität über Taiwan, die Diaoyu-Inseln und die Inseln im Südchinesischen Meer sowie um die Demonstration seiner Fähigkeit, solche Territorien angesichts möglicher japanischer, taiwanischer oder US-amerikanischer Gegenangriffe einzunehmen und zu verteidigen. Washingtons Ziel ist es, die Rechtmäßigkeit der chinesischen Ansprüche zu bestreiten und sicherzustellen, dass Peking diese nicht etwa mit militärischen Mitteln durchsetzen kann. Beide Seiten sind sich im Klaren darüber, dass über derart gegensätzliche Bestrebungen wahrscheinlich nur mit Waffengewalt entschieden werden kann. Doch zunächst scheint jede Seite darauf bedacht, durch diplomatische und militärische Provokationen der Gegenseite – bis hart an die Schwelle offener Kriegshandlungen – herauszufinden, wie weit sie gehen kann, ohne eine Kettenreaktion mit desaströsen Folgen auszulösen.

An der diplomatischen Front liefern sich Vertreter beider Seiten zunehmend scharfe Wortgefechte. Deren Eskalation setzte in den letzten Jahren der Trump-Administration ein, als der Präsident seine vermeintliche Sympathie für Xi Jinping aufgab und begann, große chinesische Telekommunikationsfirmen wie Huawei von US-Technologien abzuschneiden. Schon zuvor hatte er bereits den größten Teil der Güter, die China in die Vereinigten Staaten exportiert, mit Strafzöllen belegt. Trumps letzte Großoffensive gegen die Volksrepublik führte der damalige Außenminister Mike Pompeo an, der Chinas Führung mit beleidigenden Worten attackierte und ihre strategischen Interessen in den umstrittenen Gebieten in Zweifel zog.

So bezeichnete Pompeo beispielsweise im Juli 2020 Chinas Verhalten im Südchinesischen Meer in einer Erklärung als aggressiv und verwies auf wiederholte „Schikanen“ des Landes gegen andere Anrainer, die Ansprüche auf Inseln in diesem Seegebiet erheben. Pompeo beließ es jedoch nicht bei beleidigenden Worten. Er drehte kräftig an der Eskalationsspirale, indem er betonte, Amerika stehe „fest an der Seite unserer südostasiatischen Verbündeten und Partner zum Schutz ihrer souveränen Rechtsansprüche auf Offshore-Ressourcen, im Einklang mit ihren völkerrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen“ – eine Ausdrucksweise, die offensichtlich der Rechtfertigung künftiger Gewaltanwendung durch amerikanische Kriegsschiffe und Flugzeuge zur Unterstützung befreundeter Staaten gegen chinesische „Schikanen“ dienen soll.

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Auch hinsichtlich der Taiwan-Frage versuchte Pompeo Peking zu provozieren. In einer seiner letzten Amtshandlungen am 9. Januar 2021 hob er hochoffiziell Restriktionen auf, die im diplomatischen Verkehr der Vereinigten Staaten mit der Regierung Taiwans über vierzig Jahre lang gegolten hatten. Als 1979 die Carter-Administration die Beziehungen mit Taipeh abbrach und Bande zum Festlandsregime knüpfte, untersagte sie Treffen zwischen US-Regierungsvertretern und ihren taiwanischen Ansprechpartnern. Alle folgenden US-Regierungen hielten seitdem an dieser Praxis fest. Sie galt als Ausdruck der Verpflichtung Washingtons auf eine Ein-China-Politik, derzufolge Taiwan unabtrennbarer Bestandteil Chinas ist – wenngleich der Charakter seines künftigen Regierungssystems auszuhandeln bleibt. Indem er nun, über vierzig Jahre später, hochrangige Kontakte zwischen Washington und Taipeh wieder zuließ, brach Pompeo demonstrativ mit dieser Verpflichtung. Damit signalisierte er Peking die Bereitschaft Washingtons, einen offiziellen Schritt Taiwans in Richtung Unabhängigkeit gutzuheißen – einen Akt also, der zweifellos eine chinesische Invasion provozieren würde. Das aber erhöhte wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass sich Washington und Peking miteinander in einen Krieg verwickeln würden.

Auch an der militärischen Front provozierte die Trump-Administration, insbesondere durch vermehrte Marinebewegungen im Südchinesischen Meer und in den Gewässern rund um Taiwan. Die Chinesen reagierten ihrerseits mit starken Worten und der Ausweitung militärischer Aktivitäten. Eine Taipeh-Visite des amerikanischen Under Secretary of State für Wirtschaftsfragen, Keith Krach – des höchstrangigen Beamten, den das US-Außenministerium in vierzig Jahren dorthin entsandt hatte –, beantwortete China mit tagelangen aggressiven Luft- und Seemanövern in der Taiwanstraße. Ren Guoqiang, Sprecher des chinesischen Verteidigungsministeriums, bezeichnete diese Manöver als „vernünftige, notwendige Aktion zum Schutz der nationalen Souveränität und territorialen Integrität im Hinblick auf die gegenwärtige Lage in der Taiwanstraße“. Mit Blick auf die zunehmenden diplomatischen Kontakte Taiwans mit den Vereinigten Staaten fügte er hinzu: „Die mit dem Feuer spielen, werden sich die Finger verbrennen.“

Heute, nach dem Amtsverlust Trumps und Pompeos, stellt sich die Frage, wie das Biden-Team mit solchen Problemen umzugehen gedenkt. Bislang lautet die Antwort: ganz ähnlich wie die Trump-Administration. Bei der ersten Begegnung hochrangiger Vertreter der Vereinigten Staaten und Chinas nach dem Washingtoner Machtwechsel am 18. und 19. März 2021 in Anchorage (Alaska) nutzte der frischgebackene US-Außenminister Antony Blinken seine Eröffnungsworte dazu, auf die Chinesen einzudreschen. Das Verhalten ihres Landes erfülle ihn mit „tiefer Besorgnis“: die Misshandlung der uigurischen Minderheit in der Provinz Xinjiang, Pekings Umgang mit Hongkong und das immer aggressivere chinesische Auftreten gegenüber Taiwan. Solche Verhaltensweisen, sagte Blinken, „bedrohen die regelbasierte Ordnung, die für globale Stabilität sorgt“. Auch bei anderen Anlässen haben sich Blinken, ebenso wie von Biden berufene hohe Beamte der CIA und des Verteidigungsministeriums, ähnlich geäußert. Bezeichnenderweise gab die Biden-Administration gleich in den ersten Monaten ihrer Amtszeit grünes Licht dafür, die provokativen Militärmanöver in den umstrittenen asiatischen Seegebieten im gleichen Tempo wie in den letzten Monaten der Trump-Administration fortzusetzen.

Die Wiederkehr der »Kanonenboot-Diplomatie«

 Quelle          :         Blätter         >>>>>          weiterlesen
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Grafikquellen        :

Oben        —     190501-N-YO638-259 RAMSTEIN AIR BASE, GERMANY (May 1, 2019) Gen. Jeff L. Harrigian, U.S. Air Forces in Europe – Air Forces Africa commander, receives a standing ovation during a change of command at Ramstein Air Base, Germany, May 1, 2019. Harrigian took command from Gen. Tod D. Wolters, who has been selected to become the new European Command commander and Supreme Allied Commander Europe. (DoD photo by Mass Communication Specialist 2nd Class Cody Hendrix)

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Am kürzeren Hebel

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2021

Bidens Reise nach Europa

Würde ein Deutscher Uniformierter anders reagieren ?

Von Herfried Münkler

Die Europäer sind Juniorpartner im transatlantischen Bündnis. Bidens Amtszeit ist eine Chance für Europa, die strategische Autonomie zu stärken.

Kein Zweifel: der Machtwechsel von Donald Trump zu Joseph Biden hat das Verhältnis zwischen den USA und den EU-Staaten deutlich entspannt. Die wiederholt gestellte Frage, ob die Nato eine zweite Präsidentschaft Trumps wohl überstanden hätte, muss darum offen bleiben – auch, weil in den USA der Konflikt zwischen denen, die der Parole „America first“ anhängen, und jenen, die ihre Verbündeten als einen unverzichtbaren Verstärker der amerikanischen Macht ansehen und deshalb einen freundlichen Umgangston mit ihnen pflegen, nicht endgültig entschieden ist.

Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass ein Republikaner Trump’scher Prägung die nächste US-Präsidentschaftswahl gewinnt. An der Grundkonstellation im amerikanisch-europäischen Verhältnis hat sich durch die Wahl Bidens ohnehin nichts geändert: Über die Qualität der Beziehungen wird wesentlich in Washington und nicht in Brüssel, Paris oder Berlin entschieden. Dabei spielt die „Chemie“ zwischen den Politikern auf beiden Seiten sicherlich eine gewisse Rolle.

Angesichts der zentralen Relevanz geopolitischer Festlegungen sollte man sie aber auch nicht überschätzen. Gegenseitiges Vertrauen kann viel erleichtern; interessenbasierte Ausgangsvoraussetzungen verändern kann es nicht. Aus US-Sicht betrachtet lief die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs auf ein Scheitern des Isolationismus als Direktive der amerikanischen Politik hinaus.

Die sicherheitspolitische Doktrin der USA nach 1945 sah in der Konsequenz die Kontrolle der jeweiligen Gegenküsten vor: die Europas vom nördlichen Norwegen bis Gibraltar und unter Einschluss des Mittelmeers sowie die Ostasiens nach dem Sieg Maos wesentlich über die vorgelagerten Inseln von Japan über Taiwan und die Philippinen bis nach Indonesien und Australien mit einigen Festlandsankern, wie Korea und (bis in die der 1970er Jahre) Vietnam – notfalls auch unter Einsatz von Mitteln, die mit einem demokratischen Selbstverständnis nicht zu vereinbaren waren.

Das amerikanische Interesse an Westeuropa war eine verlässliche Garantie der US-Sicherheitszusagen, die nuklearen Schutzschirme eingeschlossen. Das wurde noch flankiert durch die Abhängigkeit einer US-dominierten Weltwirtschaft von Erdöllieferungen aus dem Nahen Osten, dessen politisch-militärische Kontrolle ohne die westeuropäische „Rückendeckung“ nicht möglich war.

Der Blick der USA richtet sich nach Westen

Das hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend verändert: erstens, weil die USA nicht mehr Russland, sondern China als den größten Herausforderer ihrer globalen Position ansehen, was sich unter anderem in ihrer überaus zurückhaltenden Reaktion auf die russische Annexion der Krim und den hybriden Krieg zeigt, den Putin in der Ostukraine am Schwelen hält.

Die regierenden Verbrecher auf beiden Seiten hielten sich wohl in der Waage ?

Zweitens, weil die USA durch das Fracking-Verfahren zu einem Exporteur von Erdöl und Erdgas geworden sind, womit der Nahe Osten für sie deutlich an Bedeutung verloren hat. Das hat sich in ihrer Reaktion auf den syrischen Bürgerkrieg gezeigt: Es ging ihnen wesentlich um die Zerschlagung des IS; dass sie damit Baschar al-Assad und Wladimir Putin zum Sieg verhalfen, haben sie dabei in Kauf genommen.

Und schließlich hat, drittens, mit Obamas geostrategischer Hinwendung zum „Asian pivot“ der Nordatlantik als Verbindungsraum zwischen den USA und Europa erheblich an Bedeutung verloren. Der US-Blick ist nicht mehr nach Osten, sondern nach Westen gerichtet.

Dagegen steht die unter der Biden-Administration wieder in den Vordergrund gerückte Vorstellung, dass die globale Machtstellung der USA und ihre Position in der Weltwirtschaft von zuverlässigen Verbündeten abhängt, und das ist ein Argument, das für die Europäer spricht. Aber es ist auch klar, dass mit den veränderten geopolitischen Konstellationen das Adjektiv „zuverlässig“ erheblich an Gewicht gewonnen hat:

Quelle          :        TAZ       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     US soldiers Iraq

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Unten      —     I lied

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Der Hass im Netz

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2021

In sozialen Medien wandelt sich das Klima – in Richtung Frauenfeindlichkeit

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Eine Kolumne von Sascha Lobo

Im Internet ist eine neue digitale Dimension des Frauenhasses entstanden. Ein misogyner Mob erschwert es Frauen, sich frei und offen zu äußern. Dagegen hilft vor allem eines.

Es gibt diesen besonderen Sound in sozialen Medien: vorsichtig tastend, manchmal beinahe fragend. Anflüge von Selbstironie mit einem Hauch Selbstzweifel. Fakten zitierend, keinesfalls behauptend. Ein paar »vielleicht«, »oder?« und »glaube ich« einstreuend. Etwas Charme, ein wenig Emotionalität, aber von beidem nicht zu viel. Schließend mit einer Art Demutsgeste gegenüber dem Publikum, etwa »oder wie seht ihr das?«, manchmal gar mit der Bitte um Hinweise auf eventuelle Fehler oder Vorabentschuldigungen. Das mag sich interessant anhören, aber dieser Sound – oder präziser: der Grund für seine Existenz – ist eine Katastrophe. Und zwar eine menschengemachte, eine Männer-gemachte.

In den letzten Jahren ist im Netz zusätzlich eine neue digitale Dimension des Frauenhasses entstanden, begünstigt durch die Strukturen sozialer Medien einerseits und den Wandel der Gesellschaft andererseits. Rechtsextremismus und Islamismus, beide in den letzten Jahren auf dem Vormarsch, in der Welt wie im Netz, sind sich überaus einig in ihrer Frauenverachtung.
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Es kommen neue netzoriginäre Frauenverachtungen junger, westlich geprägter Männer hinzu. Etwa von Gruppierungen wie den Incels, eine englische Abkürzung für »unfreiwillig zölibatär«, die getrieben sind von misogynem Hass und Verschwörungstheorien, über die Veronika Kracher ein so verstörendes wie lesenswertes Buch geschrieben hat. Aus diesen Zirkeln heraus sind bereits mehrere Attentate vornehmlich auf Frauen verübt worden, mit Dutzenden Toten: ja, es gibt inzwischen netzgeborenen Frauenhass-Terrorismus.

Tief sitzende Frauenfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft

Ergänzt aber wird der Frauenhass dieser extremistischen Gruppen durch eine tief sitzende Frauenfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft. Diese wiederum erscheint am sichtbarsten in sozialen Medien, und zwar bei fast jedem irgendwie frauenbezogenen Anlass. Es ist dieser Alltagsfrauenhass, der sich tarnt mit einer Mischung aus grobem Humor, prinzipieller Abwertung und sexistischen Attacken. Der Social-Media-Klimawandel in Richtung Frauenfeindlichkeit wird nicht nur von Extremisten aktiv betrieben, sondern auch von der Passivität und der unterschwelligen Akzeptanz von Frauenhass aus der gesellschaftlichen Mitte. Wo Abwertungen achselzuckend oder schmunzelnd hingenommen werden, von Leuten, die sonst von ihrer eigenen Moral oder gar ihrem proklamierten Feminismus enorm überzeugt sind.

Quelle       :         Der  Spiegel           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Unter dem Motto „#Unteilbar – Solidarität statt Ausgrenzung“ zog am 13. Oktober 2018 eine Demonstration mit 240.000 Menschen durch Berlin.

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Ryanair-Entführung-Belarus

Erstellt von Redaktion am 30. Mai 2021

Es geht nicht nur um Menschenrechte

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Eine Kolumne von Bettina Gaus

Alexander Lukaschenkos terroristische Flugzeugentführung darf nicht ungestraft bleiben – sonst droht das Ende des Luftverkehrs, wie wir ihn kennen. Gegen den belarussischen Diktator sollte ein internationaler Haftbefehl erlassen werden.

Es ist erfreulich, dass die EU sich ungewöhnlich schnell auf Sanktionen gegen das Regime des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko verständigt hat. Noch erfreulicher wäre es, wenn die Beschlüsse nun von allen Staaten auch zeitnah umgesetzt würden. Ja, es stimmt, dass die ohnehin leidende Bevölkerung von manchen Maßnahmen hart getroffen wird, vermutlich sogar härter als die herrschende Elite. Das ist jedoch bei Strafaktionen gegen einzelne Länder fast immer der Fall.

Eine Regierung – auch eine verhasste Regierung – lässt sich nicht fein säuberlich von der Bevölkerung trennen. Wirksame Sanktionen können zu erhöhter Arbeitslosigkeit führen, zu geringerem allgemeinen Lebensstandard oder, wie jetzt, sogar dazu, dass die demokratische Opposition in besonderer Weise unter Reisebeschränkungen zu leiden hat. Wer anderes behauptet, lügt sich in die Tasche. Die Folgen des Ölembargos gegen den damaligen Apartheidstaat Südafrika trafen den schwarzen Teil der Bevölkerung seinerzeit härter als den weißen, und dennoch wurde es von führenden Gegnerinnen und Gegnern der Rassentrennung begrüßt. So, wie sich auch jetzt belarussische Oppositionelle dafür ausgesprochen haben, dass die EU den Druck auf Lukaschenko noch verstärkt.

Das ist eindrucksvoll tapfer. Die Europäische Union, die mit den Sanktionen ohnehin nicht viel riskiert, sollte sich jetzt nicht kleinmütig zeigen. Die erzwungene Umleitung einer Ryanair-Maschine über dem Luftraum von Belarus und deren Zwischenlandung auf dem Flughafen von Minsk war eine terroristische Handlung, was denn sonst. Da kann man nicht nach einigen aufgeregten Pressekonferenzen und vollmundigen Ankündigungen zur Tagesordnung übergehen.

Sollen Crews sich bei Anweisungen der Flugsicherung am Boden künftig fragen, ob sie diesen trauen dürfen und welche politischen Verhältnisse in dem Land herrschen, das sie gerade überfliegen?

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Waffen für alle Affen

Erstellt von Redaktion am 29. Mai 2021

Geht die Eidgenossenschaft erneut mit Rheinmetall ins Bett?

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So bewegen sich unsere Politiker-Innen schon heute – wenn sie um Vertrauen in der Gesellschaft buhlen ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Christian Müller /   

Im Juli kommt der Teil-Verkauf der RUAG erneut ins Parlament. Einer der Interessenten ist der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall.

1998 wurden die Produktions- und Unterhaltsbetriebe der Schweizer Armee in die RUAG (Rüstungs-Unternehmen AG) zusammengelegt und dem Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS unterstellt. Zwischenzeitlich hat sich die RUAG zu einem internationalen Technologie-Konzern entwickelt. Aber jetzt soll der internationale Teil der RUAG, darunter auch die Munitionsproduktion, verkauft werden, so der Beschluss des Bundesrates. Verkaufen aber an wen?

Zur Diskussion als Käufer steht nicht zuletzt der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall, der an sechs Orten in der Schweiz bereits aktiv ist – in Zürich, Ittigen-Bern, Lohn-Ammannsegg, Wimmis, Altdorf und Studen – und in verschiedenen Betrieben schon jetzt mit der RUAG kooperiert, so etwa speziell in der Produktion von Treibladungsmitteln in Wimmis.

Doch was weiss man in der Öffentlichkeit über diesen Rüstungskonzern? Kann es sich die Schweiz als neutrales Land politisch und moralisch leisten, den Konzern Rheinmetall, der mit der Vernichtung von Menschenleben viel Geld verdient, noch weiter zu stärken?

2018 konnte man auf dem deutschen Sender ARD einen Film über Rheinmetall ansehen, sehr informativ und interessant, er dauert 43 Minuten, zum Anschauen hier anklicken. Ob man ob dieser Welt anschliessend noch schlafen kann?

Der Zufall will es, dass die deutsche Online-Zeitung «NachDenkSeiten» gerade in den letzten Tagen einen sehr ausführlichen Bericht über den Rüstungskonzern Rheinmetall publiziert hat. Ein paar Stellen daraus seien hier wörtlich zitiert:

«Rheinmetall Landsysteme und Rheinmetall Waffe Munition sind am Standort Unterlüß untergebracht. Rheinmetall Landsysteme stellt Panzer her, Rheinmetall Waffe Munition fabriziert Kanonen, Bomben und Munition. In Unterlüß betreibt Rheinmetall auf 50 km² zudem den größten privaten Schießübungsplatz in ganz Europa. Das Gelände wurde bereits 1899 gepachtet. Rheinmetall und der Standort Unterlüß haben eine lange Tradition in der Herstellung von Kriegswaffen aller Art. Und auch ihre Beziehungen zur jeweiligen deutschen Regierung waren stets besonders eng. Im Ersten Weltkrieg produzierte Rheinmetall Waffen für den Kaiser, im Zweiten Weltkrieg dann für den Führer. Der wiederum gab sich persönlich die Ehre und stattete Unterlüß einen Besuch ab. Zu dieser Zeit wurden die Bomben für die Wehrmacht gerade von Kriegsgefangenen und Häftlingen aus den Konzentrationslagern hergestellt. Zum Abwurf auf ihre Heimat.

Zwischen 1945 und 1955 gab es eine Zwangspause für Rheinmetall. Nach der Gründung der Bundesrepublik, der Aufnahme in die Nato 1955 und dem Aufbau der neuen Bundeswehr kam Rheinmetall erneut ins Geschäft. In den 1960er Jahren belieferte die Firma die Bundeswehr bereits wieder mit Kanonen, Panzern und Munition.

Und auch die alten Beziehungen wurden wieder reaktiviert. Man kannte sich ja noch aus alten Zeiten, als der Führer noch lebte. Viele Altnazis waren inzwischen wieder zu Amt und Ehren in der Verwaltung der jungen Bundesrepublik gekommen. Deutschland durfte jetzt wieder eine Armee haben und Waffen bestellen und man bestellte vorzugsweise bei den alten Freunden. Die Kungelei zwischen Rheinmetall, der Bundeswehr und der Bundesregierung hält bis heute an.»

Eine andere Stelle wörtlich:

«Rheinmetall ist der größte Waffen- und Munitionshersteller in der BRD, der Branchenprimus, und verkauft seine Produkte weltweit, auch in Krisengebiete und an kriegsführende Länder. Aber das ist doch verboten, oder etwa nicht?

Für Exportgenehmigungen ist der Bundessicherheitsrat zuständig. Der entscheidet in geheimer Sitzung nach dem Kriegswaffengesetz. Wenn exportierte Rüstungsgüter zu friedensstörenden Aktionen oder zu Angriffskriegen verwendet werden könnten, ist ihre Ausfuhr verboten. Lieferungen von Kriegswaffen in Länder, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo eine solche droht, dürfen nicht genehmigt werden. Ob die Einschränkungen zutreffen, liegt im Ermessen des Bundessicherheitsrates.

Um die tödlichen Produkte im Zweifelsfall trotzdem weltweit zu verkaufen, muss Rheinmetall die Bestimmungen gegebenenfalls umgehen. Und das gelingt vortrefflich: Rheinmetall verlagert einfach die Produktion in Länder mit weniger strengen Regeln und wickelt seine Geschäfte über das Ausland ab. Rüstungsgüter, die in anderen Ländern produziert werden, unterliegen nicht der deutschen Rüstungsexport-Kontrolle.»

Und noch eine Stelle:

«Die Kungelei mit der Rüstungsindustrie ist offensichtlich: von der Politik in die Wirtschaft. Dirk Niebel, ehemaliger Entwicklungsminister, ist jetzt Leiter für Internationale Strategieentwicklung und Regierungsbeziehungen und Cheflobbyist bei Rheinmetall. Franz-Josef Jung, ehemaliger Verteidigungsminister, ist dort Aufsichtsratsmitglied.»

Der Artikel über den Rüstungskonzern Rheinmetall ist geschrieben von Marco Wenzel. Zum Original auf den NachDenkSeiten hier anklicken.

Am 9. Juni ist im Ständerat eine Motion von Werner Salzmann (SVP) traktandiert, der die Munitionssparte von RUAG International, die RUAG Ammotec, von einem Verkauf an einen ausländischen Konzern ausnehmen möchte. Seine Begründung: Die Schweiz braucht für den Kriegsfall eine eigene Munitionsproduktion. Da die RUAG und Rheinmetall bereits ein Joint Venture für die Nitrochemie in Wimmis (ehemalige Pulverfabrik Wimmis) eingegangen sind, geht man davon aus, dass Rheinmetall nun auch am Kauf der Ammotec interessiert ist.

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Damit sie der Nachbar nicht sieht: – Waffen für die Aktentaschen

Es wäre kein Luxus, der eine oder andere Parlamentarier, die eine oder andere Parlamentarierin würden sich über die Firma Rheinmetall vorher noch ein bisschen genauer ins Bild setzen. Der neue Trend in der Rüstungsindustrie ist bekanntlich eine weitere «Entmenschlichung» des Krieges: Auf der Seite des «Feindes» ist wie bisher das Ziel die Vernichtung von Menschen, auf der eigenen Seite ist neu das Ziel, möglichst viel schiessen zu können mit Maschinen ohne menschliche Besatzung, mit «Unmanned Ground Vehicle» UGVs und mit «Unmanned Air Vehicle» UAVs, also mit Drohnen. Im Bereich der UGV ist speziell auch Rheinmetall ganz vorne mit drin, auch wenn ihre eigenen Werbe-Videos diese UGVs nur als Transport- oder Aufklärungsfahrzeuge zeigen. Die Schiessmodelle zu zeigen, wäre psychologisch vielleicht zu schockierend. Oder vielleicht doch nicht? Wer sucht, der findet: In Südafrika zeigte Rheinmetall 2019 den «Mission Master» scharf im Schuss, Dauer des Videos 1 Minute 42 Sekunden: hier anklicken.

Die Frage sei wiederholt: Kann es sich die neutrale Schweiz politisch und moralisch leisten, einen Teil des noch staatseigenen Technologie-Konzerns RUAG an den deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall zu verkaufen und diesen damit noch zusätzlich zu stärken?

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Oben        —     With the new Artillery Truck Interface (ATI) the 10×10 HX3 could be utilised in future as the standard basis for various artillery solutions or similar systems.

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Eine tödliche Farce

Erstellt von Redaktion am 25. Mai 2021

Das Bild des kleinen sympathischen Staates Israel,
der von Feinden umgeben ist, verblasst.

Von Selim Nassib

Der Gazakrieg wirkte wie eine sinnlose Wiederholung des gleichen Musters. Doch zu erkennen ist: Die Machtverhältnisse in Nahost verschieben sich.

Sieg!, ruft die Hamas. Zum ersten Mal scheint sie Führerin aller Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen zu sein und nicht nur der Be­woh­ne­r*in­nen von Gaza. Sieg!, ruft auch Israel. Führende Köpfe der Islamisten wurden getötet, Tunnel sowie ein Teil der militärischen Infrastruktur der Hamas zerstört. Und auch Benjamin Netanjahu ruft Sieg! Er hat sein Image als starker Mann wiederhergestellt, der fest in der Rechten verankert ist. Das könnte es Netanjahu vielleicht ermöglichen, eine Regierung zu bilden und dem Gerichtsurteil zu entgehen, das ihm droht.

Das alles ist eine tragische und tödliche Farce, ein Nullsummenspiel, dessen Preis jene zahlen, die umsonst gestorben sind. Und die unglückseligen zwei Millionen Palästinenser*innen, die in Gaza eingesperrt sind, ohne die geringste Hoffnung auf Veränderungen. Und dennoch: Auch wenn dieser Krieg eine Wiederholung der vorherigen ist – vier Kriege in zwölf Jahren –, sind doch langsame Verschiebungen in den Tiefen dieser endlosen Geschichte zu spüren.

Erstens: Netanjahu hatte sein Volk, einen Teil der arabischen Staaten und die USA überzeugt, dass die Palästinenserfrage eines schönen Todes gestorben sei – aus Altersgründen. Die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem erregte nicht wirklich Aufsehen. Die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen vier arabischen Staaten und dem ehemaligen „zionistischen Feind“ sollte eine neue Ära einleiten, in der Israel und einige sunnitische Staaten unter Ausblendung der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen sowie gleicher Widrigkeiten bezüglich des Iran nebst seiner schiitischen Verbündeten in der Region vereint sein würden. Der Gazakrieg hat, wie eine Rückkehr des Unterdrückten, diese schöne Illusion zumindest für eine gewisse Zeit zerplatzen lassen.

Zweitens: Die Palästinenserfrage hat sich der Welt in Erinnerung gebracht. Sie ist aus dem Grab gestiegen, in dem man glaubte sie beerdigt zu haben. Seit mehr als 50 Jahren hat Israel alles versucht, um dieses Volk (Palästinenser*innen aus Israel, Jerusalem, dem Westjordanland, Gaza sowie dem Exil) zu brechen. Die Hoffnung dabei war, dass die unterschiedlichen Lebensbedingungen sie langsam, aber sicher einander entfremden würden. Innerhalb weniger Tage wurde diese Annahme jedoch zunichtegemacht. Die Ausweisung aus dem Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem zugunsten von Siedlern, der Versuch, Gläubige von der Esplanade der Moscheen zu verbannen, die Antwort mittels einer wahren Feuersbrunst auf die militärischen Provokationen der Hamas, die Unterdrückung von Protestkundgebungen im Westjordanland sowie die demonstrative Solidarität derer, die man als israelische Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen bezeichnet und bürgerkriegsähnliche Zustände, die dem folgten – diese fünf Ereignisse haben alle Teile des palästinensischen Volkes erfasst. Sie haben sie daran erinnert, wer sie sind – nämlich Unerwünschte, in unterschiedlichen Graden. Das hat sie als Volk geeint. Zumindest für eine gewisse Zeit.

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Drittens: Indem die Hamas ihre Raketen aus Gaza abfeuerte, hat sie die palästinensische Abbas-Regierung diskreditiert, die gerade die sehnsüchtig erwartete palästinensische Wahl abgesagt hatte. Die Hamas hat keinen einzigen geschützten Ort geschaffen, wo die Bevölkerung ihrer Enklave Zuflucht suchen könnte. Doch das zählt jetzt nicht. Dass die selbst gebauten Raketen auf Tel Aviv und Jerusalem niedergingen, ein Dutzend Menschen töteten, die Bevölkerung in Schutzbunker trieb und zur zeitweiligen Schließung des Flughafens Ben Gurion führten, fegt die ohnmächtige Wut und die Erniedrigung hinweg, die die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen seit so langer Zeit erleiden. Obwohl sie Gaza im Würgegriff hält, zieht die Hamas symbolisch Profit aus ihren Waffen. Damit stärkt sie Netanjahu, ihren feindlichen Komplizen. Eine Friedensperspektive eröffnete das Feuerwerk der Hamas genauso wenig wie der gemäßigte Kurs der palästinensischen Autonomiebehörde.

Quelle        :       TAZ         >>>>>         weiterlesen

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Oben         —         Second in the Holocaust cartoon contest

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Kriegstreiber am Werk

Erstellt von Redaktion am 24. Mai 2021

Politiker und Medien orientieren auf Krieg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Journalismus unter aller Kanone / Die Tagesschau ist nicht so schlimm wie BILD und Süddeutsche, aber schlimm genug

„‘Gorbi, Gorbi!‘ Hunderttausende feierten im Juni 1989 in Bonn Staatsgast Michail Gorbatschow, auch die Politiker waren hin und weg.“ (1)

Zwölf Jahre später, im September 2001, sprach Gorbatschows Nach-Nachfolger Vladimir Putin im Reichstag in Berlin über deutsch-russische Freundschaft, auf Deutsch. Und wieder war das Publikum begeistert und berührt. „Unvergessene Szenen“, betitelte der Sender Phoenix die Videoaufzeichnung des Auftritts. (2) Es war einmal … Die Zeiten ändern sich. Dass Staatspräsident Putin und sein Land heute von unseren Massenmedien mit so viel Feindseligkeit bedacht werden, hat allerdings sehr viel mehr mit wertewestlicher NATO-Aggressivität und dem Versagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu tun als mit Putins aktueller Politik.

Presse und Rundfunk sollten nicht nur willige Verkünder politischer Vorgänge sein, sondern deren kritische Kontrolleure. Unabhängige Wächter des Friedens und der Rechtsstaatlichkeit zu sein ist ihr Auftrag. Sie kommen ihm nicht nach. Jüngster Beweis unter den unzähligen Belegen für qualitätsjournalistischen Opportunismus: reduzierte bis gänzlich fehlende Berichterstattung der Tagesschau über die aktuellen NATO-Manöver an der Grenze zu Russland. Von informativer Aufklärung über Motive und den politischen Horizont dieses bedrohlichen Truppenaufmarschs kann keine Rede sein.

Wer den Frieden wünscht, bereite den Krieg vor“. (3) Der 1600 Jahre alte Rat des Flavius Vegetius ist fraglos bedenkenswert, doch „Spring Storm“ („Frühlingssturm“) in Estland und „Defender-Europe 2021“ nahe der Ukraine (4) haben mit friedensbeseeltem Selbstschutz Westeuropas nichts zu tun. Ohne transatlantische Propagandabrille betrachtet sind sie als größte NATO-Angriffsübung seit Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren (5) zu erkennen.

Die USA und ihre Verbündeten, Bundeswehr inklusive, trainieren die Offensive gegen Russland. Aktueller Manövergegenstand ist, große Truppenverbände aus Westeuropa möglichst schnell an die russische Grenze heranzuführen. Die zugrundeliegende Strategie wird gerne auch „Vorwärtsverteidigung“ genannt.

[Der Westen] hat uns viele Male belogen, Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, uns vor vollendete Tatsachen gestellt. Dies geschah mit der NATO-Erweiterung nach Osten, sowie dem Aufbau von militärischer Infrastruktur an unseren Grenzen“ (6),

klagte Putin schon im März 2014 vor der Duma in Moskau. Zu Recht: Die USA haben ihr 1990 im Zuge des Anschlusses der DDR an die BRD (unpräzise: „Wiedervereinigung“) gegebenes Versprechen zwölfmal gebrochen, keine NATO-Erweiterung nach Osten über die Grenzen Gesamtdeutschlands hinaus vorzunehmen. Bezeugt wird das sowohl vom vormaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow als auch vom seinerzeitigen US-amerikanischen Außenminister James Baker (7, 8). Typisch, dass ausgerechnet deutsche Regierungsstellen es gleich dreifach bestreiten. (9) Sie wissen eh alles besser. Der Verfasser des Dokuments der Bundesakademie für Sicherheit, auf das hier Bezug genommen wird, ist übrigens Hans Adomeit, seinerzeit Mitarbeiter der „Integrity Initiative“ des britischen Geheimdienstes. Sie betrieb einen Desinformationskrieg gegen Russland, flog 2019 auf und verschwand aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. (9*)

Pöser Putin

Putin, im Jahr 2000 zum Nachfolger Boris Jelzins gewählt, schloss dessen Resterampe für den Ausverkauf russischen Staatseigentums (Bodenschätze, Ölressourcen, Großkonzerne) an den Westen. Er enteignete einige der korruptesten und raffgierigsten Oligarchen, darunter den Erdölmagnaten Michail Chodorkowski. (10) Damit frustrierte er jedoch die US-amerikanischen und westeuropäischen „Partner“.

The Psychos (38846706675).jpg

Mit der scheinheiligen Freundlichkeit des Westens war es allerdings schon Jahre zuvor aus und vorbei gewesen. Die NATO hatte ihre zu „Gorbis“ Zeiten geübte Zurückhaltung längst aufgeben; sie hatte mit Boris Jelzins besoffener Zustimmung Polen, Tschechien und Ungarn 1999 aufgenommen (11), außerdem das Völkerrecht gebrochen und Serbien sowie Kosovo niedergebombt. (12)

Seit Putins Amtsantritt aber widmen sich unsere Medien mit Hingabe der vorgeblichen Gefährlichkeit Russlands. Das Muster „haltet den Dieb!“ ist unverkennbar. Je absurder die Story, desto lieber wird sie immer wieder aufgetischt und mit Nowitschok nachgewürzt.

Gift an der Türklinke und in der Unterhose

Beim vorgeblichen Anschlag mit dem „tödlichsten Nervengift aller Zeiten“ auf Vater und Tochter Skripal anno 2018 im britischen Salisbury bezichtigte die Westliche Wertegemeinschaft umgehend Russland als Attentäter, gestützt auf britische Geheimdienstangaben. London blieb bis heute jeglichen Beweis für Nowitschok und für Russlands Verantwortlichkeit schuldig. (13) ARD-aktuell spekulierte nur:

Denkbar ist, dass London nicht sein ganzes Wissen preisgeben will.“ (14)

Statt auf seriöse Eigen-Recherche setzt ARD-aktuell u.a. auf das britische „Recherche-Netzwerks“ Bellingcat. (15) Diese trübe Quelle ist vor allem dafür bekannt, sich aus finanziellen und informellen Zuflüssen einiger US-Think-Tanks und Geheimdienste zu speisen. Die Tagesschau leitet gerne davon auf ihre Mühlen um. (16)

Der Medienrummel um den „bedeutendsten russischen Oppositionspolitiker“ Alexei Nawalny leidet ebenfalls unter Beweisnot und Mangel an Aufrichtigkeit. Die Bundesregierung weigert sich entgegen allen internationalen Verpflichtungen und Rechtsnormen, ihr Material – hauptsächlich Gewebeproben, die dem „Giftanschlagsopfer“ Nawalny in der Berliner Charité entnommen wurden – für ein öffentliches Experten-Monitoring freizugeben. Politik und Medien ließen den protofaschistischen und betrügerischen Krawallbruder sogar mit dem Sketch „Meine Unterhose war vergiftet“ auftreten.

Die Russland-Reportagen der Tagesschau unterschreiten häufig jedes Maß an gebotener Zurückhaltung. Die „anerkannten journalistischen Grundsätze“ sind über Bord gekippt: Wahrheitspflicht, Sachlichkeitspflicht, Güterabwägungspflicht (17) und das Gebot zur Förderung der Völkerverständigung (18). Sie haben Gesetzesrang, sie stehen im Rundfunkstaatsvertrag, aber das gewährleistet nicht ihre Befolgung.

Steter Tropfen höhlt den Stein

Rechtsgrundsätze und journalistisches Ethos gelten der Tagesschau-Redaktion nicht mehr viel. Wer einen Nutzen von den faulen Agentur-Geschichten hat („cui bono?“), fragt sie sich nicht. Das Gebot, nicht nur den Kläger zu Wort kommen zu lassen, sondern ebenso den Beklagten („audiatur et altera pars“) und ihm jeglichen Zweifel zugute zu halten („in dubio pro reo“) befolgt sie nicht. Sie verbreitet (häufig unredliche) Politiker-Statements und verleiht ihnen damit Bedeutsamkeit, als seien sie unumstößlich wahr oder der Weisheit letzter Schluss; sie prüft Richtigkeit und Stichhaltigkeit des Gesagten nicht. Dabei läge erst in dieser Prozedur der Informationswert einer Nachricht.

Nachrichten sind vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft zu prüfen“

heißt es in § 8 Abs. (2) des NDR-Staatsvertrags. (19) Da macht sich der hehre Satz natürlich gut. Doch garantiert er, beispielsweise, seriöse Russland-Berichterstattung?

Andersrum wird ein Schuh draus. Gemeinschaftliches Ziel von Politik und Massenmedien: Das Bild vom „gefährlichen“ Russen in breiten Teilen der Bevölkerung zu verfestigen.

Feindbilder senken die Schwelle zum Krieg

Von Staatsvertragsregeln lässt sich die Tagesschau-Redaktion dabei nicht stören. Über die Absichtlichkeit der ständigen Wiederholung von Falschdarstellungen gibt es keine Illusion. „Faktenfinder“-Chef Patrick Gensing:

Es ist ein Kennzeichen dieser Kommunikationsstrategien, dass man durch Wiederholungen von falschen Behauptungen die Glaubwürdigkeit der Behauptungen erhöht, weil Menschen denken: Das habe ich doch schon mal gehört und jetzt höre ich es wieder, dann muss es ja eigentlich stimmen.“ (20)

Tagesschau-Redakteure wissen, was sie tun. Vor den mentalen Folgeschäden ihrer Manipulation sind nicht einmal erfahrene und vermeintlich kritische Politiker geschützt, wie das Beispiel der Linke-Parteivorsitzenden Janine Wissler zeigt. In einem Spiegel-Interview heißt es:

Die Linkspolitikerin kritisiert zwar den Mord im Berliner Tiergarten, die Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny und Russlands Annexion der Krim als völkerrechtswidrig …“ (21)

Politik und Medien versuchen einer gutgläubigen Öffentlichkeit weiszumachen, es gehe um „Werte“ (ideelle, moralische, natürlich). Beabsichtigt ist aber nur miese Meinungsmache, die demagogische Ukraine-Berichterstattung belegt es. (22, 23) Dass die NATO ihre Aktivitäten an den russischen Grenzen im letzten Jahr massiv verstärkt und dort beispielsweise mehr als 4000 (!) Bomber- und Aufklärungsflüge veranstaltet hat (24), wird unterschlagen; gezieltes Weglassen wichtiger Nachrichtenteile ist ein klassisches Mittel der Manipulation.

Kriegstreiber am Werk

Schon im vorigen Jahr sollten 37000 NATO-Soldaten (zeitweise) und abertausend Tonnen US-Kriegsgüter (teils zum dauerhaften Verbleib) über See und später durch Europa nach Osten an die Grenze zu Russland verlegt werden. Wegen der Corona-Pandemie findet das Manöver erst jetzt statt, heißt nun „Defender 2021“. „Defender“ soll im jährlichen Wechsel einmal im europäischen Nordosten (Ostsee, Baltikum) und im Südosten stattfinden (Westbalkan, Schwarzes Meer). (25) Übrigens sind jetzt auch ukrainische Soldaten beteiligt, obwohl die Ukraine (noch) kein NATO-Mitglied ist. Der US-geführte Westen nutzt eben jede Möglichkeit, Russland zu provozieren.

Nachvollziehbar, dass Moskau auf die Gefährdung reagiert und Gegen-Manöver veranstaltet. Für dieses Zugeständnis reichen die analytischen Kapazitäten der Kalten Krieger der ARD-aktuell allerdings nicht. Es fehlt die Grundvoraussetzung für seriösen Journalismus: Sich auch in die Denkwelt „der anderen Seite“ hineinversetzen wollen und können. Der Qualitätsjournalist knallt folglich bedenkenlos eine weitere Bezichtigung raus:

Militärische Auseinandersetzungen sind für Russland seit Jahren ein bewährtes Mittel, sich Geltung und Mitsprache zu verschaffen. Beobachter gehen davon aus, dass es sich auch beim momentanen Aufrüsten an der Grenze um ein Druckmittel handelt – eine Drohgebärde.“ (26)

Die NATO-Staaten haben im vorigen Jahr rund 1,1 Billionen (!) Dollar und damit 17-mal mehr als Russland (61 Milliarden Dollar) für Rüstung ausgegeben (27). Nicht Russland bedroht die USA und Westeuropa, sondern die NATO hat Russland umzingelt. ARD-aktuell jedoch übt sich in Realitätsverweigerung.

Förderung der Völkerverständigung? Nichts da, nicht bei ARD-aktuell.

Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen“ (28)

steht in Art. 6 des Grundgesetzes. Papier ist geduldig, wissen die Spitzenvertreter unserer Parteien-Oligarchie. Unsere Qualitätsjournalisten wissen‘s auch.

Formal betrachtet ist die Redaktion staatsfern. Sie kann für sich zudem umfassende journalistische Freiheit nach Art. 5 des Grundgesetzes beanspruchen. (29) Trotzdem wirkt die Tagesschau objektiv an der psychologischen Vorbereitung auf einen Krieg gegen Russland mit. Sie beteiligt sich daran, die Hemmschwelle vor Anwendung militärischer Gewalt in der deutschen Bevölkerung zu senken.

Dass das nicht bloß versehentlich und ungewollt geschieht, erweist sich beispielsweise im Schweigen der Redaktion über Regierungspläne zur Militarisierung der Zivilgesellschaft. Die sind im Internet auffindbar, also auch der Redaktion tagesschau.de bekannt. ARD-aktuell aber enthält sie einer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit vor.

Möchtegern-Weltherrscher

Das Washingtoner Center for European Policy Analysis (CEPA) hat in der Studie „Military Mobility Project“ analysiert, mit welchen Mitteln und unter welchen Voraussetzungen der Transport von Truppen und Kriegsmaterial an die russische Grenze mit höchster Geschwindigkeit erreicht werden kann. (30) Beteiligt an den Beratungen sind pensionierte NATO-Generäle, Interessenvertreter wie der ehemalige Merkel-Vertraute Eckart von Klaeden, heute Vorstandsmitglied der Daimler AG (31) und diverse weitere Rüstungsunternehmen, darunter Raytheon und Rheinmetall, sowie die Deutsche Bahn AG.

File:SCAF took one sniff of freedom of speech and HATED it.gif

Außerdem wirken in diesem militärisch-industriell-politisch-medialen Komplex etliche US-dienliche „Denkfabriken“ und Redaktionen mit. Beispielsweise der Atlantic Council, die RAND Corporation, die Süddeutsche Zeitung, das Nachrichtenportal Euractiv und die größte pfälzische Tageszeitung, die Rheinlandpfalz (in ihrem Einzugsgebiet: die US-Garnison Ramstein und das Atombombenarsenal Büchel).

Leitidee dieses Verbundes von Omnipotenz-Träumern:

Eine Folge des raschen Aufstiegs Chinas zum globalen Machtstatus ist die Verlagerung des strategischen Schwerpunkts der USA in Richtung Indopazifik. Die europäischen Verbündeten und Partner der Vereinigten Staaten müssen daher sowohl für Abschreckung und Verteidigung in Europa als auch für ein wirksames Krisenmanagement in Nordafrika und im Nahen Osten erheblich mehr beitragen.“ (32)

Klartext: Deutschland soll massiv aufrüsten, Schienenwege und Straßen für den Transport von schwerem militärischen Gerät Richtung Osten ausbauen. Unser Land soll „strategische Drehscheibe“ (ebd.) sein und sich selbst zum Kriegsschauplatz machen.

Die Kriegstreiber haben es aber nicht leicht. Mittlerweile entwickelt sich eine erfreuliche Gegenöffentlichkeit. Der Bundesbürger erweist sich als beeindruckend resistent gegen die andauernde russlandfeindliche Hetze. Nur 32 Prozent sehen heute in Russland eine Gefahr für den Weltfrieden. Im vorigen Jahr hatten noch 36 Prozent „den Russen“ als bedrohlich empfunden. (33, 34) Interessant die Gefühlslage in Russland. Dort ängstigten sich vor vier Jahren 40 Prozent vor einem Weltkrieg. In diesem Jahr sind es bereits 62 Prozent. (35)

Die Grundlagen für eine dem Frieden verpflichtete und gedeihliche Freundschaft zwischen beiden Völkern wären vorhanden.

Warum trägt die Tagesschau nicht dazu bei, Brücken dafür zu bauen?

Verkappte Meinungsterroristen

Was, denn, die Deutschen wollen keinen Krieg, genauso wenig wie die Russen? Das geht gar nicht. Da besteht staatlicher Handlungsbedarf:

„… die Förderung der Widerstandsfähigkeit des Staates und der Gesellschaft gegen alle Formen hybrider Kriegsführung, einschließlich böswilliger Cyberaktivitäten und Desinformation ist die erste Abschreckungs- und Verteidigungslinie der NATO und eine Voraussetzung für die Fähigkeit der EU, erfolgreich zu handeln. Die zivilen und militärischen Behörden … sollten … einen gemeinsamen Ansatz zur Bekämpfung von Desinformation … entwickeln …“ (s. Anm. 32)

Mit anderen Worten: Was Wahrheit und was Desinformation ist, bestimmt die Kommandantur. Das Internet soll nicht mehr frei nutzbar sein, sondern unter staatlicher Kontrolle, im Dienste militärischer Interessen stehen. Die staatlichen Hoheitsrechte werden um die Deutungshoheit über das politische und militärische Geschehen erweitert. Der Fachbegriff dafür: Zensur.

Ein Tagesschau-Interview. Erbärmlich liebedienerische Steilvorlage für den NATO-Fetischisten und Transatlantiker Wolfgang Ischinger:

Tagesschau: „… zunehmend ist ja zu beobachten, dass – durch Falschinformationen aufgewiegelt – Gruppen aus dem Inneren einzelner Staaten Unruhe stiften und auch gewalt- und konfliktbereit sind.“

Ischinger: „Wir müssen davon ausgehen, dass in der Tat Gefahren für unsere Sicherheit nicht mehr nur aus dem Lauf von Kanonen kommen, sondern aus Datenströmen. Die Bedrohung liegt dann in der Störung oder Manipulation von Datenflüssen, im Kappen von Informationswegen oder Streuen von Falschinformationen.“ (36)

Ach so. Für Manipulation und das Streuen von Falschinformationen ist ausschließlich die Regierung zuständig. Informationsfreiheit? Meinungsfreiheit? Freiheit der Rede und der Kunst? Der Hahn gehört zugedreht.

Die „junge Welt“, KenFM, RT deutsch oder der Schauspieler Jan Liefers, allesamt im Visier der Geheimpolizei (aka „Verfassungsschutz“), können schon ein Liedchen davon singen, was uns allen blüht. Der begnadete Kabarettist Uwe Steimle hat‘s erfasst:

Sie können selbstverständlich alles in diesem Land sagen, was Sie denken – Sie müssen nur das Richtige denken.“ (37)

Quellen und Anmerkungen:

9*. https://www.heise.de/tp/features/Integrity-Initiative-Britische-Beeinflussungskampagne-gegen-Russland-4232365.html

  1. https://www.spiegel.de/geschichte/gorbatschow-besuch-vor-20-jahren-a-949841.html
  2. https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-unvergessene-szenen/rede-von-wladimir-putin-im-bundestag/phoenix/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTY5ZmU5YWE1LTIxMjctNGMzZC05OGEyLTgzMGNiM2Y0NzIxYw/
  3. https://www.berühmte-zitate.de/wer-den-frieden-wünscht-bereite-den-krieg-vor-vegetius
  4. https://news.feed-reader.net/23254-nato-manoever.html und Defender-Europe 2021
  5. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1151908.defender-europe-nato-grossmanoever-in-osteuropa.html
  6. en.kremlin.ru/events/president/news/20603
  7. https://www.offiziere.ch/?p=34550
  8. https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/hat-der-westen-gegenueber-moskau-sein-wort-gebrochen-li.84614
  9. https://www.baks.bund.de/de/arbeitspapiere/2018/nato-osterweiterung-gab-es-westliche-garantien
  10. https://www.vermoegenmagazin.de/michail-chodorkowski-vermoegen/
  11. https://www.geschichte-abitur.de/zeitgeschichte/das-jahr-1999/nato-osterweiterung
  12. https://www.zusammenfassung.info/zusammenfassung-des-jugoslawienkrieges
  13. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/fall-skripal-was-ist-mit-den-britischen-beweisen-15518568.html
  14. https://www.tagesschau.de/ausland/skripal-russland-121.html
  15. https://www.anti-spiegel.ru/2021/spiegel-partner-bellingcat-wie-westliche-regierungen-und-geheimdienste-die-faeden-ziehen/
  16. https://www.tagesschau.de/ausland/nawalny-russland-107.html
  17. https://www.uni-saarland.de/fileadmin/user_upload/Professoren/fr11_ProfGroepl/Vergangene_Semester/lehre08-09/PRR17.pdf
  18. https://www.die-medienanstalten.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/Medienstaatsvertrag_MStV.pdf
  19. https://www.ndr.de/der_ndr/zahlen_und_daten/handbuchpersonal162.pdf
  20. https://www.tagesschau.de/faktenfinder/podcast/was-sind-fake-news-101.html (Minute 5)
  21. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/janine-wissler-linken-vorsitzende-im-interview-hausbesetzungen-sind-legitim-a-a75cde35-7c5d-4754-bb05-ccd0b537144e#ref=rss
  22. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-ukraine-schiffe-101.html
  23. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-merkel-biden-101.html
  24. https://www.anti-spiegel.ru/2021/2020-wurde-3-000-nato-flugzeuge-und-drohnen-an-den-russischen-grenzen-geortet/
  25. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1151908.defender-europe-nato-grossmanoever-in-osteuropa.html
  26. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ostukraine-frieden-verhandlungen-101.html
  27. https://www.mitwelt.org/militaerausgaben-ruestungsausgaben-deutschland-nato-russland-vergleich
  28. https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_26.html
  29. https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html
  30. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8598/
  31. https://lobbypedia.de/wiki/Eckart_von_klaeden
  32. https://cepa.org/the-cepa-military-mobility-project-moving-mountains-for-europes-defense/
  33. https://www.sicherheitsreport.net/wp-content/uploads/PM_Sicherheitsreport_2021_Schaubilder.pdf (S. 15)
  34. https://www.sicherheitsreport.net/wp-content/uploads/PM_Sicherheitsreport_2020_Schaubilder.pdf (S. 15)
  35. https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/402/die-politische-stimmung-in-russland-2021/ (Grafiken 1 und2)
  36. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ischinger-ruestungskontrolle-new-start-101.html
  37. https://www.bing.com/videos/search?q=steimles+aktuelle+kamera+24&qpvt=steimles+aktuelle+kamera+24&FORM=VDRE

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

Urheberrecht
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Der Tod aus der Luft

Erstellt von Redaktion am 24. Mai 2021

„Türkische Drohnen sind zu Game-Changer auf die (PKK) im Nordirak geworden.“

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Von Bartholomäus Laffert

Seit Jahren führt die Türkei einen Drohnenkrieg gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak. Immer häufiger werden Zi­vi­lis­t:in­nen Opfer dieses Kriegs. Ende April hat Ankara eine neue Offensive gestartet.

Der Donner hallt wider von den Felswänden der Kandil-Berge, als Mina Abdullah die Beweisstücke aus dem Kofferraum seines Geländewagens holt. Zwei Stück rostiges Metall. „Das sind die Reste der Rakete, die die Türkei abgeschossen hat“, sagt der 57-Jährige. „Es ist ein Wunder, dass niemand getötet wurde.“

Es ist Anfang April, als Mina Abdullah von dem Angriff erzählt, der das Dorf für immer verändert hat. Am 15. Februar 2021 feuerte eine türkische Kampfdrohne sieben Raketen auf Abdullahs Heimatdorf Shenie am Fuße der Kandil-Berge, wenige Kilometer entfernt von der iranischen Grenze, und verletzte dabei eine zivile Person schwer. Zwei Drittel der Be­woh­ne­r:in­nen hätten seitdem das Dorf verlassen, er selbst habe seine zwölf Kühe verkauft, weil es inzwischen zu gefährlich sei, die Tiere hinauf in die Berge zu treiben, sagt Abdullah. „Fast jeden Tag fliegen die Drohnen über dem Dorf, und immer, wenn es donnert, zucken die Kinder zusammen und rufen: Bombardieren sie uns wieder?“

Wir stehen auf einer Anhöhe wenige Kilometer entfernt von Shenie, mit dem Finger wischt Mina Abdullah auf seinem Smartphone über die Fotos von eingestürzten Hauswänden. Eigentlich hatte er uns in sein Dorf eingeladen, doch die Soldaten am irakischen Checkpoint haben uns aufgrund von Sicherheitsbedenken die Durchreise verweigert. „Sie wollen nicht, dass jemand darüber spricht, was hier passiert“, glaubt Abdullah.

Was derzeit in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak passiert, ist eine weitere Etappe eines Kriegs, der seit mehr als zwei Jahrzehnten weitgehend fernab der Aufmerksamkeit internationaler Medien ausgetragen wird. Eines Kriegs, den die Türkei gegen die Milizen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) führt, die von der Türkei und ihren Nato-Partnern Deutschland, EU und USA als Terrororganisation eingestuft wird – und dem immer mehr Zi­vi­lis­t:in­nen zum Opfer fallen. Es ist ein Krieg, der seit Ende April erneut eskaliert.

Am 23. April hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine neue Offensive unter dem Namen „Operation Klauenblitz“ gegen die PKK im Nordirak gestartet und die Regionen Metîna, Avaşîn und Zap aus der Luft angreifen lassen. „Mehrere Terroristen wurden neutralisiert“, erklärte Erdoğan kurz darauf in einer Videobotschaft. Ziel der Offensive sei es, die „Terrorbedrohung“ entlang der türkischen Südgrenze „vollständig zu beenden“. Die PKK erklärte kurz darauf, der Widerstand gegen die Invasion der türkischen Armee sei ein Kampf von „historischer Bedeutung“, der verhindern solle, dass die Türkei an der Grenze eine Pufferzone einrichte und mit der Besatzung die Kontrolle über die kurdischen Gebiete im Irak erlange.

1978 hatte der kurdische Politiker Abdullah Öcalan gemeinsam mit anderen Aktivisten die marxistische kurdische Partei PKK gegründet. Infolge der verstärkten Repression gegen Kur­d:in­nen nach dem Putsch im Jahr 1980 begann die PKK 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat, in dem bis heute etwa 40.000 Menschen gestorben sein sollen. Schon Anfang der 90er hatte die PKK ihr Hauptquartier in die Kandil-Berge verlegt. Im Jahr 1992 hatte der irakische Diktator Saddam Hussein der Türkei erlaubt, die PKK auf irakischem Territorium zu bekämpfen. Sechs Jahre später verpflichteten sich die beiden größten kurdischen Parteien im Nordirak im von den USA mediierten Washington-Agreement, der Türkei im Kampf gegen die PKK zu helfen. Das türkische Militär bekam die Erlaubnis, Operationen bis 40 Kilometer ins Landesinnere durchzuführen. „Der Kampf gegen die PKK sichert die Raison d’Être der Autonomieregion Kurdistan“, sagt die Politikwissenschaftlerin Dastan ­Jasim, die am GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg forscht.

Im Zuge der Friedensgespräche zwischen der Türkei und der PKK hatte sich die Guerilla 2013 bereit erklärt, sich komplett aus der Türkei in die Kandil-Berge zurückzuziehen. Doch der Abbruch der Gespräche hat den Kampf 2015 neu entfacht. Es ist ein Krieg, den die Türkei ohne Bodentruppen und vorwiegend mit Drohnen führt.

„Eigentlich sollten Drohnen dazu führen, zivile Schäden zu begrenzen“, sagt Chris Woods von der britischen Nichtregierungsorganisation Airwars, die Daten zu Luftkriegen auswertet. „Trotzdem sehen wir im vergangen Jahr einen Anstieg um 31 Prozent von Vorfällen, bei denen Zi­vi­lis­t:in­nen betroffen sind.“ Zwischen 27 und 33 Menschen seien dabei getötet worden. Die Menschenrechtsorganisation Christian Peacemaker Team (CPT) zählt seit 2015, dem Ende der Waffenruhe, 99 zivile Todesopfer und 109 Verletzte in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak.

Es ist ein Freitag Ende März. Bakr Baiz Ali, ein kleiner Mann in Anzug und Adiletten, steht unter der Eiche auf seiner Veranda in der Kleinstadt Qalat Dizah, als er uns begrüßt. „Diese Angriffe sind das Resultat eines innenpolitischen Konflikts in der Türkei, und doch sind wir es, die den Preis dafür zahlen müssen“, sagt der 56-Jährige. Er ist Bürgermeister der Region Peshdar im Nordosten des Irak, wo knapp 150.000 Menschen leben. Auch das Dorf Shenie gehört zu seinem Regierungsbezirk.

Elf Mal sei die Region im vergangenen Jahr angegriffen worden, 3.399 Menschen seien vertrieben worden, 48 Dörfer hätten evakuiert werden müssen. Auch die Stadt Qalat Dizah mit ihren 80.000 Be­woh­ne­r:in­nen ist 2019 Ziel eines Angriffs geworden, als die Türkei auf dem Universitätsgelände einen PKK-Kämpfer bombardiert hat.

Für Bakr Baiz Ali ist die Schuldfrage schnell beantwortet: „Wir sind Opfer einer türkischen Staatsmentalität, die nach Expansion strebt, weil sie davon ausgeht, dass wir noch immer in Zeiten des Osmanischen Reichs leben. Die PKK wird als Vorwand genommen, um die Expansion weiterzuführen.“ Dabei sei die PKK lediglich die Reaktion auf eine autoritäre Staatsführung innerhalb der Türkei. „Jeder, der sich auflehnt, wird als Terrorist diffamiert.“

Das Schlimmste sei die Instabilität, die nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat im Jahr 2017 in der Region durch die türkischen Drohnen geschaffen werde. „Wir wissen nicht, ob wir unsere Kinder heute zur Schule schicken oder ob wir morgen unsere Felder bestellen können. All das hängt von der Stimmung der türkischen Remote-Piloten ab“, sagt Bakr Baiz. Er fühle sich hilflos, weil er – obgleich Bürgermeister – die Betroffenen nicht einmal entschädigen könne. Zwar schicke er nach jedem Drohnenangriff einen Bericht in die Hauptstadt der Autonomieregion, nach Erbil, doch die Regierung ignoriere seine Bitten um Hilfsgelder meist.

Dies hat auch damit zu tun, dass die regierende Partei in Erbil, die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) der Barzani-Familie, eng mit der Türkei zusammenarbeitet. „Es gibt lange geheimdienstliche, militärische und auch wirtschaftliche Verstrickungen zwischen der Türkei und den kurdischen Parteien im Nordirak“, sagt die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim.

Inzwischen hat die Türkei im Einverständnis mit der Regierung der kurdischen Autonomieregion in Erbil insgesamt 37 Militärbasen auf irakischem Territorium errichtet. Laut Recherchen der Menschenrechtsorganisation CPT auch jene, von denen aus die ­Bayraktar-TB2-Drohnen gesteuert werden, die einen Großteil der Angriffe im Nordirak fliegen. Wahrscheinlich auch jenen Angriff, der sich am 27. Juni 2019 in Bakr Baiz’ Regierungsbezirk ereignete. Auf der Zickzackstraße, die in die Kandil-Berge führt.

Die Zitadelle von Erbil, seit 2014 UNESCO-Weltkulturerbe

Eine Gänsefamilie watschelt über den islamischen Friedhof in Chwarqurna, am Himmel hängen schwere, dunkle Wolken. Mamost Mohammed Abdallah Ally trägt eine Sonnenbrille und stützt sich mit dem linken Arm auf seinen Krückstock, mit dem rechten auf den Grabstein. Nebeneinander sind hier sein Vater, sein Bruder Haryed und seine Schwester Kurdistan begraben, gestorben mit 43, mit 18 und mit 29 Jahren. In den Beton, in den die Gräber eingelassen sind, hat jemand geritzt: „Hier ruhen die Märtyrer der Zickzackstraße“.

„Das Tragischste an der ganzen Sache ist“, sagt der 33-Jährige, als er später die Bilder von der Unglücksstelle zeigt, „dass ich mit diesem Lastwagen Kekse für eine türkische Firma ausgeliefert habe und uns dann ausgerechnet eine türkische Rakete zerbombt hat.“ Bei dem Angriff am 27. Juni 2019 wurden laut Angaben der PKK drei Guerillas getötet – und drei von Allys Familienangehörigen. Sein Bein wird zerfetzt, er verliert einen Teil seines Gehörs.

An jenem Tag hätten sie das Dorf ­seines Vaters in den Bergen besucht. Ally, die Eltern, seine Frau, die zwei ­Kinder und zwei seiner Geschwister. Als sie sich am Nachmittag auf den Heimweg ins Tal machten, sei ein Wagen dicht hinter ihnen gefahren. „Wir waren uns sicher, dass das ein PKK-Pick-up war, und wollten ihn an uns vorbeiwinken“, sagt Ally. Doch das Auto habe sie weiterhin verfolgt, bis es plötzlich in einer Kurve versucht habe, sie zu überholen. In diesem Moment habe es den ersten Einschlag gegeben, dann den zweiten, er sei aus dem Auto geschleudert worden. Erst habe er die Mutter aus dem Auto gehievt, dann seine Frau und die Kinder. Für die anderen habe er nichts mehr tun können. Seine Schwester sei von der Rakete in den Bauch getroffen worden. „Es sah aus, als hätte sie jemand am Sitz festgenagelt.“ Ihre Körper verbrannten. Die Überreste liegen jetzt auf dem Friedhof in Chwarqurna.

Quelle       :          TAZ        >>>>>          weiterlesen

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Weniger wissen aus Gaza

Erstellt von Redaktion am 18. Mai 2021

Raketenangriff auf Medienhaus

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Aus Kairo von Karim EL-Gawhary

Israelische Raketen haben das von Medien genutzte Jalaa-Hochhaus zerstört. Dort sei ein Geheimdienstbüro der Hamas untergebracht gewesen.

Es war so etwas wie eine der Schaltzentralen, von der aus Nachrichten und Bilder aus dem Gazastreifen in die Welt geschickten wurden – das Jalaa-­Hochhaus im Zentrum Gazas. Am Wochenende konnte die Welt auf zahlreichen Handyvideos zusehen, wie das Gebäude nach einem israelischen Raketenangriff wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzte.

Wer als Fernsehjournalist in den letzten Jahren einen Einsatz im Gazastreifen hatte, der landete früher oder später in dem 13-stöckigen Gebäude. Es beherbergte nicht nur die Büros des arabischen Fernsehsenders Al Jazeera, sondern auch die der Associated Press. Die AP ist allseits bekannt als weltweit größte Nachrichtenagentur.

Weniger bekannt ist, dass AP auch als ein sogenannter Provider für Fernsehjournalisten fungiert. Kaum ein internationalen Sender unterhält permanente Büros im Gazastreifen. Wenn sie ihre Korrespondenten oder Reporter schicken, dann arbeiteten viele von ihnen aus den Räumlichkeiten der AP. Eine große Zahl der Fernseh-Live-Schaltungen aus Gaza fand auch auf dem Dach des Jalaa-Gebäudes statt. Und wenn, wie in den letzten Tagen, kein Journalist von außen in den Gazastreifen hineinkommt, dann waren es die lokalen palästinensischen Reporter, die internationale Fernsehstationen von dort mit Nachrichten und Bildern versorgten.

All das war der israelischen Armee wohlbekannt, als sie am Wochenende telefonisch warnte, dass die Journalisten innerhalb einer Stunde das Gebäude verlassen sollten, bevor es bombardiert werde. Genug Zeit, um sich selbst in Sicherheit zu bringen, aber zu wenig, um das gesamte Equipment aus dem Haus zu schaffen.

Kritik von „Reporter ohne Grenzen“

Die Führungsetage von AP in New York nahm später kein Blatt vor den Mund. Die Welt werde nun „weniger davon wissen, was in Gaza passiert“, erklärte AP-Chef Gary Pruitt. Auch die Rechtfertigung der israelischen Armee, dass es in dem Gebäude eine nicht näher definierte Hamas-Geheimdienst-Präsenz gegeben habe, ließ er nicht unwidersprochen.

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„Wir haben die israelische Seite aufgerufen, dafür Beweise vorzulegen. AP nutzt das Gebäude seit 15 Jahren. Wir haben keinen Hinweis darauf, dass die Hamas im Gebäude war oder dort aktiv war. Das ist etwas, das wir immer aktiv nach all unseren Möglichkeiten überprüfen. Wir würden unsere Journalisten niemals wissentlich diesem Risiko aussetzten“, heißt es in der AP-Erklärung. Al Jazeera teilte indes mit, man halte den Angriff für eine „Aktion, mit der die Wahrheit zum Verstummen gebracht werden soll, indem man ihren Überbringer tötet“.

Quelle         :          TAZ        >>>>>         weiterlesen

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Israel – welche Utopie?

Erstellt von Redaktion am 17. Mai 2021

»Blätter«-Gespräch mit Omri Boehm, Shimon Stein und Moshe Zimmermann,
moderiert von »Blätter«-Mitherausgeber Micha Brumlik

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von Omri BoehmShimon SteinMoshe ZimmermannMicha Brumlik

Micha Brumlik: Es ist Bewegung gekommen in die Lage im Nahen Osten: Israel hat sich einstigen Gegenspielern in der Region angenähert, allen voran Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Noch vor wenigen Jahren wäre dies schier undenkbar gewesen, und infolgedessen verschieben sich auch die Kräfteverhältnisse in der Region. Zudem hat der neue US-Präsident Joe Biden gleich nach Amtsantritt betont, dass er anders als sein Vorgänger Donald Trump an der Zweistaatenlösung festhalten will. Das gibt uns Anlass, über die aufsehenerregenden friedenspolitischen Überlegungen für Israel und Palästina von Omri Boehm zu sprechen. Doch zunächst wollen wir uns mit der aktuellen politischen Lage in Israel auseinandersetzen, wo ja am 23. März eine Parlamentswahl stattfindet – zum schon vierten Mal binnen zwei Jahren. Was ist Eure Vermutung, wie diese Wahl ausgehen wird, nicht zuletzt angesichts des Amtsantritts von Joe Biden?

Moshe Zimmermann: Die Wahl ist allem Anschein nach bereits entschieden. Die Nationalisten werden haushoch gewinnen, mit vermutlich mehr als 60 Prozent der Stimmen. Die einzige offene Frage lautet, ob Netanjahu weitermachen kann wie bisher. Oder ob ihn jemand aus dem rechten Flügel ersetzen wird. Darum geht es bei dieser Wahl.

Omri Boehm: Meine Vermutung ist ganz ähnlich. Es geht darum, ob Netanjahu wiedergewählt oder durch jemanden ersetzt wird, der noch rechts von ihm steht. Aber für liberal-zionistische Parteien stellt sich eine Frage, da nicht einmal die links-zionistische Meretz klar gesagt hat, dass sie nicht in eine Koalition mit Gideon Sa‘ar, Naftali Bennett oder Avigdor Lieberman eintritt:[1] Würden sie diese rechtsextremen Politiker unterstützen, um eine Netanjahu-Regierung zu verhindern? Würden sie einer solchen Politik der Besatzung und Annexion sowie rassistischen Gesetzen Legitimität verleihen? Ich fürchte, sie bleiben deshalb so vage, weil sie den Beitritt zu einer solchen Koalition erwägen. Die meisten ihrer Wähler würden das tolerieren, wenn sie es nicht gar wollen, weil ihre Agenda nur darin besteht, Netanjahu loszuwerden.

Shimon Stein: Angesichts der systemischen Krise, die alle Facetten des Lebens umfasst – als eine politische, soziale und ökonomische Krise – und die nun durch Corona zum Vorschein kommt, ist es umso bedauerlicher, dass Israel seit geraumer Zeit keine linke Option mehr hat, sondern die Gesellschaft im Großen und Ganzen in die rechte Richtung tendiert.

Die einzige Hoffnung ist, dass die historisch einst so bedeutende Meretz-Partei – und das ist schier unglaublich – laut Umfragen fünf Mandate, von 120, bekommen könnte. Aber kann Meretz damit tatsächlich als relevante politische Kraft agieren – etwa in der von Omri beschriebenen Koalition? Ich persönlich bin der Auffassung, dass sie es nicht tun soll. Stattdessen sollte sie ihre Kernidentität noch stärker hervorheben. Insofern sollten wir uns, auch wenn es traurig ist, keine großen Hoffnungen auf einen neuen Morgen am 24. März machen.

Zimmermann: Aus meiner Sicht spielt es keine Rolle, wie die Linke sich zur neuen Koalition, zur neuen Regierung verhält. Die Linke ist so klein geworden, sie ist praktisch nicht mehr existent. Wie Shimon gesagt hat, ist das, was man bei uns noch links nennen darf, eben nur noch die Meretz-Partei. Die Arbeitspartei etwa ist nur bedingt eine linke Partei. Doch selbst wenn wir alles zusammen bündeln und davon sprechen, dass es sich um eine israelische Linke handelt, ist klar: Sie ist viel zu klein, viel zu unwichtig.

Die Linke hat in der Tat nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder votiert sie für die anderen Rechtsparteien, weil man gegen Netanjahu ist – das heißt für eine Koalition mit diesen Parteien. Oder sie entscheidet sich, weiter mit Netanjahu zu arbeiten, weil sie ihn nur für einen weichen Rechtsnationalisten hält. Aber das sind alles Fragen, die sich heute ganz am Rande des politischen Geschehens bewegen und die für die großen Entscheidungen unwesentlich sind.

Boehm: Was die Irrelevanz der israelischen Linken anbelangt, stimme ich mit dieser Einschätzung nicht völlig überein. Nicht weil ich sie für sehr lebendig oder stark hielte, sondern weil ich an der Hoffnung festhalten muss, dass wir eine linksliberale Position in Israel retten können. Ich bin aber überzeugt, dass dies nicht gelingen kann, wenn man an der alten zionistischen Zweistaatenpolitik festhält, sondern nur, wenn man diese Politik grundsätzlich überprüft und erneuert. Allerdings gibt es in Israel immer noch eine relativ große Gruppe, die für nicht-nationalistische Parteien stimmen würde, nämlich die arabischen Wähler. Dass sie fast die Einzigen sind, mit denen man Israels Demokratie noch retten kann, mag für viele enttäuschend sein. Gleichzeitig ist es ein Grund zur Hoffnung.

Bei der vergangenen Wahl im März 2020 habe ich große Hoffnungen auf die Vereinte Liste, die Listenverbindung von vier hauptsächlich arabischen Parteien, und auf ihre mögliche Kooperation mit anderen Kräften gesetzt. Ich wäre beinahe eigens aus New York nach Israel geflogen, um sie zu wählen. Selbst mein Vater, ein Sohn von Holocaust-Überlebenden, der sein Leben lang ein liberaler Zionist gewesen ist, hat für die Vereinte Liste gestimmt und nicht etwa für Meretz. Die jüngsten Entwicklungen rund um die Vereinte Liste stimmen mich zwar nicht sehr zuversichtlich. Dennoch bin ich nach wie vor überzeugt davon, dass nur aus der Zusammenarbeit einer echten israelischen jüdischen Linken, etwa des linken Meretz-Flügels, mit arabischen Politikern eine stärkere Opposition entstehen könnte – eine echte Opposition, die nicht bloß an alten Ideen festhält, sondern neue schafft. Das ist, wie ich weiß, immer noch weit hergeholt, aber ich möchte noch nicht alle Hoffnung aufgeben. Wo Moshe dem Handeln der Linken wenig Bedeutung beimisst und Shimon der Linken eine Stärkung ihrer alten Identität empfiehlt, sage ich, Israels Linke sollte und könnte sich als eine genuin post-ethnische Linke neu erfinden.

Stein: Dass Meretz eine Allianz mit der Arabischen Liste eingehen könnte, ist in der Tat mehr Wunschdenken als Realität. Allerdings kann ein Wechsel an der Macht nur stattfinden, wenn man mit diesem Tabu der Mehrheit der israelischen Parteien bricht, dem zufolge man auf keinen Fall mit der Arabischen Parteienliste koalieren darf. Das ist für die israelische Mehrheit noch immer ein Problem, und damit wird man sich zwangsläufig auseinandersetzen müssen.

Neue Hoffnung durch Joe Biden?

Brumlik: Darf ich eine noch etwas spekulativere, nämlich die jüngste internationale Entwicklung betreffende Frage stellen? Israel ist und war entscheidend von den Vereinigten Staaten abhängig. Nun gibt es einen neuen Präsidenten, der allem Anschein nach die bisherige Unterstützungspolitik Trumps nicht mitträgt. Wird sich das auf die israelische Politik auswirken?

Boehm: Was Joe Biden betrifft, sind meines Erachtens zwei Dinge entscheidend. Erstens: Wird er versuchen, zur alten und – wie ich finde – bedeutungslosen Obama-Kerry-Rhetorik zurückzukehren? Ich weiß nicht, über wie viele Jahre sie erklärt haben, das Zeitfenster für eine Rettung der Zweistaatenlösung würde sich schließen. Wenn Biden die USA jetzt also wieder – wie er angekündigt hat – zum Völkerrecht und zu internationalen Vereinbarungen zurückführt, wird er dann auch mit diesen bloßen Mahnungen fortfahren? Oder wird er versuchen, echte Fortschritte zu machen, und über eine andere Alternative zur Zweistaatenlösung nachdenken? Und zweitens steht die Biden-Regierung wegen des von Trump aufgekündigten Nuklearabkommens mit Iran unter erheblichem Druck – auch aus Israel.

Stein: Der neue US-Präsident ist ja kein unbeschriebenes Blatt. Wir kennen ihn gut und er repräsentiert auch im Rahmen der durchaus diversen Demokratischen Partei den Mainstream. Seine Haltung zu Israel hat er bereits erklärt. Das verspricht also eine gewisse Kontinuität – mit Nuancen.

Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt überhaupt nicht auf der Prioritätenliste von Biden steht. Wie wir alle wissen, muss er sich auch mit anderen dringenden Fragen auseinandersetzen; an denen wird er am Ende gemessen werden. Diese Interessenunterschiede zeigen sich insbesondere in der Iran-Frage: Israel fühlt sich unmittelbar von dem nuklearen Potential Irans bedroht. Die Amerikaner nehmen dagegen eine globale Sicht ein und betrachten diese Gefährdung anders. Die Biden-Administration hat daher auch entschieden, zum Iran-Deal zurückzukehren. Mit Blick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina gehe ich insofern nicht davon aus, dass es mit Biden einen Neuanfang geben wird. Alle in der neuen US-Regierung halten bislang an der Formulierung der Zweistaatenlösung fest. Klar ist immerhin, dass Biden den „Deal of the Century“, den sogenannten Trump-Peace-Plan für Israel-Palästina, zu den Akten legen wird. Und das allein ist schon eine sehr positive Entscheidung.

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Zimmermann: Die Frage nach dem angeblichen Neuanfang unter Biden und die Frage nach der Haltung der israelisch-arabischen Parteien lassen sich durchaus verkoppeln. In beiden Fällen geht es um die Frage der Prioritäten. Was nämlich schon seit langem geschieht, ist das Abkoppeln der Iran-Frage von der Palästina-Israel-Frage. Das ist auch für Netanjahu wichtig: Er setzt alles auf den Konflikt mit dem Iran, um eine Lösung des Israel-Palästina-Konflikts zu vermeiden.

Wenn jetzt Biden mit einer neuen Politik im Nahen Osten anfangen will, ist seine erste Priorität, wie Shimon zu Recht sagt, eine friedliche Lösung in der Atomfrage mit Iran. Das ist auch die relevante Frage für die arabischen Parteien in Israel. Sie interessieren sich also nicht mehr zuvorderst für die Palästina-Israel-Frage, sind zum ersten Mal nicht mehr eindeutig auf Seiten der Palästinenser. Die Einheitsfront der arabischen Parteien ist am Ende, auch durch die jüngsten Verträge zahlreicher arabischer Staaten mit Israel und gegen den Iran. Die arabischen Parteien sind also mittlerweile nicht mehr eindeutig links orientiert, sind damit nicht mehr die klassischen Verbündeten der linken jüdisch-israelischen Parteien. Die ganze Szene hat sich also sehr grundsätzlich verändert und angesichts dessen hat die israelische national-rechte Politik eindeutig gesiegt.

Stein: Ich halte die Vorstellung, dass man die iranische an die palästinensische Sache ankoppeln könnte – Entschuldigung – für Schwachsinn! Das eine hat in der Tat mit dem anderen gar nichts zu tun. Die iranische Sache hat eine regionale, ja sogar globale Bedeutung, während die palästinensische Sache ein Streit zwischen zwei Communities ist, und momentan droht dieser nicht auszuufern. Biden wäre froh, sich mit der palästinensischen Sache überhaupt nicht auseinandersetzen zu müssen. Insofern können wir aus Washington mit einer Art schnellem Krisenmanagement rechnen, nicht aber mit einer umfassenden Konfliktlösung.

Und etwas anderes ist bemerkenswert: Die palästinensische Frage ist einstweilen auch für die israelische Gesellschaft vom Tisch. Bei den letzten Wahlen spielte sie überhaupt keine Rolle. Wir leben weiter in einer Art self denial: Wir meinen, wenn wir uns damit nicht auseinandersetzen, wird sich dieses Problem – wie man auf Englisch sagt – somehow take care of itself, sich irgendwie von selbst lösen. Insofern hat das gar nichts mit den Amerikanern zu tun, sondern in erster Linie mit uns. Deshalb werfe ich uns immer vor, auf diese Art Deus ex machina zu hoffen. Tatsächlich warten wir schon seit Jahrzehnten auf die Welt, die uns retten soll. Doch die Welt wird uns nicht retten.

Zimmermann: Natürlich, da hast Du recht, sind das zwei getrennte Fragen. Aus der Sicht von Netanjahu, das ist sein großer Erfolg, konnte man über die Iran-Frage die Palästina-Frage marginalisieren. In diesem Sinne, und so habe ich es gemeint, sind beide Fragen verbunden, aneinandergekoppelt. Das eigentliche Thema ist Iran, Palästina ist uninteressant. Somit kann Netanjahu seine Siedlungspolitik weiterbetreiben, ohne gestört zu werden – auch nicht von den Amerikanern.

Alternativen zur Zweistaatenlösung

Brumlik: Lasst uns jetzt das Thema Israel-Palästina weiter vertiefen. In diesem Sommer wird es, wenn ich richtig zähle, 54 Jahre her sein, dass der Staat Israel im Sechstagekrieg von 1967 das Westjordanland besetzt hat. Soweit meine Kenntnisse der Politik des späten 19. und 20. Jahrhunderts reichen, hat es eine so lange Besatzungszeit noch nicht gegeben. Und die Frage ist – das wird sowohl hier als auch in Israel diskutiert –, ob die sogenannten developments on the grounds, die jüdischen Siedlungen im Westjordanland, so etwas wie eine Zweistaatenlösung überhaupt noch zulassen oder ob das nicht nur leeres rhetorisches Gerede ist. Ich darf daran erinnern, dass der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh schon vor Jahren gefordert hat: Annektiert uns endlich! In diesem Zusammenhang hat nun Omri Boehm vor Kurzem ein bemerkenswertes Buch vorgelegt: „Israel – eine Utopie“. Darin wiederbelebt er auf zeitgemäße Weise eine Forderung, die bereits Martin Buber erhoben hat: „Ein Land, ein Staat und zwei Völker“. Würdest Du, lieber Omri, uns die Grundzüge Deines Programms bitte erläutern?

Boehm: Da Shimon mir gerade Wunschdenken vorgeworfen hat, möchte ich Folgendes vorausschicken…

Stein: Nimm es bitte nicht persönlich!

Boehm: Nein, keineswegs! Ich sage das nur, weil es wichtig ist, um meinen Ansatz zu verstehen: Wunschdenken ist nämlich nicht bloß Wunschdenken. Um rational zu sein, müssen wir uns gestatten, die Wahrheit zu sagen und klar über Möglichkeiten zu sprechen, selbst wenn sie weit hergeholt sind. Wenn von Wunschdenken die Rede ist, bezieht sich das oft weniger auf die Realität als auf bloße Machtpositionen – also darauf, an Lösungen festzuhalten, die den Mächtigen bequem erscheinen, auch wenn sie am Ende gar keine Lösungen sind. Genau das tun liberale Zionisten, wenn sie Alternativen zur Zweistaatenlösung als „Wunschdenken“ bezeichnen.

Meine erste These lautet in diesem Sinne, dass das Konzept eines jüdischen und demokratischen Staats einen Widerspruch in sich darstellt. Die Idee einer jüdischen Demokratie entspringt dem Wunsch, nach dem Holocaust einen jüdischen Staat zu etablieren, und war in den späten 1940er Jahren völlig verständlich. Aber nach dem gegenwärtigen Verständnis einer liberalen Demokratie, selbst nach einer Minimaldefinition, ist dies ein Widerspruch. Der Grund dafür lautet, einfach gesagt, dass Demokratien die Souveränität ihrer Bürger durchsetzen, während der jüdische Staat die Souveränität des jüdischen Volks durchsetzt. Wenn wir im 21. Jahrhundert also eine demokratische zionistische Politik begründen und legitimieren wollen, müssen wir das Konzept der jüdischen Demokratie verändern. Shimon sprach vorhin darüber, dass die jüdische Mehrheit – und selbst Meretz – nicht glücklich über die Vorstellung ist, mit den arabischen Israelis zu kooperieren. Das liegt genau daran, wie das Konzept einer jüdischen Souveränität verstanden wird – und zeigt, warum wir darüber hinausgehen müssen.

In diesem Zusammenhang müssen wir Folgendes festhalten: Die Zweistaatenlösung ist hinfällig. Das liegt nicht nur, wie oft fälschlich angenommen wird, an der Zahl der jüdischen Siedler im Westjordanland. Vielmehr ist diese Lösung hinfällig, weil es in dieser geographischen Einheit zwischen dem Jordan und dem Meer eine palästinensische Mehrheit von etwa 53 Prozent gibt, der aber selbst die „großzügigste“ Zweistaatenlösung nur um die 20 Prozent des Landes bietet. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um ein zusammenhängendes Territorium. Und ich habe noch gar nicht über die Hunderttausenden von Siedlern gesprochen, die im Herzen dieses Gebietes leben und sicher, wenn wir ehrlich sind, nicht mehr umgesiedelt werden. Was wir also einen Kompromiss nennen, dessen Ablehnung wir den Palästinensern dann vorwerfen, ist mit den Worten des Philosophen Avishai Margalit ein fauler Kompromiss, den schwerlich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung akzeptieren können. Daher gibt es eine Pflicht und eine Notwendigkeit, über die Zweistaatenlösung hinauszudenken. Das ist die einzige realistische Alternative, selbst wenn sie weit hergeholt erscheint. Unsere Realität ist eben sehr komplex.

Brumlik: Versucht dies aus Deiner Sicht die israelische Linke?

Boehm: Ein Grund für die Schwäche der israelischen Linken besteht darin, dass sie kein tragfähiges politisches Programm hat. Die Wähler wissen, dass die Zweistaatenlösung hinfällig ist, aber die Linke bietet ihnen kein alternatives Konzept von Staatsbürgerschaft oder Frieden. Die Rechte aber tut dies. Sie bewegt sich systematisch in Richtung einer Politik der Annexion, der Apartheid und sogar der Vertreibung. Auch Trumps „Jahrhundertdeal“ sprach von der Ausbürgerung arabischer Israelis und erhielt dafür Zuspruch aus Israels politischer Mitte. Wir sehen, wie diese Art von Politik in den Mainstream der israelischen Politik zurückkehrt. Dies wird die rechte Alternative zur Zweistaatenlösung sein.

Wenn wir demgegenüber über eine Föderation anstelle der Zweistaatenlösung nachdenken, dann ist dies nicht anti- oder post-zionistisch. Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn man sich die tieferen Wurzeln des Zionismus ansieht, stößt man nicht nur auf den von Micha angeführten Martin Buber. In gewisser Weise ist Buber sogar eine gefährliche Referenz, da er als unverbesserlicher, linker Utopist gilt, weshalb ich nicht allzu oft auf ihn verweise. Doch auch Wladimir Zeev Jabotinsky, der Begründer des revisionistischen Zionismus, dachte in diese Richtung. Bis Mitte der 1930er Jahre tat dies selbst David Ben-Gurion, der später der erste Ministerpräsident Israels wurde. Der zionistischen Idee ging es ursprünglich um Selbstbestimmung statt um Souveränität. Ich denke dabei an Selbstbestimmung im Rahmen einer binationalen Föderation mit den Palästinensern. Denken wir nur an den Begin-Plan von 1977. Viele Leute haben ihn längst vergessen, und viele Leute, die sich an ihn noch erinnern, würden dessen Inhalt lieber vergessen. Ministerpräsident Menachem Begin hatte den Palästinensern bekanntlich die Autonomie im Westjordanland und im Gazastreifen angeboten. Daher wird oft von einem Autonomieplan gesprochen, obwohl dieser tatsächlich eher eine Föderation innerhalb eines Staates vorsah, wenn auch keine perfekte. Denn mit der Autonomie bot der Plan den Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen die volle Staatsbürgerschaft, volle ökonomische Rechte sowie das aktive und passive Wahlrecht für das israelische Parlament. Er verband die Selbstbestimmung für die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen also – und das ist die Essenz des Plans und viel wichtiger als die Autonomiefrage – mit ihrer Rolle als Bürger des Staates Israel.

Nun stimmt es zwar, dass man ihnen auch in einem jüdischen Staat die Staatsbürgerschaft verleihen könnte. Aber genau dies würde die Grenzen dessen, was man unter jüdischer Souveränität versteht, über das gewöhnliche Maß hinaus verschieben. Das ist der Grund, warum nicht einmal links-liberale Schriftsteller wie David Grossmann oder Amos Oz daran denken konnten, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft zu verleihen – weil selbst nach ihrer Auffassung der jüdische Staat die Souveränität des jüdischen Volkes durchsetzt. Daher dürfen nicht zu viele Palästinenser die israelische Staatsbürgerschaft erhalten. Können wir also heute noch zu so etwas wie dem Begin-Plan zurückkehren? Die Knesset stimmte übrigens seinerzeit über dieses Vorhaben ab: 64 Abgeordnete waren dafür, 40 enthielten sich, acht votierten dagegen. Eine solche demokratische Alternative zur Zweistaatenlösung möchte ich heute wieder auf die Tagesordnung setzen.

Zimmermann: Im Prinzip geht es für mich nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Die Zweistaatenlösung kann meines Erachtens weiterbestehen, kann weiter erfolgreich sein. Und im selben Atemzug werde ich für eine konföderative oder föderative Lösung plädieren.

Es ist klar, die Grundlage für die Existenz des Staates Israels ist das Recht auf Selbstbestimmung für das jüdische Volk. Da im Lande Palästina oder Eretz Israel nicht nur das jüdische Volk lebt, sondern auch ein Volk, das sich Palästinenser nennt, muss auch für dieses Volk das Recht auf Selbstbestimmung gewährleistet werden. Das ist die Ausgangsposition: Wir sind dafür, dass jedes Volk für sich das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nimmt.

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Das Oslo-Abkommen im Jahr 1993 war Ausdruck jener Hoffnung, dass das gelingen kann. Aber es war schon damals klar erkennbar, dass diese Vorstellung von ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaaten, die man auch schon im Europa des 19. Jahrhunderts anstrebte, sich für Israel und Palästina nicht verwirklichen lässt. Und in dem Moment, in dem man das Recht auf Selbstbestimmung für die Palästinenser akzeptiert, muss man daher den nächsten Schritt wagen: nämlich eine Art von Konföderation oder Föderation schaffen. Man darf dabei nicht dogmatisch sein mit den zwei Begriffen, die wir hier benutzen. Erstens muss der Begriff des Staates nicht so verstanden werden wie noch im 19. Jahrhundert oder am Ende des Ersten Weltkrieges. Und zweitens kann der Begriff oder die Bezeichnung jüdisch etwas ganz anderes meinen als nur die ethnische Dimension; allerdings wird er so leider Gottes derzeit in Israel gebraucht. Erweitert man dagegen das Verständnis, kann man durchaus jüdisch und liberal zugleich sein.

Micha Brumlik hat Martin Buber erwähnt. Martin Buber hat diese Alternative genau vor hundert Jahren benannt: Entweder wird dieser Judenstaat ein jüdisches Albanien werden, also ethnisch abgeschlossen, wofür er nicht war, oder er wird zum Zentrum der Weltkultur. Was sich derzeit aber herausbildet – ein jüdisches Albanien in den Köpfen der israelischen Politiker –, das muss man überwinden. Das ist eine echte Utopie im Moment – zugegeben –, aber im Prinzip ist das möglich.

Das große Beispiel dafür ist die Europäische Union. Deren Mitgliedstaaten wurden nicht aufgelöst, sie sind noch immer da. Es gibt aber eine föderale oder konföderale Konstruktion, die man EU nennt. Das kann man auch im Nahen Osten implementieren. Es gibt auch Möglichkeiten, nach unten größere, regionale Freiheiten zu schaffen. Denkt man so, hat man im Prinzip alles mit dabei: Wir haben die Anerkennung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung auf beiden Seiten. Man hat im Prinzip zwei Staaten akzeptiert und de facto hat man nachher diese föderative Entwicklung, die auf die Autonomie der beiden Völker in diesem neuen Gebilde baut.

Quelle       :         Blätter        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   This is a photo of a place that is recognized as a heritage site by the Council for Conservation of Heritage Sites in Israel. The site’s ID in Wiki Loves Monuments photographic competition is

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Unten       ––     Hier trifft sich, was zusammengehört     –      טקס העברת דגל של ספינת הטילים מדגם ‚סער 6‘, אח“י ‚מגן‘, הראשונה בצי ספינות הטילים הישראלי, מדגל גרמניה לדגל ישראל. הטקס נערך במעמד מפקד זרוע הים, אלוף אליהו שרביט, סמנכ“ל וראש מנהל הרכש במשרד הביטחון, מר אבי דדון, ובכירים נוספים שלקחו חלק בהבאת הספינות למדינת ישראל. ספינת הטילים נמסרה מידי חברת המספנות ‚Thyssenkrupp marine systems‘ שבגרמניה לידי זרוע הים הישראלית, ולראשונה הונף על הספינה החדשה דגל ישראל.

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Eskalation im Nahen Osten

Erstellt von Redaktion am 16. Mai 2021

Ein Konflikt an drei Fronten

Von Susanne Knaul

Die Gewalt von jüdischen und arabischen FanatikerInnen wirft die brüchige Koexistenz um Jahrzehnte zurück. Es ist auch ein Ergebnis jahrzehntelanger Besatzung.

Probleme auszusitzen klappt in den seltensten Fällen. Über Jahre ließen Regierung und Öffentlicheit in Israel das sogenannte Palästinenserproblem außen vor. Es blieb überwiegend ruhig, das machte es bequem, sich anderen Problemen zuzuwenden, wohl wissend, dass das Pulverfass jederzeit explodieren kann. Jetzt knallt es, und es knallt an drei Fronten.

In Jerusalem kämpfen PalästinenserInnen gegen Häuserenteignungen, gegen Freiheitseinschränkungen und gegen die sozialen Ungleichheiten. Im Gazastreifen heizt die islamistische Führung der Hamas die Gewalt an, weil sie frustriert ist über das Aussetzen der geplanten Parlamentswahlen, bei denen sie gute Chancen gehabt hätte, als stärkste politische Macht abzuschneiden. Und in arabisch-israelischen Ortschaften entlädt sich die Wut über die Zweiklassengesellschaft und über die unterschiedlichen Bedingungen für Israels jüdische und arabische BürgerInnen.

Auch wenn die Hamas bislang recht erfolgreich daran arbeitet, die Fronten verschmelzen zu lassen, wenn sie verlautbaren lässt: „Wir kämpfen für Jerusalem“, und wenn sie die arabischen UnruhestifterInnen bejubelt, die Autos und sogar Synagogen in Brand stecken, so sind es doch drei Fronten mit unterschiedlichen Hintergründen und unterschiedlichen Auswegen aus der Gewalt.

Die Hamas nutzte die Gunst der Stunde, als in Jerusalem der Protest gegen die geplante Zwangsräumung mehrerer palästinensischer Wohnhäuser hochkochte. Drohende Zwangsräumungen gehören zum Alltag Hunderter Familien in Ostjerusalem. Sie boten noch nie Grund für die islamistische Führung im Gazastreifen, Raketen abzufeuern.

Mahmud Abbas‘ politisches Eigentor

Die plötzliche Solidarität der Hamas ist ein heuchlerischer Vorwand für die Angriffe gegen Israel, mit denen in Wirklichkeit ein ganz anderer Feind gemeint ist: Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Er erschütterte die von ihm selbst geschürte Hoffnung auf ein Ende der palästinensischen Teilung und der politischen Isolation des Gazastreifens, als er zuerst Wahlen ansetzte, um sie dann wieder abzusagen. Diesmal dürfte ihm sein Taktieren ein Eigentor verschafft haben. Bei den aktuellen Entwicklungen zieht nicht er, sondern die Hamas die Fäden und punktet in Ostjerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen.

Quelle       :      TAZ          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Israel Collective Punishment

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„Wir sind keine Söldner“

Erstellt von Redaktion am 15. Mai 2021

Rebellenführer über Ziele für Tschad

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Interview  Mirco Keilberth

Als Anführer der Rebellenarmee FACT fordert Mohamed Mahdi Ali einen runden Tisch für Tschad. Die Rolle Frankreichs kritisiert er hart.

Herr Mahdi, Ihre Rebellenarmee ist im April mit 3.000 Kämpfern aus Libyen tief nach Tschad vorgedrungen und der dortige Präsident Idriss Déby kam an der Kriegsfront zu Tode. Welche Ziele hat Ihre Organisation?

Mohamed Ali Mahdi: Die FACT (Bewegung für Wandel und Eintracht im Tschad) wurde 2016 in Südlibyen gegründet. Sie will eine Alternative zu der seit 30 Jahren andauernden autokratischen Herrschaft im Tschad bieten. Es gibt mittlerweile eine ganze Generation im Tschad, die nur diesen Herren (Idriss Déby) an der Spitze ihres Landes kennt. Wir wollen aber auch niemanden aus dem derzeitigen Machtzirkel ausschließen, die FACT richtet sich an alle. Wir fordern einen inklusiven runden Tisch mit allen Parteien, um Tschads Probleme zu lösen. Nach den Wahlfälschungen der letzten Jahre haben wir uns entschlossen, nach Tschad zurückzugehen. Wir haben bewusst um die kleinen Armeegarnisonen an der libysch-tschadischen Grenze einen Bogen gemacht, erst nach französischer Luftaufklärung kam es zu Kämpfen mit der Armee.

Aber Sie drohten, in die Hauptstadt N`Djamena einzumarschieren. Das ist doch das Gegenteil von Dialog.

Seit fünf Jahren sagen wir, dass der Konflikt nur mit politischen und friedlichen Mitteln gelöst werden kann. Aber das Regime hat unsere Vorschläge und Verhandlungen mit Oppositionsgruppen systematisch abgelehnt. Präsident Idriss Déby erklärt immer wieder, niemand könne ihn ersetzen – das Gefühl, eine Art Supermann zu sein, ist der Wesenskern vieler Diktatoren. Er warf uns vor, Söldner zu sein, dann waren wir angeblich mit Islamisten verbündet, dann mit dem libyschen General Khalifa Haftar und nun angeblich mit der russischen Wagner-Gruppe.

Wurden FACT-Einheiten in Libyen von Experten der russischen Söldnerfirma Wagner ausgebildet?

Unsere Mission in Libyen war es, gegen den IS zu kämpfen. Nicht für Geld, denn wir sind keine Söldner. Unser Ziel war immer der Sturz des Regimes in unserer Heimat. Wir wurden nach Brak Shati und zu dem Militärflughafen Temenhint verlegt. In Brak Shati trafen wir auf Russen, in Temenhint auf französische Soldaten. Einige meiner Männer befanden sich also Seite an Seite mit Wagner, andere mit der französischen Armee. Wir hatten keine Informationen über deren Anzahl oder Mission. Wir haben sie bewacht. Es war eine bizarre Situation. Denn da meine Familie und ich lange in Frankreich gelebt haben, hielten mich die Wagner-Leute für einen Agenten Frankreichs. Zudem verdächtigten sie mich, mit den Tschadern befreundet zu sein, die in der Zentralafrikanischen Republik gegen Wagner-Leute kämpfen. Es war also kein einfaches Verhältnis.

Französische Medien vermuten, dass Sie nur deshalb mit mehr als 400 Fahrzeugen 2.000 Kilometer quer durch die Saharawüste fahren konnten, weil Sie im Dienst von russischen Militärberatern stehen.

Das ist Teil einer Kampagne, um uns zu diskreditieren. Tatsächlich habe ich gerade mal 400 Euro auf meinem Konto und bin zusammen mit meinen Leuten auf einer Mission, um mein Land zu retten. Wir als FACT haben stets klar gemacht, dass wir uns in Libyens Konflikt auf keine Seite schlagen wollen. Als laizistische Bewegung, die an freie Meinungsäußerung glaubt, sind wir von den Islamisten weit entfernt. Aber auch die Kooperation mit Haftar erwies sich als extrem kompliziert. Viermal haben uns Kämpfer des „Islamischen Staates“ (IS) 2017 und 2018 in Jufra angegriffen und erst danach haben wir uns entschlossen, gemeinsam mit Haftars Armee die Radikalen zu bekämpfen.

Sie bestätigen also eine Kooperation zwischen FACT und der LNA Khalifa Haftars in Libyen?

Ja, aber für den Kampf gegen den IS. Für eine noble Sache, nicht für die Interessen Haftars. Immerhin gab es bei vielen LNA-Offizieren eine ähnliche Einstellung wie bei uns zu Laizität, der Trennung von Politik und Religion. Wir haben viele Kameraden bei den Kämpfen gegen den IS in Fugha verloren, aber auch den Islamisten empfindliche Niederlagen zugefügt. Die westlichen Geheimdienste wissen ganz genau, dass wir es waren, die den IS aus einer der strategisch wichtigsten Positionen Libyens ferngehalten haben. Wir wurden damals ebenso wie die Bevölkerung in Jufra fast jeden Abend von den IS-Kommandos angegriffen. Wir mussten uns mit Haftars Einheiten verbünden, um die Radikalen zu besiegen. Das ist die „Hypothek“, die auf uns lastet.

Zuvor waren Sie mit Einheiten aus der Hafenstadt Misrata liiert, Haftars Gegner, die ebenfalls gegen den IS kämpften, in Gaddafis ehemaliger Heimatstadt Sirte…

Wir hatten damals keine Wahl! Den libyschen Kriegsparteien haben wir immer wieder unsere Neutralität betont. Ich bin glücklicherweise Muslim. Aber auch Anhänger der republikanischen Idee und des Laizismus. Ich habe in Europa die Kultur des politischen Diskurses kennengelernt. Daher ist es für mich so absurd, dass uns Tschadern, ja uns Afrikanern, ein politischer Diskurs verweigert wird. Wir sind Teil der politischen Opposition Tschads und waren nur in Libyen, weil in unserer Heimat ein Diktator an der Macht war. Rechtsstaat, Demokratie, Freiheit ist scheinbar nur für die Franzosen.

Was ist denn aus Ihrer Sicht die französische Strategie für Tschad und die Region?

Flintlock 2017 kicks off in N'Djamena, Chad 170227-A-KH850-003.jpg

Steckt nicht in jeder Militäruniform ein potentieller Mörder. egal wo auch immer in dieser Welt ?

Frankreich verhält sich, als wären wir noch in den 1940ern, 50ern oder 6oern. Aber heutzutage gibt es selbst in jedem kleinen Ort in der Sahara – ich bin gerade in einem – Internet und Informationen über die ganze Welt. Junge Leute im Sahel haben nicht mehr, wie noch ihre Großeltern, nur einen Stock um sich zu wehren. Aber ihnen wird ein Diktator aufgezwungen und ein Leben ohne Meinungsfreiheit. Das treibt sie schließlich quer durch die Sahara in die Boote über das Mittelmeer nach Europa. Idriss Déby hat eine effektive Armee aufgebaut, die die Interessen Frankreichs verteidigt, seit 1996 in der Demokratischen Republik Kongo, danach in der Zentralafrikanischen Republik und rund um den Tschad-See.

In Tschads Hauptstadt N`djamena hat die französische Sahel-Antiterroroperation Barkhane ihr Hauptquartier. Kämpfen Barkhane-Einheiten derzeit gegen die FACT?

Sie greifen nicht wie in den letzten Jahren direkt in die Kämpfe gegen Oppositionsgruppen ein, aber sie setzen rund um die Uhr Aufklärungsflugzeuge gegen uns ein, denen tschadische Bombardierungen folgen. Dieser indirekte Krieg ist aber nicht weniger gefährlich. Letztlich haben französische Berater Déby radikalisiert, zuletzt wollte er jeden umbringen, der ihm gefährlich werden könnte. Der Mord an der Mutter des Oppositionsführers Yaha Dillo im Dezember ist Beweis genug dafür. Frankreich trägt für solche Verbrechen des Regimes letztlich die Verantwortung.

Die EU hat die illegale Machtübernahme der Militärs nach Débys Tod nicht verurteilt. Sind Sie überrascht?

Quelle       :           TAZ       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen

Oben        —   The Chad National Museum and the National Library of Chad in N’Djamena. Cropped photo, based on a view from the Kempinski Hotel nearby.

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Bidens Waterloo im Iran?

Erstellt von Redaktion am 8. Mai 2021

Iran lässt den Biden baden gehen

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Zuviel der Ehre, mit tränenden Augen beim Bad in der Menge ?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Die Tagesschau bringt darüber nur ein paar Seifenblasen, ein geopolitisches Verständnis vermittelt sie nicht.

„Bahnbrechendes Sicherheits- und Wirtschaftsabkommen China-Iran“, titelten einige wenige Journalisten am 29. März. (1) Der Mehrheit entging jedoch die globale Bedeutung des Abkommens, obwohl ein zugehöriges Schlüsselereignis sich erst eine Woche zuvor zugetragen hatte: Russlands Außenminister Lawrow und sein chinesischer Kollege Wang Yi bekräftigten bei ihrem Treffen in Guilin im südostchinesischen Guanxi die enge Partnerschaft beider Staaten. (2) Die Tagesschau verlor kein Wort darüber. Der Dreierbund Russland-China-Iran wird demnächst perfekt: Der Iran will nach seinem auf 25 Jahre angelegten Kooperationsabkommen mit China auch eine entsprechende Vereinbarung mit Russland. (3) Die US-amerikanische und europäische Sanktionspolitik gegen die drei Länder wird dann gegen die Wand fahren, unergiebig ist sie eh schon lange.

Was die Entwicklung für den Rest der Welt heißt, erkannten gescheite Journalisten schon vor zwei Jahren:

Allianz China-Iran-Russland beendet die Hegemonie der USA.“ (4, 5, 6)

Tagesschaukunden sollen das aber nicht wissen. Zu einer angemessenen Einschätzung des epochalen Bündnisses konnte sich die ARD-aktuell-Redaktion bisher nicht entschließen:

Der Iran und China wollen in den nächsten 25 Jahren strategisch eng kooperieren. Die Außenminister unterzeichneten ein entsprechendes Abkommen. Es markiert ein deutliches Zusammenrücken der beiden wichtigen US-Rivalen,“

hieß es vage in ihrem diskreten Internet-Angebot tagesschau.de. (7) Auf den Schirm der Wunderlampe im Wohnzimmer brachte sie über den Vorgang – NICHTS. Tante Trudi und Onkel Theobald sind aber Tagesschauer, nicht Tagesleser.

In Wien wird seit einem Monat über die Wiederbelebung des Atomabkommens mit Iran und einen eventuellen Wiedereintritt der USA in dieses Vertragswerk verhandelt. Die ARD-aktuell-Berichterstattung darüber ist so dürftig wie die Rentenaussicht eines Hartz-4-Aufstockers. Die Redaktion nimmt das weltpolitische Gewicht der Verhandlungen offenbar gar nicht wahr. Statt umfassender, die Hintergründe ausleuchtender Informationen liefert sie nur Klein-Klein: „Warum Israel gegen die Neuauflage ist“ (8), „China füllt die Lücke im Iran“ (9) Der Iran kommt in der Tagesschau grundsätzlich schlecht weg, ungeachtet seiner geostrategischen Bedeutung.

Feindbilder malen in krimineller Selbstgerechtigkeit

Die Schlagseite der ARD-aktuell-Berichterstattung (auch) über den Iran steht im Gegensatz zur Rechtsverbindlichkeit des Rundfunkstaatsvertrags (man kann nicht oft genug darauf hinweisen):

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung … fördern.” (10)

Dass “internationale Verständigung” der Schlüssel zum Frieden ist, dürfte einleuchten. Dass sie voraussetzt, aufs Feindbildmalen zu verzichten und so sachlich wie möglich über andere Länder und deren Regierungshandeln zu berichten, sollte selbstverständlich sein. Ist es aber nicht.

Das Informationsangebot der ARD-aktuell über den Iran betreibt dagegen, was die Medienforschung „Framing“ nennt, das „Einrahmen“ (11) oder Einbetten von politischen Ereignissen und Handlungen in ein politisch gewolltes Deutungsraster. Das Publikum soll damit möglichst unbemerkt beeinflusst und manipuliert werden.

Fakten … werden in einer öffentlichen Diskussion erst zu guter Munition, wo ihre moralische Dringlichkeit kommuniziert wird” (12)

Das Framing der ARD-aktuell-Berichterstattung über Iran verwendet z.B. Munition wie diese: „Kopftücher/frauenfeindlich“, „Mullah-Regime/borniert“ oder den vordergründigen Gegensatz „Islamisten/aggressiv-reaktionär und „Reformer/prowestlich-verständigungsbereit“. Störende Fakten, die sich nicht in diesen „Rahmen“ pressen lassen, fallen untern Tisch.

Grundlegendes Verständnis und sachgerechte Einordnung werden bei solcher Nachrichtengestaltung weitgehend blockiert. So entsteht das vorherrschende Bild vom „bösen“ Iran. Einem solchen Staat gegenüber, das ist die zugehörige Mainstream-Logik, sind „gerechte“ Strafaktionen zulässig, unmenschliche Sanktionen und letztlich sogar Morde müssen hingenommen werden. Auch die ARD-aktuell vermittelt dieses „Verständnis“ („die Mullahs verdienen es ja nicht anders“). So entwickelt sich unsere kriminelle Selbstgerechtigkeit.

Gipfel der Unmenschlichkeit

Den für Iran-Berichte typischen, abwertenden Duktus findet man in der Tagesschau-Berichterstattung über die USA nicht, auch nicht in Meldungen über Washingtons „extralegale“ Hinrichtungen. Die wenigsten davon werden überhaupt wahrgenommen und gemeldet. Die heimtückische Ermordung des iranischen Generals Soleimani während einer diplomatischen Mission war eine seltene Ausnahme. Bis heute verweigern die USA auch den Vereinten Nationen Auskünfte über Anzahl und Todesquoten ihrer mörderischen Drohnenbombardements. Nach diversen Schätzungen erfolgt mindestens jeden zweiten Tag ein solcher Angriff. Im Schnitt würden dabei jeweils drei Menschen umgebracht, die der Kategorie „Kollateralschaden“ zuzuordnen wären. Allein in Jemen und in Pakistan seien schon mindestens 250 Kinder per Drohne abgeschlachtet worden. 13)

US-Präsident Trump hatte im Jahr 2018 das Atomabkommen mit dem Iran vertrags- und völkerrechtswidrig gekündigt. Washington hatte sich ohnehin nicht daran gehalten. Nach dem Vertragsbruch verschärften die USA ihre Sanktionen sogar noch und versuchen seither, die Wirtschaft des Iran vollkommen abzuwürgen. In Syrien und im Iran blockieren sie obendrein den Ankauf von Impfstoffen gegen die Corvid-19-Pandemie. Ihre Sanktionspolitik ist erbarmungslos.

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Die EU, Deutschland eingeschlossen, gab zunächst vor, mit dem Vertragsbruch des US-Präsidenten nicht einverstanden zu sein und setzte sich öffentlich für den Iran ein. Ihr schnell zusammengeschustertes Zahlungssystem INSTEX sollte es europäischen Firmen ermöglichen, die Sanktionssperren der USA zu umgehen. (14) Außenminister Maas nutzte das Konstrukt, sich als souveräner europäischer Politiker aufzuspielen und hinter seiner Aufgeblasenheit zu verbergen, was seine wahre Rolle ist: als transatlantisch genormte Sprechpuppe auf jeder erreichbaren Bühne herumzuhampeln. O-Ton:

Das ist ein Schritt, der deutlich macht, dass wir auch innerhalb der Europäischen Union geschlossen und entschlossen unseren Weg gehen.“ (15)

INSTEX stellte sich bald als Flop heraus. Die US-Regierung hatte alles darangesetzt, das Konstrukt zu torpedieren. ARD-aktuell berichtete zwar relativ kritisch über das Versagen der EU, machte aber zugleich weiter Stimmung gegen den Iran. Das „Mullah-Regime“ sei vertragsbrüchig, „Teheran verstößt gegen das Abkommen“. So wurde den Iranern eine Art nachträgliche Mitschuld am Scheitern des Atomdeals infolge des US-Vertragsbruchs zugeschrieben. EU, Deutschland, Frankreich und Großbritannien konnten die USA nicht zur Vertragstreue bewegen, verlangten sie absurderweise jedoch weiterhin vom Iran. Mit dem Satz

Die wiederholte Aufforderung, die Maßnahmen noch einmal zu überdenken und zur Vertragstreue zurückzukehren, blieb in Teheran bislang ungehört.“ (16) 

folgte ARD-Korrespondent Holger Romann diesem Widersinn und stellte die Fakten ungeniert auf den Kopf.

Die Sichtweise der „Hardliner“

Sehr viel mehr Realismus zeigte hingegen der politische und religiöse Führer des Iran, Ayatollah Chamenei. Von ARD-aktuell gerne als „Hardliner“ tituliert, erklärte er schon zur Jahreswende:

Die USA müssen zunächst die Sanktionen aufheben, danach werden wir einen Faktencheck durchführen und erst dann unsere im Atomabkommen festgelegten Verpflichtungen voll erfüllen.“ (17)

Es gehe, sagt Chamenei, nicht darum, wer den ersten Schritt zur Wiederherstellung des Atomabkommens unternehme, sondern darum, welche Seite es gebrochen und ihre Verpflichtungen nicht erfüllt habe.

Wir haben es nicht eilig. Ja, wir sind der Meinung, dass man Gelegenheiten wahrnehmen sollte. Aber wir werden uns nicht beeilen.“ (ebd.)

Zwischen den konservativen Kräften um Ayatollah Chamenei und den Revolutionsgarden einerseits sowie den „Reformern“ um Ministerpräsident Rouhani und Außenminister Zarif andererseits gibt es jedoch erheblichen Dissens. Die „Reformer“, zum Einlenken bereit, drücken wegen der bevorstehenden Wahlen auf die Tube. Sie haben ihre Basis im Volk verloren. Es verübelt ihnen, soziale Versprechen gebrochen und über die Brutalität geschwiegen zu haben, mit der die Unruhen im Herbst 2019 niedergeschlagen worden waren. Die „Reformer“ brauchen nun einen Erfolg. Dass Biden sich bisher weigert, bedingungslos dem Vertrag wieder beizutreten und sein Sanktionsregime aufzuheben, mindert ihre Chancen auf Wiederwahl erheblich. Die USA verfolgen ja sogar Pläne, in dem Atomabkommen zusätzliche Sperren gegen die iranische Raketenrüstung unterzubringen.

Solche Hintergrundinformationen vermittelt die Tagesschau nicht. Sie ist unfähig, Informationen von außerhalb des Mainstreams und der transatlantisch normierten Nachrichtenagenturen aufzunehmen. Sie meldet füglich auf dem Niveau des kleinen Fritz:

Zudem will Teheran … offenbar den Verhandlungsdruck bei den Wiener Gespräche über eine mögliche Wiederbelebung des Atomabkommens von 2015 erhöhen” (18)

obwohl sie alle journalistischen Möglichkeiten und Mittel hätte, sich und ihr Publikum per Rückgriff auf das Internet „schlau“ zu machen. Das kommt eben auch davon, dass man eine Mitarbeiterin von „BuzzFeed“ in die Chefredaktion der wichtigsten deutschen Nachrichtensendung holt (19), von einem US-Internetmagazin, das als Kreuzung aus Bravo, BILD, Stern und Goldenes Blatt mit Erkenntnissen aufwartet über Aktuelles & Schicksale, Stars & Partys, Reise & Freizeit, Psychologie & Lebenshilfe, Kochen & Backen. Sowas muss es halt auch geben.

Das Bombending

Wie ARD-aktuell ihrem Publikum wesentliche Informationen über den Iran vorenthält, zeigt ein alarmierender Vorfall, der weltweite öffentliche Beachtung verdiente, sie aber nur sehr eingeschränkt fand. In den Hinterzimmern der Geopolitiker wurde er dafür umso aufmerksamer registriert und ausgewertet. Am 21. April schlug eine Boden-Luft-Rakete bei dem israelischen Wüstenort Dimona ein und damit nahe am dortigen Atomreaktor, der Produktionsstätte der israelischen Atombomben. (20)

Die Rakete war eine iranische Weiterentwicklung des ursprünglich sowjetischen S-200-Luftabwehrsystems, Typenbezeichnung 5V21, eine Präzisionswaffe mit metergenauer Treffsicherheit. Es heißt, sie sei von den syrisch-arabischen Luftverteidigungskräften auf israelische Kampfflugzeuge abgefeuert worden, die anderntags zu Luftangriffen auf die Außenbezirke der syrischen Hauptstadt Damaskus starten sollten. Die 5V21„verfehlte“ jedoch ihr angebliches Ziel und landete „versehentlich“ mehr als 100 Kilometer davon entfernt in der Wüste: unweit des „Kernforschungszentrums Negev“. (21)

Diese (israelische) Version der Geschichte wird allerdings selbst von der transatlantisch genormten „Die Zeit“ angezweifelt: „Dimona … liegt rund 300 Kilometer südlich von Damaskus, eine lange Strecke für eine fehlerhaft abgefeuerte Boden-Luft-Rakete.“ (22) Was wirklich Sache ist, meldete die „Jerusalem Post“: Iran verfügt jetzt über Raketen, die den israelischen Abwehrschirm unterfliegen und nicht abgefangen werden könnten. Der Albtraum der israelischen Regierung wurde wahr. (23)

Die USA können Iran nicht mehr besiegen

Teherans Wink mit dem Zaunpfahl ist ebenso unmissverständlich wie unübersehbar. Die Tagesschau ignorierte ihn trotzdem. ARD-aktuell schafft es einfach nicht, den allmählichen Weltmachtverlust der USA und ihrer westeuropäischen Satrapen wahrzunehmen und auftragsgemäß zu vermitteln.

Selbst der US-General Kenneth Mackenzie, Chef des US Central Command, musste vor dem Streitkräftekomitee des US-Repräsentantenhauses einräumen, dass die USA zum ersten Mal im Mittleren Osten ohne vollständige Luftüberlegenheit operieren. Die ballistische Raketentruppe des Iran sei die beeindruckendste Militärkraft im Nahen Osten. Gegen sie und gegen Irans Bodenstreitkräfte sei es nahezu ausgeschlossen, einen Krieg zu gewinnen. (24, 25)

Der erfolgreiche Drohnenkrieg der jemenitischen Houthis gegen ihre saudischen Aggressoren zeigt ebenfalls die Kräfteverschiebung zugunsten der Iraner. Das saudische Regime zieht bereits Konsequenzen und versucht, seine Beziehungen zum Iran zu normalisieren und im Jemen Frieden zu schließen. Hierüber berichtet ARD-aktuell, lieferte jedoch keine genauen Analysen. (26)

Das eingangs genannte 25-jährige Kooperationsabkommen, das Chinas Außenminister Wang Yi und sein iranischer Kollege Mohammad Dschawad Sarif in Teheran unterzeichneten, hat ein Volumen von 400 Milliarden Dollar. Auch militärische Kooperation ist darin vorgesehen, Details sind jedoch nicht bekannt. (27, 28) Für Beijing ist das Abkommen Teil seines Projekts „Neue Seidenstraße“, das an die historischen Handelsrouten anknüpft und direkte Verbindungen per Schiene, Straße, Flug- und Seehäfen zwischen China und Europa, Kleinasien und Nordafrika herstellen soll.

Dass diese Entwicklung größtes Missvergnügen in Washington auslöst, ist erklärlich. Gerechtfertigt ist es ganz und gar nicht. US-Präsident Joe Biden auf die Frage eines Journalisten, was er von dem Abkommen halte:

Das macht mir schon seit Jahren Sorge.“ (29)

Der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats des Iran, Ali Shamkhani, streute Salz drauf:

Biden ist mit Recht besorgt. Die Entfaltung der strategischen Zusammenarbeit im Osten wird den Niedergang der USA beschleunigen.“

Shamkani führte dazu aus, die Welt bestehe eben nicht nur aus dem Westen und der Westen nicht allein aus den USA, die ihr Wort brächen, und aus den drei europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien), die ihre Versprechen nicht einhielten.

Bündnis als logische Konsequenz

Das Bündnis Beijing-Moskau-Teheran ist ein logisches Ergebnis des maßlosen Washingtoner Weltherrschafts-Anspruchs und der hysterischen „Feindstaaten”-Politik der USA. Ihr Polit-Terrorismus in Gestalt mörderischer Stellvertreterkriege mit Millionen Toten weltweit – wie immer im Profitinteresse supranationaler Konzerne – konnte gar nichts anderes bewirken, als dass sich die vorgeblichen „Feinde“ verbünden.

Die europäischen Vasallen der USA ahmen deren völkerrechtswidrige Sanktionspraxis willfährig nach und überziehen Russland, Iran und China ebenfalls mit Strafmaßnahmen. Kanzlerin Merkel hatte am Ende des turnusmäßigen deutschen EU-Ratsvorsitzes ein Investitionsabkommen mit der VR China unterzeichnet – gerade noch rechtzeitig, bevor der gewählte US-Präsident Biden sein Amt antreten und es verhindern konnte. Jetzt ist es praktisch geplatzt. Eine Folge der US-inspirierten Sanktionspolitik der EU. (30, 31, 32)

Auch wenn es die NATO-oliv-GRÜNEN nicht kapieren bzw. wahrhaben wollen: Die Deutsch-EU verbaut sich mit ihrer US-Gefolgschaftstreue allmählich den Zugang zu den Zukunftsmärkten China, Iran und Russland. Wegen inhaltsloser Floskeln wie „Freiheit und Democracy“ und so – oder wegen der feuchten Wärme im Hinterstübchen des US-„Partners“?

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Tja … und was macht ARD-aktuell „von dat Janze?“ Sie hat die Zäsur der Geopolitik entweder nicht begriffen oder will nicht vom selbstgewählten transatlantischen Kurs abweichen, dem ein Qualitätsjournalist ja seinen gut bezahlten Posten verdankt. Drum lieber nur Negatives oder Banales, wenn es um den Iran oder China geht:

China füllt die Lücke im Iran … Man hat Zeit, sich die Menschen neben oder hinter sich in Ruhe anzuschauen, schließlich wird oft bis an die Stoßstange aufgefahren. Auffällig: Immer öfter sitzen die Fahrer in chinesischen Pkw-Modellen … China bietet an, was dem Iran fehlt …” (33)

Diese Mainstream-Berichterstattung verliert aber an Einfluss. Die Mehrheit der Deutschen sieht bereits in den USA die größere Gefahr als in China oder Russland. (34) Wer sich trotzdem weiterhin vom Drogenangebot der westlichen Nachrichtenagenturen und ihren Straßenhändlern duhn machen lässt, dem ist nicht zu helfen. Die Vorgabe des Rundfunkstaatsvertrages

Ziel aller Informationssendungen ist es, sachlich und umfassend zu unterrichten und damit zur selbständigen Urteilsbildung der Bürger und Bürgerinnen beizutragen.“ (35)

ist nicht strafbewehrt und schließt Zuwiderhandlung nicht aus. Die schönen gesetzlichen Regeln sind längst nur noch dazu da, vom öffentlich-rechtlichen Qualitätsjournalismus ignoriert zu werden.

Quellen und Anmerkungen:

  1. https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/510786/Iran-schliesst-bahnbrechendes-Wirtschafts-und-Sicherheitsabkommen-mit-China-ab
  2. https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/China-und-Russland-wollen-Kooperation-verstaerken-id59359551.html
  3. https://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2021-03/52432946-iran-strebt-auch-langfristiges-abkommen-mit-russland-an-016.htm
  4. https://neweconomy624100749.wordpress.com/2020/11/15/allianz-von-china-iran-russland-beendet-die-globale-hegemonie-der-usa/
  5. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/kooperation-china-iran-101.html
  6. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-iran-atomabkommen-101.html
  7. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/iran-china-105.html
  8. https://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/medienpolitik/237014/bildungsauftrag-und-informationspflicht-der-medien
  9. https://www.grin.com/document/350461
  10. https://www.hintergrund.de/wp-local/archiv.php?issue=2019-1#heft/19
  11. https://de.wikipedia.org/wiki/Instex
  12. https://www.tagesschau.de/ausland/eu-iran-atomabkommen-105.html
  13. https://www.tagesschau.de/ausland/eu-iran-atomabkommen-105.html
  14. https://www.boell.de/sites/default/files/2021-04/Iran_Report_04_21.pdf?dimension1=division_nona
  15. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/iran-uran-anreicherung-107.html
  16. https://blog.tagesschau.de/author/leopoldj/https://www.youtube.com/watch?v=rJClsenkrgA
  17. https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/syrien-raketenangriff-israel-atomreaktor-negev
  18. https://www.jpost.com/breaking-news/alarms-sound-in-south-of-israel-665953
  19. https://www.veteranstoday.com/2021/04/27/gen-kenneth-mckenzie-iran-possesses-one-of-most-capable-militaries-in-the-middle-east/
  20. https://parstoday.com/de/news/iran-i57746-centcom_kommandeur_iranische_drohnen_haben_uns_die_v%C3%B6llige_luft%C3%BCberlegenheit_genommen
  21. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/iran-saudiarabien-101.html
  22. https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-03/iran-china-kooperation-abkommen-wang-yi-mohammad-schawad-sarif
  23. https://www.nytimes.com/2021/03/27/world/middleeast/china-iran-deal.html
  24. https://parstoday.com/de/news/iran-i57186-wei%C3%9Fes_haus_erw%C3%A4gt_sanktionen_nach_iran_china_abkommen
  25. https://lostineu.eu/die-neue-china-doktrin-das-erste-militaer-projekt-mit-den-usa-und-streit-um-jersey/
  26. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8591/
  27. https://lostineu.eu/merkel-china-und-die-gruenen-ist-das-die-neue-europapolitik/
  28. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/iran-china-105.html
  29. https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/511758/Deutsche-sehen-in-USA-groessere-Bedrohung-als-in-Russland
  30. www.berlinkreisrund.de/Rundfunkrecht/NDRStV.htm

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

Urheberrecht
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Oben         —   An emotional Vice President Joe Biden walks over to his family after President Barack Obama awarded him the Presidential Medal of Freedom during a tribute to the Vice President in the State Dining Room of the White House, Jan. 12, 2017. (Official White House Photo by Pete Souza)

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Ein Strategischer Kompass

Erstellt von Redaktion am 7. Mai 2021

Geheimdienste dürfen militärischen Kurs der EU mitbestimmen

Secret Intelligence Service in Großbritannien (VauxhallLondon)

Quelle      :       Netzpolitik ORG

Von       

Die Außen- und Verteidigungsministerien der Mitgliedstaaten beraten heute über zukünftige militärische Fähigkeiten der Europäischen Union, darunter die Reaktion auf „Cyber-Bedrohungen“. Das Futter für diesen „Strategischen Dialog“ stammt von den In- und Auslandsgeheimdiensten. Abgeordnete dürfen keines der streng geheimen Dokumente einsehen.

Die EU-Mitgliedstaaten arbeiten an neuen Leitlinien der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Diese sollen in einem „Strategischen Kompass“ zusammengefasst werden, auf dessen Grundlage dann konkrete Maßnahmen und Operationen beschlossen werden. Damit bauen die Regierungen die anfangs eher defensiv ausgerichtete „Globale Strategie der EU“ weiter aus.

Die 2016 beschlossene Globale Strategie sieht vor, dass die Europäische Union ihre Rüstungsausgaben und die Zahl ihrer Militäreinsätze erhöht. Mit dem juristisch umstrittenen Verteidigungsfonds und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) wurden die Vorschläge in verhältnismäßig kurzer Zeit umgesetzt. Die SSZ bestimmt konkrete Maßnahmen für die Forschung und Entwicklung militärischer Systeme, darunter etwa „Cyber-Abwehr und -Reaktion“, „Aufklärung und Weltraum“ sowie Drohnen zu Wasser, an Land und in der Luft.

Geheimdienste liefern „Bedrohungswahrnehmungen“

Auf den nun diskutierten Strategischen Kompass hatten sich die Regierungen vor über einem Jahr in Schlussfolgerungen geeinigt. Er soll die Anstrengungen im Verteidigungsbereich konkretisieren und stärker operativ ausrichten und ist deshalb auch Teil des sogenannten Trio-Programms der aufeinanderfolgen Ratspräsidentschaften Deutschlands, Portugals und Sloweniens.

In einem ersten Schritt sollten die In- und Auslandsgeheimdienste der Mitgliedstaaten zunächst die aus ihrer Sicht drängendsten „Bedrohungswahrnehmungen“ mitteilen. Diese nationalen Einschätzungen mündeten in einer „umfassenden 360-Grad-Analyse des gesamten Spektrums der Bedrohungen und Herausforderungen“ für die Europäische Union.

Für die Erstellung dieser sogenannten Bedrohungsanalyse waren die geheimdienstlichen EU-Lagezentren INTCEN und EUMS INT zuständig. Beide Einrichtungen unterstehen dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) in Brüssel. Zusammen bilden sie das „Einheitliche Analyseverfahren“ (SIAC), das den Rat bei der Entscheidungsfindung unterstützen soll.

Keine parlamentarische Kontrolle möglich

Im INTCEN kooperieren die nicht-militärischen Geheimdienste der Mitgliedstaaten, es besteht aus den Arbeitseinheiten Analyse, offene Quellen, Lagezentrum und konsularisches Krisenmanagement. Aus Deutschland nehmen daran der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz teil. Das EUMS INT gilt hingegen als „Nachrichtenwesen des Militärstabs“, von deutscher Seite liefert das Bundesministerium der Verteidigung entsprechende Informationen zu.

Neben den Geheimdiensten und dem Militär beteiligen sich auch das Bundeskanzleramt, das Bundesinnenministerium und das Wirtschaftsministerium an der Ausgestaltung des Strategischen Kompasses. Die Federführung liegt beim Auswärtigen Amt.

Die am 9. November 2020 vorgelegte „Bedrohungsanalyse“ ist als „Geheim“ eingestuft. Das bedeutet, dass das Dokument durch EU-Abgeordnete nicht eingesehen werden darf. Auch die parlamentarische Kontrolle durch nationale Parlamente ist unmöglich.

Eigentlich muss die Bundesregierung dem Bundestag gemäß dem Gesetz über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) alle wichtigen EU-Dokumente zugänglich machen. Für die Bedrohungsanalyse soll dies aber nicht gelten. Als Begründung nennt das Auswärtige Amt in der Antwort auf eine Kleine Anfrage die Vertraulichkeit, die den Geheimdiensten anderer Mitgliedstaaten versprochen wurde. Ein „Verstoß gegen diese Absprachen“ habe demnach folgenschwere Konsequenzen für den BND.

Ausbau des INTCEN

Ebenfalls unter strenger Geheimhaltung haben im Januar die Beratungen für den Strategischen Kompass begonnen. An diesem „Strategischen Dialog“ nehmen außer den Mitgliedstaaten und dem EAD auch die EU-Kommission und die Europäische Verteidigungsagentur teil. Der „Dialog“ ist in die vier Schwerpunkte Krisenmanagement, Resilienz, Entwicklung von Kapazitäten und Partnerschaften unterteilt. Sie werden als „Körbe“ bezeichnet.

Heute beraten die EU-Verteidigungsminister:innen im Rat für Außenbeziehungen erstmals über den Korb zum Krisenmanagement. Laut den deutschen „Bedrohungswahrnehmungen“ gehören dazu unter anderem Cyberangriffe. Auch die Regierung in Österreich verlautet, dass die Gespräche einer „Stärkung der kollektiven Widerstandsfähigkeit gegen Cyber-Bedrohungen“ dienen.

Hierzu wurde bereits die Rolle des INTCEN ausgebaut, indem es die Attribution von Cyberangriffen unterstützen und Gegenmaßnahmen vorschlagen soll. Das geheimdienstliche Lagezentrum soll zudem gemeinsame „Bedrohungsanalysen“ mit Europol erstellen, die dann in der Ratsarbeitsgruppe „Terrorismus“ vorgestellt werden.

Instrumente gegen „Cyber-Bedrohungen“

Zu den im Strategischen Kompass zu bestimmenden Fragen gehört, ob und wie die EU auf eine Bedrohung im Cyberraum mit militärischen oder nicht-militärischen Mitteln reagiert. Unter deutscher und finnischer Leitung führen die Beteiligten dazu entsprechende Workshops durch.

Im Rahmen des existierenden Krisenmanagement können sich die Regierungen aus Instrumenten der EU-Verträge bedienen. Wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten von einem Ereignis betroffen sind, das ihre „Bewältigungskapazitäten eindeutig übersteigt“, greift etwa Artikel 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). „Vorkehrungen für die Anwendung“ dieser Solidaritätsklausel hat der Rat der EU 2014 beschlossen. Der Artikel gilt als zivile Krisenreaktion, regelt aber auch den Einsatz von „militärischen Fähigkeiten“ etwa im Falle von Katastrophen oder terroristischen Anschlägen.

Der bewaffnete Einsatz von Militär im Innern eines Mitgliedstaates ist aber im Rahmen des wechselseitigen Beistands gemäß Art. 42 Abs. 7 EUV ausformuliert. Diesen militärischen Bündnisfall hatte zuerst die französische Regierung nach den Terroranschlägen von 2015 geltend gemacht. Ob es sich dabei jedoch tatsächlich um einen „bewaffneten Angriff“ auf das Hoheitsgebiet eines EU-Staates handelte, ist umstritten.

Bis Ende dieses Jahres sollen die Ergebnisse des Strategischen Dialogs zusammengeführt werden. Zuständig dafür sind das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) sowie der Militärausschuss (EUMC) der EU. Dort organisieren sich hochrangige Beamt:innen der Außen- sowie Verteidigungsministerien einzelner Mitgliedstaaten. Anfang 2022 soll der Strategische Kompass dann unter französischer Ratspräsidentschaft als „sicherheits- und verteidigungspolitisches Grundlagendokument“ angenommen werden.

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Oben     —       Secret Intelligence Service in Großbritannien (VauxhallLondon)

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Deutschland im Indopazifik:

Erstellt von Redaktion am 4. Mai 2021

Die Logik der Eskalation

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von Uwe Hoering

Es klingt nach Routine: Mitte dieses Jahres soll die Fregatte „Bayern“ in See stechen und mehrere Monate im Indischen Ozean und im Westpazifik kreuzen. Das Bundesverteidigungsministerium will darin lediglich ein „Zeichen“ sehen: Wo Deutschlands „Werte und Interessen betroffen sind“, soll Flagge gezeigt werden. Doch dahinter steckt eine fundamentale sicherheitspolitische Neuordnung, ein Paradigmenwechsel gar. Europa will „die Sprache der Macht lernen“, wie die ehemalige Verteidigungsministerin und heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon im Sommer 2019 gefordert hat. Zugleich wirkt die Entsendung der Fregatte wie eine Provokation in Richtung China, die von Peking denn auch umgehend beantwortet wurde: Süffisant schreibt die regierungsnahe „Global Times“: „Wenn sie ins Südchinesische Meer kommen, können wir auch im Mittelmeer aufkreuzen.“[1]

Beim Operationsgebiet der „Bayern“ handelt es sich um eine der brisantesten Krisenregionen der Welt: Im Konflikt um die Kontrolle im sogenannten Südchinesischen Meer zwischen China, den Philippinen, Vietnam, Malaysia, Indonesien und Japan werden in letzter Zeit immer häufiger Scharmützel zwischen den Küstenwachen der Anrainerstaaten gemeldet. Aktuell gibt es Spannungen, weil mehr als 200 „Fischerboote“, vermutlich bemannt mit chinesischen Paramilizen, in philippinischen Gewässern unterwegs sind. Den Anstoß für diese Konflikte hat die chinesische Regierung 2009 geliefert, als sie eine Landkarte mit der „Nine-dash line“ vorlegte, eine recht freihändige Demarkationslinie, mit der sie territoriale Ansprüche auf 90 Prozent der Gewässer untermauert. Gleichzeitig lässt sie durch den Ausbau von Felsriffen und Sandbänken zu Militäranlagen Fakten schaffen – und verschiebt damit ihre militärischen Vorposten gegen einen möglichen Angriff der USA und ihrer Verbündeten um tausende Kilometer gen Osten. Die Entscheidung des Internationalen Schiedsgerichts in Den Haag aus dem Sommer 2016, dass ihre Position gegen UN-Seerecht verstößt, wies sie brüsk zurück.

Die „Bayern“ ist nicht allein: Auch britische, französische und niederländische Kriegsschiffe verstärken ihre Präsenz im Indopazifik im Namen der „Freiheit der Schifffahrt“. Die mächtige Pazifik-Flotte der USA ist dort schon seit längerem im Einsatz und liefert sich Revierkämpfe mit der chinesischen Marine, so wie gerade wieder Anfang April. Die Entsendung des deutschen Kriegsschiffes ist daher weit mehr als nur ein „Zeichen der Solidarität“, als das es Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer herunterzuspielen versucht: Vielmehr stellt sich die Bundesregierung damit an die Seite der konfrontativen US-Politik im Indopazifik.

Der innere und äußere Druck, sich dem Konvoi anzuschließen und beim aktuellen Great Game East wenigstens Flagge zu zeigen, ist spätestens seit der Amtszeit von der Leyens im Verteidigungsministerium spürbar, verstärkt von den meisten deutschen Medien. So hat die Bundesregierung im August vergangenen Jahres „Leitlinien zum Indopazifik“ beschlossen, mit denen sie ihre „Rolle als Gestaltungsmacht“ (AKK) bei der weltweiten Sicherstellung von „Frieden und Sicherheit“, „offenen Seewegen und Märkten“ und „freiem Handel“ beansprucht.[2] Auch andere Länder wie Frankreich und die Niederlande haben inzwischen ähnliche Strategie-Papiere veröffentlicht, während an einer gemeinsamen EU-Position noch gearbeitet wird. Ernsthafte Beobachter bezweifeln allerdings, dass die Freiheit der Schifffahrt durch China gegenwärtig tatsächlich bedroht ist – als mächtigste Handelsnation der Welt läge das nicht in ihrem Interesse.

Gerechtfertigt wird das europäische Engagement mit der wachsenden weltwirtschaftlichen Bedeutung der Region. Durch den Indischen Ozean, die südostasiatischen Gewässer und den Westpazifik verlaufen die wichtigsten Handelsrouten zwischen Asien und Europa und rund 40 Prozent des Außenhandels der EU, unter anderem mit ihrem inzwischen zweitwichtigsten Handelspartner China. Das Interesse gründet aber auch darauf, dass für die Region die stärkste Erholung nach der Corona-Pandemie vorhergesagt wird. Außerdem wird erwartet, dass durch die Diversifikation der Produktion in China – gleichermaßen eine Folge des Handelskriegs mit den USA wie der chinesischen Modernisierungsstrategie – die wirtschaftliche Rolle und Bedeutung der Nachbarländer weiter aufgewertet wird.

Dementsprechend bemühen sich europäische Länder und die EU, ihre wirtschaftliche und politische Präsenz in der Region zu stärken, zumal China mit dem regionalen Wirtschaftsabkommen RCEP einen bedeutenden wirtschaftlichen Punktsieg errungen hat. Dadurch wird ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von 2,2 Milliarden Menschen mit einem Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung geschaffen, in den drei der vier führenden asiatischen Volkswirtschaften – China, Japan und Südkorea – erstmalig gemeinsam eingebunden sind.

Datei:South China Sea vector de.svg

Eilig schlossen die EU und China daher Ende vergangenen Jahres das europäische Comprehensive Agreement on Investment (CAI) ab, vorangetrieben vor allem von der Bundesregierung. Darin verspricht Peking, den Zugang für Investoren zu verbessern, Asymmetrien zwischen europäischen und chinesischen Unternehmen abzubauen und die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens sowie von internationalen Vereinbarungen zu Arbeitsrechten und gegen Zwangsarbeit voranzubringen. Zudem verstärkt die EU ihre Bemühungen um bilaterale Handelsverträge: Mit Japan, Singapur und Vietnam wurden Freihandelsabkommen abgeschlossen, mit Australien, Neuseeland und der Regionalorganisation ASEAN sind Verhandlungen im Gange. Auf der europäischen To-do-Liste stehen zudem die schwierigen Verhandlungen mit dem eher widerspenstigen Indien: Neu-Dheli wird auch von Großbritannien umworben, das nach dem Brexit seinen globalen Ambitionen frönt – oder, wie manche Beobachter spotten: seinen Illusionen einer Rückkehr des British Empire.

Eskalierende Systemkonkurrenz?

Jedoch steht noch mehr auf dem Spiel: Längst ist das Südchinesische Meer ein Schauplatz des von den USA und inzwischen auch von der EU ausgerufenen „Systemkonflikts“ geworden, der auch um die Corona-Pandemie, die chinesische Einverleibung von Hongkong oder die Digitalisierung ausgefochten wird. Seit der Finanzkrise 2008, aus der die USA geschwächt und China gestärkt hervorgingen, reagiert Washington auf Pekings geopolitisches Selbstbewusstsein zunehmend konfrontativ, was unter der damaligen Außenministerin Hillary Clinton euphemistisch als „Hinwendung nach Asien“ („Pivot to Asia“) bezeichnet wurde.[3] Und bislang setzt auch der neue US-Präsident Joe Biden auf einen solchen Kurs, wenn auch konzilianter im Ton als sein Vorgänger Donald Trump und eingebettet in Bündnisse.

Die Armada, an der die „Bayern“ jetzt beteiligt ist, soll unter Führung der USA die „regelbasierte Ordnung“ und die Gültigkeit „gemeinsamer Werte“ unterstreichen – und China in die Schranken weisen. Ministerin Kramp-Karrenbauer verglich Pekings Ansprüche im Mai vergangenen Jahres bereits mit dem Vorgehen Russlands in der Ukraine: „Einige Ereignisse im Indopazifik sollten wir genauso bewerten“, wird sie unter anderem vom „Handelsblatt“ zitiert[4] – was immerhin den Widerspruch des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich hervorrief.

Mit der Kreuzfahrt der „Bayern“ gen Osten sendet die Bundesregierung allerdings ein äußerst problematisches Signal – und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Sie beteiligt sich nicht nur an der aggressiven Eindämmungsstrategie der USA, sondern unterstützt zugleich Bestrebungen von Frankreich und Großbritannien, an hegemoniale Ambitionen aus ihrer kolonialen Vergangenheit anzuknüpfen. Präsident Emmanuel Macron will Frankreich als indopazifische Macht profilieren und suchte dafür unter anderem die herzliche Umarmung mit Indiens fundamentalistisch-autoritärem Premierminister Narendra Modi. Und auch Post-Brexit-Großbritannien strebt in die Region und versucht dabei den Spagat, gleichzeitig Indien, einst das Kronjuwel des britischen Empire, und dessen Rivalen China zu hofieren. Wirtschaftliche Interessen führen dabei zu geopolitischer Expansion – ein Vorwurf, der ansonsten China gemacht wird. Die Assoziation mit kolonialer Kanonenboot-Politik liegt nahe. Schon wird vor einem neuen Kalten Krieg zwischen Ost und West gewarnt.

Quelle         :        Blätter        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —       USS Ronald Reagan traveling through the Straits of Magellan, to San Diego, CA, in a transfer move.

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Unten          —        Karte der territorialen Ansprüche im Südchinesischen Meer.

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Deutsche Politik Abwegig?

Erstellt von Redaktion am 29. April 2021

Ist Kritik an der israelischen Besatzungspolitik Antisemitismus?

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Wir sollten nicht hören – was  Regierung Verschwört !

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Inge Höger

Der Vorwurf des Antisemitismus als Herrschaftsinstrument!

Immer wieder wird versucht, Kritik an der israelischen Besatzungspolitik mit dem Vorwurf des Antisemitismus zu delegitimieren. Insbesondere im deutschen Politdiskurs wird Kritik an der seit über 50 Jahren währenden Besatzung der palästinensischen Gebiete durch alle israelischen Regierungen häufig als antisemitisch bezeichnet. Dieser inflationäre Vorwurf des Antisemitismus hat leider nichts mit wirklichem Antisemitismus zu tun, sondern erschwert den Kampf gegen Antisemitismus auf perfide Weise

„Denn wenn Israelkritiker als Antisemiten apostrophiert werden, wird ein Israel in Schutz genommen, das die systematische Unterdrückung eines anderen Volkes betreibt, eine Unterdrückung, die Israel zum Täter werden lässt – mag es sich noch so sehr ideologisch selbstviktimisierend als Opfer darstellen“ (Moshe Zuckermann, 20171).

Aktuell drohen der israelischen Regierung Anklagen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Die israelische Regierung versucht mit politischen Mitteln mögliche Verfahren zu verhindern mit der Behauptung, die Entscheidung des IStGH (ICC) sei „purer Antisemitismus“.

Die Untersuchung des IStGH konzentriert sich auf drei spezifische Verbrechen: zum einen auf die gezielte Tötung von Zivilisten während der israelischen Invasion des Gazastreifens im Sommer 2014, bekannt als Operation Protective Edge, wobei auch der willkürliche Raketenbeschuss auf Israel durch die Hamas untersucht werden soll. Während dieser Invasion wurden 2.104 Palästinenser im Gazastreifen und 73 Israelis getötet. Die zweite Untersuchung bezieht sich auf den Einsatz tödlicher Munition gegen unbewaffnete und gewaltlose Demonstrant*innen bei Demonstrationen anlässlich des Jahrestages des Großen Rückkehrmarsches im Gazastreifen. 195 Palästinenser*innen wurden während der Demonstrationen zwischen März 2018 und März 2019 durch israelisches Feuer getötet, jedoch keine Israelis. Die dritte Untersuchung befasst sich mit der Ansiedlung israelischer Bürger*innen in illegalen Kolonien innerhalb des besetzten Westjordanlandes, welche einen Verstoß gegen die Vierte Genfer Konvention darstellen.

Bereits nach der ersten israelischen Militäroperation gegen Gaza mit dem Namen „Gegossenes Blei“ zum Jahreswechsel 2008/2009 veröffentlichten Hilfsorganisationen im Dezember 2009 einen vernichtenden Bericht über die humanitäre Situation im Gaza-Streifen. Unter der Überschrift „Gaza – das große Versagen: Kein Wiederaufbau, keine Regenration, keine Ausreden mehr“, stellten sie fest, dass „die durch den Angriff entstandenen großen Schäden an den Wohnhäusern, der öffentlichen Infrastruktur, der Ökonomie und Landwirtschaft nur in sehr geringem Umfang behoben worden sind.“2 Das lag weder an fehlenden finanziellen Mitteln noch an dem Willen der Bevölkerung in Gaza, sondern an der Blockade Gazas durch die israelische Regierung.

Aufgrund dieser dramatischen humanitären Situation und der Unmöglichkeit die Kriegsschäden zu beseitigen, machten sich im Mai 2010 sechs Schiffe der Free-Gaza-Bewegung3 mit Hilfsgütern begleitet von mehr als 600 Menschen aus 37 Ländern auf den Weg nach Gaza. Aus Deutschland war der Koordinationskreis Palästina-Israel (Kopi) an der Gaza-Flottille beteiligt und organisierte eine Begleitgruppe aus den beiden Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger, dem emeritierten Hochschulprofessor Norman Paech, dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der IPPNW Deutschland Matthias Jochheim und Nader el Sakka von der Palästinensischen Gemeinde Deutschland. Diese Gruppe startete am 29. Mai 2010 zusammen mit Aktivist*innen und Journalist*innen aus aller Welt – darunter auch die ehemalige US-Diplomatin Ann Wrigth und der inzwischen verstorbene Schriftsteller Henning Mankel – mit den Booten Challenger I und Challenger II von Kreta aus. Nach einem Zwischenstopp auf Zypern wollten sie sich mit den anderen Booten treffen. Aufgrund eines Motorschadens konnte die Challenger I die Fahrt nicht fortsetzten und die Passagiere wurden teilweise auf andere Schiffe umverteilt. So kam die deutsche Gruppe am Morgen des 30. Mai auf die Mavi Marmara.

Am frühen Morgen des 31. Mai 2010 überfiel israelisches Militär in internationalen Gewässern zunächst die Mavi Marmara, tötete dabei neun Menschen und verletzte zahlreiche weitere. Anschließend besetzten die Streitkräfte alle Schiffe der Gaza-Flottille und entführten sie mit Hilfsgütern und Begleitpersonen nach Aschdod in Israel. Dort wurde den Passagieren illegale Einreise nach Israel vorgeworfen. Ein Untersuchungsbericht des UN-Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kommt im Herbst des Jahres 2010 zu dem Schluss, „dass die Israelis eine Serie von Verstößen gegen das Völkerrecht einschließlich des internationalen humanitären Rechts und der Menschenrechte begangen haben.“4

Der Deutsche Bundestag beschloss im Sommer 2010 mit den Stimmen aller Fraktionen den Antrag 17/2328 „Ergebnisse um die Gaza-Flottille aufklären – Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nahost-Friedenprozess unterstützen“. In diesem Antrag fordert der Bundestag die Bundesregierung u.a. auf: „die Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen und darauf hinzuwirken, dass Israel die Positivliste von Gütern, deren Einfuhr möglich ist, in eine Negativliste verbotener Güter wie Waffen und waffenfähiges Material umwandelt.“5

„Das Recht ist auf der Seite der Palästinenser“, schrieb der damalige UN-Sonderberichterstatter für Palästina, Richard Falk. „Aber der UNO fehlt der politische Wille, es durchzusetzen, weil die USA Israels Regierende davor bewahren, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Deshalb ist es nun an der Zivilgesellschaft, dasungesetzliche und grausame Verhalten in den besetzten Gebieten beim Namen zu nennen.

Indem die Flotille die illegale Blockade herausgeforderte, hat sie etwas erreicht, wozu die Regierungen und die UNO nicht fähig oder nicht willens waren: „Israels Legitimität ist ernsthaft untergraben.“6

Der Druck der internationalen. Gemeinschaft bewirkte, dassdie Blockade ein wenig gelockert wurde und vorrübergehend bis zu 400 Lastwagen täglich mit Waren nach Gaza kamen. Der damalige Außenminister Westerwelle hielt die Lockerung der Blockade nicht für ausreichend. Im Sommer 2010 besuchte die damalige EU-Außenbeauftragte Ashton den Gaza-Streifen und forderte die Öffnung aller Grenzübergänge, damit sich die wirtschaftliche Lage in Gaza verbessern könnte. Außerdem plädierte sie dafür, den Personen- und Warenverkehr zwischen den beiden Palästinensergebieten, dem Gazastreifen und Westjordanland wieder zu gestatten.7 Im November 2010 forderten Hilfsorganisationen wie Amnesty International und medico international mit einem Appell an die internationale Gemeinschaft das sofortige Ende der Gaza-Blockade. Sie stellten fest, dass die versprochene Lockerung der Gaza-Blockade den Palästinensern kaum zugutekam und klagten an, dass das Verbot von Exporten aus dem Gazastreifen nicht aufgehoben wurde und dass es noch immer vor allem an Material für den Wiederaufbau fehle.8

Das politische Klima für Kritik an der Blockade Gazas und der Besatzung Palästinas ändert sich zusehends. In allen Parteien bekommen rechte und antideutsche Kräfte Oberwasser. Auch aus der rechten und der antideutschen Ecke der Linkspartei kommen zunehmend Stimmen, die eine uneingeschränkte Unterstützung der Regierungen in Israel als deutsche Staatsräson verstehen. Jede Kritik an der Politik israelischer Regierungen wird als „Antisemitismus“ gegeißelt. Von der Frankfurter Rundschau wurde am 18.05.2011 eine sog. Studie über angeblichen Antisemitismus in der Linkspartei vorgestellt. Die Untersuchung von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt9 unter dem Titel „Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit?“10 lenkt durch die Bildung des Begriff „antizionistischem Antisemitismus“ vom eigentlichen Problem des Antisemitismus in Deutschland ab. Es besteht immer noch ein gravierender Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus. Und der Vorwurf, „Die grundlegenden Prinzipien eines großen Teils der Partei DIE LINKE sind der Antiimperialismus und damit einhergehend die radikale Gegnerschaft zum Staat Israel“ ist ziemlich aus der Luft gegriffen bzw. stiftet Verwirrung. Natürlich ist die LINKE eine antikapitalistische und antiimperialistische und internationalistische Partei. Natürlich sind Grundlagen ihres Internationalismus die Anerkennung des internationalen Völkerrechts. Die Blockade des Gaza-Streifens und die Besatzung des Westjordanlandes und der Bau von Siedlungen in den besetzten Gebieten sind völkerrechtswidrig. Aber wem es nur um eine angeblich eingeschränkte Regierungsfähigkeit geht, wird in der deutschen Außenpolitik das Völkerrecht zur Nebensache

Peter Ulrich und Alban Werner kommen in einer Bewertung zu folgendem Fazit: „Der Versuch von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt, nachzuweisen, dass ein antizionistischer Antisemitismus oder auch nur die problematischen Phänomene im angrenzenden Graubereich maßgeblich für die Partei DIE LINKE sind, ist als haltlos zurückzuweisen. Insbesondere der Vorwurf, DIE LINKE bestreite das israelische Existenzrecht trifft nicht zu…. die Autoren müssen sich tendenziöses, selektives, widersprüchliches und irreführendes Vorgehen vorwerfen lassen. Damit ist dem Anliegen der Auseinandersetzung mit Antisemitismus ein Bärendienst erwiesen, insbesondere das Salzborn und Voigt nicht nur den unterstellten „Antisemitismus der Linken“ überbewerten, sondern damit auch den Antisemitismus als generelles Problem der deutschen Gesellschaft relativieren.“11

Am 9. Mai 2011 hielt ich ein Grußwort bei einer „Konferenz der Palästinenser in Europa“ unter dem Titel „Die Generation der Rückkehr kennt ihren Weg“. Es ging bei dieser Konferenz um das Recht auf Rückkehr oder Entschädigung gemäß der UN Resolution 194, ein Ende der Besatzung und um das Selbstbestimmungsrecht des Palästinensischen Volkes. Gäste waren u.a. Fadwa Barghouti (Fatah/PLO), Mustafa Barghouti (palästinensischer Minister a.D.) und Felicia Langer (Holocaust-Überlebende und Trägerin des Alternativen Nobelpreises). Auf der Bühne wurde allen Gastredner*innen ein Palästina-Schal mit einer Karte des historischen Palästina von 1947 umgelegt. Diesen Schal nahmen anschließend alle selbsternannten Freunde Israels zum Anlass für die Behauptung, Inge Höger würde damit das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Ich habe mich in allen politischen Erklärungen zum Nahost-Konflikt immer auf UN-Resolutionen einschließlich der Resolution 181 bezogen, die die Teilung Palästinas in einen unabhängigen arabischen und einen unabhängigen jüdischen Staat sowie ein internationales Sonderregime für die Stadt Jerusalem vorsah. Die Palästinensische Gemeinde Deutschland erklärte seinerzeit zu den Antisemitismusvorwürfen gegen mich u.a.: „Kritik an der Politik des Staates Israel ist keinesfalls einhergehend mit antisemitischen Gedanken. Mit einer Gleichsetzung – ein durchaus häufiges Phänomen dieser Zeit – wird der Begriff seiner historischen Grundlage beraubt, verwässert und vor allem verharmlost.“

Am 25. Mai 2011 gab es aufgrund des Aufsatzes von Salzborn und Voigt und der Antisemitismusvorwürfe gegen linke Bundestagsabgeordnete im deutschen Bundestag eine aktuelle Stunde zu „möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen in der Partei DIE LINKE.“ Die Debatte war lt. Wolfgang Gehrke so unlauter, wie die „sozialwissenschaftliche Untersuchung“ unsauber war.12 Und er ergänzt: „Manchmal fällt der Respekt vor dem Hohen Haus schwer; erschreckend ist, wenn sich eine parteiübergreifende Verbrüderung gegen DIE LINKE auf nichts anderes stützt… als auf tief verwurzelten Antikommunismus oder Hass gegen alle Linke.“

In der Bundestagsdebatte wurden als antisemitisch dargestellt:

  • die Teilnahme an der Free-Gaza-Flottille, die auf die völkerrechtswidrige Blockade des Gazastreifens aufmerksam machte
  • die Forderung nach Verhandlungen mit der Hamas
  • ein palästinensischer Schal mit einer Landkarte Palästinas, die genau den Landkarten entspricht, die in Israel mit der Überschrift „Israel“ öffentlich verkauft werden

Es ging und geht offensichtlich nicht um Antisemitismus, sondern allein darum jede Kritik an israelischen Regierungen und Militär zu delegitimieren. Der immer wieder mit dem Vorwurf des Antisemitismus erwähnte Schal war auf einer Tagung palästinensischer Gruppen aus ganz Europa zum Thema Rückkehrrecht oder Entschädigung für verlorenes Eigentum gemäß der UN Resolution 194 allen Redner*innen auf der Bühne als Geschenk umgelegt worden, u.a. auch mir und Felicia Langer.

Der Verleger und Publizist Abraham Melzer verfolge die Debatte im Fernsehen und brachte anhand des Protokolls der Sitzung eine Sonderausgabe der Zeitschrift „DER SEMIT“ (Sondernummer 1/2011) mit dem Titel „Es „brodert“ im deutschen Bundestag“ heraus.

In der Einleitung schreibt Abraham Melzer u.a.:

„Die Abgeordneten der etablierten Parteien führen keine Debatte, sondern veranstalten ein Scherbengereicht oder Tribunal über eine Partei…, die ihnen schon seit Langem ein Dorn im Auge ist und die sie am liebsten ebenso los werden wollen, wie die Israelis die Palästinenser, eines Morgens aufzustehen und festzustellen, dass es keine Linkspartei mehr gibt… Und womit kann man heute in diesem Land jemanden am besten mundtot und fast schon echt tot machen? Natürlich mit dem Vorwurf des Antisemitismus… Wenn man allein schon deshalb ein Antisemit ist, weil man einen Schal umgehängt bekommen hat, der die Grenzen Palästinas von 1947 zeigt, also ohne Israel, dann ist es höchste Zeit, dass man in diesem Land endlich eine ernsthafte (!) Debatte darüber führt, was Antisemitismus eigentlich ist. “13

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Völkerrechter Prof. Norman Paech kommentierte: „Für viele Sternstunden der Debattenkultur ist der Bundestag ohnehin nicht bekannt, aber in dieser Stunde war es stockdunkel im Hohen Haus.“14

Die Linksfraktion im Bundestag gab dem Druck nach und beschloss am 7. Juni 2011 eine Erklärung.

Unter der Überschrift „Entschieden gegen Antisemitismus“ heißt es: „Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE werden auch in Zukunft gegen jede Form von Antisemitismus in der Gesellschaft vorgehen. Rechtsextremismus und Antisemitismus haben in unserer Partei heute und niemals Platz. Die Fraktion DIE LINKE tritt daher entschieden gegen antisemitisches Gedankengut und rechtsextremistische Handlungen auf. Die Mitglieder der Bundestagsfraktion erklären, bei all unserer Meinungsvielfalt und unter Hervorhebung des Beschlusses des Parteivorstandes gegen Antisemitismus vom 21. Mai 2011: Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahost-Konflikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer ‚Gaza-Flottille‘ beteiligen. Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen.“15

Jürgen Reents kommentierte im Neuen Deutschland: „Waren Hannah Arendt; Martin Buber, Albert Einstein und die Mitstreiter linkszionistischer Strömungen wie Brit Shalom Antisemiten? Sie engagierten sich für einen säkularen, demokratischen Staat, in dem Juden und Araber gemeinsam leben…. Solche Ideen nun aber als antisemitisch zu geißeln, blieb der Linksfraktion vorbehalten. Ihr Beschluss zeugt – und das ist die vorsichtigste Formulierung – von geschichtlicher Unkenntnis. Die treffendere ist: Die Bundestags-LINKE versucht sich mit untauglichen Argumenten bis hin zum Denkverbot vor Vorwürden des Antisemitismus zu schützen.“16 Und Albrecht Müller schrieb in den Nachdenkseiten, „dass DIE LINKE möglicherweise schon nicht mehr fähig sei, sich gegen die auch mit dem Antisemitismus-Vorwurf betriebene Gleichschaltung machtvoll zu wehren, weil in ihren eigenen Reihen solche sitzen, die auf Rechnung anderer arbeiten, trojanische Pferde sozusagen.“17

Die Kritik an dieser Erklärung war so groß, dass die Fraktion am 28. Juni 2011 präzisierte: „Die Mitglieder der Bundestagsfraktion erklären, bei all unserer Meinungsvielfalt und unter Hervorhebung des Beschlusses des Parteivorstandes gegen Antisemitismus vom 21. Mai 2011: Wir werden als Linke weiterhin die Politik der israelischen Regierungen gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern öffentlich kritisieren, wann immer dies wegen deren Völker- und Menschenrechtswidrigkeit notwendig ist. Das betrifft die israelische Besatzungspolitik, die Blockade gegenüber dem Gazastreifen und die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten ebenso wie die Weigerung der israelische Regierung, konstruktiv an einer Zweistaatenlösung mitzuwirken, stattdessen diese zu erschweren. Es ist nicht hinnehmbar, wenn einer derartigen Kritik an der Politik der israelischen Regierung mit dem Vorwurf des Antisemitismus begegnet wird. Wir werden nicht zulassen, dass Mitglieder unserer Fraktion und Partei öffentlich als Antisemiten denunziert werden, wenn sie ein solche Politik der israelischen Regierung kritisieren.“18

2012 führte Israel einen zweiten kurzen achttägigen Krieg gegen Gaza. Der dritte Gaza-Krieg „Operation Protective Edge“ begann am 8. Juli 2014 und endete am 26. August durch einen von Ägypten vermittelten Waffenstillstand. In diesem 50 – tägigen Krieg war die Bevölkerung des Gazastreifens den israelischen Angriffen schutzlos ausgeliefert. Es gibt weder Bunker noch Schutzräume und eine Flucht ist aufgrund der Abriegelung des Gebietes so gut wie unmöglich. Nach UN-Angaben sind in diesem Krieg mindestens 2.100 Palästinenser*innen getötet (davon mindestens 1.650 Zivilist*innen) und mehr als 11.000 Zivilist*innen verletzt worden. Mehr als 485.000 Menschen waren aus ihren Häusern und Wohnungen geflüchtet und auch Monate nach Kriegsende waren noch viele obdachlos. 20.000 Häuser und Wohnungen wurden zerstört oder schwer beschädigt, dutzende Fabriken, Schulen und Krankenhäuser, das Elektrizitätswerk und viele Straßen wurden beschädigt. Als sich im Oktober 2014 Vertreter*innen von 50 Staaten und 20 internationalen Organisationen zu einer Geberkonferenz für den Wiederaufbau trafen, waren Tausende zerstörte Häuser und Infrastruktur aus den früheren Gaza-Kriegen noch nicht wieder aufgebaut. Es wurde ein Gaza-Wiederaufbau-Mechanismus vereinbart, der sowohl den Bedürfnissen der Palästinenser*innen als auch den israelischen Sicherheitsbedenken Rechnung tragen sollte. Der Wiederaufbau kam und kommt u.a. aufgrund der Blockade und der bürokratischen Hürden nur schleppend voran.

Während dieses erneuten Krieges gegen die Bevölkerung des Gaza-Streifens gab es in Deutschland viele Proteste und Demonstrationen, an denen sich aber die LINKE als Partei so gut wie nicht beteiligte. Nur einzelne Abgeordnete standen zu ihrer Antikriegspolitik, nahmen an Antikriegsdemonstrationen teil und waren solidarisch mit den Palästinenser*innen. Die Rufmord-Kampagne hatte ihre Wirkung getan. Im September 2014 fand eine außerordentliche Sitzung des Russel-Tribunals19 zu Gaza statt.

Die Zusammenfassung der Ergebnisse wurde im Oktober veröffentlicht.20 Aufgelistet werden die Toten, Verwundeten und die Zerstörungen von Wohnungen und Infrastruktur, die Verwendung von Waffen und die Methoden der Kriegsführung. Über 700 Tonnen Sprengstoff, ungefähr 2 Tonnen pro Quadratkilometer, explodierten in Gaza. Die Wasserversorgung und Stromversorgung wurde zerstört, so dass 450.000 Zivilist*innen vom Zugang zur kommunalen Wasserversorgung abgeschnitten waren und nur noch für vier Stunden täglich mit Strom versorgt werden können. Der Bericht kommt zu der Feststellung: „Es war Israels schwerster Angriff auf den Gazastreifen seit Beginn der Besatzung der palästinensischen Gebiete“ und stellt weiter fest, „dass ein bedeutender Prozentsatz der zivilen palästinensischen Todesfälle während der Operation ‚Protective Edge‘ auf geplantes, rechtswidriges und vorsätzliches Töten zurückgeht.“ Das Tribunal räumt mit einem zentralen Argument der Regierung auf, Israel habe in Selbstverteidigung gehandelt: „Israel ist die Besatzungsmacht des Gazastreifens. Als Besatzungsmacht kann Israel nicht das vom Völkerrecht zugestandene Recht auf Selbstverteidigung für sich geltend machen, wenn es in Gaza Gewalt anwendet.“

Zwei Zeugen des Russel-Tribunals zu Gaza, die Journalisten Max Blumenthal (USA) und David Sheen (Israel) kamen im Herbst 2014 auf Einladung des Arbeitskreises Nahost Berlin, der IPPNW, Berlin für Gaza und BDS Berlin zu einer Veranstaltung nach Berlin. Thema der Veranstaltung war das Russel-Tribunal zu Israels Kriegsverbrechen in Gaza im Kontext des Nahostkonfliktes. Auf Beschluss des Arbeitskreises Internationale Politik der Linksfraktion sollten die beiden Journalisten am 10. November Gast der Linksfraktion sein. Nachdem Gregor Gysi die Konferenz in den Räumen der Linksfraktion öffentlich über einen Artikel von Benjamin Weinthal, Deutschland-Korrespondent der Jerusalem-Post, in der Berliner Morgenpost absagen ließ21, fand ein Fachgespräch auf Einladung von Inge Höger und Annette Groth in einem Sitzungssaal des Bundestages statt. Max Blumenthal und David Sheen waren sehr empört darüber, dass sie von dem linken Fraktionsvorsitzenden indirekt als Antisemiten bezeichnet worden waren und wollten deshalb ein klärendes Gespräch. Bei dem Versuch dazu kam es zu der Verfolgung auf dem Weg zur Toilette, die dann medial hoch gezogen wurde. Leider ging dadurch ihr Bricht über Kriegsverbrechen des israelischen Militärs in Gaza und die Einordnung in den Nahost-Konflikt sowie die Rechts-Entwicklung in Israel unter Benjamin Netanjahu in der öffentlichen Berichterstattung unter.

Max Blumental erklärte später in einem TAZ-Interview: „Wie soll man reagieren, wenn einem Antisemitismus vorgeworfen wird? Das erinnert mich an die McCarthy-Ära… Gysi hat sich den Vorwurf aber zu eigen gemacht und mit dafür gesorgt, dass wir in Berlin nicht auftreten konnten… Und es empört mich, wenn der Holocaust benutzt wird, um Kritik an Israel zu unterbinden- und dass sich die Kinder und Enkelkinder der Täter anmaßen, Juden wie mich oder David Sheen als Antisemiten zu bezeichnen.“22 Die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ schrieb in einem Brief: „Als deutsch-europäische und israelische Juden und Jüdinnen, die heute in Deutschland leben, protestieren wir vehement gegen diese Angriffe auf die Redefreiheit zweier jüdischer Referenten – David Sheen ist darüber hinaus auch israelischer Staatsbürger-, die am Russel-Tribunal zu Palästina teilnahmen und ihre Erfahrungen in Gaza und Israel mitteilen wollten. Wir sehen ihre Intervention als einen konkreten Versuch, jegliche Kritik an der israelischen Politik zu unterbinden.“23

Da der Zwischenfall für eine innerparteiliche Auseinandersetzung missbraucht wurde, erklärte Gregor Gysi am 17. Nov. 2014: „Inge Höger, Annette Groth und Heike Hänsel haben sich bei mir nach einer offenen und kritischen Debatte in der Fraktion entschuldigt und ich habe die Entschuldigung angenommen…. An alle Mitglieder von Partei und Fraktion appelliere ich, ihre ideologischen Differenzen nicht anhand dieses Vorfalls auszutragen.24

Seitdem wird mir immer wieder der Vorwurf gemacht Antisemitin zu sein. In aller Regel wird dabei auf ein beliebig zusammengestückeltes Substrat der hier geschilderten Geschichte Bezug genommen. In der Regel ist die bösartige Absicht dahinter leicht zu erkennen. Bei meiner Kandidatur als Landessprecherin in NRW im Sommer 2018 wurde ich nur knapp gewählt, nachdem eine entsprechende Kampagne lanciert worden war. Edith Barelmus-Scholich kommentierte das Ergebnis in dem Blog Scharflinks: „Gewählt wurde Höger mit einem denkbar knappen Ergebnis von 177 Ja-Stimmen. Ursächlich dafür waren weniger ihre zuvor skandalisierten Positionen zum Israel-Palästina-Konflikt. Viel wichtiger für das Wahlergebnis sind alte und neue Bruchlinien in der Partei. Inge Höger verfügt über die Eigenschaft, sich, wenn sie es für nötig hält, in einer Sache zu positionieren auch ohne taktische Rücksichten zu nehmen. Gegner handelte sie sich so 2006 ein, als sie als Stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag Oskar Lafontaine, Klaus Ernst und Ulrich Maurer in einem Interview vor dem Ludwigshafener Parteitag der WASG aufforderte, die Partei nicht zu spalten und den linken Flügel nicht auszugrenzen. Für die WASG konnte Höger seinerzeit Schaden begrenzen, sie selbst bezahlte die „Majestätsbeleidigung“ mit dem Verlust ihrer Position im Fraktionsvorstand… Schlussendlich spielte bei dem Wahlergebnis eine Rolle, dass sie sich in der laufenden Auseinandersetzung um die sog. Sammlungsbewegung bereits im Sinne der Einhaltung der Parteitagsbeschlüsse zur Migrationspolitik positioniert hatte.“

Auch aktuell werden die Versatzstücke der Geschichte, zum Teil völlig entstellt, auf jeden Fall aber kontextfrei benutzt, um mich mit dem Antisemitismus Vorwurf zu verleumden. Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto weniger wissen die aktiven Verleumder oft über die Zusammenhänge. Ich selbst wurde nie gefragt. Das ist bei Hass- und Hetzkampagnen aus naheliegenden Gründen auch nicht üblich. Besonders schmerzlich erscheint dabei, dass es niemals um Wahrheit, sondern immer um eine maximale Verleumdungswirkung geht. An der offenbar unendlichen Kampagne beteiligen sich anlassgebunden auch Parteimitglieder der LINKEN, nicht selten im Zusammenhang mit Funktions- oder Mandatskandidaturen. Diese Art des Rufmords ist in Zeiten von Social Media zu einer beliebten Disziplin geworden. Wenn euch/ihnen Diese Kampagne begegnet, habt ihr wenigstens die Gelegenheit die ganze Geschichte zu kennen und Verleumdung und Tatsachen auseinander zu halten.

Am 26. März 2021 gab eine Gruppe von mehr als 200 Wissenschaftler*innen die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus heraus: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“. Ergänzt wird diese kurze Definition durch Leitlinien für die Anwendung. Diese Definition entspricht auch meinem Verständnis von Antisemitismus als einer besonderen Form des Rassismus. Nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg! sind Leitlinien meiner Politik.

1 Mosche Zuckermann: „Die Ideologisierung des Antisemitismus-Vorwurfs“ in „Palästina – Vertreibung, Krieg und Besatzung“, 2017

2 Ein Bericht über die Situation im Gaza-Streifen ein Jahr nach der Operation „Gegossenes Blei „Gaza – Das große Versagen: Kein Weideraufbau, keine Regenration, keine Ausreden mehr

3 „Free-Gaza“-Spendensammlungen werden in Deutschland unter anderem unterstützt von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, der kirchlichen Friedensorganisation pax christi und dem Verein Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges.

4 Menschenrechtsrat, 15. Sitzungsperiode, A/HRC/15/21: Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den israelischen Angriff auf die GAZA-Hilfsflottille

5 Drucksache 17/2328 „Ergebnisse um die Gaza-Flottille aufklären – Lager der Menschen in Gaza verbessern – Nahost-Friedensprozess unterstützen“

6 www.zcommunications.org/ Zitiert nach SOZonline.de/2010 /07 der-ueberfall-auf-die-gaza-flotille-und-ihre-folgen/

7 Quelle DPA 18.07.2010

8 https://www.medico.de/eu-hilfsorganisationen-lage-in-gaza-kaum-verbessert-14106/

9

10 Samuel Salzborn und Sebastian Voigt,: Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischen Antisemitismus den dem Streben nach Regierungsfähigkeit. 2011

11 Peter Ullrich, Alban Werner: „Ist DIE LINKE antisemitisch? Über Grauzonen der „Israelkritik“ und ihre Kritiker“ 2011

12 Wolfgang Gehrcke: Rufmord – Die Antisemitismus-Kampagne gegen links,2015

13 DER SEMIT – Unabhängige jüdische Zeitung – 3. Jahrgang – Sondernummer 1/2011

14 DIE LINKE und der Antisemitismus: Anmerkungen zu einer Debatte des Bundestages, Junge Welt 1.06.2011

15 www.linksfraktion.de/presse/pressemitteilungen

16 Untauglich – Standpunkt von Jürgen Reents – Neues Deutschland 9.09.2011

17 Nachdenkseiten 21. Juni 2011

18 www.Linksfraktion/presse/pressemitteilungen

19 Das erste Russell-Tribunal, auch unter der Bezeichnung Vietnam War Crimes Tribunal (englisch für „Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal“) bekannt, wurde 1966 von dem britischen Mathematiker, Philosophen und Literaturnobelpreisträger Bertrand, Lord Russell, sowie Ken Coates und weiteren Beteiligten, unter dem Dach der Bertrand Russell Peace Foundation (Bertrand-Russell-Friedens-Stiftung) ins Leben gerufen. Ziel des Tribunals war die Untersuchung und Dokumentation US-amerikanischer Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg nach 1954.

20 Außerordentliche Sitzung des Russel-Tribunals zu Gaza, Zusammenfassung der Ergebnisse, Hrg. SalamShalom – Arbeitskreis Palästina – Israel e.V. und Deutsch-Palästinensische Gesellschaft e.V.

21 Gysi stopp Konferenz von „Israel-Hasern“ im Bundestag: Berliner Morgenpost 6.11.2014

22 „Ich bin empört“ Max Blumenthal und die Klo-Affäre; taz 13.11.2014

23 13.11.2014 Brief der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ www.juedische-stimme.de

24 www.gregrorgysi.de

Urheberrecht
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Oben         —   Deutsch: Plakat „Doppelleben – Der Film“

Author DWolfsperger            /     Source      –   Own work
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2.) von Oben     —   Inge Höger (2014)

Martin Kraft – Eigenes Werk

Inge Höger MdB, Die Linke

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3.) von Oben      —      Breaking the siege 2008

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Unten       —     Israel’s Double Standard

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In Treue fest:

Erstellt von Redaktion am 24. April 2021

NATO-Mitglied Tagesschau

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Die USA ziehen in Afghanistan den Schwanz ein, aber ARD-aktuell vermeidet den Begriff „verdiente Niederlage“.

Die Tagesschau übertrug seine Lüge im O-Ton: Um zu verdeutlichen, worum es wirklich geht, habe ich davon gesprochen, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird. Deutschland ist sicherer, wenn wir zusammen mit Verbündeten und Partnern den internationalen Terrorismus dort bekämpfen, wo er zu Hause ist, auch mit militärischen Mitteln“, behauptete der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, SPD, am 20. Dezember 2002 im Bundestag. (1) Jetzt verkündet seine fünfte Nachfolgerin im Amt, Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU: Wir haben immer gesagt, wir gehen gemeinsam rein, wir gehen gemeinsam raus“. (2) Na fein. Beide Zitate sind in jeder Hinsicht epochal: In ihrer mörderischen Dreistigkeit ebenso wie in ihrer niederträchtigen Verlogenheit. Von der Dummheit soll hier erst später die Rede sein.

Aufgabe der ARD-aktuell wäre es gewesen, entsprechend einzuordnen, worauf die zitierten Äußerungen Bezug nahmen. Die Redaktion wählte jedoch den bequemeren Weg und betete lediglich nach, was regierungsoffiziell verkündet wurde. Wie immer. Zu der Nachricht „Der Westen gibt seinen Krieg in Afghanistan nach 20 Jahren endlich verloren“ kann sie sich einfach nicht durchringen. Soviel journalistischer Charakter ist nicht.

Der halbwegs und nicht nur von Tagesschau-Berichten her informierte Mitmensch weiß: In Afghanistan ist der Terrorismus erst zuhause, seit die USA dort im vorigen Jahrhundert sogenannte „Volksmudschaheddin“ mobilisierten, finanzierten, bewaffneten und in den Guerillakrieg gegen die mit Moskau verbündete kommunistische Revolutionsregierung in Kabul hetzten. (3) Später, als die sowjetischen Truppen abgezogen waren, aber der Bürgerkrieg zwischen den afghanischen Warlords weiterging, mutierten die Mudschaheddin zu „Taliban“; vorübergehend betitelte auch die Tagesschau sie ebenso falsch wie betulich als „Religionsschüler“. Sie haben jetzt ihren wahren Feind besiegt: die USA und deren NATO-Verbündete.

Die westlichen Invasoren waren nicht „zusammen hineingegangen“, sondern die USA hatten am 20. September 2001 ihren „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen (4) und am 7. Oktober 2001 auf eigene Faust mit völkerrechtswidrigen Luftangriffen auf Afghanistan begonnen. Ihre NATO-Vasallen, Deutschland mit Bundestagsbeschluss am 22. Dezember 2001, schlossen sich dem neuen Kolonialkrieg erst Monate später an. (5)

… „zusammen rausgehen“ oder rausgeprügelt werden

Ob „wir“ nun auch „zusammen rausgehen“ (Kramp-Karrenbauer, Hirn abgeschaltet) oder von den Taliban hinausgeprügelt werden, wird sich erst noch zeigen. Bis zum 11. September ist es noch lange hin. An diesem von US-Präsident Biden gewählten Stichtag ereignete sich vor 20 Jahren der Anschlag auf die Zwillingstürme in New York. Nicht Afghanen, sondern Araber waren dafür verantwortlich. Die US-typische Geschmacklosigkeit der Terminwahl für den Abzug soll hier nicht weiter beredet werden.

Es ist und bleibt faszinierend, mit welch primitiven Mitteln der imperiale “Wertewesten” gegen Länder und Regierungen Propaganda macht, die sich nicht unterordnen wollen. Seine angemaßte Deutungshoheit wird vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterstützt. Der desinformiert sein Millionenpublikum permanent, nicht nur über den 20-jährigen Krieg gegen Afghanistan. Vom „Genozid an den Uiguren“ in China über den „sein eigenes Volk ermordenden syrischen Machthaber“ Assad bis hin zum unmittelbar bevorstehenden „Herztod“ des Nowitschok-Überlebenskünstlers Nawalny versprüht er willig und ungeprüft in seinen Nachrichtenprogrammen, was immer die westlichen Geheimdienste an propagandistischen Kampfgiften liefern.

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Die Karrenbauer nervt – gut das ich sie mit dieser Brille nicht erkennen kann.

Im „Krieg gegen den Terror“ sind USA und NATO für weit mehr als 150 000 Tote mitverantwortlich (6). Mehr als eine halbe Million Menschen wurden verstümmelt. Die Kosten dieses globalen Verbrechens, soweit in Zahlen fassbar, liegen im Bereich mehrerer Billionen (!) Euro. (7) Über den deutschen Anteil daran sind keine eindeutigen und unstrittigen Angaben bekannt. Die Tagesschau meldet schwammig jährliche Ausgaben „in Milliardenhöhe“ (8), das ZDF behauptete bar jeder Nachvollziehbarkeit „insgesamt 45 Milliarden Euro“ (9). Die Zahlenakrobatik der Sender hilft, die unmenschliche Monstrosität des Überfallkrieges zu verschleiern.

Bei vielen Älteren unvergessen: die Neujahrspredigt „Nichts ist gut in Afghanistan“ (10) der EKD-Bischöfin Margot Käßmann. Sie blieb eine einsame Ruferin in der Informationswüste. Tagesschau & Co. sorgten dafür, dass sich auch bei uns kein nennenswerter Widerstand gegen den verbrecherischen Überfall der US-geführten Allianz (NATO-Staaten plus ein weiteres Dutzend „Willige“) auf ein kleines rückständiges Land entwickelte, dem der Westen die Vorzüge von Demokratie und Menschenrechten mit Bomben und Granaten beibrachte.

Dummschwätzer im Reichstag

Das ekelhaft scheinheilige Gerede über Absichten und Erfolge in diesem auf Eroberung und Vernichtung Afghanistans und – übergeordnetes geostrategisches Ziel – auf Umzingelung Russlands angelegten Krieg erreichte im Reichstag Gipfelrekorde. Dort wurde am 4. und am 25. März über die Verlängerung des Afghanistan-Mandats der Bundeswehr debattiert. Kai Küstner, ausgewiesener ARD-aktuell-Hofberichterstatter für alle Zwecke, berichtete unter Verwendung ausgewählter Abgeordneten-Zitate:

Man dürfe nun weder US-Präsident Joe Biden mit einem deutschen Alleingang vor den Kopf stoßen noch die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Frauen im Land im Stich lassen, die Jahre brutaler Taliban-Herrschaft erlebt haben:

Wir dürfen sie nicht alleine lassen: Die afghanischen Sicherheitskräfte, die Bevölkerung – sie setzen auf uns‘ (Siemtje Möller, verteidigungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion)

Die beste Chance seit langem, durch Gespräche der afghanischen Regierung mit den Extremisten zu einer Friedenslösung zu gelangen, dürfe jetzt nicht verspielt werden“ (Johann Wadephul, CDU).

… ein Abzug der Bundeswehr darf weder kopflos noch im Alleingang vollzogen werden.‘ (FDP-Fraktion)

Die über Afghanistan uneinige Fraktion der Bündnis90/Die Grünen lässt Küstner so zu Wort kommen:

Wie immer es mit dem Bundeswehreinsatz dort weitergeht, wir stehen solidarisch an der Seite der Menschen in Afghanistan“. (Omid Nouripour, „Verteidigungs“experte) (Anm. d. Verf.: Nouripour zählt selbst zu den Befürwortern des Afghanistan-Einsatzes)

Küstner zitiert auch Sprecher der Linkspartei und der AfD – beide Parteien lehnten den Bundeswehreinsatz in Afghanistan generell bzw. dessen Verlängerung ab –, bedachte sie aber, wie im Umgang mit der Opposition nicht anders zu erwarten, mit nur wenigen Worten.

Die Lektüre der Bundestagsprotokolle treibt dem distanzierten Leser die Schamröte darüber ins Gesicht, wie hemmungslos und hörig unsere Volksvertreter politischen Schleim absondern, wie leichtfertig sie den US- und den NATO-Kriegern Legalität fürs Morden und Erpressen zusprechen und wie devot sie Ergebenheitsadressen an den US-Präsidenten formulieren. (12, 13, 14). Als US-Präsident Biden am 14. April den Rückzug aus Afghanistan ankündigte (15), reichten die drei Wochen zwischen deutscher Mandatsverlängerung und nunmehr nötiger Kehrtwende nicht mehr, um zu verschleiern, war hier vonstatten ging: Das Imperium hat in Afghanistan kapituliert.

Massakrieren, vergewaltigen, plündern

Deshalb muss nun die Tagesschau Nachsorge und perfekte Meinungsmache betreiben. Ziel: Im Bewusstsein der Zuschauer verankern, dass die Bundeswehr in Afghanistan nur das Gute wollte: Straßen bauen, Brunnen bohren, Mädchen den Schulbesuch ermöglichen, rechtsstaatliche und demokratische Strukturen herstellen. Das deutsche Publikum soll erkennen, dass die dumm-bösen Taliban unsere helfende Hand ausschlugen und unsere Mission deshalb leider, leider nicht fortgeführt werden kann…

Nur ganz am Rande erinnerte die Tagesschau daran, dass 59 deutsche und fast 4000 Soldaten der westlichen Alliierten ihr Leben in Afghanistan ließen. (16) Hingegen verlor sie jetzt kein Wort über die Kriegsverbrechen „der Unseren“. Sie erwähnte die Bomben auf Krankenhäuser, Schulen und Moscheen nicht und nicht den fortgesetzten Drohnenbeschuss auf Teilnehmer von Hochzeitsgesellschaften und Beerdigungen. Sie schwieg über die willkürliche Erschießung von Gefangenen (17), über Plünderung, Raub und Vergewaltigungen.

Wracks der beiden am 4. September 2009 durch einen Luftangriff zerstörten Tanklastwagen im Kunduz-Fluss. Durch den Angriff wurden wahrscheinlich (die Opferzahlen variieren je nach Quelle) um die 100 Menschen, darunter auch Kinder, getötet oder verletzt, was die bisher mit Abstand größte Zahl von Opfern bei einem Einsatz sowohl in der Geschichte der Bundeswehr als auch durch Kräfte der ISAF bedeutet. Der Angriff und die folgenden Reaktionen der Bundeswehrführung wurden sowohl aus dem Inland wie aus dem Ausland stark kritisiert. 

Die CIA-Foltergefängnisse in Kandahar und Bagram blieben unerwähnt, obwohl dort auch ein deutscher Staatsbürger, der Ulmer Geschäftsmann al-Masri, unmenschlich geschunden worden war. Seine Häscher waren einer Namensverwechslung aufgesessen. (18) Die USA foltern ihre Kriegsgefangenen in großem Stil, unsere Regierung weiß davon und bleibt trotzdem „Partner in Leadership.“ Sage mir, mit wem du gehst….

Die ARD-aktuell unternahm keinen Versuch, aufzulisten, wie viele unbewaffnete Zivilisten, darunter in der Mehrzahl Frauen und Kinder, von deutschen Wachposten und Patrouillen „versehentlich erschossen“ wurden (19, 20, 21, 22). Dass der deutsche Oberst Georg Klein anno 2009 bei Kundus mehr als 120 Zivilisten massakrieren ließ, dass ein Jahr später sowohl die Generalbundesanwaltschaft als auch der Wehrdisziplinaranwalt ihre Ermittlungen gegen ihn einstellten und Klein drei Jahre nach seinem mörderischen Befehl statt auf die Anklagebank zum General befördert wurde (23), war der Tagesschau kein Nebensätzchen wert.

Auf deutsche Kappe

Für ARD-aktuell typisch: Sie berichtete zwar über australische Soldaten, die in Nazi-Manier bei Aufnahmeritualen für Neulinge in ihre Einheit 39 afghanische Zivilisten umbrachten (24), doch stellte die Redaktion das voller Entrüstung als üblen Einzelfall dar, als Exzess einer fremden Truppe. Sie begriff es nicht als Normalität eines Besatzerkrieges, der ohne solche Verbrechen gar nicht denkbar ist und in dem sich Deutschland als Teilnehmer mitschuldig macht.

Konsequenterweise blieb in der Tagesschau auch jetzt und trotz gegebenem Anlass das mörderische Treiben des Bundeswehr-„Kommandos Spezialkräfte“, KSK, in Afghanistan unerwähnt. Seine Aktivitäten dort unterliegen bis heute strikter Geheimhaltung. Nicht einmal die Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Bundestages konnten jemals etwas Konkretes darüber in Erfahrung bringen. (25) Dass allein letztes Jahr 1 500 Afghanen, 424 humanitäre Helfer und 67 Journalisten in Afghanistan gewaltsam ums Leben kamen, kann man per Internet-Recherche ermitteln, wird uns aber von der Tagesschau vorenthalten.

Noch ein paar Fakten zur Abrundung? Im Tagesschnitt begehen fast 20 US-Veteranen Selbstmord aufgrund ihrer Traumatisierung beim Kriegseinsatz. (26) Der Opiumanbau in Afghanistan, während der Talibanherrschaft bis 2001 bei Todesstrafe verboten, wurde danach und mit Duldung der NATO um das 40fache erhöht. (27) Der Weltmarkt-Anteil des afghanischen Opiums beträgt inzwischen gut 90 Prozent.

267 000 Afghanen wurden nach Deutschland vertrieben und werden wohl demnächst zurückgeschickt, trotz der Ungewissheit und der Gefahren, die ihnen in ihrer Heimat drohen. (28)

Maulschelle aus Washington

Mit ihrer höchst selektiven Berichterstattung über Gewalt in Afghanistan vernebelt die Tagesschau Ursache und Wirkung. Wenn überhaupt Kriegsverbrechen genannt werden, dann zumeist mit den Taliban als Mördern. (29) Minister Heiko Maas hatte noch Anfang März behauptet, der Militäreinsatz in Afghanistan habe sich gelohnt, weil

erhebliche Fortschritte bei Bildung, Gesundheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und nicht zuletzt bei den Minderheitenrechten, den Menschenrechten und ganz besonders den Rechten von Frauen und Kindern”

erzielt worden seien. Das Land drohe in Chaos und Bürgerkrieg zu versinken, wenn die Truppen verfrüht abzögen. (30) Jetzt, ein paar Wochen danach und von dem senilen US-Präsidenten Biden bloßgestellt, sehen „uns´ Heiko“ und seine Vorgesetzte Merkel reichlich belämmert aus. Die Maulschelle aus Washington hat gesessen. Biden hatte den US-Rückzug aus Afghanistan gar zu offensichtlich ohne jegliche Absprache mit seinen NATO-Vasallen beschlossen.

Die wurden kalt erwischt, kuschten aber erwartungsgemäß und versuchen jetzt, ihren Salto rückwärts als friedenspolitisches Kunstturnen darzustellen. Während Russen, Chinesen, Iraner, Kubaner, Venezolaner oder eben die Taliban den unverschämten Herrschaften in Washington was husten, machen unsere Regierenden Kotau und lassen sich vom US-Großmeister in den Hintern treten. Sie können drauf vertrauen, dass die Tagesschau das nicht zum Thema macht.

Aus ihrer schmählichen, verlustreichen Niederlage in Afghanistan ziehen unsere Politgrößen deshalb auch keine Konsequenzen. Im Gegenteil: Sie beteiligen sich jetzt voller Großmannssucht am Aufbau einer neuen US-Drohkulisse in Fernost. (31) Dümmer geht´s nimmer: Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer sucht dort das nächste militärische Abenteuer. Sie erwägt nicht nur („zusammen rein“, mit den Amis und Japan), der Volksrepublik China eine ständige Militärmission vor die Nase zu setzen. (32, 33) Darüber hinaus soll die mit Spionage-Elektronik hochgerüstete Fregatte „Bayern“ Im August zu Manövern im Südchinesischen Meer auslaufen. Unsere Blauen Jungs von der Bundesmarine sollen den Rotchinesen wohl zeigen, wie man einen richtig modernen Seekrieg führt (34), damit denen endlich die Lust auf BMW, Benz und VW vergeht. Mehr als die Hälfte der deutschen Autoproduktion geht heutzutage nach China, das soll wohl nicht so bleiben.

Kann ein deutsches Regierungsmitglied den Amis noch tiefer von hinten entgegenkommen? Offensichtlich kapiert diese Ministerin nicht, dass sie China, Deutschlands wichtigsten Handelspartner (35), dazu einlädt, ihr und ihren Kabinettskollegen ein ähnlich grobes Ding zu verpassen wie es kürzlich der chinesische Außenminister Wang Yi seinem US-Counterpart Antony Blinken beim Zusammentreffen in Alaska vor den Latz knallte. (36)

Deutsch, treu, doof

Blinde und vorauseilende Bündnistreue ist kein Zechen von Charakter, sondern von politischer Dummheit. Diese Einsicht übersteigt offenbar den Horizont unserer Regierenden. Die Tagesschau kriegt es erst recht nicht auf den Schirm, obwohl doch alle Erfahrung lehrt: Unsere vergötterte Führernation, die Vereinigten Staaten von Amerika, lassen jeden Verbündeten im Stich, wenn es ihren Interessen dient. Die Werte des „Wertewesten“ sind Schimäre.

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Politiker stehen in Diensten skrupelloser Eliten. Das ist im Umgang mit der Ukraine ebenso zu erkennen wie dem mit Syrien, Libyen, Irak, Jemen, Iran, oder den lateinamerikanischen Staaten. Viele wurden mit Krieg oder mit Bürgerkrieg heimgesucht und ruiniert, obwohl ihnen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliches Wohlergehen versprochen wurde.

Egon Bahr, zwar Sozialdemokrat, aber trotzdem ein hochgeachteter und verdienter Friedens- und Entspannungspolitiker, merkte im Jahr 2013 vor Schülern in Heidelberg an:

In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ (37)

Er hätte Sinngemäßes auch der ARD-aktuell ins Stammbuch schreiben können, dort aber sicher weniger Eindruck gemacht. Mangelndes journalistisches Gespür, fehlende Aufrichtigkeit, Privilegien und regierungsfrommer Konformismus durchziehen ja nicht erst seit 2013 die Berichterstattung der ARD-aktuell-Redakteure. Dürfen die nicht anders? Dann sind sie zu feige, sich auf ihre grundgesetzlichen, staatsvertraglichen und sozialen Rechte zu berufen. Können sie nicht anders? Dann sind sie ungeeignet für ihren Job. Wollen sie nicht anders? Dann sind sie entweder zu faul oder menschlich desensibilisiert. Möglicherweise treffen sämtliche Gründe gleichermaßen zu.

In jedem Fall sind sie passgenaue, unentbehrliche Garanten des „Wertewesten“, des „Guten an sich“. Als Kontrast brauchen sie „das Böse“, was immer das auch sei. Hauptsache es spricht Russisch oder Chinesisch oder verfügt über wichtige Rohstoffe.

Quellen und Anmerkungen:

  1. https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesministers-der-verteidigung-dr-peter-struck–784328
  2. https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/kramp-karrenbauer-truppenabzug-afghanistan-101.html
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_gegen_den_Terror
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_gegen_den_Terror
  6. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/75326/umfrage/getoetete-zivilisten-in-afghanistan-seit-2007/
  7. https://www.mitwelt.org/kosten-opfer-afghanistan-krieg
  8. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/afghanistan-nato-truppenabzug-kommentar-101.html
  9. https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/der-preis-des-krieges–afghanistan-100.html
  10. https://www.ekd.de/100101_kaessmann_neujahrspredigt.htm
  11. https://www.tagesschau.de/inland/bundestag-verlaengert-afghanistan-mandat-101.html
  12. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19215.pdf#P.27120
  13. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19153.pdf#P.19056
  14. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19218.pdf#P.27564
  15. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-849653.html
  16. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/afghanistan-nato-truppenabzug-kommentar-101.html
  17. https://www.tagesspiegel.de/politik/soldaten-toeteten-zivilisten-und-gefangene-australiens-armee-raeumt-kriegsverbrechen-in-afghanistan-ein/26641998.html
  18. https://web.de/magazine/politik/lager-schreckens-usa-gefoltert-30272872
  19. https://rp-online.de/panorama/ausland/bundeswehrsoldaten-erschiessen-jugendlichen_aid-12194305
  20. https://www.zeit.de/online/2008/36/afghanistan-soldaten
  21. https://www.derwesten.de/politik/bundeswehrsoldaten-erschiessen-motorradfahrer-in-afghanistan-id12349509.html
  22. https://www.abendblatt.de/politik/ausland/article108518209/Deutsche-Soldaten-erschiessen-Zivilisten.html
  23. https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Klein_(General)
  24. https://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/sas-special-air-service-war-crimes-civilians-cover-up-ministry-of-defence-operation-northmoor-royal-military-police-murder-execution-helmand-province-a7819006.html
  25. https://www.tagesspiegel.de/politik/die-bundeswehr-in-afghanistan-geheime-kommandosache/1290672.html
  26. https://www.nzz.ch/gesellschaft/die-gebrochenen-helden-ld.1326621
  27. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19215.pdf#P.27120
  28. https://www.actvism.org/latest/tagesschau-kriegsverbrechen-zain-raza/
  29. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19215.pdf#P.27120
  30. https://www.liberationnews.org/on-the-road-to-catastrophe-biden-administration-seeks-united-front-for-showdown-with-china/
  31. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8574/
  32. https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/deutschland-und-japan-wollen-militaerisch-zusammenarbeiten-li.153167?pid=true
  33. https://www.merkur.de/politik/bundeswehr-einsatz-china-kramp-karrenbauer-bayern-macht-xi-jinping-90239570.html
  34. https://de.statista.com/infografik/15064/deutschlands-wichtigste-handelspartner-nach-importen-und-exporten/
  35. https://www.sueddeutsche.de/politik/egon-bahr-verstand-ohne-gefuehl-ist-unmenschlich-1.2614596

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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«Aktion des Schweigens»

Erstellt von Redaktion am 21. April 2021

Armenische Kriegsgefangene als Spielball Alijews

Ilham Aliyev met with French President Emmanuel Macron 11.jpg

Wo Fahnen aufgestellt und das Blut läuft ist Macron anwesend ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Amalia van Gent /   Die zermürbende Ungewissheit über das Schicksal armenischer Kriegsgefangener in aserischer Hand – sechs Monate nach dem Krieg.

Mit ihrer «Aktion des Schweigens» vor dem UN-Gebäude der armenischen Hauptstadt Jerewan wollten die Teilnehmer Mitte April auf die armenischen Kriegsgefangenen (POW) in aserischer Hand aufmerksam machen. «Befreit 300 armenische Kriegsgefangene und Geiseln, jetzt» war auf ihren Plakaten zu lesen. «Repatriiert armenische Kriegsgefangene und Geiseln, sofort», lautete auch die Forderung der armenischen Diaspora, die Mitte April in seltener Einigkeit «Aktionen des Schweigens» in 15 Ländern gehalten hat, darunter in Toronto, in Los Angeles und in Moskau, in Paris, Berlin und Genf. Ein halbes Jahr nach dem Waffenstillstand, der das Ende des Kriegs zwischen Aserbaidschan und Armenien in Bergkarabach besiegelt hat, werden armenische Soldaten und Zivilisten immer noch vermisst. Ihre Familien wissen nicht, ob ihre Geliebten im Krieg gefallen sind oder als Geiseln an geheimen Orten Aserbaidschans festgehalten werden. Die Informationen, die sie tropfenweise aus halboffiziösen Kreisen Armeniens oder Aserbaidschans, Russlands oder der UN erreichen, sind widersprüchlich und deshalb zermürbend.

Eine politisch tief destabilisierende Frage

Die Ungewissheit über das Schicksal der Vermissten scheint Armenien heute mehr zu erschüttern, als viele andere, ungelöste Probleme der Nachkriegsära. Vielleicht, weil diese Frage auf brutale Weise auch offenbart, wie fundamental der letzte Krieg um Bergkarabach die Machtverhältnisse im Südkaukasus verändert hat: Das Versprechen nach mehr Demokratie und weniger Korruption hatte 2018 Nikol Paschinjan ins politische Firmament Armeniens katapultiert. Seine Demokratisierungsbewegung wurde von der Aussenwelt und den Nachbarstaaten teils mit Ehrfurcht und teils mit Bewunderung beobachtet. Der Angriffskrieg, der von Aserbaidschan und der Türkei im Herbst 2020 im Bergkarabach geführt (und von Russland geduldet) wurde, haben Armenien aber zum schwächsten, instabilsten Glied im Südkaukasus und Nikol Paschinjan zu einer «lahmen Ente» verkommen lassen.

Dieser Wandel spiegelt sich nirgends so deutlich wider, wie an der Frage der Kriegsgefangenen: Artikel acht der letzten November von Russland vermittelten Waffenstillstandserklärung sieht unmissverständlich den bedingungslosen «Austausch von Kriegsgefangenen, Geiseln und anderen Gefangenen sowie der sterblichen Überreste der Getöteten» vor. Seit letzten November behaupten armenische Menschenrechtsorganisationen und Regierungsvertreter aber, dass Aserbaidschan rund 200 Gefangene festhalte. Die Freilassung dieser Gefangenen hatte Nikol Paschinjan von Beginn an zur Chefsache erklärt. Obwohl er seither mehrmals nach Moskau zu Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem aserbaidschanischen Staatsoberhaupt Ilham Alijew reiste, hat er diesbezüglich nichts erreicht. Die ungelöste Frage der Vermissten könnte Nikol Paschinjan nun bei den nächsten, für den 20. Juni 2021 ausgeschriebenen Parlamentswahlen zum Verhängnis werden.

Spiel mit harten Bandagen?

Aserbaidschan gibt die Zahl der Armenier, die es noch gefangen hält, mit 52 an. Aserbaidschanische Sicherheitskräfte hätten letzten Dezember 62 «Saboteure» gefangen genommen, erklärte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew den Medien. Da ihre Festnahmen einen Monat nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens erfolgten, fielen sie nicht unter Artikel 8 des Vertrags. Aserbaidschan hat mittlerweile zehn der 62 Gefangenen  Armenien übergeben. Warum die Regierung in Aserbaidschans Hauptstadt Baku die Repatriierung der verbliebenen 52 armenischen Gefangenen hinausschiebt, erklärte Präsident Alijew nicht.

Hinter den Kulissen machen nun wilde Spekulationen die Runde. Politiker der armenischen Hauptstadt Jerewan befürchten, dass Aserbaidschan die armenischen Kriegsgefangenen als Druckmittel benütze, um «Armenien weiter zu destabilisieren», so der Vorsitzende des armenischen Parlamentsausschusses für Verteidigung und Sicherheit Andranik Kocharyan. Armenische Beobachter sind sich hingegen darin einig, dass Baku die «Gefangenen-Karte» dafür einsetzen wolle, um von Armenien noch mehr Konzessionen herauszupressen: Für Baku von ganz besonderer Bedeutung sei ein Korridor durch den Süden Armeniens, der Aserbaidschan mit seiner Exklave Nachitschewan und somit mit dem «Bruderstaat» Türkei verbinde, sagt der politische Kommentator Hratchya Arzumanyan. Die Freigabe eines solchen Korridors verspricht zwar Artikel 9 des Waffenstillstands, sieht ihn aber unter russisch-armenischer Kontrolle vor. «Der letzte Krieg im Bergkarabach hätte sich aus Sicht Bakus nur halbwegs gelohnt ohne einen Korridor unter rein türkisch-aserbaidschanischer Kontrolle».

Bakus neuer Park der «Militär-Trophäen»

Dass Präsident Ilham Alijew seit seinem überwältigenden Sieg im Bergkarabach es liebt, mit seinen armenischen Kriegsgegnern ein strapaziöses Katz-und-Maus-Spiel zu spielen, stellt die aserbaidschanische Journalistin Bahruz Samadow nicht in Frage. Die Vorliebe des Präsidenten führt sie aber weniger auf eine klare Strategie, als vielmehr auf seinen «Regierungsstil» zurück: Ilham Alijew habe seit seinem Machtantritt nach dem Credo regiert, «Interne und Externe Feinde müssen vernichtet werden», schrieb sie in einem Bericht für die Internet-Plattform «Eurasianet». Während des Kriegs hätten viele Mitglieder der aserbaidschanischen Opposition und Zivilgesellschaft die Hoffnung gehegt, dass «sich nach dem Sieg die gesamt Logik des autoritären Systems ändern würde. Das Ergebnis war jedoch ein anderes: Während der äussere Feind die physische Vernichtung verdient, ist nach dieser Logik die innere Opposition – zumindest der Teil, der die Legitimität der herrschenden Partei ablehnt— von Verfolgung bedroht, wann immer sie versucht, sichtbar zu werden».

Tatsächlich gilt Ilham Alijew als einer der autoritärsten Potentaten der postsowjetischen Ära. Nun liess er laut Menschenrechtsorganisationen eine neue «Säuberungswelle» über das Land rollen und Mitglieder der Opposition sowie Kreise der Armeeführung erfassen. Zu den Opfern dieser Säuberungswelle wird auch Najmaddin Sadikow gezählt. Der ehemalige Generalstabschef und stellvertretende Verteidigungsminister hatte den Krieg gegen Armenien erfolgreich geführt, bis er letzten Oktober auf mysteriöse Weise plötzlich «verschwand». Seither wurde er nirgends gesehen.

Auf die Logik der Alijew-Regierung führt die Journalistin Bahruz Samadow auch die Eröffnung des neuen «Militär-Trophäen-Parks» in Baku zurück. Präsident Alijew posierte für seine Öffentlichkeit zwischen schaurigen Helmen getöteter armenischer Soldaten und karikierten Puppen armenischer Gefangenen, die an Beinen und Hals angekettet sind. Während des Kriegs bezeichnete Alijew die armenischen Soldaten notorisch als <Hunde>, und die Phrase <Wir jagen sie wie Hunde> sei «in der Öffentlichkeit und in Oppositionskreisen enthusiastisch aufgenommen» worden, setzt Bahruz Samadow ihren Bericht fort. «Nun aber wird das gleiche Etikett gegen sie verwendet. Bei der Eröffnung des Parks am 12. April bezeichnete Alijew höhere Beamte alter Regierungen als «Hunde».

Kriegsgefangene als Geiseln zu halten, um vom Gegner Zugeständnisse zu erpressen, steht in eklatanter Verletzung des humanitären Völkerrechts sowie der Genfer Konvention. Genauso verstösst die Entmenschlichung der inneren und äusseren Feinde gegen das geltende Völkerrecht. Dennoch ist Aserbaidschan nach wie vor Mitglied im Europarat, in der UNESCO und in der NATO-Partnerschaft für Frieden.

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Grafikquellen        :

Oben        —     Ilham Aliyev met with French President Emmanuel Macron

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Unten       —     Armenische Soldaten in Bergkarabach 1994

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Mordbuben haben Fertig

Erstellt von Redaktion am 17. April 2021

Brunnenbohren in Afghanistan fertig! Jetzt zurück in die Corona-Republik Deutschland mit neuem Job als Schnelltester

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Ein Wattestäbchen sucht beim Militär vergeblich das Hirn

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Dr. Nikolaus Götz

„Die Demokratie der BRD wird am Hindukusch verteidigt!“, sagte einmal der SPD-Kriegsminister Peter Struck, um diesen größten deutschen Militäreinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber seinem deutschen Wahlvolk zu rechtfertigen. Dieser argumentative Rückgriff auf die autoritär-imperiale Friedensvorstellung eines Julius Cäsar markierte den Propagandahöhepunkt in einer Diskussion in der BRD, um einen „Krieg“, der jahrzehntelang unter den verschiedenen Kriegsministern der BRD und besonders den aalglatten Unionsmitgliedern verbal keiner sein durfte. Der illegitime wie illegale Angriffskrieg der NATO unter Führung der USA und mit der Beteiligung der BRD war in der Wortauswahl der CDU nämlich nur eine „humanitäre Hilfsaktion“ mit etwas „hartem Mandat“(?).

Es gereicht im Rückblick auf die letzten 20 Jahre „Kampfeinsatz der Bundeswehr“ auch diesen damaligen wie heutigen Bundestagsabgeordneten, bei namentlicher Erfassung des Stimmverhaltens, zur Schande, dass sie unter Missachtung des Friedenswillens der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, diesem Auslandseinsatz der Bundeswehr im fernen Afghanistan kontinuierlich, Jahr für Jahr, mehrheitlich zugestimmt haben. Diese „Selbstermächtigung zum Kriegsführen“ wie es Gert Winkelmeier von der Partei DIE LINKE im Jahr 2008 schon kritisierte, lässt diese Parlamentsmehrheit jede Rechtstaatlichkeit vergessen“ und disqualifiziert sie eigentlich als ’Repräsentanten’ des deutschen Volkswillens. So tragen die jeweils zustimmenden Bundestagsabgeordneten auch Mitschuld am Tod der entsandten dort gefallenen deutschen Bundeswehrsoldaten. Mitverantwortlich sind sie aber auch an der verständlichen Flucht so vieler Afghanen aus ihrem Heimatland. Der dortige Kriegseinsatz mit den übrigen ’HeldenInnen’ aus 37 Nationen hat dort nämlich keine „blühenden Landschaften“ gebracht, sondern hat mittels der zusätzlich verschossenen radioaktiven Munition eher „verwüstete Kriegslandschaften“ geschaffen, inklusive dem entsetzliches Leid für die afghanischen Zivilbevölkerung.

Die deutsche Bundesregierung zunächst noch unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) dann aber ab 2005 unter der Kanzlerin Frau Merkel (CDU) führte diesen Krieg, um deutsche Wirtschaftsinteressen zukünftig machtvoller vertreten zu können. Für diese simple Erkenntnis starben dort in Afghanistan Menschen und der aufrichtige Bundespräsident Horst Köhler verlor hier in Deutschland im Jahr 2010 sein Amt, ob seiner ehrlichen kriegskritischen Bemerkungen (Siehe auch: de.wikipedia.org/wiki/Horst_Köhler# Rück- tritt). Und diese beabsichtigte ’Befriedung’ von Afghanistan durch die ehernen Kulturwerte der Allianz sollte nach seinem Rücktritt noch lange 10 Jahre, gegen den ausdrücklich mehrheitlichen Willen des Deutschen Volkes, weitergehen. So ist dieser zwar ererbte doch in Nibelungentreue weitergeführte Krieg in Afghanistan ein besonders schwarzer negativer Punkt in der Leistungsbilanz der Kanzlerinnenschaft von Frau Merkel.

Die Grundeinstellung der deutschen Bevölkerung des ’Nie wieder Krieg’ ebenso wie das Versprechen des Altbundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willi Brandt (verstorben 1992) „Von Deutschland darf nie wieder Krieg ausgehen!“ wurde von diesen Bundestagsabgeordneten unter Bruch des deutschen Grundgesetzes Artikel 26, „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“, sittenwidrig zu einem Angriffskrieg gegen Afghanistan umgedeutet. In der kriegsgeilen Diktion der die Deutschen repräsentierenden ’Falken’ in der bundesdeutschen Regierung hieß das denn stets auch: „Deutschland muss endlich wieder ’Verantwortung’ übernehmen!“ Diese konservativen Führungsriegen der demokratiegeschrumpften ’Berliner Republik’ wussten ’ihrem Volk’ verbalen Sand in die Augen zu streuen, in fast Göbbelscher Manier unter der freiwilligen Manipulationshilfe der damals schon fast sich selbst gleichschaltenden Medien ARD, ZDF usw. Welche Informationen zu Afghanistan lieferten eigentlich die deutsche Spionagedienste? Doch deren Berichte sind ja geheim, zu unverständlich für den demokratischen Souverän, das Volk, und deshalb auch geheim, selbst für die es repräsentierenden Parlamentarier. Deshalb gilt es für objektive, einigermaßen ordentliche Berichterstattung nur die Möglichkeit des Selbstrecherchierens. Doch wer leistet das? Und so stirbt sie, wie in jedem Krieg zuerst: die Wahrheit!

Die vielen Warnungen der Deutschen Friedensbewegung vor einer Beteiligung der Bundeswehr an solch einem Kriegseinsatz ohne ausdrückliches Mandat der UNO einem öffentlich, ausdrücklich so bezeichneten „Angriffskrieg“ wurden von den Kriegsbefürwortern ebenso wenig zur Kenntnis genommen, wie die historischen Erfahrungen von Alexander dem Großen oder den Engländern. Der Einfall der Russen in Afghanistan (1979-1989; siehe auch WIKIPEDIA) diente Hollywood als Vorlage für „Rambo III“ und montierte diese medial wie einst beim Adolf als „unfähig“. Trotz anfänglicher Erfolge verliefen die geführten Kriege in dieser schwer zugänglichen Bergwelt anders als es die jeweiligen Invasoren anfänglich vermuteten. Christoph R. Hörstel, ein Sonderkorrespondent der ARD in Afghanistan beschrieb „den afghanischen Gegner“ als einen durch die Rauheit der Natur gut angepassten Widersacher mit dem Leistungsvermögen eines Elitekämpfers (Siehe: HÖRSTEL, 2007, S. 30). Die „Unterschätzung des Gegners“ ist ein häufig gemachter Fehler, wie es die Geschichtsschreibung auch aufzeigt und jetzt die de facto Kapitulation der USA-Militärs in Afghanistan im Jahr 2021 beweist.

Und so opferten die politisch Verantwortlichen in der Deutschen Regierung, aus dem Bundestag wie die in den Schaltstellen der Rüstungslobby und den Medien für „eine Legende“ 59 deutsche Soldatenleben und verfeuerten runde 47 Mrd. Euro (1) für das angebliche „Bohren von Brunnen“, die Frauenrechte, den „German-American Way of life“ und die Rettung der „demokratischen Grundrechte“ gegenüber „den Taliban“. Es war im Jahr 2001, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erstmals im deutschen Bundestag über die Beteiligung bei der ’Allianz der Guten’ gegen die Terroristen der ’Achse des Bösen’ abstimmen ließ. Bedauerlicher Weise hetzte der redegewandte Joschka Fischer die Abgeordneten von B90/DIE GRÜNEN auf, damit diese für die Kriegsbeteiligung stimmen sollten. Der FDPler Guido Westerwelle, dessen Partei damals geschlossen gegen die Kriegsbeteiligung stimmte, stellte provozierend in Richtung Fischer damals fest: „Ihr steigt heute aus der Friedensbewegung auf den Feldherrenhügel. (Vgl.: Ganser, S. 201). Entsprechend knapp war die Abstimmung im Bundestag mit 336 Ja zu 326 Nein Stimmen für diese deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg unter Führung der USA. Wie 1914 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht stemmten sich vornehmlich Friedensbewegte, ’linke’ Bürger gegen diesen „Sprengsatz Afghanistan“, der nun mit dem plötzlichen Rückzug der US-Truppen auch für die Bundeswehrsoldaten einfach endet.. Politisch blamabel wird dieser nun erzwungene deutsche Rückzug auch noch durch die Tatsache, dass die Bundestagsmehrheit erst am 4. März 2021 den Kriegseinsatz der Bundeswehr für die 1300 stationierten deutschen Soldaten bis Januar 2022 mit Mehrkosten geschätzt von 382 Mill. Euro verlängert hatte und den dabei gleichzeitig gestellten Antrag der ’rechtslastigen’ AfD auf zeitnahen ’sofortigen’ Rückzug der Bundeswehr verhinderte.

Die Aufarbeitung dieses verlorenen deutschen ’Ostfeldzuges’ hat politisch schon begonnen. Und natürlich ist es die Partei DIE LINKE, die sofort durch ihre Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel verkünden lässt: „Notwendig ist jetzt eine umfassende und schonungslose Aufarbeitung der deutschen Beteiligung an dem mörderischen Krieg in Afghanistan. Die deutschen Soldaten wurden in Afghanistan in einen sinnlosen Krieg geschickt, bei dem viele Zivilisten getötet wurden, Iraq Body Count geht von bis zu 180.000 Menschen aus. Der aktuelle UNAMA-Quartals-Bericht zählt allein für die ersten drei Monate im Jahr 2021 1.783 zivile Opfer, davon 573 Tote. Das sind 29 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum.“ Und der Abgeordnete Tobias Pflüger, der ’Verteidigungspolitischer Sprecher’ der LINKEN im Bundestag und seiner Fraktionskollegin beipflichtend, erinnert nochmals an den deutschen Tiefpunkt der Bundeswehrkriegsführung in Afghanistan, an das schreckliche Massaker von Kundus, das auf Befehl des deutschen Oberst Klein erfolgte. Hier sei nochmals eine neue vollständige, eine „grundlegende Evaluierung der Ereignisse“ überfällig“, meint er ausdrücklich (Vgl: Pressestelle DIE LINKE, Parteivorstand; Pressesprecher Matthias Hinze – Büro 030 24009-543; Mail vom 15.04 2021).

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Die Heimattrolle erscheine immer als Nieten in Nadelstreifen !

Jetzt, da die deutsche Bundeswehr ihren humanitären Auftrag des „Brunnenbohrens“ in Afghanistan erfolgreich beendet hat, darf sie ihren Rückzug von der deutschen Ostfront in die inzwischen gelockdownte und demokratiemutierte Corona-Republik Deutschland (CRD) antreten. Sehnsüchtig von der schon auf „Ihre Jungs und Mädels“ wartenden deutschen Bevölkerung und mit Blumensträußen wohl frenetisch begrüßt, können die alsbald heimgekehrten SoldatenInnen dann in den Zelten vor den Toren der Stadt sich humanitär bei ihrem „neuen Feldzug im Innern“ – erneut verfassungswidrig – als Coronatester verwirklichen. Das passt doch liebe Bundeswehr und Bundeswehrinnen!

Statt aber unsere blühende deutsche Jungend gleich nach Mali zu entsenden, um dort für die Uranversorgung der deutschen Atomkraftwerke das Leben lassen zu müssen, wäre jetzt für den Bundestag, die Talk-Shows der Medien und das Volk der richtige Zeitpunkt der kompletten Transformation dieser einer wirklich humanen demokratischen Gesellschaft absolut unwürdigen Institution aus dem antiquierten Politikbetrieb des 19. Jahrhunderts gekommen. Der Neubeginn „des klassischen Militärs“ ist jetzt angesagt als wirklich humanitäre und kompetente Hilfsorganisation in Form eines Technischen Hilfswerkes (THW). Diese neue Hilfsorganisation müsste unter der ausschließlichen Einsatzleitung der UNO stehen. Ihr Diensteid sollte in Erinnerung und unter Anlehnung an die wegweisenden Worte von Niel A. Armstron bei der amerikanischen Mondlandung lauten: „WIR.DIENEN.DER MENSCHHEIT!“ („WE. SERVE. MANKIND!“)

Anmerkungen:

Die echten Kriegskosten werden von der Bundesregierung bewusst verschleiert, weswegen deren offiziellen Zahlen zu den der alternativ ermittelnden Institute variieren. Einerseits werden Kosten von nur 12 Mrd. angegeben und andererseits werden Kosten bis zu 47 Mrd. (Die Welt; ZDF: Der Preis des Krieges Afghanistan) genannt. Vgl.: www.mitwelt.org/kosten-opfer-afghanistan-krieg)

Urheberrecht
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Grafikquellen       :

Oben         —   U.S. Navy hospital corpsmen assigned to Michaud Expeditionary Medical Facility, test U.S. Army Soldiers from Charlie Company, 1-186th Infantry Battalion, Task Force Guardian, Combined Joint Task Force – Horn of Africa, for COVID-19 during a routine screening at Camp Lemonnier, Djibouti, April 26, 2020. (U.S. Navy photo by Chief Mass Communication Specialist Elisandro T. Diaz)

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Unten      —     100109-N-9594C-036 – KABUL – Jackie Kem, from left, Deputy to the Commander, NATO Training Mission-Afghanistan (NTM-A), U.S. Sen. Roger F. Wicker, Afghan Brig. Gen. Khudadad Agah, Commander Training Centers, Sen. Mitch McConnell, Sen. Lisa Murkowski, Rep. Michael N. Castle, Sen. Mike Crapo, Lt. Gen. William B. Caldwell IV, Commander NTM-A, Canadian Maj. Gen. Michael J. Ward, Deputy to the Commander NTM-A, and Brig. Gen. Carmelo Burgio, Commander Combined Training Advisory Group – Police, NTM-A, during a visit to the Central Training Facility (CTC), Kabul, on January 9, 2010. The Congressional delegation received briefings from CTC, NTM-A, and International Security Assistance Force senior leadership and met with Afghan National Police officers while in the Kabul area. The mission of NTM-A is to train the Afghan National Security Forces and enhance the Government of the Islamic Republic of Afghanistan’s ability to achieve a stable and secure country (U.S. Navy photo by Chief Mass Communication Specialist F. Julian Carroll

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KOLUMNE – ERNSTHAFT ?

Erstellt von Redaktion am 17. April 2021

Nur im Zusammenpacken groß

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Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Sehr überschaubar war, was die Bundeswehr zuletzt noch in Afghanistan tat, nun ziehen die verbliebenen Soldaten bald ab. Die Bilanz des Einsatzes ist dürftig – und die Schlüsse daraus ziehen nun die Falschen.

Schon 2013 und 2014 rückte ja der Großteil der Bundeswehrtruppen aus Afghanistan ab. Damals gab es viele sehr ähnliche Reportagen zu lesen davon, dass so ein Abzug natürlich eine besondere Herausforderung sei. Es müsse ja all das Zeug – Waffen, Zelte, Medizingerät – nun per Bahn und Flugzeug heimgeschickt werden. Aber: Zusammenpacken können wir, Logistik ist unser Ding!, lautete das Motto.

Diese Woche haben die USA den vollständigen Abzug bis September verkündet. Kein Nato-Partner wird auch nur einen Tag länger in Afghanistan bleiben. Die Pressestäbe der Bundeswehr grübeln bestimmt schon, ob man den „Im Packen sind wir ganz groß“-Spin noch einmal setzen sollte.

Allerdings gibt es für die Bundeswehr nun gar nicht mehr so viel zusammenzupacken. Ihre Aufgabe in Afghanistan lautete seit 2015 nur noch: Ausbildung von afghanischen Soldaten und Polizisten – und das in einem so überschaubaren Umfang, dass die Pressestäbe darauf lieber keine Aufmerksamkeit mehr lenkten. Es mochte zuletzt ja auch sonst niemand mehr so genau Richtung Hindukusch gucken: Die Bundestagsabgeordneten etwa, die noch Ende März das Afghanistan-Mandat bis 2022 verlängerten. Oder die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die dazu im Bundestag sprach: Es gehe darum, den Einsatz zu verlängern, damit „die Friedensverhandlungen zu Ende geführt werden können“.

Sind sie nun aber nicht. Die Taliban machen halt nicht mit. Ist uns aber auch egal, nicht wahr?

Sunk Cost Fallacy heißt es auf BWL-Englisch, wenn man etwas nur deshalb weitermacht, weil es schon so viel Mühe oder Geld gekostet hat. Oder sogar Menschenleben. „Die Kameraden dürfen nicht umsonst gestorben sein“, sagten auch viele Bundeswehrsoldaten auf die Frage, ob sie den Sinn in ihrem Einsatz erkannten. Emotional gut nachvollziehbar, aber hoffentlich finden sie jetzt andere Antworten. Der Einsatz wird beendet, weil er nicht aus dem einzigen Grunde weitergeführt werden kann, dass schon so viele gestorben sind.

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Den angerichteten Schaden wollen die Täter nicht wahrhaben, aber das genau ist Politik und nichts anderes. Handeln ganz ohne Hirn. 

Zu Bergen von Papier ließen sich die Reden zusammenfegen, die seit 2001 im Bundestag und ringsherum zum Thema „Verantwortung für Afghanistan“ gehalten wurden. Viele PolitikerInnen hatten sich nur unter Skrupeln der Nato-Bündnislogik gebeugt, sie fanden: Wenn wir den Amerikanern schon ans Ende der Welt folgen, dann lasst uns da wenigstens keinen Mist bauen.

Quelle      :          TAZ       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —       Ulrike Winkelmann bei einer öffentlichen Diskussion im April 2013

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Versager schleichen Heim

Erstellt von Redaktion am 15. April 2021

Die Taliban übernehmen die Regie

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Mördertruppen kriechen nach Haus – um Platz für die Henker zu machen ? Was für ein Chaos könnte den Unsinn für Kriege deutlicher machen ?

Von Thomas Ruttig

Die USA wollen bald all ihre Truppen aus Afghanistan abziehen. Und die Taliban sagen für eine geplante Friedenskonferenz ab. Was heißt das für die Zukunft des Landes?

Eigentlich sollten sich in neun Tagen in Istanbul hochrangige Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und weiterer afghanischer Fraktionen zu einer internationalen Friedenskonferenz, auf zehn Tage Dauer veranschlagt, treffen. Sie sollten dort ein Rahmenabkommen schließen, das den Kurs zu einer neuen Regierung und damit dem Ende des seit 40 Jahren andauernden Krieges in dem zentralasiatischen Land absteckt. Die Idee dazu kam von der Biden-Administration, die die Beendigung des militärischen US-Engagements in Afghanistan beschleunigen wollte, aber nicht völlig ohne Aussicht auf einen innerafghanischen Friedensschluss.

Auch der Entwurf des Abkommens stammte aus Washington. Es sollte den schon im September 2020 begonnenen, aber kaum vorangekommenen innerafghanischen Gesprächen in Katars Hauptstadt Doha neue Impulse verleihen. Am Dienstag schließlich luden die Vereinten Nationen gemeinsam mit Gastgeber Türkei und Katar offiziell dazu ein.

Die Beteiligten machten die Rechnung ohne die Taliban. Als am selben Tag die US-Regierung an die Washington Post durchsickern ließ, Präsident Joe Biden würde einen bedingungslosen Truppenabzug bis zum 11. September anordnen, nicht zum bisher mit den Taliban vereinbarten Termin 1. Mai, sagten sie ihre Teilnahme ab. Per Tweet erklärte ihr Sprecher Muhammad Naim lakonisch: „Solange nicht alle ausländischen Streitkräfte völlig aus unserem Heimatland abgezogen sind, wird das Islamische Emirat“ – so die Selbstbezeichnung der Taliban – „an keiner Konferenz teilnehmen, die Beschlüsse über Afghanistan trifft.“

Zuletzt hatten die USA nach eigenen Angaben noch 2.500 Soldaten in Afghanistan. Dazu kommen, wie Mitte März die New York Times enthüllte, weiter 1.000 geheime Kämpfer, die zum Teil der CIA unterstellt seien, sowie etwa 7.500 Nato- und andere Verbündete, darunter 1.300 Bundeswehrsoldaten. Ihr Abzug sowie der der 13.500 ausländischen privaten Sicherheitsdienstleister wurden ebenfalls im US-Taliban-Abkommen vom Februar 2020 festgeschrieben. Für Deutschland erklärte am Mittwoch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, sie gehe davon aus, dass die Nato den gemeinsamen Abzug noch am selben Tag beschließen werde.

Die Republikanerin Elissa Slotkin, laut Washington Post eine der wenigen Abgeordneten, die vorab in den Biden-Beschluss eingeweiht wurden, sagte, es müsse zuerst Garantien geben, dass die Taliban „globale Standards“ einhalten, bevor die USA eine neue afghanische Regierung anerkennen und Sanktionen gegen die Taliban aufheben würden. Dies wäre Voraussetzung für weitere Entwicklungszusammenarbeit, auf die Afghanistan angewiesen sein wird.

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In der Heimat nennt man Schule – sich mit fremden Blut besulen.

Afghanistan bleibt auf Hilfe angewiesen

Laut UNO leben fast 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Dies ist auch den Taliban klar, die sich in ihrem Abkommen mit den USA zusichern ließen, Washington werde sich nach einem Friedensschluss um weitere Unterstützung für das Land bemühen. Der EU-Sondergesandte in Kabul, der Deutsche Andreas von Brandt, tweetete am Dienstag, auch weitere EU-Hilfe werde „an Bedingungen geknüpft“ sein. Solche Garantien könnten in bilateralen Verhandlungen erlangt werden.

Quelle          :         TAZ            >>>>>         weiterlesen

Truppenabzug aus Afghanistan:

Tür auf für die Taliban

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Den angerichteten Schaden wollen die Täter nicht wahrhaben, aber das genau ist Politik und nichts anderes. Handeln ganz ohne Hirn. 

Kommentar von Thomas Ruttig

Mit der Ankündigung, alle Truppen abzuziehen, überlassen die USA und ihre Verbündeten Afghanistan bewaffneten Fraktionen – bedingungslos.

In Afghanistan beginnt nach fast 20 Jahren das Endspiel der gescheiterten US-Intervention nach den islamistischen Anschlägen des 11. September. Mit der Ankündigung, alle Truppen bedingungslos abzuziehen, (wenn auch nicht wie ursprünglich mit den Taliban vereinbart zum 1. Mai), schließen die USA dieses Kapitel für sich und ihre Verbündeten ab. Afghanistan überlassen sie sich selbst, oder genauer gesagt, den bewaffneten Fraktionen, von denen die Taliban nur eine sind.

Aber das Endspiel ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende. In einem neuen Kapitel werden die Karten, das heißt die Macht, neu verteilt. Nur, dass die USA und der Westen insgesamt darauf nicht mehr viel Einfluss haben werden. Auch eine Verhandlungslösung ist damit nicht vom Tisch.

Die Taliban haben zwar ihre Teilnahme an der von den USA angeregten Afghanistan-Friedenskonferenz Ende des Monats in Istanbul abgesagt. Sie geben damit aber lediglich zu verstehen, dass ein Friedensschluss und eine Machtteilung nur noch zu ihren Bedingungen und nach ihrem Zeitplan stattfinden werden. Kalt spielen sie ihre militärische Kontrolle über die Hälfte des Landes aus sowie ihre politisch-diplomatische Position, in die sie das bilaterale Abkommen mit den USA vom Februar 2020 und nun auch die Ankündigung des bedingungslosen Truppenrückzugs gebracht haben. Wer etwas anderes erwartet hatte, folgte einer Illusion.

Es ist nicht zu vermuten, dass die Taliban nach dem Abzug im September einen militärischen Durchmarsch nach Kabul versuchen werden. Das würde sie sofort interna­tio­nal isolieren. Das auch nach 20 Jahren westlichen Engagements immer noch extrem arme Land wird auch mit ihnen an der Macht, allein oder (zunächst?) in einer Art Koalition, von externen Zuschüssen abhängig sein. Zudem verfügt die derzeitige Regierung noch über 300.000 Soldaten und Polizisten. Scheitert aber eine innerafghanische Regelung, dann könnten Teile dieser Truppen zum vermeintlichen Sieger überlaufen, ein neuer Fraktionskrieg könnte ausbrechen.

Quelle      :          TAZ           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —        KABUL – British Company Sgt. Maj. Anthony Nolan of the U.K. Leadership Training Team, NATO Training Mission-Afghanistan teaches mine clearance techniques for his class of Afghan National Army Officer cadets at the Officer Candidate School, Kabul Military Training Center, May 1. The officer candidates are in the 17th week of the Officer Candidate School and plan to graduate at the end of May. (U.S. Navy photo by Petty Officer Michael James)

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Nato Brandstifter in Uniform

Erstellt von Redaktion am 12. April 2021

Sicherheit durch Aufrüstung?

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Wer wünschte  es ihnen nicht  – einmal richtig was  in die Fresse zu bekommen!

Während die Coronapandemie die soziale und ökonomische Spaltung vertieft, erhöht die Bundesregierung einmal mehr massiv ihre Rüstungsausgaben. Diese Mittel ließen sich nicht nur nachhaltiger verwenden, so die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Kathrin Vogler und ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Marek Voigt, sondern könnten zugleich einem friedvollen Sicherheitsverständnis zugutekommen.

Der Rheinmetall-Konzern leidet – wie viele andere Unternehmen hierzulande – massiv unter der Coronapandemie und musste im vergangenen Jahr erhebliche Umsatzrückgänge hinnehmen. Mit einer Ausnahme: Ausgerechnet die Rüstungssparte des Konzerns erzielte einen Rekordumsatz. Um etwa sechs Prozent nahm der Umsatz im Waffengeschäft zu, der operative Gewinn stieg dadurch von 343 Mio. Euro im Jahr 2019 auf nun 414 Mio. an. Das Unternehmen will seinen Fokus daher künftig noch stärker auf die Rüstungssparte legen: „Verteidigungsbudgets beweisen Robustheit trotz Covid“, freut sich das Unternehmen in einer Handreichung an seine Aktionäre.[1]

In der Tat steigen seit der Ukraine-Krise im Jahr 2014 die Bundeswehrhaushalte jedes Jahr aufs Neue an. Dass es dabei weniger um Landesverteidigung als vielmehr um einen militärischen Weltmachtanspruch geht, räumt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer offen ein – etwa als sie jüngst die Meere zwischen China und Australien zum Operationsgebiet der Bundesmarine erklärte. Unter Verweis auf die Regierungsleitlinien zum Indo-Pazifik erklärte die Ministerin im Bundestag: „Wenn unser Geschäftsmodell global ist, dann muss auch unsere Sicherheitspolitik global sein.“[2] Und in einem Interview mit der australischen Zeitung „The Sydney Morning Herald“ unterstrich die CDU-Politikerin im November 2020 ein weiteres Mal, dass Deutschland beabsichtige, „seine Position in der Region“ zu markieren.[3] Dazu soll im August die Fregatte „Bayern“ in die Gegend entsendet werden. Damit löst die Ministerin ein, was die Verteidigungspolitischen Richtlinien schon 1992 vorsahen – nämlich den Einsatz der Bundeswehr zur „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“.

Angesichts der tatsächlichen Bedrohungen, vor denen das Land derzeit infolge der Pandemie steht, wären die für Rüstung und Militär aufgewendeten Mittel bei anderen Ressorts weitaus besser aufgehoben. Doch bereits vor einem Jahr, am 20. April 2020 – das Land diskutierte erstmals über Lockerungen der strengen Corona-Regeln – wurde der Vorschlag der Verteidigungsministerin bekannt, 135 neue Kampfflugzeuge zu beschaffen, Kostenpunkt: knapp 25 Mrd. Euro. Hier wurde die falsche Prioritätensetzung besonders deutlich: Die Regierung kauft sich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt überaus teures Kriegsgerät, als sich das Gesundheitssystem alles andere als krisenfest erweist.

»Die Regierung kauft sich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt überaus teures Kriegsgerät, als sich das Gesundheitssystem alles andere als krisenfest erweist.«

Im Juni unterzeichnete das Verteidigungsministerium dann noch einen Vertrag über den Bau von vier neuen Mehrzweckkampfschiffen des Typs 180 – ein Abschluss, der nach Angaben des Ministeriums „sowohl für die Deutsche Marine als auch für den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland von herausgehobener Bedeutung“ sei.[4] Pro Schiff belaufen sich die Baukosten auf jeweils mehr als eine Milliarde Euro.

Eine Umschichtung dieser Mittel wäre nicht nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt sinnvoll und nachhaltig: Die mit Steuergeldern hoch subventionierten Arbeitsplätze in der Kriegsindustrie werden im Bildungs- und Gesundheitssektor weitaus dringender gebraucht. Denn dort fehlt es, wie die Coronakrise allzu deutlich zeigt, an allen Ecken und Enden an Personal und Ressourcen.

Dennoch sieht der Bundeshaushalt für das Jahr 2021 weitere Steigerungen im Rüstungshaushalt vor: Trotz der durch Corona bedingten Neuverschuldung steigt der sogenannte Einzelplan 14 um weit mehr als eine Mrd. Euro auf knapp 47 Mrd. Euro. Die Ausgaben für Neubeschaffungen wachsen dabei auf den Rekordwert von 7,8 Mrd. Euro an. Damit sollen unter anderem die Eurodrohne, weitere neue Kampfflugzeuge, U-Boote, Marinehubschrauber sowie Flottendienstboote finanziert werden. Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre in Höhe von fast 25 Mrd. Euro kommen noch hinzu; sie verringern künftige Umverteilungsspielräume schon jetzt zusätzlich. Diese langfristigen Zahlungsversprechen liegen damit weit vor denen fast aller übrigen Ressorts – mit Ausnahme des Verkehrsministeriums.

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Die gegenseitige Bewunderung unter Esel.

Gewiss, die Berichte über nicht einsatzfähiges Gerät haben sich in den vergangenen Jahren gehäuft. Zu Beginn versuchte das Verteidigungsministerium diese noch zu relativieren. Inzwischen aber drängt sich der Eindruck auf, dass die Erzählung von der kaputtgesparten Bundeswehr gezielt dazu genutzt wird, um nicht nur eine Instandsetzung, sondern eine erhebliche Aufrüstung zu begründen. Denn ein Rüstungshaushalt in Höhe von derzeit fast 47 Mrd. Euro sollte ausreichen, um Panzer zu warten und Helikopter einsatzfähig zu halten.

Um noch ungehinderter aufrüsten zu können, fordert die Verteidigungsministerin nun, dass sich die besonders teuren „Großvorhaben, vor allem in der multinationalen Rüstungskooperation […] nicht allein im Verteidigungshaushalt niederschlagen“ dürften.[5] Im Klartext: Verteidigungsausgaben sollen in anderen Haushaltsposten als in jenen des Verteidigungsministeriums versteckt werden. Schon jetzt meldet die Bundesregierung der Nato höhere Verteidigungsausgaben, als der Bundeswehrhaushalt vorsieht – für 2020 waren es etwa 53 statt der im Einzelplan 14 aufgeführten 47 Mrd. Euro.[6] Diese Praxis will das Ministerium nun offenkundig ausweiten.

Der stete Aufrüstungskurs zeigt sich besonders deutlich in der Entwicklung der vergangenen sechs Jahre. Der Bundeswehrhaushalt für 2014 betrug noch 32,4 Mrd. Euro, im laufenden Jahr liegt er aktuell um fast 45 Prozent darüber. Ein Ende dieser Aufrüstungsdynamik ist nicht in Sicht. Schon vor einem Jahr hatte die Ministerin erklärt: „Das reicht noch nicht aus, denn wir brauchen die Steigerung auf […] 2% bis spätestens 2031.“[7]

»Mit Verweis auf die unverbindliche Nato-Absichtserklärung soll der Aufrüstungskurs noch mindestens zehn weitere Jahre andauern.«

Quelle         :          Blätter           >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben       —     Polish army soldiers assigned to the Multinational Battle Group-East’s Forward Command Post play the role of the violent protesters during a Nov. 5, 2015, crowd and riot control exercise at Camp Nothing Hill near Leposavic, Kosovo. The joint exercise allowed the FCP’s U.S. Army and Germany Maneuver companies to rehearse their combined response to a violent crowd and restore safety and security. The FCP is part of NATO’s Kosovo Force peace support mission. (U.S. Army photo by Sgt. Erick Yates, Multinational Battle Group-East)

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Sicherheit oder Machtpolitik?

Erstellt von Redaktion am 11. April 2021

Was die westlichen Medien konsequent verschweigen

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von  Christian Müller 

Im Donbass sind die Spannungen hoch, ein neuer Krieg wird immer wahrscheinlicher. Doch die Medien informieren bewusst einseitig.

Seit einigen Wochen steigen die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland im Donbass massiv. Seit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach der Wahl Joe Bidens in den USA einen deutlich härteren Kurs gegen Russland fährt, drei sogenannt Russland-freundliche Fernseh-Sender widerrechtlich geschlossen hat und offen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO verlangt, sind auch die Waffenstillstandsverletzungen in Luhansk und Donezk wieder gestiegen. Und seit kurzem melden die dortigen Beobachtungsequipen der OSZE, dass auch die Überwachungsdrohnen durch – vermutlich bewusst inszenierte – Störungen des GPS-Navigationssystems kaum mehr einsatzfähig sind. Zur Motivation der regierungstreuen ukrainischen Soldaten reiste Selenskyj sogar persönlich wieder an die Frontlinie. Von seinem Wahlkampf-Versprechen, in erster Priorität für Frieden im Donbass zu sorgen, ist nichts übriggeblieben. Im Gegenteil, er giesst jetzt sogar Öl ins Feuer.

Auch die Medien beginnen über diese sichtbare Eskalation und die neue, erhöhte Kriegsgefahr zu berichten. Vor allem berichten sie über grössere russische Truppenverschiebungen in der Grenznähe zum Donbass – und sie interpretieren und kommentieren diese erwartungsgemäss als russische Provokation und Vorbereitung auf einen neuen Waffengang.

Worüber die Medien nicht berichten, ja es nicht einmal in einem Nebensatz erwähnen: Die NATO führt jetzt die grossen Manöver Defender-Europe 21 durch, und zwar wie schon 2020 erneut an der russischen Grenze. Die NATO-Manöver Defender-Europe 20 wurden damals als grösste Manöver seit Ende des Kalten Krieges angekündigt. Beteiligt waren neben den USA mehrere NATO-Länder, natürlich auch DeutschlandAus den USA wurden 20’000 Soldaten eingeflogen, weitere 17’000 stammten aus anderen NATO-Ländern. Die Manöver sollten strategiegerecht in Polen und in den baltischen Staaten stattfinden, also gezielt und demonstrativ an der russischen Grenze. Wegen der Covid-19-Pandemie mussten sie dann allerdings vorzeitig abgebrochen werden.

Defender-Europe 21 erneut an der russischen Grenze

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Jetzt sind die neuen NATO-Manöver mit dem Namen Defender-Europe 21 angelaufen. Angekündigt – zum Beispiel in den «ArmyTimes» – wurden 28’000 Streitkräfte aus 27 Ländern. Beteiligt sein sollen diesmal auch die (noch) Nicht-NATO-Mitglieder Ukraine, Georgien, Bosnien-Herzegowina, Moldawien und Kosovo. Besonderes Gewicht soll zusätzlich auf das Training der NATO-Führungskräfte gelegt werden. Und auch diesmal finden die NATO-Manöver gezielt an der russischen Grenze statt, diesmal nicht im europäischen Norden, sondern im Süden: «DEFENDER-Europe 21 bietet uns die beste Gelegenheit, unsere Fähigkeiten an der Seite unserer Verbündeten und Partner in der strategisch wichtigen Balkan- und Schwarzmeer-Region zu schärfen, damit wir gemeinsam bereit sind, auf jede Krise zu reagieren, die entstehen könnte.»

Zitat:

«WIESBADEN, Deutschland – Die Aktivitäten von DEFENDER-Europe 21 beginnen diesen Monat in ganz Europa und dauern bis Juni.

DEFENDER-Europe ist eine jährlich stattfindende, gross angelegte, multinationale, gemeinsame Übung unter der Leitung der US-Armee in Europa und Afrika, die dazu dient, die strategische und operative Bereitschaft und Interoperabilität zwischen den USA, den NATO-Verbündeten und Partnern zu verbessern.

Aufbauend auf dem Erfolg der letztjährigen Übung umfasst DEFENDER-Europe 21 eine grössere Anzahl von NATO-Verbündeten und Partnernationen, die Aktivitäten über ein grösseres Gebiet durchführen, als dies für 2020 geplant war. Mehr als 28’000 multinationale Streitkräfte aus 26 Nationen werden nahezu zeitgleiche Operationen in mehr als 30 Übungsgebieten in einem Dutzend Ländern durchführen.

DEFENDER-Europe 21 wird mehrere miteinander verbundene Übungen umfassen, darunter:

– Swift Response (Anfang bis Mitte Mai) – wird Luftlandeoperationen in Estland, Bulgarien und Rumänien beinhalten, an denen mehr als 7’000 Soldaten aus 11 Ländern beteiligt sind.

– Immediate Response (Mitte Mai bis Anfang Juni) – mehr als 5’000 Soldaten aus 8 Ländern werden sich auf 31 Übungsgebiete in 12 verschiedenen Ländern verteilen, um Live-Feuer-Training durchzuführen. Eine Joint Logistics Over-the-Shore Operation wird ebenfalls stattfinden.

–Saber Guardian (Mitte Mai bis Anfang Juni) – mehr als 13’000 Soldaten aus 19 Ländern führen Schiessübungen sowie Luft- und Raketenabwehrübungen durch und üben ausserdem eine gross angelegte medizinische Evakuierung.

– Gefechtsstandübung (Juni) – etwa 2’000 Angehörige werden die Fähigkeit des Hauptquartiers trainieren, multinationale Landstreitkräfte in einer gemeinsamen und kombinierten Trainingsumgebung zu befehligen, während gleichzeitig reale Operationen in 104 Ländern auf zwei Kontinenten durchgeführt werden.»

Auf der Website «U.S. Army Europe and Africa» mit dem Motto «Stronger together» kann man ein anderthalbminütiges, sehr informatives und eindrückliches Video anschauen, wie das Manöver Defender-Europe 21 im Balkan und am Schwarzen Meer – also an der Russischen Grenze – aussehen wird: hier anklicken.

Die NATO-Truppenverschiebungen bleiben unerwähnt

Am 1. April berichtete die «Washington Post» über die russischen Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Am 2. April berichtete die luxemburgische Online-Plattform «L’essentiel» über die russischen Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Am 5. April berichtete das Schweizer «Echo der Zeit», im politischen Bereich eine der besten Schweizer Radiosendungen, über russische Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Am 6. April berichtete die Deutsche Welle über die russischen Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Am 6. April berichtete die israelische Tageszeitung Haaretz über die russischen Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Am 8. April berichteten die Schweizer CH Media-Zeitungen über die russischen Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Am 9. April berichtete die BBC über die russischen Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Am 10. April berichtete die NZZ über die russischen Truppenverschiebungen an der Grenze zur Ukraine. Kein Wort über die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze.

Und so weiter und so fort.

Man kommt nicht darum herum, daraus den einen Schluss zu ziehen: Die westlichen Medien informieren nicht nur, sie betreiben vor allem auch Anti-Russland-Meinungsmache.

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Grafikquellen        :

Oben        —Soldiers from the California Army National Guard 1st Battalion, 140th Aviation Regiment, 40th Combat Aviation Brigade hit the ground running during a small unit tactics exercise at Fort Hood, Texas, Oct. 19, 2015. During this training scenario, Soldiers practiced surviving after a simulated UH-60 Black Hawk helicopter emergency landing. The 40th CAB was training to deploy to the Kuwait to support stability operations in 2016. (U.S. Army National Guard Photo/Spc. Rose Wolford/Released) Unit: 40th Combat Aviation Brigade

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Tagesschau-Weichzeichner

Erstellt von Redaktion am 10. April 2021

Joe Biden im Tagesschau-Weichzeichner

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Mit Joe – macht auch die Tagesschau den Clown

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Tagesschau-Meldung ohne gedankliche Vorleistung: Der Konflikt um die Ostukraine heizt die Spannungen zwischen den USA und Russland an.“ (1) Hoppla. Kleine Analyse: Wer (Subjekt)? Der Konflikt. Satzaussage? Heizt an. Wen oder was (Objekt)? Die Spannungen. Ach so. Der Konflikt, dieser Kotzbrocken! Damit wir trotz solch erbärmlicher Sprache ins gewünschte Bild gesetzt werden, kloppt Tagesschau-Expertin Silvia Stöber mit ihrem nächsten Satz den Rahmen drumherum fest: „Berichten über umfangreiche Truppenbewegungen russischer Streitkräfte an die Grenze der Ukraine folgten Warnungen und Drohgebärden.“ (ebd.) Und schon liegen wir wieder richtig: Der Russe ist schuld. Der provoziert ja andauernd. (2) Von wem eigentlich die „Berichte“ stammen, inwieweit sie zutreffen und welch tatsächlichem Zweck all das letztlich dient, klärt die Tagesschau nicht. Im Kontext wird deutlich: Die Guten (der Westen, also wir) „warnen“, die Bösen („der Russe“ natürlich) „drohen“. Mit solchem Stumpfsinn will die Tagesschau den Zuschauererwartungen entsprechen.

Man muss einfach ein bisschen mehr Geduld mit der ARD-aktuell haben und verstehen: Sie hat doch das Thema „Bürgerkrieg in der Ukraine“ nach mehr als einem halben Jahr Pause gerade erst fürs Russland-Abwatschen wiederbelebt. Obwohl die halbwegs neutrale Beobachtermission der OSZE schon seit Februar über ungewöhnlich häufige Verletzungen des seit Juli 2020 geltenden Waffenstillstandsabkommens auf beiden Seiten der Sperrzone berichtet. (3) Also fand ARD-aktuell, ihrem Namen alle Ehre machend, am 5. April berichtenswert:

Die EU hat der Ukraine im Konflikt mit prorussischen Separatisten im Osten des Landes Unterstützung zugesagt. Man verfolge mit großer Sorge russische Militäraktivitäten in Grenznähe, so der EU-Außenbeauftragte Borell nach einem Telefonat mit dem ukrainischen Außenminister Kuleba … Kiew wirft Moskau vor, tausende Militärangehörige an den Grenzen zusammenzuziehen. Zudem beschuldigen sich die Ukraine und die Separatisten gegenseitig, den seit Juli geltenden Waffenstillstand zu verletzten.“ (4)

Selbstredend fühlte sich auch Heiko Maas, der bedeutendste deutsche Außenminister aller Zeiten, zu einer Demonstration seiner Wichtigkeit und Besorgnis (in dieser Reihenfolge) aufgerufen:

Die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze und die jüngsten russischen Truppenbewegungen haben wir genau im Blick und sind dazu auch in den letzten Tagen in ständigem Kontakt mit den Partnern …“ Entscheidend sei, dass die Waffenruhe im Donbass jetzt nicht gefährdet werde. „Diese Erwartung haben wir auch gegenüber Russland deutlich gemacht“. (5)

Die Wurzel des Übels

Dass die Waffenruhe in der Ukraine nicht nur seit, sondern aufgrund der Wahl des US-Präsidenten Biden gefährdet ist, überging die ARD-aktuell in großzügiger Auslegung ihrer umfassenden Informationspflicht gemäß Rundfunkstaatsvertrag. Sorgfältig vermieden die Spitzenjournalisten jede Erinnerung daran, dass Vater Josef und Sohn Hunter Biden vor Zeiten knietief im ukrainischen Korruptionsmorast standen (6, 7, 8) und ihr Treiben ein herausragendes Thema des US-Präsidentschaftswahlkampfs im vorigen Jahr war. Welche Spätfolgen sich aus Bidens schmutziger Vergangenheit für heute ergeben, ist in dem Artikel „Ukraine zwischen Biden und Borke“ recht umfassend dargestellt. (9)

Es geht auch auf Präsident Bidens Kappe, dass die russlandfeindliche und großenteils von Neo-Nazis gesteuerte Mehrheit des Parlaments in Kiew am 29. März die ukrainischen Verpflichtungen gemäß dem Befriedungsabkommen Minsk-2 (10) praktisch außer Kraft setzte. (11)

Nichts von alldem fand in der Tagesschau einen Niederschlag. Sie zitiert den EU-Außenbeauftragten Borell und Außenminister Maas mit ihren Unterstützungsversprechen an die Ukraine. Das Regime in Kiew, seit dem Maidan-Putsch mit uns „Guten“ liiert, hat längst mit demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen gebrochen, wie nun gerade erst und ausgerechnet das US-Außenministerium feststellte (12).

Verbrecherbande an der Macht

Hier die schlimmsten Vorwürfe des „Blinken-Report“ (benannt nach dem neuen US-Außenminister Antony Blinken):

Ungesetzliche oder willkürliche Tötung; Folter von Gefangenen durch Vollzugsbeamte; willkürliche Verhaftung und Misshandlung von Zivilisten; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungsfreiheit, der Presse und des Internets, einschließlich Gewalt gegen oder ungerechtfertigte Verhaftungen von Journalisten; schwerwiegende Korruption; fehlende Untersuchung und Strafverfolgung von Gewalt gegen Frauen; antisemitisch motivierte Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Menschen mit Behinderungen, Angehörige ethnischer Minderheiten; schlimmste Formen der Kinderarbeit.

Das sind keine Anklagen aus Moskau, sondern aus Washington! Sie beweisen unwiderleglich, welch ein monströses Verbrechen der USA, der EU und der NATO es war, die einst wohlgeordnete Ukraine mithilfe von Putschisten und Söldnern ins Chaos zu stürzen. Brachte die Tagesschau deshalb kein Wort über den „Blinken-Report“? Sie berichtet eben lieber über die US-Mainstream-Medien und deren Liebedienerei vor der Hohen Pforte in Washington – anscheinend ohne zu bemerken, dass sie damit zugleich die eigene Regierungsfrömmigkeit beschreibt:

Noch freuen sich viele US-Medien … über die neue, alte Normalität, loben den zivilen Umgang und die große Ernsthaftigkeit, würdigen die interessanten Biografien der neuen Führungskräfte, zählen mit, wie viele Verfügungen Biden denn nun unterzeichnet hat und kommentieren jede einzelne Initiative, die Bidens Team für die großen gesellschaftlichen Veränderungen formuliert.“ (13)

Die glänzende Biden-Medaille hat natürlich eine Kehrseite. Ist die nicht mehr zu verstecken, wird die Tagesschau allerdings wortkarg und lässt gebotene Sachlichkeit missen. Ein Beispiel dafür war ihr schändlicher Bericht über einen massiven US-„Luftschlag“ am 26. Februar in Syrien. (14) Mindestens 22 Menschen waren dabei umgebracht und zahlreiche weitere schwer verletzt worden. Pentagon-Sprecher Kirby rechtfertigte das Massaker hingegen als „verhältnismäßige militärische Antwort“ und bezog sich dabei auf den Tod eines einzigen US-Bürgers, der bei einem Anschlag umgekommen war, nicht in Syrien, sondern im Irak. Die Tagesschau-Leute gaben trotzdem kommentarlos Kirbys zynisch-verlogene Behauptung weiter, das „Vorgehen“ der USA habe

darauf abgezielt, die Gesamtsituation im östlichen Syrien und im Irak zu deeskalieren“ (ebd.)

Die Dullis der ARD-aktuell

Auf dass der Tagesschau-Konsument sich nur ja nicht von der deutschen Staatsreligion befreie, die USA seien das „Gute“ an sich, musste er lernen und jederzeit aus dem Stegreif aufsagen können: Völkerrechtswidrig handeln immer nur Russland und / oder die Volksrepublik China.

Deshalb verschweigt die Tagesschau auch sorgfältig, dass die USA inzwischen dazu übergegangen sind, die syrischen Ölvorkommen zu plündern und ihre Beute im Stil der Mafia zu vermarkten (15), während sie zugleich die hungernde syrische Bevölkerung zu Tode sanktioniert. ARD-aktuell nimmt demgemäß auch keinen Anstoß daran, dass unsere liebe gute Bundesregierung beim Völkerrechtsbruch in Syrien mitmacht (16) und die EU noch eins draufsetzen lässt. (17)

ARD-aktuell lässt ihre Redaktions-„Dullis“ (18, 19) seit Monaten fast die Hälfte der Tagesschau-Sendezeit mit strukturloser und enervierender Corona-Berichterstattung verplempern. Das führt zwangsläufig dazu, dass die weltfriedensgefährdende Politik der USA und der NATO kaum noch Beachtung findet. Im Jahr 2020 gab dieses Bündnis insgesamt rund 1,1 Billionen US-Dollar (rund 930 Milliarden Euro) für Rüstung aus, trotz massiver Steuerausfälle infolge der Corona-Pandemie. Mit 738 Milliarden US-Dollar waren die Militärausgaben der USA fast vier Mal höher als die der Volksrepublik China (193,3 Milliarden Dollar) und gut zwölf Mal höher als die der Russischen Föderation (60,6 Milliarden Dollar). (20)

Deutschland gibt heuer 46,93 Milliarden Euro aus (umgerechnet 54.74 Milliarden Dollar). Gegenüber dem Vorjahr sind das 1,3 Milliarden Euro mehr (21). In den vergangenen drei Jahren wurde der Verteidigungshaushalt um mehr als 10 Prozent aufgebläht. Deutschland ist Aufrüstungsweltmeister. (s. Anm. 20) Trotzdem gewinnt man nicht den Eindruck, als müssten Russland oder China jetzt beben vor Furcht. Öffentlich-rechtliche Spitzenjournalisten stellen jedoch nicht die naheliegende Frage, welch größeres Wissen die Bundesregierung und ihre Parlamentsmehrheit bewog, diese gigantische Summe fürs Militär zu verpulvern, schon gar angesichts der immensen Kosten für die Pandemiebekämpfung. Regierungsfromme Schreiber begnügen sich mit der Wiedergabe dessen, was NATO-Funktionäre ihnen vorgekaut haben. Es gehe darum,

„… unsere wertebasierte Ordnung zu schützen, die untergraben wird von Ländern wie Russland und China, die unsere Werte nicht teilen“. (22)

Was Stoltenberg unter „unsere wertebasierte Ordnung“ versteht, ob sein hehrer Anspruch mit unserer Realität übereinstimmt und inwiefern Russland und China die untergraben, das fragt ein Tagesschau-Redakteur nicht.

Nur bloß nicht kritisch nachfragen …

Erst recht – und damit sind wir wieder bei der aktuellen Tagesschau-Desinformation über die Vorgänge in der Ukraine – weist die Redaktion nicht darauf hin, dass US-Präsident Biden bei seiner beweislosen Bezichtigung der Regierung in Moskau auf primitivste CIA-Propaganda stützt: Die USA würden „Russlands aggressiven Aktionen“ nicht mehr tatenlos zusehen, der „Einmischung in Wahlen, Cyberattacken, oder der Vergiftung seiner Bürger“. Diese alte Drehorgelwalze wird nun mal nicht ausgewechselt, ihr Ohrwurm nervt so schön …

Die Misstöne erfüllen, so falsch und schrill sie auch klingen (23, 24), doch ihren Zweck, wider alle Vernunft und Humanität: Sie sind die Begleitmusik bei der Rechtfertigung der Steigerung der Militärausgaben um viele Milliarden Dollar.

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Dass unsere Bundesregierung an dieser friedensfeindlichen Politik mitwirkt, ist der Tagesschau keine Nachricht wert. Sie verbreitet lieber weiterhin und beflissen die bis heute nicht bewiesene, aus CIA-, MIV- und BND-Quellen stammende Behauptung, Vater und Tochter Skripal sowie der „führende russische Oppositionspolitiker“ Nawalny seien vom russischen Geheimdienst mit Nowitschok vergiftet worden (neuestes Tagesschau-Gruselmärchen: Nawalny wird in der Haft gefoltert. [25]) Der Popanz dient der antirussischen Feindbildpflege.

Seit Joe Bidens Amtsantritt im Weißen Haus – der Mann war ja schon als US-Vizepräsident ein Antreiber beim Maidan-Putsch vor sieben Jahren – wird das Gedöns immer lauter. Der neue US-Präsident ist im Gegensatz zu dem von der Tagesschau vermittelten Bild kein zurückhaltender politischer Feingeist, dessen demokratische und humanitäre Gesinnung gegenüber der pöbelnden und polternden Verlogenheit seines Amtsvorgängers Trump einen humanitären Quantensprung darstellt. Mit Blick auf die Vorgeschichte des neuen Herrn im Weißen Haus hätte ARD-aktuell in Erinnerung rufen können, dass Biden sich schon während seiner Zeit als US-Senator als „knallharter Law and Order-Faschist“ (26) erwies. Zum Beispiel verfasste er 1994 ein Gesetz, das für 60 zusätzliche Vergehen die Todesstrafe vorsieht und Straftäter nach einem dritten Vergehen, sei es auch noch so geringfügig, automatisch lebenslang hinter Gitter bringt. (27) Dieses abgefeimt unmenschliche Gesetz trägt passenderweise die Namen Clinton Crime Bill und Biden Crime Law. (ebd.) Ehre, wem sie gebührt.

Saboteure des Waffenstillstands

Eben dieser Biden, ob mittlerweile erst leicht dement oder schon schwer senil, sichert nun seinem Kiewer Amtsbruder „unerschütterliche Unterstützung“ zu und lässt einen anschwellenden Strom von Waffenlieferungen in die Ukraine fließen. (28, 29) Nachvollziehbare Begründungen für diese Eskalationspolitik hat das Pentagon nicht, nur wilde Beschuldigungen gegen die Ostukrainer und gegen Russland. (30)

Trotzdem spielt das Berliner Außenministerium mit Unschuldsmiene auf Seiten der Hetzer mit:

Es ist legitim, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität und nationale Sicherheit schützt und sich angesichts des Ausmaßes von Desinformationskampagnen im Land gegen manipulierte Informationen wehrt.” (31)

Da können in Russland lebende Experten wie der Schriftsteller Thomas Röper zur Zurückhaltung und Vorsicht mahnen, soviel sie wollen. (32)

Was US-Außenminister Blinken generell bestätigt: In Kiew wurden die Opposition eliminiert, die Justiz gleichgeschaltet und die letzten verbliebenen regierungskritischen TV-Sender abgewürgt. (s. Anm. 13) Röper führt auf seiner Internet-Seite antispiegel.ru im Detail aus, mit welchen rechtswidrigen und fiesen Methoden der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum Beispiel gegen journalistische Kritiker vorgeht. (33)

Kiew hätte gemäß dem Abkommen Minsk-2 schon Ende 2015 eine Verfassungsreform verabschieden müssen, die den Donbass-Provinzen einen autonomen Sonderstatus zuerkennt und hätte zum gleichen Termin gesamt-ukrainische Wahlen durchführen müssen. (s. Anm. 10) Nichts dergleichen wurde jemals ernsthaft angegangen. Auch Selenskyj lehnt, wie alle seine Vorgänger, direkte Gespräche mit den „Abtrünnigen“ ab.

Frankreich und Deutschland, zusammen mit Russland die „Paten“ des Abkommens, unternehmen seit Jahr und Tag nichts, absolut nichts, um Kiew zur Vertragserfüllung anzuhalten, obwohl sie über alle finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Druckmittel verfügen, um die ukrainische Führung dazu zu zwingen. Bei verlogener Verlautbarungsrhetorik tun sie sich allerdings keinen Zwang an:

Als Vermittler im Normandie-Format bemühen sich Deutschland und Frankreich um die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Mit diesem Ziel finden weiterhin regelmäßig Verhandlungen statt.“ (34)

Das ist schon dreist, eine gezielte Täuschung der deutschen Öffentlichkeit. Vor wenigen Wochen erst haben Maas, sein französischer Kollege Le Drian und die (transatlantisch orientierte) Mehrheit der OSZE-Außenminister einen Resolutionsantrag Russlands auf Erfüllung des Minsker Abkommens abgelehnt. (35) Und Selenskyj hatte, ohne Bidens Zustimmung undenkbar, am 24. März per Präsidentendekret verfügt, die „vorübergehend okkupierte Republik Krim und die Stadt Sewastopol“ zu befreien. Er ließ den Präsidialerlass, das korrespondiert mit seinem zeitgleichen de-facto-Abschied vom Minsk-2-Abkommen (Anm. 11), am 29. März vom Parlament absegnen. Das Dokument, nur in russischer, nicht in englischer Version auf der Amtsseite der Regierung im Internet veröffentlicht, (36) „kommt einer Kriegserklärung an Russland zumindest nahe“, heißt es im Forex Report. (37) Es handelt sich, soweit wir das überblicken, um die einzige deutschsprachige Publikation, die den Vorgang aufgriff. Der rechtfertigt fraglos die russischen „Truppenbewegungen“.

Wahre Sprachkünstler am Werk

Von all dem kein Sterbenswort in der Tagesschau. Statt vollständiger und sachgerechter Information lieferte sie wieder nur unverfälschte Einseitigkeit:

Der Ton zwischen der Ukraine und Russland hat sich angesichts der russischen Truppenbewegungen nahe der Grenze zur Ukraine und auf der annektierten Halbinsel Krim weiter verschärft.“ (38)   

Der Ton „verschärft sich“. Die Lage „spitzt sich zu.“ Es herrscht „gespannte Ruhe“. „Stand heute“ weiß man: Bald klappt das „Zeitfenster“ zu. Und an allem ist natürlich der Russe schuld.

Der Ukrainer Leonid Krawtschuk, Kiews Vertreter bei den Verhandlungen im „Normandie-Format“ (Minsk-2), schwelgt schon in feuchten Träumen von einem großen Krieg, „wenn Moskau seinen Appetit nicht zügelt“:

Ich bin davon überzeugt, dass sich die USA an dieser Frage beteiligen sollten, da der Konflikt im Donbass nicht nur eine ukrainische und europäische Frage ist, sondern eine Frage eines möglichen groß angelegten Konflikts.“ (39)

Kein Licht in diesem Tunnel. Huhu, Heiko! Wo bleibt er denn, unser berühmter Vorkämpfer für „Freiheit und Democracy“? Nicht zu fassen: Angesichts der konkreten, von Biden hervorgerufenen Kriegsgefahr hält uns` Heiko doch tatsächlich die Klappe. Ausnahmsweise mal vorsichtig statt vorlaut! Ach so, na dann … dann kann ja die Tagesschau auch nichts nachplappern.

Quellen und Anmerkungen:

  1. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-russland-usa-101.html
  2. https://www.youtube.com/watch?v=z-CqGO9A9X4
  3. https://www.jungewelt.de/artikel/398251.krieg-in-der-ukraine-ultimatum-vorbereitet.html
  4. https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-42271.html
  5. https://www.sueddeutsche.de/politik/maas-russland-ukraine-1.5255704
  6. https://eu.usatoday.com/story/news/factcheck/2020/10/21/fact-check-joe-biden-leveraged-ukraine-aid-oust-corrupt-prosecutor/5991434002/
  7. https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-affaere-was-ueber-die-rolle-von-joe-und-hunter-biden-bekannt-ist-a-1288906.html
  8. https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/ukraine-joe-biden-telefon-mitschnitte-petro-poroschenko
  9. https://de.southfront.org/ukraine-zwischen-biden-und-borke/
  10. https://de.wikipedia.org/wiki/Minsk_II
  11. https://southfront.org/kiev-builds-up-legal-conditions-to-justify-its-upcoming-aggression-in-donbass/
  12. https://southfront.org/u-s-state-department-lists-ukraines-plentiful-human-rights-abuses-in-2020/
  13. https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/biden-usa-regierung-101.html
  14. https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/biden-luftschlag-usa-syrien-101.html
  15. https://www.heise.de/tp/features/USA-Wir-behalten-das-syrische-Oel-4574371.html
  16. https://www.bundestag.de/resource/blob/535224/1d02987d6e377256e6624c53fd78b704/WD-2-098-17-pdf-data.pdf
  17. https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2020/05/28/syria-sanctions-against-the-regime-extended-by-one-year/
  18. https://www.netzwelt.de/abkuerzung/171535-dulli.html
  19. https://www.youtube.com/watch?v=o3ksvjoTsgY
  20. https://www.mitwelt.org/aufruestung.html
  21. https://augengeradeaus.net/2020/11/verteidigungshaushalt-2021-120-mio-mehr-jetzt-4693-milliarden-euro/
  22. https://www.tagesschau.de/ausland/nato-reform-103.html
  23. https://www.politifact.com/article/2017/dec/12/2017-lie-year-russian-election-interference-made-s/
  24. https://time.com/5565991/russia-influence-2016-election/
  25. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nawalny-hungerstreik-101.html
  26. https://blog.fefe.de/?ts=a16aecee
  27. https://en.wikipedia.org/wiki/Violent_Crime_Control_and_Law_Enforcement_Act
  28. https://de.euronews.com/2021/03/02/usa-bewaffnen-ukraine-gegen-russische-aggressionen
  29. https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/usa-joe-biden-ukraine-grenze-russland-truppenbewegung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fduckduckgo.com%2F
  30. https://southfront.org/washington-sends-military-transport-aircraft-to-ukraine-but-cannot-explain-why/
  31. https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2440116#content_3
  32. https://linkezeitung.de/2021/03/29/zuendfunke-ukraine-was-fuer-einen-krieg-die-usa-gegen-russland-vorbereiten/
  33. https://www.anti-spiegel.ru/2021/pressefreiheit-in-der-ukraine-selensky-entzieht-zwei-kritischen-tv-sendern-die-sendelizenz/?doing_wp_cron=1616975099.2922170162200927734375
  34. https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2452296
  35. https://www.anti-spiegel.ru/2021/steht-das-ende-des-minsker-abkommens-bevor-deutschland-stimmt-gegen-initiative-zur-umsetzung-des-abkommens/
  36. https://www.president.gov.ua/documents/1172021-37533
  37. https://solvecon-invest.de/wp-content/uploads/2021/04/Forex-Report-2021-0406.pdf
  38. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ostukraine-193.html
  39. https://tass.ru/mezhdunarodnaya-panorama/10898233

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc/

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Grafikquellen       :

Oben         —   President Joe Biden talks on the phone with service members attending Super Bowl LV watch parties in Kabul and aboard the USS Nimitz Sunday, Feb. 7, 2021, at the Lake House in Wilmington, Delaware. (Official White House Photo by Adam Schultz)

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Unten      —   During a @POTUS visit to my office (his old office), he showed me where – on Valentine’s Day in 2009 – @FLOTUS wrote “Joe loves Jill” on all the window panes. I love that story! To @POTUS, @FLOTUS, and all Americans: #HappyValentines

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Massenmörder F. J. Huber

Erstellt von Redaktion am 8. April 2021

Massenmörder und Gestapo- Chef
fast 20 Jahre im Dienste der CIA

File:Franz Josef Huber.jpg

Franz Josef Huber

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Der SS-General und Komplize von Adolf Eichmann hat Zehntausende Juden in den Tod geschickt. Doch die CIA setzte ihn als Spion ein.

Erst jetzt zugängliche Archive der Geheimdienste der USA und Deutschlands brachten es ans Licht: Einer der schlimmsten Nazi-Massenmörder wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs vor Verfolgung verschont und geschützt, weil er der CIA und auch dem deutschen Bundesnachrichtendienst BND nützlich war als Spion gegen den kommunistischen Osten.

Der «Report München» der ARD und die New York Times haben Auszüge aus den Geheimdienst-Dokumenten am Dienstag publiziert. Nur wenige grosse Medien berichteten bisher darüber.

In Wien möglichst alle Juden vernichtet

Nach der deutschen Annexion von Österreich im Jahr 1938 wurde Huber Gestapo-Chef eines grossen Teil Österreichs einschliesslich Wiens und befahl dort alsbald, «unerwünschte … Juden sofort zu verhaften und ins Konzentrationslager Dachau zu überführen».

Dachau wurde im Januar 1933 eröffnet. Jahrelang war «die Gestapo und die Polizei unter Hubers Führung in Wien dafür verantwortlich, Juden einzusammeln, sie in Züge zu verfrachten und in Konzentrationslagern ihrem Schicksal zu überlassen», erklärte Professor Moshe Zimmermann von der Hebrew University in Jerusalem in der NYT. Huber habe Zehntausende Menschen in den Tod getrieben.

Huber lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1975 unbehelligt und mit einer Rente in München

Die CIA liess belastendes Material möglichst verschwinden und stellte Huber nach Ende des Krieges als Spion an. Erst fast zwanzig Jahre nach Kriegsende, 1964, entliess ihn die CIA nach Angaben der NYT aus Angst, seine Vergangenheit könne die Geheimdienste doch noch in Verruf bringen. Weil Huber seine Vergangenheit gegenüber der CIA nie verheimlichte, wurde seine Entlassung als «unbegründete Entlassung» eingestuft, so dass er bis zu seinem Tod 1975 im Alter von 73 Jahren eine Rente beziehen konnte.

Ab 1956, als der BND gegründet wurde, war Huber von Anfang an auch in dessen Diensten. Das bestätigte im «Report München» der BND-Chefhistoriker Bodo Hechelhammer: «Die Suche nach Geheimdienstleuten mit klarer antikommunistischer Einstellung führte viel zu oft zu ehemaligen Nazis.»

Adolf Eichmann is sentenced to death at the conclusion of the Eichmann Trial USHMM 65289.jpg

Auslieferungsgesuche von Österreich und Forderungen von Opfer-Anwälten, gegen Huber zu ermitteln, hätten die US-Besatzungsorgane und Geheimdienststellen «mit zahlreichen bürokratischen Vorwänden» abgelehnt. Die USA hätten die deutschen Behörden mit Erfolg dazu gedrängt, dass sie Huber im Entnazifizierungsverfahren mit einer bedingten Verurteilung und einer Busse davonkommen liessen.

Anders als andere Naziverbrecher musste Huber nie flüchten und untertauchen, sondern lebte stets unter seinem richtigen Namen ein unbeschwertes Leben. «Das ist kaum zu fassen und eine Schande, dass Huber ein ruhiges Leben unter seinem eigenen Namen führen konnte», erklärt Professor Shlomo Shpiro der Bar-Ilan-University in Israel.

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Oben        —     Franz Josef Huber

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Der Himmel über Idlib

Erstellt von Redaktion am 8. April 2021

Im Flüchtlingslager von Killi

Arrival of residents of Al-Fu'ah and Kfrya to Aleppo by tasnimnews.com29.jpg

Von Muhammad Al Hosse

Ali Abdallah ist seit einem Luftangriff halbseitig gelähmt, doch aufgeben will er nicht. Er züchtet Tauben, als Hobby und zum Lebensunterhalt. In den Vertriebenenlagern im Nordwesten Syriens spendet die Aufzucht der Tiere den Menschen Trost.

Müdigkeit steht Ali Abdallah ins Gesicht geschrieben. Auf dem Kopf trägt der 28-Jährige eine Mütze. Eigentlich trägt Ali Abdallah einen anderen Namen, der aus Sicherheitsgründen hier aber nicht genannt werden soll. Seit sein Haus von russischen und syrischen Kampfflugzeugen bombardiert worden ist, steckt sein Körper wegen einer halbseitigen Lähmung in einem Rollstuhl. Mit seiner Frau und den vier Kindern flüchtete er sich in ein Vertriebenenlager nahe Killi, in jene Gebieten der syrischen Provinz Idlib, die der syrische Präsident Baschar al-Assad bislang nicht zurückerobern konnte.

Doch Ali Abdallah ist optimistisch: „Wegen des Rollstuhls hat mein Leben ja nicht aufgehört“, sagt er. In dem Lager ist es ihm mittlerweile gelungen, Tauben aufzuziehen. Die Zucht der Vögel, so sagt er, passe zu seiner Verletzung. Aus dem Rollstuhl heraus pflegt er sie. Bei Sonnenaufgang und spät am Abend bei Sonnenuntergang kümmert er sich um die Tiere, verbringt viel Zeit mit ihnen, füttert sie und lässt sie für ihren täglichen Übungsflug frei.

Unter den vertriebenen Syrern in den Lagern Idlibs ist das Hobby der Taubenhaltung weit verbreitet. Mit besonderer Sorgfalt ziehen sie die Vögel in Gruppen auf und trainieren sie, gemeinsam zu fliegen. Das Hobby bietet Abwechslung und spendet Trost in diesem vom Krieg zerrissenen Land. Vor allem unter den Männern ist die Taubenzucht beliebt. Einige sind ganz besessen von den Tieren, die ihnen in ihrem von Vertreibung geprägten Leben Halt geben.

Für viele Familien ist die Taubenhaltung aber auch Lebensgrundlage. „Das ist ein Unternehmen, das für mich und meine Familie Kapital generiert“, sagt Ali Abdallah. „Ich fotografiere die Vögel, die ich verkaufen möchte, und poste die Bilder in Whatsapp-Gruppen für Restaurantbesitzer und Taubenhändler“, erzählt er. „Wer das höchste Gebot macht, dem verkaufe ich meine Tauben.“ Die Nachfrage nach Taubenfleisch in Idlib ist hoch. Manche kaufen die Tiere auch für die eigene Küche zu Hause.

Zehn Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Idlib, in dem Dorf Ma’aret Misrin, treffen sich jeden Freitag die Händler und Züchter auf einem großen Vogelbasar. Auf einer Fläche von ein bis zwei Quadratkilometern werden Enten, Gänse, Hühner, Papageien, Wellensittiche und Tauben in Eisenkäfigen auf Motorrädern oder Pick-up-Trucks zur Schau gestellt. Wer kein Fahrzeug hat, das er als Marktstand nutzen kann, platziert seine Vögel einfach auf dem Boden. Auch die Vertriebenen in der Region stellen ihre Vögel auf dem Markt von Ma’aret Misrin aus.

Die Käufer prüfen die Tauben und untersuchen sie auf Krankheiten. Sie schauen nach Wunden, Atemproblemen oder herabhängenden Flügeln. Jede Taube hat unterschiedliche Merkmale und Formen, nach denen sich ihr jeweiliger Wert bemisst. Die Preise seiner Vögel lägen meist zwischen umgerechnet 4 und 25 Euro, erzählt Ali Abdallah. Einige wenige Tiere auf dem Markt können aber bis zu 2.000 Euro bringen.

Settlement of people of Al-Fu'ah and Kafrya on the outskirts of Homs 04 (cropped).jpg

Bezahlt wird in Idlib und Umgebung nicht mit der syrischen Währung, sondern in türkischen Lira. Das hat Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) vergangenen Sommer so verfügt, so lautet der Name jener Miliz, die die letzte Oppositionshochburg in Syrien mit türkischer Unterstützung kontrolliert und auch in den Vertriebenenlagern von Idlib das Sagen hat. Ein von der Türkei und Russland vereinbarter Waffenstillstand ist zwar verlängert worden und sorgt derzeit für eine relative Ruhe, doch die unsichere Situation bereitet den Menschen weiterhin Sorgen.

Viele Zivilisten erwarten neue Militäraktionen des Regimes, das immer wieder klargemacht hat, dass es alle Landesteile Syriens wieder unter seine Kontrolle bringen möchte. Obwohl die groß angelegte Offensive der Regierung und ihrer russischen Verbündeten auf Idlib im letzten Jahr weitgehend zum Stillstand gekommen ist, fliegen die Kampfjets nahe den Frontlinien östlich und südlich der Provinzhauptstadt weiter ihre Luftangriffe. Ständig sind im Himmel über Idlib russische und syrische Kampfflugzeuge zu sehen.

Auch Muhammad al-Abrasch hat das Hobby der Taubenzucht für sich entdeckt. Während der Militärkampagne auf Idlib im letzten Jahr wurde er aus seinem Heimatdorf Ma’aret al-Na’asan vertrieben. Nun wohnt er in einem Lager nördlich des Dorfes Harbanusch im Norden Idlibs, wo er mehr als sechzig Tauben besitzt. „Nichts“, sagt er, „steht zwischen mir und meinen Tauben.“

Als sein Dorf bombardiert wurde, habe seine Familie die Vögel zurücklassen wollen. Sie wollten ja zurückzukehren, erzählt Muhammad. Doch er ahnte, dass eine Rückkehr unwahrscheinlich sein würde und wollte die Tauben nicht durch die Bomben sterben lassen. Also nahm er sie mit. „Ich habe mein Leben riskiert, um die Vögel da herauszuholen“, erinnert er sich.

Quelle        :        TAZ        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben         —     Arrival of residents of Al-Fu’ah and Kfrya to Aleppo – December 2016

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Unten       — 

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Deutsche Heere + D.-Geld

Erstellt von Redaktion am 5. April 2021

Auslandseinsätze steigern den Zerfall der betroffenen Regionen

Bundeswehr in Afghanistan, August 2011.jpg

Deutsche Militärs sind doch zum Blumenpflücken dort, nicht um zu Morden!

Quelle      :  NachDenkSeiten

Von Bernhard Trautvetter

Noch bis Ende März plant die Bundesregierung einen Bundestagsbeschluss zur Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes trotz eines ursprünglich avisierten Abzugs. An diesem Vorhaben offenbart sich die Verlegenheit der Interventionspolitik. Lange Zeit brachte die Bundesregierung so genannte ‘Fortschrittsberichte’ über den Afghanistan-Krieg.[1]

Diese begriffliche Täuschung steht im krassen Widerspruch zu Margot Käßmanns berühmtem Zitat “Nichts ist gut in Afghanistan“.[2] Die Einschätzung von Margot Käßmann trägt bis heute. Nicht nur die Lage der Menschen vor Ort, sondern auch die kalte Unbeirrtheit der Militärs und der sie stützenden Kräfte ist entsetzlich. Es stellt sich auch am Beispiel dieses von Anfang an inakzeptablen Kriegseinsatzes die Frage, was noch geschehen muss, bis die Politik kapiert, dass Kriege nicht im Frieden enden.

Die “Außen- und Sicherheitspolitik” erheben die bürgerlichen Parteien zum Lackmustest für die Frage, ob auch die Linkspartei für eine mögliche Regierungsbeteiligung mit ins Kalkül kommen kann. Die Nato-Frage und die Auslands- und Kriegseinsätze sind dabei die größten Kröten, die die Grünen lange schon geschluckt haben. Ein Propaganda-Instrument ist die De-Legitimierung des Pazifismus als naiv und gefährlich. In der Logik dieser Argumentation wird die Bundeswehr zur Friedensmacht auserkoren.

Der Koalitionsvertrag der CDU/CSU und der SPD postuliert, dass sich die Bundeswehr innerhalb eines vernetzten Ansatzes weltweit für Frieden und Sicherheit engagiert; die Auslands- oder Kriegseinsätze “erfolgen stets im Rahmen eines politischen Konzepts, das fortlaufender Evaluierung unterliegt”, heißt es im Abschnitt “Aktuelle Auslandseinsätze der Bundeswehr anpassen”.[3]

Die Militarisierung der Weltpolitik durch Interventionen und Kriege führte zu einer Lage, die die FAZ 2016 so beschrieb: “…Europa inmitten eines Trümmergürtels: Ukraine, Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien und Algerien. Rund um Europa finden sich bis auf Marokko nur noch Staaten, die fragiler werden – oder schlimmer noch, infolge von Kriegen und innerstaatlichen Konflikten völlig darnieder liegen.”[4] Die Zuspitzung der Lage wird auch daran sichtbar, dass die UNO Flüchtlingshilfe 2021 Syrien, Afghanistan, Südsudan und Sudan, Somalia und Eritrea sowie Jemen (hier sind es vor allem Binnenflüchtlinge) als Länder mit den höchsten Flüchtlingszahlen auflistet.[5] Es stellt sich angesichts dieser verheerenden Entwicklung die Frage, was noch geschehen muss, bis die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, sodass sie kein Öl mehr ins Feuer gießen können.

Der Konflikt über die (Un-)Möglichkeit, Frieden mit militärischer Gewalt zu erzwingen, ist alt. Heiner Geißler hielt 1983 den damals noch als links eingestuften und zur Friedensbewegung zugeneigten ersten grünen Bundestagsabgeordneten entgegen, der Pazifismus der 30er Jahre habe ‘Auschwitz erst möglich gemacht’.[6] Etwas moderater, aber mit der gleichen Forderung nach Gegengewalt einer auf Befriedung ausgerichteten UNO-Ordnungsmacht schrieb der Journalist Albrecht von Lucke am 18.10.2014 in der taz: “Solange eine solche ‘UN-Polizei’ bloße Utopie bleibt, wird es jedoch immer wieder erforderlich sein, im Einzelfall ein robustes UN-Militärmandat zu fordern, um dadurch das Morden auf legitime Weise zu beenden… “[7]

Mit einer solchen Ausrichtung kommt der mögliche rotrotgrüne Koalitionär SPD zu einer ultimativen Schlussfolgerung: “SPD-Chef Walter-Borjans mahnt die Linke: Ohne ein Ja zu Bundeswehreinsätzen keine Regierungsbeteiligung.”[8]

Die Sorge, ihre Partei sei nicht koalitionsfähig, da sie in der Außenpolitik Positionen vertritt, die sie von vorneherein als Koalitionspartner ausschließen, hat schon über Jahre hinweg zu Diskussionen auch in der Linkspartei geführt. Ein radikaler Pazifismus, der in der Gewalt kein Mittel zur Beendigung von Gewalt sieht, trifft hierbei auf Bestrebungen, die prinzipielle Friedenspolitik aufzuweichen. Hier dazu ein beispielhaftes Zitat von 2013: “Stößt nicht eine Verabsolutierung des Einmischungsverbots moralisch und juristisch an eine Grenze, wenn es um Genozid bzw. Massenmord geht?”, heißt es der >Zeit<zufolge in einem Sammelband Linke Außenpolitik – Reformperspektiven. “Mit dem Vorstoß wollten die Politiker auch die Hürden für ein rot-rot-grünes Bündnis im Bund senken. Bislang galten die Linken vor allem auch wegen ihrer strikten Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr für die SPD nicht als koalitionsfähig.”[9]

Bruno Kasdorf.jpg

Jetzt singen alle das Steiger Lied – Glück auf

Im Augenblick gewaltsamer Entwicklungen stellt sich die Frage, welche Reaktion minimiert die Gewalt? Gewaltfreie Aktionen, Waffenembargos, Nicht-Kooperation mit den Tätern oder Gegengewalt. Aber im Zusammenhang mit militärischen Strategien geht es Vertreter*innen der Macht nur vordergründig um die Vermeidung von Leid. Es geht ihnen darum, dass das nun größer gewordene Deutschland, wie es der Dreiklang Steinmeier, von der Leyen, Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz zum Ausdruck brachte, wieder auf der Weltbühne ist.[10]

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Ingo Gädechens erklärte 2015 anlässlich 60 Jahre Bundeswehr: “Unsere Streitkräfte sind erwachsen geworden…. Die Bundeswehr musste sich in den vergangenen sechs Jahrzehnten immer wieder auf neue Sicherheitslagen einstellen und vielfältige Aufgaben bewältigen. Sie hat den Wandel … von einer reinen Verteidigungsarmee … zur Armee im Einsatz vollzogen und sich dabei international bewährt.”[11]

Die nicht mehr auf Verteidigung ausgerichtete Bundeswehr ist als Armee im Einsatz “erwachsen”. Der Einsatz von Gewalt, der immer ein Scheitern der Vernunft und des Verstandes ist, wird hier zur Reife hoch-stilisiert. Doch intelligente Konfliktlösung richtet sich stattdessen auf die Berücksichtigung der Interessen aller Seiten im Rahmen von Verhandlungen zum Beispiel unter UNO-Vermittlung.

Der Disput zwischen Kräften der Friedensbewegung und Befürworter*innen einer Herbeiführung von Frieden mit Gewalt und Krieg ist in der Linkspartei in neuer Schärfe entbrannt; die Grünen und die SPD sind in dieser Frage bereits auf der Linie der Bundeswehr und der Nato. Der genaue Blick auf die Position der Befürworter von Interventionen offenbart, dass deren Position imperiale Interessen und Interessen des militärisch-industriellen Komplexes zugrunde liegen: Das Auswärtige Amt erklärt auf seiner Website zur sogenannten ‘Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik’: Im Rahmen einer “Globalen Strategie zur Außen- und Sicherheitspolitik der EU … ausgehend von einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse die strategischen Ziele der EU für den Bereich Sicherheit und Verteidigung” kommen “zivile, polizeiliche und militärische Instrumente” zum Einsatz, um “im Rahmen der Globalen Strategie zur Außen- und Sicherheitspolitik” zu handeln, und das “möglichst komplementär zur NATO”.[12]

Nach einem gewaltsam erzwungenen Frieden ist davon auszugehen, dass die unterlegene Seite weiter nach neuen Möglichkeiten suchen wird, ihre Interessen auch nach einer Niederlage durchzusetzen. Ein so herbeigeführter Frieden ist ein Pyrrhus-Frieden auf tönernen Füßen. Ein mit Gewalt herbeigeführtes Ende direkt ausgetragener Gewalt ist kein Frieden, sondern ein Element in einem Kreislauf aus Gewalt, Rache, Vergeltung, Gegengewalt,,, bis hin zum gemeinsamen Untergang. Nur eine für alle Seiten gerechte Lösung führt zum Frieden.

Als Gerhard Schröder nach dem 11. September 2001 die bedingungslose Solidarität mit den USA bekundete und die Beteiligung am Afghanistankrieg auch mit dem Druckmittel der Vertrauensfrage im Bundestag durchsetzte, kritisierte die Friedensbewegung, dass sich dieser Konflikt nicht mit Militär lösen lasse. Der international renommierte Friedensforscher Johan Galtung erklärte damals als einer der weltweit bekanntesten Vertreter der Friedensbewegung: “Ich halte es … für naiv, mit Gewalt Änderungen herbeiführen zu wollen. Der Terrorismus kann nur mit Dialog und dem Willen zur Versöhnung bekämpft werden. Die Amerikaner haben es verpasst, mit den Taliban zu verhandeln. Letztere waren sogar bereit, Osama Bin Laden an einen anderen islamischen Staat auszuliefern. Die USA haben das ausgeschlagen, einen Krieg begonnen und damit noch mehr Hass auf sich gezogen. Der Westen muss von seiner gewalttätigen Politik abkehren.”[13] Johan Galtung sollte Recht behalten. Heute, bald zwei Jahrzehnte nach dem Beginn der Afghanistan-‘Intervention’, die ein Verteidigungsminister plötzlich ‘umgangssprachlich Krieg‘[14] nannte, ist das Land dem Zerfall näher als einer Friedensperspektive.[15]

Zur Einschätzung der Ergebnisse der Auslandseinsätzen der Bundeswehr sind die vorher deklarierten Ziele der Gewaltbekämpfung mit der erreichten Wirkung zu vergleichen. Der erste out-of-Nato-area-Einsatz der Bundeswehr war der in Somalia (Beginn 1993). Zu seiner Bilanz ist festzustellen: “In Somalia besserte sich die Lage nach dem UN-Einsatz nicht, das Land ist bis heute zerrissen, die Menschen auf internationale Hilfe angewiesen, die Clans zerstritten – und islamistischer Terrorismus ist als Problem hinzugekommen. Eine Evaluation, eine Bewertung der ersten Mission in Somalia hat es aber nie richtig gegeben.”[16]

Hier erste Hilfen zur Evaluation: Der Afghanistan-Einsatz unter dem im Sinne des Militarismus manipulativen Begriff ‘Resolute Support’ hatte mit der Zielformulierung begonnen, man strebe an, die “Übernahme der vollständigen Sicherheitsverantwortung in Afghanistan durch die dortige Regierung … zu befähigen, ihrer Sicherheitsverantwortung selbst nachzukommen.”[17] Obwohl die Ziele der ‘resoluten Unterstützung’ auch noch nach fast zwei Jahrzehnten in unerreichbare Weite gerückt sind, machen die Militärs unbeirrt mit ihrer längst schon gescheiterten Strategie aus Geld, Leid, Ressourcen, Zerstörung weiter.

Der sogenannte Anti-IS-Einsatz erfolgte mit der von der Bundesregierung erklärten Ziel-Orientierung, er “soll die Stabilisierung der Region sichern, das Wiedererstarken des Islamischen Staats (IS) verhindern und die Versöhnung fördern”.[18]

4th CAB leaders earn German military decorations DVIDS372240.jpg

Ein Deutscher Militarist schmückt eine US-Militär mit einen Deutschen Orden

Versöhnung durch Krieg – das ist die Orwellsche Sprachverwirrung. ‘Krieg ist Frieden, … Ignoranz ist Stärke.'[19] Die Milliarden für militärische Gewalt wurden nicht in die Entwicklung der Lebensbedingungen investiert, sie halfen und helfen bei der Zerstörung der Lebensbedingungen und sind wesentlich an der militärischen Zerstörung der ökologischen Zukunft der Menschheit beteiligt. Eine mögliche Regierungsbeteiligung egal welcher Partei darf nicht an die Ignoranz der Inhumanität militärischen Wahnsinns zugunsten des militärisch-industriellen Komplexes gebunden sein, dessen Kurse in die Höhe schnellen. Hauptabnehmer deutscher Kriegswaffen sind die Türkei und Kuwait, also Staaten, die am Zerfall der Strukturen der Gesellschaften in den Konflikt- und Kriegsgebieten ihren Anteil haben.[20]

Ohne die weitere Entfaltung des Gewichts und der Aktivitäten der Friedensbewegung ist weder ein Friedenspolitik von einer Bundesregierung zu erwarten, noch eine sozial-ökologische Wende in die Richtung einer konsequent friedens-ökologischen Politik, die es ohne massive Abrüstung und Nutzung freiwerdender Mittel für die ökologischen Erfordernisse und die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen nicht geben wird. Der Ostermarsch ist die nächste Gelegenheit. Er hat seit Jahrzehnten den Druck in die Richtung einer friedensökologischen Politik entfaltet, auch 2020, als er digital stattfand. Das Netzwerk Friedenskooperative veröffentlicht auf seiner Website die Termine und Details dazu.[21]

Weitere Informationen zum Thema “Rot-Rot-Grün und Nato/Auslandseinsätze versus Friedensökologie”: frieden-links.de

Titelbild: Von Justin Moeser/shutterstock.com


[«1tagesschau.de/multimedia/politikimradio/audio-102087.html

[«2ekd.de/100101_kaessmann_neujahrspredigt.htm

[«3bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1

[«4faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/muenchner-sicherheitsreport-ueber-kriege-krisen-und-konflikte-14031523.html

[«5uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen/

[«6tagesspiegel.de/politik/die-linke-und-der-fall-kobane-in-der-logik-der-abschreckung-konnte-jeder-schritt-einer-zuviel-sein/10889744-2.html

[«7taz.de/Debatte-Pazifismus-vs-Intervention/!5030875/

[«8tagesspiegel.de/politik/walter-borjans-ueber-rot-rot-gruen-linke-verbaut-sich-die-regierungsfaehigkeit/26937282.html

[«9zeit.de/politik/deutschland/2013-09/linke-pazifismus-abkehr-debatte

[«10kenfm.de/die-erfolgsgeschichte-der-gehirnwaescher/

[«11cducsu.de/themen/aussen-europa-und-verteidigung/unsere-streitkraefte-sind-erwachsen-geworden

[«12auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/europa/aussenpolitik/-/201802?openAccordionId=item-203094-0-panel

[«13ag-friedensforschung.de/themen/Terrorismus/galtung.html

[«14fr.de/politik/fakten-chronik-afghanistankrieg-11369958.html

[«15tagesspiegel.de/themen/afghanistan/

[«16augengeradeaus.net/2018/05/somalia-vor-25-jahren-der-erste-bewaffnete-auslandseinsatz-der-bundeswehr/

[«17bundestag.de/ausschuesse/a12_Verteidigung/auslandseinsaetze/auslandseinsaetze/rsm-542550

[«18bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundeswehr-irak-syrien-1672184

[«19soulsaver.de/blog/georg-orwell-schrieb-in-1984-wie-werte-ins-gegenteil-verkehrt-werdenkrieg-ist-frieden-freiheit-ist-sklaverei-und-ignoranz-also-etwas-nicht-zur-kenntnis-nehmen-ist-staerke/comment-page-1/

[«20zdf.de/nachrichten/politik/waffenausfuhren-kriegswaffenexporte-bundesregierung-100.html

[«21friedenskooperative.de/ostermarsch-2021/aufrufe

Eine Genehmigung zur Übernahme des Artikel liegt vor.

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Grafikquellen        :

Oben       —   110724-N-LU859-381 Mazar-e Sharif, Afghanistan. (Aug. 08, 2011) A soldier of the Camp Marmal Force Protection Group mans a machine gun atop a vehicle as part of a patrol. He is one of many soldiers of the International Security Assistance Force’s Regional Command North who are responsible for protecting Camp Marmal and its airfield against intrusion attempts and attacks, as well the protection of aircraft during takeoff and landing. (U.S. Navy photo by Mass Communication Specialist 1st Class Burt W. Eichen/Released)

Permission details

This file is a work of a sailor or employee of the U.S. Navy, taken or made as part of that person’s official duties. As a work of the U.S. federal government, it is in the public domain in the United States.

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2. von Oben        —     International Security Assistance Force Chief of Staff German Army Lt. Gen. Bruno Kasdorf, speaks before presenting the German Gold Cross of Honor medal to pilots and crew members of a U.S. air medevac unit, 5th Battalion, 158th Aviation Regiment, Katterbach, Germany, on May 12 at Provincial Reconstruction Team Kunduz. The German Gold Cross Medal, had never been awarded to foreign troops before. They were honored for their bravery evacuating wounded German Soldiers while under fire near Kunduz on April 2.(Photo by U.S. Army SFC Matthew Chlosta, ISAF PAO)

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Unten        —       U.S. Army Maj. Robert Federigan, medical operations officer, Headquarters Headquarters Company, 4th Combat Aviation Brigade, 4th Infantry Divison, International Security Assistance Force, receives the gold German Military Skill Badge for medical personnel, which represents the highest level of military medical proficiency in the Bundeswehr, from the commander of the German Medical Task Force, Feb. 27.

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Waffenembargo in Libyen

Erstellt von Redaktion am 5. April 2021

Bundeswehr-Panzer für den König

Von der Leyen en Hennis Karel Doorman 02.jpg

Wer hat noch nicht oder will nochmal? Für die Taschen voller Geld –
reise ich um die ganze Welt.

Von Hans-Martin Tillack

In Libyen herrscht eine brüchige Waffenruhe. Auch weil Jordanien Waffen liefert. Deutschland schweigt. Und liefert weiter Panzer nach Jordanien.

Seit zehn Jahren gilt für das Bürgerkriegsland Libyen ein Waffenembargo der Vereinten Nationen. Nur wenige wissen das besser als Außenminister Heiko Maas (SPD) und seine Mitarbeiter. Bis Ende 2020 leiteten Spitzendiplomaten aus Deutschland sogar das zuständige Komitee des UN-Sicherheitsrats, das sich mit dem Libyen-Embargo beschäftigt. Dort kommen auch immer wieder die vielen Verstöße gegen den Einfuhrbann zur Sprache. Also wissen Maas und seine Leute auch, welche Länder in besonders eklatanter und – so ein UN-Bericht – „unverfrorener Weise“ das Embargo verletzen: die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die Türkei und Jordanien.

So stand es jedenfalls in einem UN-Expertenbericht zu dem Thema im Dezember 2019. Die Bundesregierung bemüht sich seitdem nach Kräften, diese Erkenntnis zu ignorieren. Nach Recherchen der taz hat sie sogar noch im Jahr 2020 Kriegsgerät an den jordanischen König Abdullah II. liefern lassen und dessen Regime in einem Bericht an den Bundestag als Hort der Stabilität bezeichnet.

Dabei leistete Jordanien ähnlich wie die Emirate in Libyen immer wieder Militärhilfe für den aufständischen Warlord Chalifa Haftar, dessen Milizen den Osten Libyens kontrollieren. Mal schickten die Jordanier gepanzerte Kampffahrzeuge, mal bildeten sie im April 2019 im eigenen Land sogar Kämpfer für ein als salafistisch geltendes Bataillon der Haftar-Milizen aus. Im Mai 2018 und September 2020 fanden laut eines aktuellen UN-Berichts von März 2021 zwei weitere solche Ausbildungsrunden für Haftar-Truppen statt. Die Jordanier, so bilanzierten die UN-Experten bereits Ende 2019 in ihrem Bericht an das damals von einem deutschen Diplomaten geleitete UN-Komitee, hätten „wiederholt“ gegen das Embargo verstoßen.

Und trotzdem lieferte Deutschland im Rahmen der vom Auswärtigen Amt mitgetragenen sogenannten Ertüchtigungshilfe dem Königreich Jordanien auch im Jahr 2020 weitere 25 Schützenpanzer vom Typ Marder – ausgemusterte Kettenpanzer der Bundeswehr von jeweils über 30 Tonnen Gewicht, die vom Hersteller Rheinmetall modernisiert und auf sandfarbenen Wüstentarnanstrich umlackiert wurden. Während also die Jordanier eigenes Kriegsgerät gen Libyen schickten – ergänzte Deutschland ungerührt die Bestände der Armee des Königs. Angestoßen hatte die Bundesregierung die Ertüchtigungshilfe für Jordanien bereits 2016. Fast 100 Millionen Euro Steuermittel sind seither dafür geflossen.

„Der Auslieferungszeitraum erstreckt sich auf die Jahre 2016 bis 2020“, bestätigte Rheinmetall jetzt auf Fragen zu den Marder-Lieferungen. Der taz liegt ein vertraulicher Bericht des Auswärtigen Amts und des Verteidigungsministeriums vom März 2020 an den Verteidigungsausschuss des Bundestages vor. Auch in diesem Bericht, verfasst von den Staatssekretären Andreas Michaelis und Benedikt Zimmer, wurden die Lieferungen für Jordanien für 2020 ausdrücklich genannt. Der Gesamtwert der Hilfen für das Königreich betrage in diesem Jahr 23,4 Millionen Euro. Als „stabiler Anker in der politisch volatilen Nahostregion“ und als Teil der internationalen Koalition gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ verdiene Jordanien diese Förderung, hieß es in dem Report. Die Embargobrüche des angeblich so verlässlichen Ankerlandes in Libyen vermerken die Mitarbeiter von Heiko Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) nicht.

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Trotz Fahne, Waffe und in Uniform – gingen Kriege meist verloren.

Dabei entdeckte die zuständige UN-Expertengruppe im Mai 2019 sogar Belege, dass die Jordanier Panzerfäuste aus eigener Produktion nach Libyen verbracht hatten. Deutsche Panzerabwehrwaffen wiederum waren im Jahr 2018 im Rahmen der Ertüchtigungshilfe von Deutschland an Jordanien geliefert worden. Der Grünen-Verteidigungsexperte Tobias Lindner findet es „merkwürdig, dass die Embar­go­brüche in dem Bericht nicht erwähnt wurden“. Dadurch werde auch die parlamentarische Debatte „auf ein falsches Gleis gesetzt“.

Merkwürdig auch, weil immerhin Kramp-Karrenbauers parlamentarischer Staatssekretär Peter Tauber im Dezember 2020 ein Bekenntnis zum Libyen-Embargo abgegeben hatte: „Die Bundesregierung setzt sich für die strikte Umsetzung des Waffenembargos der Vereinten Nationen gegen Libyen ein“, versicherte Tauber in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage.

Das Auswärtige Amt will detaillierte Fragen zu der Ertüchtigungshilfe für den Bündnispartner Jordanien trotz dessen Embargobrüchen nicht beantworten. Die Zusammenarbeit unterliege „der Vertraulichkeit“.

Rheinmetall hilft beim Training der Marder-Besatzungen

Noch in diesem Jahr hilft der Hersteller Rheinmetall den Jordaniern überdies bei der Ausbildung der Marder-Besatzungen. Der Düsseldorfer Rüstungskonzern brüstet sich damit sogar auf der eigenen Webseite: „Im Rahmen des Programms der Bundesregierung zur Ertüchtigung der Streitkräfte Jordaniens hat Rheinmetall die Soldaten des Königreichs umfassend am Schützenpanzer Marder 1A3 ausgebildet“, heißt es da. Fotos zeigen Soldaten, die sich über das Geschütz eines der Panzer beugen – und Marder in voller Fahrt, die im Wüsteneinsatz eine Staubwolke hinter sich herziehen.

Quelle           :           TAZ          >>>>>          weiterlesen

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Oben       —       Duitsland wordt medegebruiker van Nederlands grootste en nieuwste marineschip, het logistieke ondersteuningsschip Zr. Ms. Karel Doorman. Minister Jeanine Hennis-Plasschaert en haar Duitse collega Ursula von der Leyen tekenden vandaag 2 overeenkomsten voor verregaande samenwerking. Dit gebeurde aan boord van de Karel Doorman, die ligt afgemeerd in Amsterdam. Minister Hennis en haar Duitse collega tekenen de samenwerkingsovereenkomst met op de achtergrond 2 Leopard 2A6-gevechtstanks

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1870/71: Europas Umbruch

Erstellt von Redaktion am 4. April 2021

1870/71 : Ein großer Umbruch in Europa

A new map designed for 1870 LCCN2003690601.tif

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Vor gerademal 150 Jahren gab es zwei Ereignisse, die unser Leben noch heute prägen: den deutsch-französische Krieg unter Bismarck und die Unfehlbarkeit des Papstes der Catholica. Der Deutsch-Französischer Krieg 1870/71 brachte für Frankreich endgültig die säkulare Republik, während ganz anders in Deutschland unter preussischer Führung und ausgerechnet in Versailles ein Kaiserreich ausgerufen wurde. Das bedeutet heute, dass Frankreich uns 150 Jahre Erfahrung mit säkularer Demokratie, also ohne Einmischung durch eine Religion, voraus hat. Was seinerzeit so total auseinanderlief und auch zu zwei Weltkriegen geführt hat, ist heutzutage glücklicherweise mit Verstand und Herz wieder zusammengewachsen und hat uns die längste friedvolle Zeit in Europa beschert.

Die verbleibenden Unterschiede sind ebenso normal wie pikant und haben z.B. mit dem anderen bedeutenden Ereignis zu tun, nämlich mit der Unfehlbarkeit des Papstes der Catholica 1870 und deren Folgen für das Verhältnis von Staat und Kirche. In Frankreich wurde mit der 3. Republik, also ab 1871, die Trennung von Staat und Kirche konsequent mit der Laizität fortenwickelt, d.h. mit der autonomen Führung der Geschäfte der Republik bei konsequenter Neutralität des Staates gegenüber Religionen und insbesondere der katholischen Kirche. Zur gleichen Zeit ließ sich Bismarck als frommer Pietist in einen verbitterten Kulturkampf mit der Catholica ein mit der Folge, dass wir seit 1876 Kirchensteuer zahlen müssen. 1919 wurde die Kirchensteuer dann sogar in unserer Verfassung festgeschrieben und wird heute zwangsweise von staatlichen Steuerbehörden eingetrieben, ebenso wie man den Kirchenaustritt beim Staat vornehmen muss. Nicht so in Frankreich seit 1789 mit einer bezeichnenden Ausnahme. Die Catholica in Elsass-Lothringen war geldgeil mit der Wiedervereinigung mit Frankreich 1918 nur unter der Bedingung einverstanden, dass die unter deutscher Herrschaft geltende Kirchensteuer auch weiterhin in diesen Departements bestehen blieb. Und so ist es bis heute, aber in Eigenregie.

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In die Zeit der Wirren in und um den deutsch-französischen Krieg platzte dann als Reaktion auf die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution mit Demokratie, Menschen- und Bürgerrechten das Dogma der Unfehlbarkeit des Pontifex Maximus der Catholica. Papst Pius IX hatte sich 1870 selbst zum unfehlbaren Gottesmann an der Spitze der Catholica berufen lassen. Schlimmer noch als die Unfehlbarkeit ist aber im Schlepptau dieses Dogmas das Jurisdiktionsprimat des Papstes und somit der Catholica mit Folgen, wie wir sie heute noch z.B. im Missbrauchsskandal in Köln hautnah erleben. Offenkundige Straftaten, die nach geltendem Recht strafbar sind, werden vertuscht und verschleppt, um sie der zivilen Gerichstbarkeit z.B. durch Verjährung zu entziehen. Und unsere C-Politiker schweigen still und lassen zu, dass sich die Catholica ganz offensichtlich nicht „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ verwaltet. Damit machen sie sich mitschuldig am Leid der gegen Recht und Gesetz von „Gottesmännern“ Misshandelten. Was da in Köln passiert, ist schlicht eine freche Beschädigung unserer verfassten Demokratie in der Tradition eines selbsterteilten Jurisdiktionsprimats der Catholica von vor 150 Jahren. Wann wachen wir endlich auf und reissen diese widerwärtigen Privilegien nieder?!

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Schaut auf Nordsyrien!

Erstellt von Redaktion am 2. April 2021

10 Jahre Bürgerkrieg in Syrien

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Von Jannis Hagmann

Mit dem Arabischen Frühling kam in Syrien der blutige Krieg des Regimes gegen das Volk. EU und USA sollten die neuen Entwicklungen nicht ignorieren.

Ich erinnere mich an die syrischen Jungs, die mich vor zehn Jahren in der Altstadt Aleppos ansprachen und quatschen wollten. Was sie denn da machten, wollten die Männer wissen, die unverhofft dazu stießen. Ich erinnere mich an das alte Haus in Damaskus, in dem ich ein Zimmer mietete, und wie die syrischen Freunde, die zu Besuch kamen, mir nicht erzählten, dass sie beim Hausherrn ihren Pass abgeben mussten. Erst als ich dessen Ordner mit all den Passkopien sah, verstand ich.

Und ich erinnere mich, wie ich mit Freunden durch die Straßen lief, wie mein syrischer Freund einem deutschen Freund panisch den Arm herunterriss, als der auf eine Assad-Statue zeigte. Keine Aufmerksamkeit erregen! Anfang März 2011 verließ ich das Land.

Systematische Folter war eines der Herrschaftsinstrumente des Baath-Regimes, auch schon vor März 2011

In diesen Märztagen nun heißt es, der Kriegsbeginn in Syrien jähre sich zum zehnten Mal. Das ist genau genommen falsch. Ein Krieg braucht zwei Seiten. Im März 2011 gab es eine Seite, die Waffen hatte, Panzer, Folterknäste, eine Luftwaffe. Was im März 2011 begann, waren zunächst friedliche Demonstrationen gegen ein Regime, das damals so verbrecherisch war wie heute, das schon damals mit Überwachung, Angst und Repression regierte, ein Spitzelstaat, wie ihn ein Teil der deutschen Bevölkerung aus eigener Erfahrung kennt.

Es gibt in Syrien eine Foltermethode namens kursi almani, „deutscher Stuhl“. Dabei wird der Häftling auf ein Gerät gesetzt, das aus beweglichen Teilen besteht, mit denen die Wirbelsäule überdehnt wird. Sie soll über die Stasi nach Syrien gekommen sein, andere Quellen berichten, Nazi-Schergen hätten sie ins Land gebracht. Wie auch immer: Systematische Folter war eines der wichtigsten Herrschaftsinstrumente des Baath-Regimes, auch schon vor März 2011.

Dass sich in den letzten zehn Jahren viele syrische und ausländische Akteure die Hände mit Blut befleckt haben, ändert nicht, dass im Frühjahr jenes Jahres die syrische Regierung dem eigenen Volk den Krieg erklärte. Alle, die in der ehrlichen Hoffnung auf ein besseres Leben den Aufstand wagten, haben Respekt verdient – auch wenn es viele Leben gerettet hätte, wären sie still und untertänig geblieben.

Konflikt nicht gelöst

Der nationale Aufstand ist gescheitert und Baschar al-Assad herrscht wieder über zwei Drittel Syriens. Die Regimegebiete sind „gesäubert“ von Kräften, die sich mit seiner Unrechtsherrschaft nicht abfinden wollen. Die Opposition ist entweder tot oder im Ausland – oder aber versammelt in Syriens Norden, den Assad und sein russischer Verbündeter nicht zurückerobern konnten. Der Syrienkonflikt ist nicht vorbei, geschweige denn gelöst, auch wenn die Kämpfe nachgelassen haben.

In Nordsyrien bleiben grundlegende Territorialfragen ungeklärt. Je mehr Zeit aber vergeht, desto mehr verfestigen sich dort politische und militärische Strukturen, welche die Region auf Dauer prägen werden. Diese Entwicklung findet jenseits der europäischen Wahrnehmung statt, als wolle man in Brüssel, Berlin oder Paris lieber nicht genauer hinsehen – weil es weitere Fragen aufwirft, und weil immer auch das Flüchtlingsthema eine Rolle spielt.

Im Nordosten herrschen kurdische Syrer, im Nordwesten arabisch-sunnitische Syrer, die – maßgeblich! – von der Türkei unterstützt werden. Beide Herrschaftsbereiche ermöglichen mehreren Millionen Menschen ein Leben, ohne Verfolgung durch das Regime befürchten zu müssen. Beide halten also auch Geflüchtete von Europa fern. Gleichzeitig werfen beide schwierige politische und völkerrechtliche Fragen auf.

Die Türkei übt ihren Einfluss mithilfe islamistischer Stellvertreter-Milizen aus, hat aber auch eigene Truppen stationiert. Zudem hat Ankara Verwaltungsstrukturen aufgebaut wie türkische Telefonnetze und Postämter; Erdoğan betont aber, dass Nordwestsyrien nicht zu einer türkischen Provinz werden soll. Tatsächlich scheint eine Annexion nicht das Ziel zu sein. Vielmehr dient Türkisch-Nordwestsyrien als Pufferzone sowie als Abschieberaum für einen Teil der 3,7 Millionen Syrer*innen, die in der Türkei leben.

Das Kalkül der Türkei

Quelle           :        TAZ       >>>>>>        weiterlesen

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Oben         —       carte de la syrie

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Militärputsch in Myanmar

Erstellt von Redaktion am 23. März 2021

Diktatur oder Revolution

Abgesetzte Staatsrätin Aung San Suu Kyi (links) und General Min Aung Hlaing (rechts)

Von Sven Hansen

Folter und Mord – das Militär in Myanmar wird noch viele Opfer fordern und das Land in den Abgrund führen. Dialog und Kompromisse sind unvorstellbar.

Die Bilder vom Vorgehen des Militärs gegen die Massenproteste in Myanmar sind unerträglich. Bisher sind mehr als 240 Menschen vom Putschregime getötet worden. Demonstrant:innen, denen das halbe Gesicht weggeschossen wurde, bei denen wegen hohen Blutverlustes jede Hilfe zu spät kommt, die von der Polizei mit Knüppeln erschlagen werden oder deren Körper nach nächtlichen Razzien durch tödliche Folter entstellt sind oder aussehen, als seien ihnen noch Organe entnommen worden. Die Armee führt Krieg gegen das eigene Volk, um es zu brechen.

Doch heizt es den Widerstand damit nur an und hat die Bevölkerung quer durch alle Schichten, Ethnien und Glaubensrichtungen vereint wie nie zuvor. Mit Mut und Erfindungsreichtum hält sie dem Terror stand und verweigert den Generälen die Anerkennung ihrer Machtübernahme. Noch ist es eine Stärke der Protestbewegung, dass sie keine politischen Führer hat und diese nicht verhaftet werden können.

Zwar gibt es in Myanmar etliche ethnische Milizen, die seit Jahrzehnten das Militär bekämpfen. Doch die Waffen der Protestbewegung sind bisher nur politischer Natur. Neben den seit Wochen andauernden Demonstrationen sind dies die flächendeckenden Streiks sowie die Bildung einer Gegenregierung aus untergetauchten Abgeordneten der zuvor regierenden Nationalen Liga für Demokratie (NLD).

Der breite, andauernde, vielfältige, mutige und recht effektive Widerstand hat die Putschisten überrascht. Bisher haben sie dagegen kein Mittel gefunden. Denn die Proteste und Streiks bis in den Regierungsapparat hinein lassen das Land nicht zu einer Normalität zurückkehren, wie dies etwa beim letzten Putsch im Nachbarn Thailand schon nach Stunden der Fall war.

Smartphones und soziale Medien verbreiten täglich Bilder von der Brutalität des Putschregimes, die es früher unterdrücken konnte. Dies macht dessen Propaganda wirkungslos, während die Streiks das Land lahmlegen. Dafür zahlt auch die Bevölkerung einen hohen Preis. Denn wie sich kürzlich bei 700 Eisenbahnern zeigte, verlieren sie für ihren zivilen Ungehorsam nicht nur Jobs und Rentenansprüche, sondern ihre Familien auch ihr Zuhause, wenn sie aus den Werkswohnungen geworfen werden. Seit Wochen funktionieren die meisten Banken nicht mehr, Transporte per Zug, Lkw, Schiff oder Flugzeug sind nur noch rudimentär, Gesundheitsversorgung und Bildungssystem sind zusammengebrochen. Eine Welle von Armut, Verelendung und Flucht ist zu erwarten.

Land am Abgrund

Die Armee weiß sich nicht anders zu helfen, als zu versuchen, durch noch mehr Gewalt den Widerstand zu brechen. Sie treibt das Land so noch mehr in den Abgrund, verstärkt den Hass auf das Militär und macht es unwahrscheinlicher, dass die Bevölkerung zu Kompromissen bereit ist. Denn für sie geht es nicht mehr um politische Winkelzüge, sondern um Diktatur oder Revolution. Weil die Generäle den wachsenden Hass spüren, wissen sie, dass eine Niederlage nicht nur zum Verlust bisheriger Privilegien führen würde, sondern zu Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Deshalb riskieren sie, das Land zum failed state zwischen Indien und China zu machen. Sie nehmen auch einen Bürgerkrieg in Kauf. Bei dem könnten sie noch härter vorgehen und wären siegessicher.

Wirksame Sanktionen, welche die zu allem entschlossenen Generäle zum Einlenken bringen, sind nicht in Sicht. Die Sanktionsbeschlüsse der EU vom Montag können die Generäle, die in Europa weder Konten haben noch Urlaube verbringen, ignorieren. Dem französischen Konzern Total die Suspendierung seiner auch für die Junta lukrativen Gasprojekte zu verordnen, wagt die EU nicht. Eine Spaltung des Militärs ist auch nicht zu sehen. Die weitere Nichtanerkennung des Putschregimes ist das Mindeste, was von der internationalen Gemeinschaft gefordert werden muss.

Quelle          :        TAZ         >>>>>          weiterlesen

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Die Katholische Kirche

Erstellt von Redaktion am 20. März 2021

Schuld und Sühne

File:Pressekonferenz zur Ernennung von Kardinal Woelki zum Erzbischof von Köln-3064.jpg

Jeden Tierchen sein Pläsierchen – auf jeden Pott passt auch ein Gott.

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Die Erzdiözese Köln hat das lang erwartete Gutachten veröffentlicht. Dass es der Christenheit wirklich wichtig ist, was drinsteht, erscheint fraglich. Und vor allem: Was kommt nach der Empörung?

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Morden oder Leben lassen?

Erstellt von Redaktion am 18. März 2021

„Mein Vater kommt mit dem Panzer!“

VON DANIEL SCHULZ  UND AMBROS WAIBEL

Sollen Soldaten töten oder Brunnen bauen? In einem Buch des Historikers Sönke Neitzel wird die Rolle des Militärs in Deutschland neu diskutiert. Zwei taz-Journalisten sind unter Soldaten aufgewachsen, der eine im Osten, der andere im Westen. Ein Gespräch darüber, woran sie sich erinnern, was sie lieber vergessen würden – und wieso sie ihren Gefühlen nicht immer trauen.

Ambros Waibel: Lieber Daniel, wenn wir den Titel von Sönke Neitzels Militär­geschichte ernst nehmen, dann waren es „Deutsche Krieger“, unter denen wir aufgewachsen sind: Dein Vater war bei der NVA, mein Vater bei der Bundeswehr. Neitzels Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem die militärische Auseinandersetzung wieder als „Kernauftrag“ deutscher Streitkräfte bezeichnet wird; also nicht die Friedenssicherung, die Abschreckung oder der viel zitierte Brunnenbau, sondern das Kämpfen, das Töten und das Sterben. Neitzel kommt dem entgegen, indem er die „archaische Seite des Soldatenberufs“ betont, „dessen raison d’etre der Krieg ist“. Gleichzeitig wird in dem Buch die Frage aufgeworfen: Braucht die Bundesrepublik eigentlich eine Armee? Wenn wir also jetzt darüber reden wollen, was „Deutsche Krieger“ in uns ausgelöst hat, dann nicht nur auf der Ebene: Wir erinnern uns mal, wie das früher so war, für uns als Kinder; sondern wir sind Teil eines aktuellen Diskurses. Oder wie siehst du das?

Daniel Schulz: Ich merke bei solchen Fragen, dass ich immer noch nicht richtig integriert bin. In der DDR war das Militärische im Alltag sehr präsent. Das hat mich geprägt, bundesdeutsche Brunnenbau-Debatten fühlen sich für mich verschoben an: Wozu soll eine Armee denn sonst da sein als für den Kampf? Von daher muss ich dich fragen: Gibt es etwas spezifisch Westdeutsches, was du bei Neitzel erkennst?

Waibel: Den Begriff der „Tribal Culture“, also eine Art Stammes­kultur. Neitzel beschreibt einen Deal, den die Politik 1955 bei der Gründung der Bundeswehr mit dem Militär geschlossen hat. Man verspricht: Wir integrieren alte Wehrmachtssoldaten, auch höhere Ränge. Die müssen sich zumindest formal zu den Werten des 20. Juli 1944 bekennen, des Versuchs von Mi­li­tär­an­gehörigen, das Hitler-Regime zu stürzen. Im Gegenzug mischt sich die Politik nicht in die internen Angelegenheiten der Bundeswehr ein, solange es keine Skandale gibt. Politisch hat die Bundeswehr aber nichts zu melden. Dieses Verborgene erinnert mich an mein Aufwachsen. Mein Vater war zwar nie Soldat; er war schon zu alt, als die Wehrpflicht in der Bundesrepublik eingeführt wurde. Er hat aber sein ganzes Berufsleben als Jurist bei der Bundeswehr verbracht, zunächst als Rechtslehrer in einem Fliegerhorst …

Schulz: Bei der Elite.

Waibel: So sagt Sönke Neitzel das jedenfalls in seinem Buch. Mein Vater hat auf einem Fliegerhorst, also einem Luftwaffenstützpunkt gearbeitet und später als Wehrdisziplinaranwalt. Allein der Begriff „Fliegerhorst“ – dass ich dieses Wort so selbstverständlich gebrauche, das ist wahrscheinlich schon strange für viele Leute. Ich weiß nicht, ob du auch solche Worte hast, wo du denkst, die kennen nur Leute, die in einem ähnlichen Kontext aufgewachsen sind?

Schulz: Ich habe „Mein Bruder ist Soldat“ in der Schule gesungen. Die Väter meiner Freunde waren bei Übungen der Kampfgruppe. Meine Mutter war Melderin in der Zivilverteidigung, das sind beides Organisationen zum Heimat- und Katastrophenschutz, die eine paramilitärisch, die andere zivil. Die Großen haben in der Schule Weitwurf mit Metallhandgranaten geübt. Politisch stehe ich klar auf der Seite: Militär und Polizei stark einhegen und so transparent wie möglich kontrollieren. Aber unter meinen politischen Ansichten merke ich noch etwas Gefühltes oder Triebhaftes, das kommt wahrscheinlich von meinen Prägungen. Da kann ich dieses kollektive Entsetzen, weil hier mal die Bundeswehr ein Video für Schüler dreht oder weil Menschen von Waffen fasziniert sind, nicht nachvollziehen. Dass das gefährlich ist und eine Grenzüberschreitung, weiß ich intellektuell. Mein Gefühl zuckt aber mit den Achseln. Du merkst schon ein Befremden beim Begriff „Fliegerhorst“, ich komme mir bei solchen Debatten manchmal aus dem Land gefallen vor.

Waibel: Deine gefühlsmäßige Nähe zum Militärischen – hat das mehr mit deiner DDR-Sozialisation zu tun oder mit deiner familiären Konstellation?

Schulz: Kampfgruppe, Zivilverteidigung, das Erlernen von Hierarchien bei den Pionieren, paramilitärisches Training, das kannte die Mehrheit der Gesellschaft. Offizierssohn zu sein, war trotzdem nichts Alltägliches, ich kannte keine anderen Kinder, deren Eltern bei der Armee waren. Ich habe die Armee­rundschau gelesen, das war eine Zeitschrift der NVA, ich habe ständig Bilder gemalt: Soldaten auf Lkws, Flugzeuge, Panzer. Warst du auch so fixiert auf deinen Vater und dieses Soldatische?

Waibel: Mein Vater war ja kein Soldat. Der hatte zwar auch eine Gasmaske, hatte ein Kleinkalibergewehr, aber das war nicht präsent im Alltag. Mein Vater war Rechtslehrer, und er hat für Prüfungen Multiple-Choice-Tests ausgegeben, die die Piloten ankreuzen mussten: Wann darf ich die Bomben abwerfen, solche Sachen. Und ich als Kind durfte die Lösungsschablone auflegen und diese Arbeiten korrigieren. Das hat Spaß gemacht. Ich war aber nie auf diesem Fliegerhorst. Mein Vater hat mir eingeschärft, wenn gefragt wird, was er für einen Beruf hat, soll ich sagen: Beamter. Von mir aus, habe ich gedacht. Gleichzeitig habe ich schon mitbekommen, dass das soziale Leben meiner Eltern sich in einem Reigen von Bundeswehrveranstaltungen abgespielt hat: Bälle, Empfänge, private Treffen.

Schulz: Und da trafen sich dann alle Waffengattungen?

Waibel: Bei uns daheim waren fast nie Soldaten, sondern Juristen, aus dieser Wehrrechts-Ecke. Der Wohnblock, in dem ich aufgewachsen bin, war allerdings eine reine Bundeswehrsiedlung. Ich sehe noch diese pensionierten Soldaten vor mir, wie sie die Straße fegen und dabei rauchen, weil sie das in ihren Schließfachwohnungen wahrscheinlich nicht durften.

Schulz: Im Neubau haben wir auch gewohnt, aber schön gemischt: Arbeiter, Bauern und ein Offizier.

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Wenn wir schreiten Seit an Seit, stehen unsere Lakaien stehts bereit !

Waibel: Es gab auch ehemalige Wehrmachtssoldaten bei uns, die waren sehr entspannt, auf so eine gruselige Öffentliche-Dienst-Art. Was mein Vater von seinen Fällen als Disziplinaranwalt erzählt hat, beschränkte sich auf Anekdoten: Zwei Gefreite reinigen die Gully-Öffnung auf dem Kasernenhof, die Sirene ruft zum Mittagessen; sie lassen die Gully-Öffnung auf, ein Offizier fällt rein und tut sich weh. Das einzig Ernsthafte, woran ich mich erinnere, war eine Verhandlung zur Frage: Was passiert, wenn ein Soldat nachträglich den Wehrdienst verweigert und das Tucholsky-Zitat verwendet: „Soldaten sind Mörder.“ Der wurde nämlich angeklagt. Und das hat mein Vater übernommen.

Schulz: Du hast mit deinem Vater also nie angegeben? Wenn die anderen im Kindergarten geprahlt haben, welcher Vati den größten Trecker fährt, dann hab ich gesagt: Meiner kommt mit dem T-72 und schießt die alle um.

Waibel: Der Vater kommt mit dem Panzer!

Schulz: Genau. Meiner Mutter passte das überhaupt nicht, die ist christlich erzogen, wir waren jeden Sonntag in der Kirche. Für ihre ganze Familie war die NVA der Endgegner.

Waibel: Welcher Jahrgang ist dein Vater? Und was war seine Aufgabe?

Schulz: Mein Vater ist Jahrgang 1947. Er hat bei den Panzertruppen gedient. Später wurde er dann stellvertretender Leiter eines Wehrkreiskommandos. Wie hieß das in der Bundeswehr?

Waibel: Wehrbereichskommando, glaube ich. Das Wort klingt auf jeden Fall vertraut.

Schulz: De facto war mein Vater der Leiter von dem Ding und für die Heimatverteidigung eines Kreises im heutigen Brandenburg zuständig. Er hätte im Krieg die Kampfgruppen kommandiert: dickbäuchige Onkel Ottos, die bei den Übungen vor allem schnell zur Gulaschkanone wollten.

Waibel: Gab es einen Wehrersatzdienst in der DDR?

Schulz: Einen zivilen Dienst nicht, es gab die Bausoldaten, Die arbeiteten als Pfleger oder Küchenhelfer in militärischen Einrichtungen. Gegen Ende der DDR auch in Tagebauen und Großbetrieben, um den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen.

Waibel: Ich frage, weil das auch in der aktuellen Diskussion wieder mitschwingt; dass nämlich – so ein FAZ-Kommentar kürzlich – die Debatte ums Militär in Deutschland immer noch von „pazifistischen und moralischen Grundtönen“ geprägt sei. Diese nicht töten müssenden Bausoldaten – siehst du die als Symbol dafür, dass auch im Osten zumindest ein Gefühl bestand, dass man deutsches Militär nicht völlig von der preußischen und erst recht nicht von der nazistischen Tradition trennen kann?

Schulz: Die Bausoldaten sind erkämpft worden, durch Verweigerer, von den Kirchen. Die wurden teilweise für Scheißjobs eingesetzt, viele durften nicht studieren. Nur 150.000 Männer haben sich das angetan, im Vergleich zu etwa 2,5 Millionen Wehrpflichtigen bis zum Ende der DDR. Es ist aber die Frage, inwieweit die NVA überhaupt eine Rolle spielen kann für eine bundesdeutsche Militärdebatte, weil auch Neitzel sie nur als Sonderfall auf 29 von über 600 Textseiten in seinem Buch passieren lässt: Passieren im Sinne von geschehen, aber auch im Sinne von an sich vorbeiziehen lassen.

Waibel: Was siehst du als Erbe der NVA?

Quelle         :          TAZ          >>>>>         weiterlesen

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Oben      —         T-55-Panzer der NVA

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Unten        —       Συνάντηση Σαμαρά Μέρκελ στο Βερολίνο

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Die Mörder sind unter uns

Erstellt von Redaktion am 16. März 2021

Kolonialverbrechen Frankreichs

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Afrobeat von Dominic Johnson

Frankreich beginnt endlich mit der Aufarbeitung seiner Verbrechen in Algerien. Darin stecken auch Lehren für Deutschland.

Ali Boumendjel starb am 23. März 1957, als ein französischer Soldat ihn aus dem Fenster warf. Der Rechtsexperte der algerischen Befreiungsbewegung FLN (Nationale Befreiungsfront) war 43 Tage vorher festgenommen worden, einer von vielen Verschwundenen der berüchtigten „Schlacht von Algier“, mit der Frankreichs Kolonialarmee damals den Unabhängigkeitskampf Algeriens brechen wollte. Unter dem Kommando des französischen Militärgeheimdienstoffiziers Paul Aussaresses wurde Boumendjel verhört und gefoltert, bis man ihn nicht mehr brauchte und Aussaresses ihn aus dem sechsten Stock warf. Offiziell hieß es, Boumendjel habe Selbstmord begangen.

Erst am 3. März 2021 hat Frankreich offiziell die Wahrheit darüber gesagt. Präsident Emmanuel Macron empfing vier Enkel Boumendjels im Élysée-Palast und gestand, die französische Armee habe ihren Großvater „gefoltert und ermordet“.

Eine Heldentat war dieses Geständnis nicht. Aussaresses persönlich hatte zwanzig Jahre vorher, als er seine Memoiren veröffentlichte, den Mord an Boumendjel und anderen im Detail beschrieben. Das offizielle Frankreich war entsetzt, doch nichts geschah. Boumendjels Witwe starb 2020 ohne Anerkennung dieses Verbrechens durch den französischen Staat.

Aussarresses’ Memoiren sind die Erinnerungen eines Massenmörders. Jede Nacht zogen seine Leute in Algier los und sammelten Verdächtige ein, um sie zu verhören. Folter durch Schläge, Stromstöße und Ertränken war „toleriert, wenn nicht empfohlen“, bis hinauf zum zuständigen Minister François Mitterrand. Hinterher konnte man die Befragten weder gehen lassen noch sie der Justiz übergeben – „es waren zu viele“. Daher „gehörten summarische Hinrichtungen zum Ordnungshüten […]. Die FLN musste offensichtlich liquidiert werden und nur die Armee hatte die Mittel dafür. Das war so klar, dass es nicht nötig war, entsprechende Befehle zu erteilen. Niemand hat mich je offen gebeten, jemanden hinzurichten. Es verstand sich von selbst.“

Kontinuität zwischen NS- und Kolonialverbrechen

Diese französische Methode der Aufstandsbekämpfung, bei der man ganze Bevölkerungsgruppen als Verdächtige behandelt, machte später weltweit Schule, von Lateinamerika bis Ruanda vor dem Völkermord. Die Kontinuität zwischen NS- und Kolonialverbrechen ist in Frankreich offenkundig, nicht zuletzt durch Personen wie den braven Beamten Maurice Papon, der während der deutschen Besatzung die Massendeportation französischer Juden organisierte, danach Präfekt in Algerien wurde und 1961 als Polizeipräfekt von Paris algerische Demonstranten massakrieren ließ. „Nach Vichy, Algerien“ betitelte die französische Zeitung Le Monde ihr Editorial zur Aussaresses-Beichte 2001.

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Zwanzig Jahre später bleibt der algerische Unabhängigkeitskrieg von 1954 bis 1961 mit seinen Hunderttausenden Toten unbewältigt. 1,5 Millionen junge Franzosen waren in diesen sieben Jahren als Soldaten im Algerienkrieg im Einsatz. Keiner ist je angeklagt oder verurteilt worden.

Ein neuer Untersuchungsbericht des französischen Historikers Benjamin Stora listet Kollektivverbrechen auf: „die Zerstörung Hunderter Dörfer und die Einrichtung ‚verbotener Zonen‘, in denen sich kein Algerier bewegen durfte, ohne erschossen zu werden; die Zehntausenden Verschwundenen, deren Familien noch immer nach den Ruhestätten der Leichen fragen; der Einsatz von Napalm; das Legen von Millionen Minen; die Verseuchung der Bewohner der Sahara durch im Jahr 1960 begonnenen Nukleartests; die Einrichtung von Internierungslagern, in denen Tausende oft ohne Urteil festgehalten wurden“.

Quelle       :     TAZ           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben         —   2020.gada 29.septembris. Francijas Republikas prezidenta Emanuela Makrona (Emmanuel Macron) oficiālā sagaidīšanas ceremonija pie Rīgas pils. Foto: Ernests Dinka, Saeima Izmantošanas noteikumi: saeima.lv/lv/autortiesibas

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Unten       —     1e Compagnie de Chars de Combat de la France Libre during the Battle of Gabon

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Die Zeit umdrehen!

Erstellt von Redaktion am 12. März 2021

Krieg und Frieden in einer Welt am Abgrund

Quelle     :     Untergrundblättle CH

Von  Gefährt*innen aus der Antikriegsbewegung

„Der Militarismus lässt sich nicht ausblenden, ob es nun um Ökonomie geht oder um sozialen Aufruhr, um internationale Solidarität oder um Umweltzerstörung. Wer das nicht versteht, versteht eine der fundamentalen Rollen des Staates im Kapitalismus nicht.“ Sandra Rein, 2015

Es gibt aktuell so viele Bürgerkriege und so viele Geflüchtete wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Die fatalen Auswirkungen der Klimakatastrophe, die diese Verhältnisse noch zuspitzen, werden mehr und mehr sichtbar. Um den Horror zu stoppen, müssen wir handeln. Jetzt.

Das Militär, und damit immer eng verknüpft: das Patriarchat, hat eine zentrale Bedeutung in Politik und Wirtschaft. Die Staaten rüsten hoch und Deutschland vorne mit dabei. Die Militärhaushalte des Bundes und der EU steigen. Trotz anderslautender Vereinbarungen im offensichtlich wertlosen Koalitionsvertrag liefert die Bundesregierung Waffen unter anderem an die im Jemen kriegführende Allianz um Saudi-Arabien und an die Türkei, die Teile Rojavas besetzt und eine gelebte Hoffnung in Nahost auf Demokratie, Ökologie, Freiheit, Säkularismus und Frauenbefreiung zerstört. Das ganze Elend resultiert aus Bomben und Panzern u.a. aus deutscher Produktion.

Der Bundesregierung geht es dabei nicht um die verhältnismässig geringe, fast zu vernachlässigende Zahl von Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie. Sie verfolgt damit geopolitische Interessen: Indem sie ausgewählte Staaten mit Waffen versorgt, kann sie Machtverhältnisse in der Welt mitbestimmen.

Mit den Waffen von Rheinmetall & Co wird Krieg gegen Millionen geführt. Mit der Herstellung und dem Export von Panzern, Geschützen und Bomben nehmen Politik und Konzerne diesen Massenmord in Kauf. Menschen flüchten, wenn sie überhaupt die Möglichkeit dazu haben. Menschen krepieren. Wir hören von der „grössten humanitären Katastrophe“.

Nein! Nicht mit uns! Schluss damit! Wir rufen unsere Freund*innen, Genoss*innen, Gefährt*innen auf, sich am Kampf gegen Krieg, gegen das Sterben und den Tod zu beteiligen – nicht um dagegen zu protestieren, sondern um es zu beenden.

In der Defensive lässt sich jedoch nicht gewinnen. Bevor deutsche Waffen Menschen töten und Rojava auslöschen, müssen wir einschreiten, die direkte Konfrontation und den Konflikt mit der Macht suchen. Es müssen Taten folgen.

Gegen Waffenproduktion und Rüstungsexporte sein, heisst für die Menschen sein. Und das lässt eine Perspektive einer anderen Welt aufscheinen, eine Welt, wie sie beispielsweise im Projekt der selbstverwalteten demokratischen Konföderation Nordostsyrien sichtbar wird.

Die Frage von Krieg und Frieden ist eine existenzielle Frage oder, wie man einmal sagte, die Systemfrage. Wir scheitern alle, wenn wir sie nicht stellen. Ihre Antwort lässt sich nicht systemimmanent finden und weisst damit über den Kapitalismus hinaus.

„Für die Strategie des antiimperialistischen Kampfes, für die Vermittlung antiimperialistischer und antikapitalistischer Strategie scheint uns hier jede Möglichkeit gegeben zu sein. Grosse Teile der Bevölkerung sind gegen die sinnlose Rüstung zu mobilisieren, besonders weil der BRD-Kapitalismus nicht mit der Rüstungsproduktion steht und fällt.“ Rudi Dutschke, 1968

Schafft zwei, drei, viele Camps

Das Rheinmetall-Entwaffnen-Camp in Unterlüss bei Celle in Niedersachsen fand 2019 in unmittelbarer Nähe der Panzer- und Bombenfabriken von Rheinmetall und des riesigen firmeneigenen Übungsgeländes statt, auf dem der Konzern mit Panzern und Geschützen Schiessübungen unternimmt, in den 1970ern übrigens auch mit Uranmunition.

Das Camp erinnerte – unter anderem mit der eindrücklichen Rede von Esther Bejarano – an die Schweinereien von Rheinmetall gestern und heute. Neben Antifaschismus war auch Klimagerechtigkeit ein Thema. Ein Schwerpunkt lag auf Feminismus. Verbunden war alles mit der gemeinsamen Klammer der internationalen Solidarität. So waren die Tage von zahlreichen Inhalten und Diskussionen bestimmt, die sich erfrischend von Althergebrachtem unterschieden und damit für viele eine starke Anziehungskraft besassen.

Praktisch wurden gut organisierte, aktionsfähige Strukturen und Kleingruppen sichtbar, die vielfältig und bunt waren: Rot, pink, grün, blau, lila und schwarz vermummt waren sie unterwegs. Das, so hiess es, seien die Farben einer neuen Antikriegsbewegung, die am Firmament aufgegangen ist.

Tatsächlich waren Ansätze erkennbar, die sich unterscheiden von der traditionellen Friedensbewegung, die zwar Unterschriften sammeln, aber weder Schlagkraft entwickeln noch Druck aufbauen kann. Während der Blockade der Rheinmetallfabrik mit Tripods und allerhand Material setzten die Teilnehmenden auch ihre Körper ein, um sich zwischen die mörderische Produktion und das Leben auf diesem Planeten zu stellen. Sie haben begonnen, sich zu wehren. Und sie haben Ort und Zeit dafür selbst bestimmt.

Insofern nahmen wir dieses Camp als einen Neuanfang wahr, der zugleich an einer Tradition anknüpft, die spätestens mit dem Internationalen Vietnamkongress 1968 in Berlin begann und an Schlaglichter militanter Interventionen ausserhalb der traditionellen Friedensbewegung erinnert: der Anschlag auf den NATO-Oberbefehlshaber in Europa und späteren Rüstungskonzernchef Alexander Haig 1979 in Belgien, das Rekrutengelöbnis im Bremer Weserstadion 1980, die Besuche von US-Präsident Reagan 1982 und 1987 in Berlin und seines Stellvertreters Georg Bush 1983 in Krefeld.

Das kommende Rheinmetall-Entwaffnen-Camp schien also sehr vielversprechend. Dann aber kam Corona und mit der Pandemie der grosse Rückzug der radikalen Linken, der auch an Rheinmetall Entwaffnen nicht spurlos vorbeizog. Statt Fortsetzung und Erweiterung von 2019 auf einem nächsten Camp, war 2020 nicht mehr möglich als eine eintägige Aktion am Rüstungsstandort Kassel.

File:Demo zentrale rheinmetall.JPG

Die Blockade in Kassel (die Teilnehmerzahl war erneut gestiegen – was wird dann erst nach Corona möglich sein?) hat jedoch auch Grenzen verdeutlicht, an die Rheinmetall Entwaffnen gekommen ist: Die Polizei begrüsst freundlich den Protest und beschränkt sich darauf, den Verkehr zu regeln. Das ist schwer auszuhalten, schliesslich will man den Konflikt und nicht eine von Polizei und Rüstungsindustrie geduldete Sitzblockade. Aktionistisch scheint – wie auch schon auf dem Camp – viel mehr möglich, die Chancen werden aber nicht genutzt.

„Die Rede von der Hoffnung auf den Menschen, die Rede von der Hoffnung auf eine bessere Welt, bleibt sentimentales Geschwätz, wird zum Betrug, solange wir uns weigern, von den machbaren materiellen Bedingungen zu reden, auf denen solcherlei Hoffnung verwirklicht oder nicht verwirklicht werden kann. Wer Besseres will, muss schon auch Falsches angreifen wollen!“ Christian Geissler, 1964

Aktionsbild aus der nahen Zukunft

Auf einem der Plakate, die 2017 zu den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg aufriefen, befanden sich Wale – unter als auch über der Wasseroberfläche. Dieses Bild greifen wir auf, indem wir beginnen wieder Wellen zu schlagen. Grosse Wellen. Dazu werden wir uns zunächst verbünden. Bestenfalls wird sich unser Widerstand zusammensetzen aus Laienschauspieler*innen, Stelzengänger*innen und Riesenpuppen, die die Breite der Bewegung symbolisieren; aus agilen Kleingruppen, die sich auf Sabotageaktionen vorbereitet haben; aus Musikgruppen, die sich vor die Fabriktore setzen und uns mit einem Konzert beglücken; aus Ungehorsamen, die entschlossen Polizeiketten durchfliessen und den Weg öffnen zu einer grossen Massenaktion; aus Steineschmeisser*innen, die bereit sind, Bullen anzugreifen und in Schach zu halten; aus Christ*innen, die auf das Gelände vordringen und die Produktion stoppen; aus Kletterer*innen, die neue Höhen erklimmen und die Fabrikgebäude in ein neues Ambiente tauchen; aus allen anderen, die zusammen kämpfen wollen und die denen zur Seite stehen, die kämpfen.

Schon Wochen vor dem nächsten Camp brennen eines Nachts in Oberndorf am Neckar Autos von Rheinmetall und einem seiner Dienstleister ab. Die auf Indymedia veröffentlichte Anschlagserklärung endet mit „Rheinmetall Entwaffnen!“ In einem Indymedia-Kommentar wird gefragt, ob das Abfackeln nicht nur von Firmenwagen, sondern auch des Privat-Pkw eines leitenden Angestellten das richtige Aktionsziel sei. Die Mehrzahl der Antwortenden bejaht diese Frage und teilt die Einschätzung, dass solche Aktionen zur Mobilisierung beitragen.

Schon kurz nach Campbeginn ist das Zeltlager tatsächlich gut gefüllt. Alle müssen zusammenrücken. Die Vorbereitung hat nicht mit so vielen Teilnehmenden gerechnet. Entsprechend passiert auch sehr viel. Als die zentrale Aktion des Camps startet, machen sich von überall her jeweils Hunderte auf den Weg zur Rheinmetall-Fabrik. Unvermummte sind darunter ebenso wie solche, die ihr Gesicht nicht zeigen wollen.

Nach noch nicht einmal einer Stunde ist das komplette Werk dicht. Die Blockaden an den Zufahrten und sämtlichen Eingängen stehen. Dazwischen hindern prächtige Materialblockaden Fahrzeuge am Vorbeikommen. Allein auf der zentralen Zufahrtsstrasse zum Haupttor der Fabrik stehen und sitzen etwa 1000 Menschen zusammen. Ein Beschäftigter schreit, er wolle durch. Um zur Arbeit zu kommen, stösst er Demonstrant*innen zur Seite, läuft in die Blockade, tritt auf Sitzende ein, um sich einen Weg zu bahnen. Die Blockierer*innen schreien vor Empörung, einzelne Getretene vor Schmerz. Erst entschlossenes Einschreiten der Umstehenden lässt den Arbeitnehmer von seinem Vorhaben abkommen. Er dreht resigniert um. Die Menge jubelt.

Mit der Zeit schwindet die anfängliche Hektik. Die Sonne scheint, die Stimmung ist ausgelassen, die Parolen kreativ. Die Situation wirkt stabil, schon fast statisch. Bald wird es manchen auch etwas langweilig. Als sich herumspricht, dass in den Fabrikhallen noch Betrieb ist, weil Rheinmetall die Produktion nicht ganz herunterfahren wollte, beginnt eine Diskussion. Rheinmetall hat offensichtlich alles dafür getan, um die Fabrikation mit einer Minimalbesetzung sicherzustellen. Ob die dafür notwendigen Beschäftigten auf dem Gelände nächtigen?

Nach ersten Gesprächen wird ein Delegiertenplenum einberufen, um mögliche Antworten auf diese Situation zu finden. Mehrere Vorschläge stehen im Raum. Der kollektive Entscheidungsprozess dauert mal wieder länger als erwartet, schliesslich überlegen die Aktivist*innen an einer Idee, die eine unkontrollierbare Situation auslösen könnte. Dann ziehen etwa die Hälfte der Aktivist*innen Richtung Fabrikgelände, reissen Zäune nieder, betreten das Gelände, laufen zügig in Richtung Produktionshallen und öffnen zielstrebig die Tore. Die Bullen werden äusserst unruhig, aber bevor sie ihre Kräfte zusammenziehen und die Eindringlinge ausfindig machen können, sind diese schon wieder verschwunden.

„Ich würde mir wünschen, dass es in den Metropolen Bewegungen gäbe, die diesen Krieg angreifen, unmöglich machen. Einfach den Nachschub kappen. Ich weiss, es ist angesichts des Zustands in den Metropolen utopisch. Auch auf längere Sicht wird es so bleiben. Schade, das wäre was. Eine militante Bewegung, die die Kriegsmaschine lahmlegt.“ Andrea Wolf, 1997

Das Böse darf nicht siegen, weil gute Menschen nichts tun

Als sich alle wieder auf dem Camp einfinden, meint man in den fröhlich strahlenden Gesichtern lesen zu können: „Wir wollten handeln und wir haben gehandelt.“ Die Entschlossenheit, die sich in den Aktionen der vergangenen Tage gezeigt hat, ist auf der ganzen Campwiese deutlich spürbar.

„Nach so langer Coronapause, in der wir uns einschränken mussten, aber Rheinmetall weiter tödliche Waffen produzieren und ihre Gewinne steigern konnte, haben wir gezeigt, zu was eine Antikriegsbewegung fähig ist.“ So eröffnet die Moderation das Abschlussplenum des Camps. Tatsächlich waren einige von der Vehemenz der vielen unterschiedlichen Aktionen überrascht oder, wie es auf dem Plenum formuliert wird: Die Aktionstage haben unsere Erwartungen übertroffen. Gerade die Spontanität, mit der auf aktuelle Situationen originell reagiert wurde, sei das bedeutende Neue gewesen.

Denjenigen gegenüber, die sich – vielleicht zum ersten Mal – an einer grossen gemeinsamen Aktion beteiligen, wollte man von Beginn an transparent darlegen, was sie erwartet. Dafür stehen der knackige Bündnisaufruf und andere Texte, die erschienen sind. Sie waren eine prononcierte Einladung an alle, sich mit vielfältigen Aktivitäten, die das menschliche Leben schätzen, zu beteiligen. Darin war von Widerstand und Blockaden, von Angriff und Sabotage, von möglicher Repression und Ingewahrsamnahme zu lesen. Und dass keinerlei Bedürfnis existiert, sich von Taten, die gegen Rüstung und Krieg zielen, zu distanzieren. Diese Sätze werden während des Plenums nochmals lobend hervorgehoben, die Geschlossenheit hätte massgeblich zur Mobilisierung und dem beeindruckenden Verlauf der Tage beigetragen. „Die Rüstungsindustrie steuert nichts zum Überleben der Menschheit bei, im Gegenteil. Wir hatten genug“, sagt eine junge Teilnehmerin, „und wir haben es gewagt, den Worten Taten folgen zu lassen.“

Bei der Auswertung ist man sich in einem Punkt weitgehend einig: Mit dem Verlauf der kreativen Aktionen sind alle sehr zufrieden. Einzelne Aktivist*innen aus der Region fragen sich jedoch, ob die „eindringliche“ Aktion mit unangekündigter Sachbeschädigungen eventuell negative Auswirkungen für ihre Bündnisarbeit und den Rückhalt aus dem wohlwollenden Teil der lokalen Bevölkerung haben wird. Nun, wenden andere ein, über ein Loch im Zaun und etwas Sabotage regen sich die Leute auf, aber über das Sterben der Menschen in Kriegen nicht. „Ja“, heisst es zustimmend, „die Angehörigen der Toten und die Menschen, die die Angriffe der türkischen Armee mit deutschen Waffen überlebt haben, werden sich nicht für die Formen unseres Widerstands interessieren. Sie werden fragen, warum wir Produktion und Export dieser Waffen nicht verhindert haben.“

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„Die Kriegsindustrie weiter laufen zu lassen ist gewalttätiger als sie zu sabotieren“, ruft eine Gefährtin dazwischen. Eine andere meldet sich und erinnert – apropos Gewalt – an den inhaltlichen Workshop zum Thema bei Campbeginn: „Gewalt beinhaltet psychologische als auch körperliche Verletzungen. Wenn die Medien jetzt von ‚Ausschreitungen‘ und ‚Gewalt‘ sprechen, dann wollen sie uns nicht verstehen. Uns ging es doch nie um Gewalt oder Gewaltfreiheit, sondern um die Frage, ob wir dahinvegetieren und die Welt dem Sensenmann, dem personifizierten Tod, der die Menschen wie ein Feld dahin mäht, überlassen oder ob wir was tun!“ Zustimmendes Wendeln.

„Unsere Aktionen waren grossartig, aber sie reichen nicht aus“, kritisiert ein Redner. „Morgen, wenn wir weg sind, läuft die Produktion wieder an. Einmal im Jahr ist zu wenig, wir müssen unseren Kampf auf permanent stellen.“ „Wir brauchen mehr Biss“, ergänzt eine andere. „Wenn wir mehr riskieren, können wir auch mehr gewinnen.“ Und das gelte ja nicht nur für die Antikriegsbewegung, sondern für alle Kämpfe, die aktuell auf der Strasse präsent sind und zusammengenommen das ganze System infrage stellen.

Während der Abenddämmerung serviert die Küfa das Abendessen. Danach spielt auf der Bühne als Überraschungsgast eine Punkband ihre bekannten Songs. Wir sind alle erschöpft, aber alle sind in Bewegung und tanzen zur Musik. Die Erfahrungen dieser Tage werden wir in unseren Alltag, aber auch zum nächsten Rheinmetall-Entwaffnen-Camp mitnehmen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquelle
Oben       —      Kriegsindustrie blockieren! Rheinmetall, KMW & Co entwaffnen! / rheinmetallentwaffnen.noblogs.org/
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2.) von Oben     —      Vor der Zentrale der Rheinmetall AG, Düsseldorf am 26.10.2012 Kampagene „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“
Author Lunabonn      -/ –   Source Own work

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Unten         —       Rund 700 Menschen verbinden die Botschaften von Nordkorea und den USA in Berlin. Sie demonstrieren gegen atomare Aufrüstung und fordern von der Bundesregierung den Beitritt zum UN-Atomwaffenverbot und den Abzug der US-Atombomben in Büchel (Rheinland-Pfalz). Bei der Aktion haben als Donald Trump und Kim Jong-un verkleidete Friedensaktivisten zwei nachgebaute Atombomben in Originalgröße die Strecke entlang geschoben. Am Ende haben zwei Menschen mit Masken von Bundeskanzlerin Angela Merkel und UN-Generalsekretär António Guterres symbolisch eine Atomrakete zerstört und dann das Atomwaffenverbot unterschrieben. Berlin, 18. November 2017. Foto: Michael Schulze von Glaßer

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Ist es wieder so weit?

Erstellt von Redaktion am 28. Februar 2021

Dazu gehören wollen, koste es, was es wolle?

DIE LINKE Bundesparteitag 10-11 Mai 2014 -116.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von  Franz Witsch

Es ist mittlerweile, sehr wahrscheinlich unwiderruflich so weit: die Politik hat eine rote Linie überschritten, die dazu führt, dass ich mich als Fremder im eigenen Land, unter meinesgleichen, meiner unmittelbaren Umgebung fühle. Es wird einen Impfzwang geben, eine indirekte Impfpflicht, die man mit einem Impfausweis durchsetzen möchte und sehr wahrscheinlich auch wird.

Von einem Menschheitsverbrechen möchte ich vorläufig nicht sprechen, auch wenn sich ein solches Verbrechen bereits ankündigt. Das heißt, man bereitet die Menschen mental darauf vor, will sagen: jeden einzelnen Menschen, dass es in absehbarer Zeit Gewalt (auf den Straßen) geben wird, um diesen Impfzwang durchzusetzen, moralisch oder human motiviert, versteht sich.

Das ließe sich dann als Verbrechen am Menschen deuten. Hier gerinnen Politiker und diejenigen, die ihnen gedankenlos folgen, zu Feinden der Menschlichkeit.

Will man denn gar nicht wissen, dass wir uns auf Gewalt-Verhältnisse zubewegen? Auf eine Gesellschaft, die sich körperlich durch Zwang und Gewalt, also totalitär definiert?

Ganz zu schweigen davon, dass man sich fragt, welch eine Gesellschaft wir wollen? Funkstille. Ich fürchte, viele von uns bleiben stumm, um Zugehörigkeit, egal zu wem und was, auszuleben.

Und zwar einschließlich diejenigen, von denen man das vor gar nicht so langer Zeit nie erwartet hätte. Zum Beispiel von Heribert Prantl – im Bürgerbrief-Verteiler präsent. Jetzt könnte er aktiv werden, indem er in seiner politischen Wochenvorschau endlich Kritik übt, die ihren Namen verdient.

Darf er das in “seiner” Süddeutschen Zeitung? Es käme auf einen Versuch an. Den wird er sich nicht zumuten. Er will gar nicht wissen, in welcher Gesellschaft er lebt; aber dazugehören, koste es, was es wolle.

Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen, dass Heribert Prantl in einem Interview auch das Folgende gesagt hat:

“Aber es ist eine Illusion, Krankheit und Schmerzen und Viren völlig entkommen zu können, sie völlig verschwinden lassen zu können. Es geht auch darum, sie ins Leben zu integrieren, ins persönliche und in das gesellschaftliche. Zu ihrer Bewältigung ist mehr notwendig, als sie mit Medikamenten und Impfungen zu bekämpfen. Das Ringen um Heilung und Überleben ist dringend geboten; die Suche nach den richtigen Wegen dahin ist unabdingbar. Das Privatisieren und Sparen im Pflege- und Gesundheitswesen war eine Verirrung und gehört zur erwähnten Politik der angeblichen Alternativlosigkeit. Die Corona-Wellen haben diesen Dreck sichtbar gemacht. Aber notwendig im Sinne von Not wendend ist auch ein gewisses Maß an Akzeptanz, dass das Leben sterblich ist, und die Kraft der Hoffnung – also ein gesunder Optimismus, der Bedrohung zum Trotz.”

Ergänzende Quelle:

Interview mit Heribert Prantl: “Ich hoffe, dass die Gesellschaft aufwacht”

Der frühere Politik-Chef der Süddeutschen Zeitung und Jurist sagt: Das Grundgesetz steht nicht unter Pandemie-Vorbehalt.

Berliner Zeitung vom 30.01.2021. Das Interview führte Michael Maier

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/heribert-prantl-ich-hoffe-dass-die-gesellschaft-aufwacht-li.136339

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Grafikquelle      :

 Bundesparteitag DIE LINKE Mai 2014 in Berlin, Velodrom:

Autor    : Blömke/Kosinsky/Tschöpe

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Nach uns die Sintflut

Erstellt von Redaktion am 25. Februar 2021

Friedensverhandlungen in Afghanistan

Wracks der beiden am 4. September 2009 durch einen Luftangriff zerstörten Tanklastwagen im Kunduz-Fluss. Durch den Angriff wurden wahrscheinlich (die Opferzahlen variieren je nach Quelle) um die 100 Menschen, darunter auch Kinder, getötet oder verletzt, was die bisher mit Abstand größte Zahl von Opfern bei einem Einsatz sowohl in der Geschichte der Bundeswehr als auch durch Kräfte der ISAF bedeutet. Der Angriff und die folgenden Reaktionen der Bundeswehrführung wurden sowohl aus dem Inland wie aus dem Ausland stark kritisiert. 

Von Thomas Ruttig

Auch in Afghanistan hat Trump seinen Nachfolgern verbrannte politische Erde hinterlassen. Den löchrigen Taliban-Deal nachzubessern wird schwierig.

Als am 29. Februar 2020 die USA, noch unter Trump, und die afghanischen Taliban in Doha (Katar) ein Dokument mit dem wohlklingenden Namen „Abkommen, um Frieden nach Afghanistan zu bringen“ besiegelten, breitete sich in Afghanistan Hoffnung aus. Kein Wunder, dauert der Krieg dort doch schon vier Jahrzehnte, in wechselnden Konstellationen und Kontexten. Weihnachten 1978 waren sowjetischen Truppen einmarschiert, um eine verbündete Regierung zu retten, und internationalisierten so einen innenpolitischen Konflikt. In Afghanistan wurde die letzte heiße Schlacht des Kalten Krieges ausgetragen – und die dauert nach dessen Ende an.

Es gab aber auch verbreitete Skepsis. Das lag daran, dass die USA zusagten, zügig einen Großteil ihrer Truppen – zu diesem Zeitpunkt etwa 8.000, dazu kamen 8.550 aus verbündeten Ländern wie Deutschland – und bis Ende April den Rest abzuziehen. Würde die afghanische Regierung, die nicht einmal genug Eigeneinnahmen hat, um ihre 300.000 Soldaten und Polizisten zu bezahlen, den Abzug überleben? Würden die Taliban weiterverhandeln oder einfach in Kabul einmarschieren?

Im Gegenzug sollten die Taliban Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung beginnen. US-Chefverhandler Zalmay Khalilzad, selbst afghanischer Herkunft, vertagte die Friedensfrage also in die Zukunft. Dass die westlichen Truppen erst das Land verlassen würden, wenn die Afghanen Frieden geschlossen haben, steht aber nicht im Doha-Deal. Schon seit Dezember stocken diese sogenannten innerafghanischen Verhandlungen, die seit September ebenfalls in Katar stattfinden. Denn angesichts fast präzedenzloser Gewalt in Afghanistan steht der Doha-Deal in Washington auf dem Prüfstand. Die neue Biden/Harris-Administration will die Taliban zu einer Verlängerung der Abzugsfrist drängen.

Verteidigungsminister auf Überraschungsbesuch in Afghanistan.jpg

Salz und Pfeffer – Merkels Retter,. Die Politik findet für ihre Vorhaben immer Willige. Vielleicht wären Zivile – die besseren Diplomaten ?

Die Chancen dafür stehen schlecht. Eine Verpflichtung zur Verringerung der Gewalt steht ebenfalls nicht im Abkommen, von einer Waffenruhe ganz zu schweigen. Warum also sollten die Taliban zustimmen? Laut Khalilzad habe es mündliche Absprachen gegeben. Stimmt, sagen die Taliban: Man habe aber nur zugesagt, keine US- und verbündeten Truppen und nicht mehr die Städte anzugreifen – und das auch eingehalten. Formal gesehen verletzen sie also mit Angriffen auf die afghanischen Regierungstruppen in ländlichen Gebieten das Abkommen nicht.

Soldaten abziehen, Milliarden sparen: Das Abkommen ist ein Paradebeispiel Trump’scher America-First-Politik

Die jüngst erheblich eskalierte Welle von gezielten Mordanschlägen hingegen wäre eine Verletzung des Abkommens. Die Zahl der zivilen Opfer dabei verdreifachte sich 2020 gegenüber dem Jahr davor, und dabei sind Polizisten und Soldaten außerhalb von Kampfhandlungen noch nicht mitgezählt. Aber es ist schwer, den Taliban eine Beteiligung daran nachzuweisen, auch wenn die Logik dies nahelegt: Die Taliban sind die am besten organisierte und einzige landesweit operierende bewaffnete Aufstandsbewegung. Sie haben ein Interesse daran, Andersdenkende vor ihrer zu erwartenden Rückkehr an die Macht einzuschüchtern und haben das verschiedentlich auch offen gesagt. Das gilt auch, wenn einige dieser Anschläge auf das Konto des „Islamischen Staates“ oder „schwarzer Operationen“ des CIA-geförderten afghanischen Geheimdienstes gehen dürften.

Quelle        :     TAZ         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle        :

Oben      —       BRFBlake – Eigenes Werk

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Unten      —     Verteidigungsminister Thomas de Maizière traf am Montag dem 5. März 2012 um 3.30 Uhr mitteleuropäische Zeit (7 Uhr Ortszeit) zu einem seit längerem geplanten Überraschungsbesuch in Termez ein. Unter anderem stehen auf seinem Programm Gespräche mit den ungarischen Partnern des regionalen Wiederaufbauteam (PRT[Provincial Reconstraction Team]) in Pol-i-Khomri. Schwerpunkt der Reise ist der Besuch der deutschen Operationsbasis, dem OP-North (Observation Post North) im Baghlan-Tal. (Neben de Maizière ist Generalmajor Erich Pfeffer abgebildet.) Quelle: Bundeswehr.

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Linke Höhn gegen Pflüger

Erstellt von Redaktion am 25. Februar 2021

„Dieses Papier sprengt den Korridor“

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Das Interview mit Tobias Pflüger führte Tobias Schulze

Vor ihrem Parteitag streitet die Linke über ihr Verhältnis zum Militär. Tobias Pflüger kritisiert seinen Genossen Matthias Höhn, der die Partei für Bundeswehreinsätze öffnen will.

taz: Herr Pflüger, wie viel Raum werden Krieg und Frieden auf dem Linken-Parteitag am Wochenende einnehmen?

Tobias Pflüger: In der klassischen programmatischen Debatte wird der Themenbereich nicht im Vordergrund stehen. Er wird aber sicherlich über die Personalentscheidungen eine Rolle spielen.

Wenn es darum geht, ob Matthias Höhn stellvertretender Parteivorsitzender wird?

Er hat mit seinem Papier versucht, seine Kandidatur mit einer bestimmten Positionierung zu verbinden. Ich habe eine andere Position und kandidiere ebenfalls, insofern spielt diese Frage da mit.

Was kritisieren Sie genau an Höhns Positionen?

Wir haben bei der Linken eine programmatische Festlegung getroffen, die ich als Korridor beschreiben würde. Es ist durchaus möglich, innerhalb dieses Korridors verschiedene Positionen zum Militär zu vertreten. Aber dieses Papier sprengt den Korridor in wesentlichen Bereichen. Er setzt sich zum Beispiel für militärische Strukturen auf EU-Ebene ein. Das ist ein Punkt, der nicht geht.

Und was noch?

Zweitens will er – das kenne ich schon aus der Arbeit mit ihm im Verteidigungsausschuss – vom strikten Nein der Linken zu sämtlichen Rüstungsprojekten abrücken, obwohl das eine ganz wesentliche Geschichte ist, die wir als Fraktion umzusetzen haben. Drittens kann er sich Bundeswehreinsätze vorstellen. Er formuliert nicht genau, welche er meint, aber es geht ihm wahrscheinlich um Kapitel-VII-Einsätze der UN. Diese Einsätze lehnen wir auch ab und dabei sollte es selbstverständlich bleiben. Und viertens: Seinen Vorschlag, ein Prozent des BIP fürs Militär zu verwenden, finde ich sehr problematisch. In absoluten Zahlen würden die Militärausgaben damit nur auf das Niveau von vor zehn Jahren zurückgehen.

Ein Prozent des BIP wäre die niedrigste Quote in der Geschichte der Bundesrepublik. Das ist schon zu viel?

Wir müssen den Etat zusammenstreichen und nicht mit einer Quote eine Garantie für weiterhin hohe Militärausgaben geben. Im Grundsatzprogramm haben wir den Ansatz der qualitativen Abrüstung: Die kriegsführungsfähigsten Einheiten und Waffensysteme wollen wir als erstes abrüsten, zum Beispiel das Kommando Spezialkräfte. Das finde ich einen wirklich praktikablen Vorschlag.

DIE LINKE Bundesparteitag 10. Mai 2014-84.jpg

Wie hoch wäre ein angemessener Militäretat?

Von meiner Seite aus wird es da logischerweise keinen Positivbezug geben. Ziel ist eine Abrüstung, die an die Substanz geht.

Kommen wir noch mal zu den Auslandseinsätzen: Matthias Höhn hat im taz-Interview als Beispiel die UN-Friedensmission im Südsudan genannt. Die Bundeswehr ist mit bis zu 50 Soldaten vertreten, vor allem in den Stäben und Hauptquartieren der UN. Was spricht denn gegen solche Einsätze?

Quelle      :      TAZ         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —     Tobias Pflüger, Mitglied des Deutschen Bundestages, während einer Plenarsitzung am 11. April 2019 in Berlin.

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Unten      —    Bundesparteitag DIE LINKE Mai 2014 in Berlin, Velodrom: Matthias Höhn

Autoren    —    Blömke/Kosinsky/Tschöpe

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Jemen – Krieg ohne Frieden

Erstellt von Redaktion am 16. Februar 2021

Jemen oder der Krieg ohne Ende

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von Guido Steinberg

Als vor zehn Jahren der „Arabische Frühling“ begann, kannten die Hoffnungen auch und gerade in den westlichen Demokratien keine Grenzen. Doch anstelle der erhofften Freiheit und Liberalisierung obsiegten die autoritären Regime. Und hinzu kam ein massiver Verfall der Staatenwelt im Nahen Osten. Ein besonders großes Problem stellt dies für das angrenzende Europa dar. Besonders deutlich wurde dies während der Flüchtlingskrise von 2014 bis 2016, als fast 1,5 Millionen Menschen aus der weiteren Region nach Deutschland kamen.

Es ist kein Zufall, dass die größten Kontingente aus Ländern wie Syrien und dem Irak (und auch aus Afghanistan) stammen, in denen der eigentliche regionale Zentralkonflikt mit besonders großem Einsatz ausgetragen wurde – nämlich die Auseinandersetzung zwischen Iran und Saudi-Arabien. Dieser Konflikt beeinflusste alle anderen Ereignisse – und sorgte, indem er die ganze Region erschütterte, dafür, dass zahlreiche islamistische Terroristen mit den Flüchtlingen unkontrolliert in die EU gelangen konnten. Insofern ist es ausgesprochen fraglich, ob die Anschläge von Paris, Brüssel, Berlin, Barcelona und Manchester auch geschehen wären, ohne dass Iran und Saudi-Arabien ihren Konflikt in Syrien, im Irak und im Libanon ausgetragen hätten.

Die brutalste Auseinandersetzung findet jedoch noch immer fast im Windschatten der Weltgeschichte statt, nämlich im Jemen. Seit bald sechs Jahren wird im Süden der Arabischen Halbinsel ein erbitterter Krieg geführt, an dem und an dessen Folgen weit über 100 000 Menschen gestorben sind – laut Vereinten Nationen die „größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart“. Ginge es dabei nur um den Jemen, das ärmste aller arabischen Länder, wäre die Auseinandersetzung vermutlich längst beendet. Doch dahinter verbirgt sich die Auseinandersetzung um die regionale Vorherrschaft – eben zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien.

Der eigentliche Krieg begann im März 2015, als Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im Jemen intervenierten, um die Huthi-Rebellen aus der Hauptstadt Sanaa zu vertreiben. Die Rebellen waren nur ein halbes Jahr früher, im September 2014, aus dem Norden kommend in Sanaa einmarschiert. Der dahinterliegende Konflikt ist allerdings wesentlich älter.

Schon lange vor dem Arabischen Frühling war der Jemen ein scheiternder Staat, dessen Regierung immer weniger in der Lage war, die wachsenden Probleme des Landes zu lösen. Seit 1978 – und bis 2012, nach dem Ausbruch der Arabellion – herrschte Präsident Ali Abdallah Salih trotz einer demokratischen Fassade hoch autoritär. Seine Macht beruhte neben seiner Kontrolle über die Armee und die Sicherheitskräfte auf weitverzweigten Patronagenetzwerken, in die auch die nach wie vor starken Stämme des Landes eingebunden waren. Loyalität wurde mit politischem oder wirtschaftlichem Einfluss und oft auch ganz einfach mit hohen Geldbeträgen erkauft.

Doch in den 2000er Jahren wurde es immer schwieriger, das System aufrechtzuerhalten, weil es dem ärmsten aller arabischen Länder an Geld fehlte. Obwohl der Jemen nur über wenig Öl verfügt, bestritt er in den Jahren vor den Protesten rund 75 Prozent seines Haushalts aus Öleinnahmen. Die Produktion ging jedoch stetig zurück – von rund 440 000 Barrel pro Tag 2001 auf nur noch rund 300 000 Barrel pro Tag 2008 –, so dass abzusehen war, dass bald überhaupt kein Öl mehr gefördert werden würde. Gleichzeitig stiegen die Staatsausgaben allein aufgrund der rasant wachsenden Bevölkerung: Sie nahm um jährlich über drei Prozent zu, von 20,7 Millionen im Jahr 2005 auf 28 Millionen im Jahr 2019.

Seit den 2000er Jahren wuchs der Widerstand gegen die Zentralregierung an drei Fronten: Im ehemaligen Südjemen bereitete eine separatistische Bewegung seit 2007 immer größere Schwierigkeiten. Ursache dafür war die Vereinigung von Nord- und Südjemen 1990, die sich rasch als feindliche Übernahme durch Sanaa entpuppte – südjemenitische Politiker wurden systematisch entmachtet. Nachdem der Norden den kurzen Bürgerkrieg 1994 für sich entschieden hatte, festigte Präsident Salih seine Herrschaft in den Südprovinzen, indem er südjemenitisches Personal aus dem öffentlichen Dienst, den Sicherheitsbehörden und der Armee entfernen ließ.

Die Unzufriedenheit im Südjemen nahm in den folgenden zwei Jahrzehnten weiter zu, die Bewohner beklagten ihre prekäre wirtschaftliche Situation, da sie von Zuwendungen des Regimes ausgeschlossen waren. Nach ersten Demonstrationen 2007 erstarkte die „Südbewegung“ (arabisch al-Hirak al-Janubi), die zunächst nur ein Ende der politischen und wirtschaftlichen Vernachlässigung des Südens forderte. Als die Sicherheitskräfte mehrfach gegen Proteste vorgingen und einige Demonstranten töteten, Berichte über willkürliche Verhaftungen und Folter publik wurden und führende Köpfe festgesetzt wurden oder untertauchten, radikalisierte sich die Bewegung. Seit 2008 forderte sie mehrheitlich einen eigenen südjemenitischen Staat.

Gleichzeitig erstarkte in dem von Unruhen erschütterten Südjemen die örtliche Filiale der Al Qaida. Jemeniten hatten in der Terrororganisation seit den 1990er Jahren eine wichtige Rolle gespielt. Nun profitierten sie davon, dass nach dem Scheitern der Terrorkampagne der saudi-arabischen Al Qaida 2006 viele Dschihadisten aus dem Königreich ins Nachbarland auswichen. So wurde die im Januar 2009 neu gegründete Al Qaida auf der Arabischen Halbinsel zu einem gemeinsamen Projekt jemenitischer und saudi-arabischer Islamisten, die die Regime in Sanaa und Riad bekämpften.

Das größte Problem der jemenitischen Regierung war aber der Bürgerkrieg mit den Huthi-Rebellen aus der Provinz Saada im Norden. Die Familie Huthi gehört zu den Zaiditen, die im Jemen heute 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung stellen. Diese sind zwar Schiiten, stehen dem Sunnitentum aber weitaus näher als die anderen schiitischen Glaubensrichtungen. Die Mitglieder der Huthi-Familie sind außerdem Sayyids, die beanspruchen, vom Propheten Muhammad abzustammen. Gemeinsam mit weiteren Sayyid-Familien bildeten sie zwischen dem späten 9. Jahrhundert und 1962 die adelige Führungsschicht des Jemen. Deren prominenteste Familien – zu denen die Huthis allerdings nicht gehörten – stellten die Imame genannten Herrscher. Diese verloren mit der Revolution von 1962 die Kontrolle über den Jemen und konnten sie auch im folgenden Bürgerkrieg bis 1967 nicht wiedergewinnen. Seitdem wurden sie im politischen System des neuen Jemen an den Rand gedrängt und übten nur noch im äußersten Norden Einfluss aus.

Die Huthis übernehmen die Macht

Seit Ende der 1990er Jahre traten die Huthis als Vertreter aller nordjemenitischen Zaiditen auf. Obwohl sie auch mehr politische Mitsprache und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse forderten, verlangten sie vor allem kulturelle und religiöse Rechte. Die Zaiditen sahen diese vor allem durch Saudi-Arabien gefährdet, das ab den 1980er Jahren salafistische Missionare – also Anhänger jener sunnitischen Schule, die einen besonders rückwärtsgewandten und schiitenfeindlichen Islamismus vertritt – in den Nordjemen schickte, die dort ein dichtes Netz von Religionsschulen gründeten. Die bekannteste wurde die Schule in Dammaj nahe Saada, die zu einem Sehnsuchtsort vieler Salafisten weltweit und zum Zentrum der Mission im Nordjemen wurde.

Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen Zaiditen und Salafisten. Trotzdem unterstützte die Zentralregierung in Sanaa das Vorgehen der Saudis und ihrer salafistischen Verbündeten, da sie die politische Konkurrenz der führenden zaiditischen Familien fürchtete und sie weiter schwächen wollte. Die Zaiditen starteten daraufhin schon in den 1990er Jahren unter dem Namen „Gläubige Jugend“ (arabisch ash-Shabab al-Mu’min) ihre eigene Reformbewegung, die traditionelles zaiditisches Gedankengut verbreitete und gegen Saudi-Arabien und die mit ihm verbündeten USA protestierte. Zu ihrem bekanntesten Anführer wurde ab 2000 Husain al-Huthi, der sich immer offener gegen die Regierungspolitik stellte. Die von den Huthis viel genutzte Parole „Gott ist groß, Tod für Amerika, Tod für Israel, der Fluch über die Juden, der Sieg für den Islam“ entstand damals; sie verbreitete sich massiv nach den Angriffen auf das World Trade Center am 11. September 2001, als Präsident Salih von der Bush-Administration dazu gedrängt wurde, bei der Bekämpfung von Al Qaida mit den USA zusammenzuarbeiten. Bei einer militärischen Strafaktion in der Provinz Saada wurde Husain al-Huthi gefangen und noch vor Ort hingerichtet.

Präsident Salih stellte die Rebellen von Beginn an als Terroristen dar und – mit Verweis auf ihre schiitische Identität – als Agenten des schiitischen Iran. Die saudi-arabische Führung schloss sich dieser Lesart des Konfliktes an und unterstützte Saleh. Schon ab Ende der 1990er Jahre gingen die Huthis dazu über, eine politische Bewegung mit bewaffnetem Arm aufzubauen. 2004 begannen dann offene Kämpfe zwischen diesen Milizen und den Truppen des Regimes, die nach mehreren Waffengängen 2010 unentschieden endeten, aber den Norden zunehmend verwüsteten. Im November 2009 führte das saudi-arabische Militär sogar einen kurzen Grenzkrieg, in dem sich erstmals zeigte, dass die Huthis auch im Kampf gegen waffentechnisch und zahlenmäßig überlegene Gegner bestehen konnten. Und als die Proteste des Arabischen Frühlings auch den Jemen erreichten, musste Präsident Saleh im Februar 2012 abtreten. In den anschließenden Wirren erstarkten die Huthis und konnten 2014 mit der Eroberung Sanaas die Macht in großen Teilen des Jemen übernehmen. Daraufhin reagierten Saudi-Arabien und die VAE, indem sie im März 2015 eine Seeblockade verhängten und Luftangriffe gegen die Rebellen flogen.

Der saudi-arabischen Führung ging es dabei zunächst vor allem darum, eine vollständige Übernahme des Jemen durch die Huthis zu verhindern und sie anschließend aus Sanaa zu vertreiben. Zwar gelang es den arabischen Truppen, den Süden des Landes wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, doch konnten sie die Huthis im nördlichen Hochland nie ernsthaft gefährden. Im Sommer 2019 zogen die VAE ihre Truppen zurück, die Saudis setzten den eigentlich bereits verlorenen Krieg jedoch unvermindert fort. Obwohl Riad parallel dazu Gespräche mit den Huthis auf neutralem Boden, in Oman, führt, ist es zu einem Durchbruch bisher nicht gekommen. Der Grund dafür ist, dass Riad den Krieg längst als einen Teil einer weit größeren Auseinandersetzung ansieht – nämlich seines jahrzehntealten Konflikts mit dem Iran. Die Saudis befürchten, dass eine Verhandlungslösung jetzt einer Niederlage gleichkäme und auch ihre Position gegenüber dem großen Rivalen schwächen würde.

Sie betrachten und fürchten die Rebellen als enge Verbündete Irans, die für Teheran einen Brückenkopf auf der Arabischen Halbinsel errichten wollen – direkt an der saudi-arabischen Südgrenze. Häufig sprachen saudi-arabische Politiker, Beamte und Kommentatoren von den Huthis als einer „jemenitischen Hisbollah“, die das Königreich eines Tages so bedrohen würde, wie die namensgleiche libanesische Organisation Israel bedroht. Das war auch der Grund, warum Riad 2015 glaubte, militärisch reagieren zu müssen.

Saudi-Arabien interveniert

Quelle        :       Blätter         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —     From the DHSS Limb Fitting Centre at Roehampton, London. During the 1960s, the drug thalidomide, formerly used as a sedative, was found to produce congenital deformities in children when taken by the mother during early pregnancy. Children were commonly born with the absence of the long bones of the arms, with the legs and feet often also being affected. The Limb Fitting Centre at Roehampton, London, creates and fits prosthetic limbs for children affected by thalidomide.

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GB sucht Streit mit China?

Erstellt von Redaktion am 15. Februar 2021

Wie Du mir, so ich Dir

Wer wirft den ersten Stein ?

Quelle       :      Scharf  —   Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Die Umkehr der „Goldenen Regel“ wird scheinbar die „Eherne Regel“ in der internationalen Diplomatie, wenn man das jüngste Gezerre zwischen Großbritannien und China betrachtet. Der Zwerg GB hatte Anfang Februar der China Global Television Network (CGTN) des Riesen China die Sendelizenz entzogen und ist jetzt darüber empört, dass die BBC ab sofort nicht mehr in China tätig sein darf. Ganz im Gegensatz zur konfizianischen Tradition, wonach man jeden so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte, hat China hier wohl eher nach christlich-westlichem Vorbild gehandelt: Auge um Auge, Zahn um Zahn (2. Mose 21,24).

Zur Begründung hatte die britische Medienaufsicht Office of Communications (Ofcom) angeführt, dass die chinesische Regierung Einfluss auf das Programm der CGTN nehme. Das sei nach britischem Rundfunkrecht nicht zulässig. In Anbetracht der geheimen Einflussnahmen der Queen auf die Gesetzgebung im an sich demokratisch vermuteten England ist das eine eher abgrundtief heuchlerische Begründung. Ferner wurden allerdings auch Bedenken wegen Huawei als technischer Ausrüster geltend gemacht.

Neben Neid und Missgunst wegen des weltweit einmaligen Aufstiegs von China zur Wirtschaftsmacht in nur 40 Jahren scheint jetzt eine generelle Abrechnung zwischen China und GB wegen der kolonialen Vergangenheit anzustehen. Selbstverständlich ist HongKong als Teil von China eine innere Angelegenheit Chinas. Man mag sich aus westlicher Sicht darüber aufregen, was dort geschieht, aber keiner regt sich heute wie damals darüber auf, was dort vor 180 Jahren im Ersten Opiumkrieg und später geschah, als England zur brutalen Durchsetzung seiner Handelsinteressen in China Hongkong und Shanghai besetzte und Hongkong zur britischen Kronkolonie machte. Vielleicht ist jetzt auch die Zeit gekommen, diese beiden Städtenamen aus der Bezeichnung der größten britischen Bank HSBC zu nehmen und z.B. durch Hilarious Sovereignty zu ersetzen.

Und jetzt ist der größte englische Sender BBC vom größten asiatischen Markt verbannt, welche Medienblamage international. Während BBC jetzt in royaler Tradition und Übung geheim agieren muss, um weiter „die nationale Einheit zu untergraben“, so die Begründung Chinas für die Aussperrung, hat China nun einen Fisch am Haken, den es bei weiteren diplomatischen und/oder wirtschaftlichen Streitigkeiten in die Waagschale werfen kann, um in westlichen Vorstellungen weiterzudenken.

Den ersten Stein aber hat England geworfen, und man darf gespannt sein, wie England jetzt mit den Scherben im eigenen Land klarkommt. Vielleicht sind erst einmal ca. 300 T einreisewillige HongKong-Chinesen wichtiger, um den durch den Brexit verursachten Arbeitskräftemangel in der Hoffnug auszugleichen, dass fleißige Chinesen wohl die Arbeiten verrichten werden, für die Briten sich zu schade sind. Ihre groteske Souveränitäts-Attitüde sollten die Briten aber generell vergessen, wenn sie nicht mit Glanz und Gloria bzw. Pomp and Circumstance untergehen wollen.

Urheberrecht
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Grafikquellen   :     Lithografie von Joseph Brodtmann nach, Jacob Schwegler

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Von langer Hand

Erstellt von Redaktion am 13. Februar 2021

Amtsenthebungsverfahren gegen Trump

KOMMENTAR VON BETTINA GAUS

Der Sturm auf den US-Kongress war nicht spontan. Das Impeachment-Verfahren zeigt, dass Trump wochenlang auf die Proteste an dem Tag hinarbeitete.

Das Impeachment-Verfahren gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hat einen erstaunlichen Verlauf genommen. Eigentlich hätte man vermuten können, der Neuigkeitswert werde gegen null tendieren. Worum es gehen sollte, war seit Wochen bekannt, ebenso wie die Tatsache, dass die Demokraten eine Verurteilung wünschten und die Mehrheit der Republikaner das ablehnte. Und dennoch ist bei dem Prozess viel mehr herausgekommen, als im Vorfeld anzunehmen war.

Bilder von dem gewalttätigen Mob, der am 6. Januar das Kapitol gestürmt hatte, waren um die Welt gegangen. Wer sich für Politik interessiert, hatte längst wenigstens einige Ausschnitte gesehen. Auch die Rede von Trump, in der er seine Anhängerschaft zum Kampf anstachelte und sie aufrief, zum Kongress zu marschieren, war bekannt. Umso überraschender ist es, welche Wucht die minutiöse Dokumentation entfaltete, die von der Anklage im Senat präsentiert wurde.

Das liegt nicht nur und nicht einmal in erster Linie daran, dass auch bisher unbekanntes Material gezeigt wurde, obwohl die Videos der Öffentlichkeit das ganze Ausmaß der Brutalität fast schmerzhaft vor Augen führten. Sondern es liegt vor allem daran, dass die detaillierte Zusammenstellung von Zitaten des ehemaligen US-Präsidenten seit der Wahl im November schlüssig belegen, welch langfristiger Plan den Ausschreitungen zugrunde lag. Keine Spur von Spontaneität.

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Über Wochen hinweg hatte Trump zielstrebig auf genau das hingearbeitet, was sich an dem Tag in Washington ereignete, an dem das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom Kongress formal bestätigt wurde. Nur das gewünschte Ergebnis hat er nicht erreicht. Der Mob konnte nicht verhindern, dass Joe Biden zum Sieger erklärt wurde. Die Tatsache, dass die meisten Republikaner im Senat sich nach wie vor weigern, Donald Trump zu verurteilen, beweist nur eines:

Parteipolitik und die Angst vor der Anhängerschaft des ehemaligen Präsidenten ist ihnen wichtiger als Glaubwürdigkeit. Bislang steht die Mehrheit der repu­bli­ka­nischen Wählerinnen und Wähler noch in Treue fest zu Trump. Doch die Anklage hatte sich ja nicht nur an die Mitglieder des Senats gerichtet, sondern auch an die Öffentlichkeit. Und so gespalten die Gesellschaft der USA auch ist: Der Wunsch, die Gräben nicht zu vertiefen, besteht in weiten Teilen der Bevölkerung.

Quelle       :          TAZ      >>>>>        weiterlesen

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Oben      —       Randalierer auf den Treppen des Kapitols

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Blutige Waffen – Geschäfte

Erstellt von Redaktion am 11. Februar 2021

Waffenexporte von Heckler & Koch

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Von Wolf-Dieter Vogel

Heckler & Koch lieferte illegal Waffen nach Mexiko, zwei Angestellte wurden verurteilt. Am Donnerstag geht der Fall vor den Bundesgerichtshof.

Die Entscheidung des Stuttgarter Landgerichts klang beeindruckend: Wegen „bandenmäßiger Ausfuhr“ von Waffen nach Mexiko verurteilte die Wirtschaftskammer zwei ehemalige Angestellte des Unternehmens Heckler & Koch (H & K) zu Haftstrafen auf Bewährung. Die Waffenschmiede selbst soll einen Millionenbetrag entrichten. Es bestehe kein Zweifel, dass die Firma Tausende Sturmgewehre illegal in das Land geliefert hatte, zahlreiche Zeugen und Urteile bewiesen das, urteilten die Richter im Februar 2019.

Doch keiner der Prozessbeteiligten gab sich mit dem Urteil zufrieden. Die Verurteilten akzeptieren ihre Strafe nicht und H & K ist nicht bereit, die 3,7 Millionen Euro zu zahlen, die der Waffenbauer mit dem Deal verdient hatte.

Die Staatsanwaltschaft will die Angeklagten hinter Gittern sehen. Auch soll nicht nur das Außenwirtschafts-, sondern auch das schärfere Kriegswaffenkontrollgesetz zur Geltung kommen. Alle gingen in Revision. Deshalb beschäftigt sich der Bundesgerichtshof (BGH) am Donnerstag mit dem Export der G36-Gewehre.

Zwischen 2006 und 2009 wurden nach Angaben des mexikanischen Verteidigungsministeriums (Sedena) 4.796 der insgesamt 9.652 in das Land exportierten G36-Sturmgewehre in vier Bundesstaaten geliefert, für die wegen schlechter Menschenrechtslage keine Genehmigung seitens die Exportbehörde bestand.

Was gilt?

Um das zu verschleiern, hatten H & K-Mitarbeiter die für eine Ausfuhr von Rüstungsgütern nötigen „Endverbleibserklärungen“ (EVE) so manipuliert, dass die „verbotenen Regionen“ nicht auftauchten. Daran ließ das Landgericht keine Zweifel, bezeichnete aber die Dokumente selbst als rechtlich nicht bindend.

Dieses Urteil hat Rüstungskritiker verwundert. Schließlich galten die Dokumente der Regierung bislang als Garant dafür, dass ausgeführte Waffen nicht in die falschen Hände gerieten. Das Rüstungsunternehmen muss die EVE vom Kunden einfordern und bei der Ausfuhrbehörde einreichen, um eine Genehmigung zu erlangen.

„Sollte der BGH nun dem Stuttgarter Gericht folgen, entpuppen sich Abertausende von Exportgenehmigungen deutscher Kontrollbehörden im Nachhinein als Barbiturat fürs Volk“, erklärt Friedensaktivist Jürgen Grässlin, der die Ermittlungen gegen H & K mit dem Anwalt Holger Rothbauer durch eine Anzeige 2010 ins Rollen gebracht hat.

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Die Stuttgarter Entscheidung stellt also eine Praxis infrage, mit der die Bundesregierung bisher heikle Waffenexporte legitimiert. Nachdem die G36-Gewehre im September 2014 bei einem Angriff von Polizisten und Kriminellen auf Studenten in der mexikanischen Stadt Iguala eingesetzt wurden, versprach der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sogar, verbindlicher zu kontrollieren, wo die gefährlichen Güter landen. „Endlich können die Angaben, die Empfänger zum Verbleib der Waffen machen, vor Ort geprüft werden“, sagte er.

Weitere Ermittlungen in Mexico könnten möglich werden

Sollte der BGH dem Landgericht recht geben, wäre das ein Schritt in die genaue Gegenrichtung. Es könnte aber auch anders kommen. Anwalt Rothbauer: „Es wäre ein großer Erfolg, wenn das BGH die Verbindlichkeit der Endverbleibserklärungen bestätigen und trotzdem den Etikettenschwindel mit ihnen als völlig untaugliches Mittel der Rüstungsexportkontrolle bezeichnen würde.“

Quelle    :      TAZ         >>>>>          weiterlesen

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Oben       —       Heckler & Koch, Oberndorf-Lindenhof, Germany

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Militärputsch in Myanmar

Erstellt von Redaktion am 10. Februar 2021

Auf Messers Schneide

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Von Philipp Annawitt

Myanmars sanfter Coup steht auf der Kippe. Der Westen muss jetzt den Wider­stand befördern und die Reihen der internationalen Gemeinschaft schließen.

Der Coup in Myanmar ist nun eine Woche alt. Er bleibt ein sanfter Coup. Am vergangenen Montag setzte das Militär den Präsidenten Win Myint ab und rief den Notstand aus. De-Facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi, die Parlamentsabgeordneten und die Gouverneure der 14 Regionen Myanmars wurden verhaftet. Schon am Dienstag wurden die Gouverneure in den Hausarrest entlassen. Die Parlamentarier kamen am Mittwoch frei. Dann wurden die Vorwürfe gegen Suu Kyi bekannt: Sie habe illegal Walkie-Talkies importiert – darauf stünden maximal 2 Jahre Haft.

Schnell begann sich der Widerstand auf Facebook in Form des Civil Disobedience Movements zu formieren. Die Junta – die Generäle hatten mittlerweile eine neue Regierung gebildet – schaltete das Internet zeitweise ab, um die Mobilisierung des Widerstandes zu stören. Gleichzeitig mit den Restriktionen nach innen startete die Junta eine Charmeoffensive nach außen und lud die internationale Gemeinschaft zur Konferenz auf Botschafterebene, wo sie ihren Willen zur weiteren Zusammenarbeit bekundete.

Warum geht die Junta so zögerlich vor? Ein Faktor ist die wirtschaftliche Lage in Myanmar. Die Wirtschaft ist durch die Folgen der Coronapandemie arg gebeutelt. Sollten westliche Länder, Japan und Korea Mittel abziehen und Investoren aus dem Land flüchten, droht der Zusammenbruch, den dann nur noch China verhindern kann – zu welchem Preis, kann man sich im benachbarten Laos ansehen.

Der Hauptgrund für das Zögern ist allerdings die Schwäche der militärischen Führung selbst. Kommt es zur Eskalation auf der Straße, kann man sich nicht sicher sein, ob einfache Soldaten und Polizisten auf Demonstranten feuern oder sich mit ihnen solidarisieren. Denn von Anfang an war dieser Coup das Projekt einer kleinen Clique – der obersten Militärführung und ihrer Kumpane in der Wirtschaft, die Myanmars größte Unternehmen und den illegalen Handel mit Jade, Edelsteinen, Drogen und Edelhölzern dominieren. Ihre Interessen sind nicht jene der Bevölkerung, des Beamtenapparates, ja nicht einmal jene der mittleren Offiziersebene und der Truppe.

Die Dynamik beginnt sich schon jetzt zu wenden. Bis Freitag hatte sich die Protestbewegung auf vier zivile Ministerien ausgeweitet: Im Landwirtschafts-, Energie-, Gesundheits-, und Bildungsministerium hat die Belegschaft die Arbeit niedergelegt. Es erreichen uns Berichte von harschen Disziplinierungsmaßnahmen innerhalb der Sicherheitskräfte, um des Dissens in den eigenen Reihen Herr zu werden.

Drei Dinge hat der Westen jetzt vorrangig zu tun: Man muss einen Keil in das Militär treiben, an den Patriotismus der Soldaten und Polizisten appellieren und ihnen klarmachen, was auf dem Spiel steht: Gewinnen kann bei diesem Coup nur eine alte, korrupte Clique von Generälen – und China. Die westlichen Staaten sollten bestehende Arbeitskanäle zur mittleren Ebene der militärischen Hierarchie nutzen. Die Teams der internationalen Organisationen, NGOs und bilateralen Entwicklungsagenturen vor Ort haben die nötigen Kontakte.

Außerdem gilt es, die Mobilisierung des Widerstands zu erleichtern. Die unabhängigen Medien sind nach wie vor frei, aber chronisch unterfinanziert. Der Westen sollte sie finanziell unterstützen, damit sie ihre Berichterstattung aufrechterhalten können. Mobilisierung erfolgt allerdings großteils über die sozialen Medien. Nach Facebook wird das Militär auch Twitter und Instagram sperren. VPN-Services wären ein Weg, um diesen Sperren zu entgehen.

Quelle      :        TAZ          >>>>>        weiterlesen

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Oben    —       Student Union and teachers protest against military coup in front of State Government Office

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Laschet gegen Söder:

Erstellt von Redaktion am 6. Februar 2021

Der Kampf ums Kanzleramt

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Von Albrecht von Lucke

Wenn am 26. September der Nachfolger von Bundeskanzlerin Angela Merkel gewählt wird, wird die CDU 52 von 72 Jahren dieses Land regiert haben. Und ob des enormen Abstands der Union zu allen ihren Herausforderern in den Umfragen spricht sehr viel dafür, dass ihr Kanzlerkandidat auch die nächste Bundesregierung anführt – in welcher Konstellation auch immer. Der Kampf um die Kanzlerkandidatur der Union bedeutet damit auch eine Vorentscheidung über die kommende Kanzlerschaft.

Insofern war die Wahl Armin Laschets zum neuen CDU-Vorsitzenden die zweitwichtigste Wahlentscheidung dieses Jahres, abgesehen von der Bundestagswahl selbst. Allerdings ist damit keineswegs geklärt, wer der zukünftige Unions-Kanzlerkandidat werden wird – aber immerhin, wer es nicht wird, weder Friedrich Merz noch Norbert Röttgen und auch nicht Jens Spahn. Mit dem CDU-Parteitag Mitte Januar hat sich das Feld der Aspiranten auf die Kanzlerschaft entscheidend gelichtet, nämlich bis auf die beiden Parteivorsitzenden Armin Laschet und Markus Söder.

Bereits das ist ein kleiner Erfolg der gesamten Union. Denn während sich andere, einst erfolgreiche konservative Parteien in Europa längst zerlegt haben und die US-Republikaner durch Trump in eine selbstzerstörerische Phase eingetreten sind, ist es der CDU bei dieser Wahl gelungen, das Schlimmste zu verhindern: den Verlust der für einen Wahlerfolg entscheidenden Integrationsfähigkeit in der gesellschaftlichen Mitte.

Diese Gefahr hatte einen Namen, Friedrich Merz. Völlig zu Recht fürchteten weite Teile der Parteiführung, dass er mit seiner enorm polarisierenden Art einen großen Teil der liberalen Mitte verprellen und damit den Wahlerfolg der Nach-Merkel-Union gefährden könnte. Die Devise war daher klar: „Keine Experimente, Laschet wählen“. Insofern war die Wahl des NRW-Ministerpräsidenten nicht zuletzt eine Verhinderungswahl eines Kanzlerkandidaten Merz als des Garanten massiver Disruption, in der Gesellschaft wie in den eigenen Reihen.

Die Richtigkeit dieser Überlegung bestätigte Merz umgehend selbst. Hatte er eben noch in seiner zum zweiten Mal „grottenschlechten“ Bewerbungsrede getönt, „ich bin nicht in eine Vermittlungsagentur für Regierungsämter eingetreten“, stellte er diese Behauptung nach seiner Niederlage glatt auf den Kopf – und forderte das Bundeswirtschaftsministerium. Und zwar subito, durch sofortige Entlassung Peter Altmaiers. Mit dieser schier aberwitzigen Volte – „Versagen muss sich wieder lohnen“ – erbrachte Merz erneut den Beweis, dass ihm der Dienst an der Partei ein Fremdwort ist und das Amt des Vorsitzenden nur als Steigbügel zum Erringen der Kanzlerkandidatur dienen sollte.

Umso erstaunlicher ist es, dass dem Egomanen aus dem Sauerland weiterhin die Herzen großer Teile der Partei zufliegen. Hier aber liegt die erste von drei schweren Hypotheken, die Armin Laschets Kanzlerkandidatur entgegenstehen. Sein knapper Wahlsieg mit nur 52,6 Prozent der Stimmen in der Stichwahl (und 38,3 im ersten Durchgang) zeigt: Der Aachener ist Vorsitzender einer Partei, die weiterhin hochgradig gespalten ist. Und diese Spaltung wurde durch seine Wahl, insbesondere durch den unfairen und strategisch desaströsen Auftritt von Jens Spahn in der Fragerunde, keinesfalls verringert. Im Gegenteil: Damit erweckte der Laschet-Partner den Eindruck, dass das „Establishment“ wieder einmal gegen den Kandidaten der Basis operierte (womit sich Spahn zugleich selbst aus dem Rennen um die Kanzlerkandidatur genommen hat).

Angeblich hagelte es nach Merz‘ Niederlage Parteiaustritte. Daran zeigt sich, dass offenbar noch immer eine erhebliche Entfremdung zwischen der Parteispitze und einem großen Teil der Parteibasis herrscht, die schier unbeirrbar zu Merz tendiert.

Herzensmensch oder Machiavellist

Der frisch gewählte Parteivorsitzende ist somit weit davon entfernt, Herr im eigenen Hause zu sein. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Merz später notgedrungen Laschet seine Unterstützung anbot, nach der kritischen Resonanz auf die eigene Maßlosigkeit. In einer Mail an alle Parteimitglieder forderte Merz diese fast gönnerhaft auf: „Wählen Sie Armin Laschet, damit er mit einem guten Ergebnis seine Arbeit aufnehmen kann.“ Die Betreffzeile allerdings – „#MerzMail: Ich mache weiter“ – mag für Laschet eher wie eine Drohung denn wie eine Verheißung klingen. Friedrich Merz, soviel steht fest, wird als Macht- und Unruhefaktor weiter eine maßgebliche Rolle in der Union spielen. Und ohne eine geschlossen hinter ihm stehende CDU hat Laschet keine Chance auf die Kanzlerkandidatur.

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Wann hätte die CDU bei Daimler nicht die Hände im Spiel gehabt ?

Dass Laschet nun den Integrator geben muss, der weiterhin um Merz und dessen Flügel buhlt, anstatt der enormen Brüskierung durch die Merz-Forderung nach dem Wirtschaftsministerium hart zu begegnen, verweist auf seine zweite Schwäche und Hypothek – sein eigenes Autoritätsdefizit, das sich nicht zuletzt in schwachen Umfrageergebnissen niederschlägt. Im vergangenen Jahr der Bewährung ist es Laschet nicht gelungen, Autorität zu generieren, im Gegenteil: Durch seine laxe Haltung zu Beginn der Coronakrise, die bis heute sein Ansehen in der Öffentlichkeit entscheidend prägt, hat er sein Image des jovialen lockeren Rheinländers in verheerender Weise bekräftigt, anstatt, wie es die Lage geboten hätte, gegen die Pandemie anzugehen und den umsichtigen Landesvater zu geben. Dadurch ist ein massiver Vertrauensverlust in der Bevölkerung entstanden – völlig ungeachtet der Tatsache, dass Laschet seinen Kurs im vergangenen halben Jahr erheblich verschärft hat.

Daran zeigt sich, wie schwer es für ihn werden wird, diesen einmal entstandenen Imageschaden nun wieder wettzumachen. Das Argument, dass auch Laschets Vorgänger als Parteivorsitzende, Helmut Kohl und Angela Merkel, lange Zeit unterschätzt wurden, verkennt das Entscheidende: Wofür Kohl und Merkel etliche Jahre brauchten, nämlich ihr Negativimage zu korrigieren, das muss Laschet nun binnen knapp zwei Monaten vollbringen – bis zu den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg am 14. März. Danach wird die Union unter dem Eindruck dieser beiden Wahlausgänge ihre Entscheidung über die Kanzlerkandidatur fällen. Bisher jedenfalls begeistert Laschet weder die eigene Partei noch die Gesamtbevölkerung. Nur wenn ihm bis März das Kunststück gelingt, sein Ansehen so zu verbessern, dass ihm in der gesamten Union eine reelle Siegchance im September eingeräumt wird, hat er eine Chance, zum Kanzlerkandidaten ernannt zu werden.

Das allerdings verweist auf seine dritte und schwerste Hypothek, nämlich auf Markus Söder – Laschets letzten noch verbliebenen Gegenspieler, dem genau ein derartiges Kunststück gelungen ist. Die Coronakrise wurde zum historischen Glücksfall für den Franken, der ihm die Chance zu einem perfekten Rollentausch bescherte.[1] Vom lange Zeit größten Merkel-Kritiker avancierte er förmlich zu deren Stalker. Als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz wich er, auch inhaltlich, bei keiner Pressekonferenz von der Seite der Kanzlerin. So wurde binnen eines Dreivierteljahres aus einem hoch unbeliebten Scharfmacher der beliebteste (männliche) Politiker des Landes, ein in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartiger Vorgang.

Söder ist damit ein machiavellistisches Meisterstück gelungen. Mit kaltblütiger Berechnung hat er seine Konkurrenten an die Wand gespielt. Zuerst traf es Armin Laschet, der von Söder ganz systematisch, durch ständige Provokationen und Vergleiche, in den Wettstreit um die beste Anti-Corona-Strategie getrieben wurde. Allerdings war Laschet auch so kurzsichtig, in diesen ruinösen Wettbewerb einzusteigen. Danach nahm sich Söder mit Jens Spahn den nächsten Konkurrenten vor. Weil der Gesundheitsminister immer stärker als potentieller Kanzlerkandidat gehandelt wurde, attackierte Söder ihn frontal wegen der zu geringen Bestellung von Impfdosen. Und in der Auseinandersetzung zwischen Merz und Laschet baute Söder über Wochen ganz gezielt den zuvor von ihm demontierten Laschet wieder auf, weil er einen Parteivorsitzenden Merz unbedingt verhindern wollte – auch weil dieser mit Sicherheit nicht auf die Kanzlerkandidatur verzichtet hätte. Durch den Ausgang des CDU-Parteitags ist Söders Rechnung grandios aufgegangen: Zwei Konkurrenten, Spahn und Merz, sind erledigt (Röttgen war nie einer), bleibt nur noch Laschet.

Söder ist ein machiavellistisches Meisterstück gelungen.

Quelle        :         Blätter         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —       Dr. Markus Söder (CSU), Bayerischer Ministerpräsident, informiert auf einer Pressekonferenz über die Ergebnisse einer Sitzung des CSU-Vorstands. Titel des Werks: „Der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU)“

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Militärputsch in Myanmar

Erstellt von Redaktion am 4. Februar 2021

Im Namen der Stabilität

Abgesetzte Staatsrätin Aung San Suu Kyi (links) und General Min Aung Hlaing (rechts)

Von Judith Beyer

Mit Trommelschlägen protestieren die Leute in Myanmar gegen das Militär. Oppositionelle senden per Hashtag Hilferufe ans Ausland.

Am 1. Februar nahm die Stabsstelle des obersten Militärkommandeurs in Myanmar Stellung zum in der Nacht ausgerufenen einjährigen Notstand. In der Mitteilung heißt es unter anderem, man werde „den ewigen Frieden im ganzen Land wiederherstellen“. Wenn dieses Ziel erreicht sei, werde man „freie und faire Wahlen“ abhalten und im Einklang mit demokratischen Prinzipien der siegreichen Partei die Staatsmacht übergeben. General Min Aung Hlaing hat seither die Befehlsgewalt inne.

Man habe im Einklang mit Artikel 417 der Verfassung gehandelt, demnach kann jedoch nur der Präsident des Landes den Notstand ausrufen – dieser wurde jedoch gemeinsam mit der Staatsrätin und Parteivorsitzenden der National League for Democracy (NLD), Aung San Suu Kyi, noch in der Nacht verhaftet. Währenddessen war das Internet zeitweise landesweit ausgeschaltet und auch Telefonverbindungen funktionierten nicht mehr. Der internationale Flugverkehr wurde eingestellt.

Gemeinsam mit dem Präsidenten und der Staatsrätin wurden weitere Hunderte BürgerInnen verhaftet, die in der Nacht aus ihren Häusern geholt wurden. Festgesetzten Staatsbediensteten sagte man unter der Bedingung eine Freilassung zu, dass sie an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten und ab jetzt unter dem Militär arbeiteten.

Die Reaktionen der Menschen im Land, die nach außen dringen, zeugen von Enttäuschung und Trauer bis hin zu Wut und Sarkasmus – die promilitärischen Demonstrationen und Autokorsos, die es auch gibt, scheinen stark inszeniert. Viel zu verhalten reagieren die Asean-Partner Myanmars: Die meisten Mitgliedstaaten des Bündnisses zogen es vor, die Situation in Myanmar als „interne Angelegenheit“ zu betrachten.

Inszenierte promilitärische Demonstrationen

China, dessen Staatspräsident erst im Januar in der Hauptstadt Naypyidaw war, um zahlreiche bilaterale Verträge abzuschließen, verkündete, man habe „bemerkt“, was in Myanmar geschieht, und appelliere an die Einhaltung „politischer und sozialer Stabilität.“ Stabilität ist jedoch eine Vokabel, die nicht unbedingt mit der Achtung demokratischer Prinzipien einhergehen muss. Im Kontext von Myanmar ist sie vor allem durch die Militärregierungen geprägt.

Ein Rückblick auf 2007

Noch bis 2010 waren im ganzen Land rote Propagandatafeln aufgestellt, auf denen man „Das Begehren des Volkes“ in vier Parolen zusammenfasste. „Stellt euch gegen jene, die die Stabilität des Staates und den Fortschritt der Nation gefährden“, hieß es dort. Diese Rhetorik findet sich ebenfalls wieder in Reden der bis zuletzt amtierenden Regierung Aung San Suu Kyis.

Im Dezember 2019 erklärte die Staatschefin vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, bei dem Myanmar wegen des Genozids an den staatenlosen Rohingya angeklagt worden war, die Aufarbeitung der Verfolgung zur internen Staatsangelegenheit. Für die nationale Stabilität sei es wichtig, betonte sie, jegliche Einmischung von außen zu unterlassen.

Im Namen von Stabilität können in Myanmar somit nicht nur Repressionen und Staatsstreiche, sondern auch ein kürzlich erfolgter Genozid gerechtfertigt werden. Dem Militär ist durchaus zuzutrauen, die momentane Lage eskalieren zu lassen, um unter Berufung auf Stabilität wieder für „Recht und Ordnung“ zu sorgen. Die Möglichkeiten der internationalen Gemeinschaft, hier zu vermitteln, sind begrenzt. Westliche Staaten haben in Myanmar grundsätzlich weniger Einfluss als die asiatischen Nachbarstaaten.

Quelle        :          TAZ          >>>>>       weiterlesen

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Der Nawalny Coup

Erstellt von Redaktion am 29. Januar 2021

Fragen zu Nawalny’s Coup

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Kai Ehlers

Unruhen in Russland nach Alexei Nawalny‘s Rückkehr. Die Kommentare schwanken zwischen Bewunderung für den Coup, mit dem er Putin herausgefordert habe, Mitleid für das Selbstopfer, indem er sich der zu erwartenden Inhaftierung ausgesetzt habe, und Hoffnung auf die Initialzündung  für eine „demokratische Revolution“ als Reaktion auf seine „Enthüllungen“. Eine Welle des Hohns schwappt zudem aus westlichen Zuschauerlogen über den „Zaren“ Putin, dem als Zepter eine vergoldete Klobrille entgegengehalten werde.

Was ist die Basis dieser Inszenierung? Was bleibt? Wem nützt sie? Lassen wir überflüssige Einzelheiten beiseite, versuchen wir das Wichtigste zu sortieren.

Zunächst: Es ist Nawalny gelungen, eine in Teilen der Bevölkerung vorhandene latente Unzufriedenheit zu aktivieren. Im Ausmaß der Demonstrationen, die seinem Aufruf folgten, bekommen die Ereignisse der letzten Jahre eine neue Dimension: die Proteste gegen Wahlfälschungen, gegen die Rentenkürzungen, gegen die Verfassungsänderungen 2020, gegen die willkürlichen Absetzungen regionaler Gouverneure… zugespitzt dies alles durch die wirtschaftlichen und persönlichen Einschränkungen im Zuge der Corona-Krise.

Außer Empörung über Korruption, angeheizt durch Nawalny’s Video über Putins „Schloß“, die in der Forderung „Putin muss weg“ zusammenliefen gab es jedoch keine weiter tragenden Alternativen. Es bleibt ein inhaftierter Nawalny, um den herum sich eine „Freiheit für Nawalny“-Bewegung bilden kann. Das erinnert fatal an einen inzwischen fast vergessenen Vorgang in der Bundesrepublik Deutschland der 70er Jahre, als sich um den verhafteten Kern der RAF-Gründer eine Befreiungsbewegung bildete, die in toten Gefangenen ihren Höhepunkt fand. Sie hatten zuvor erklärt, dass sie sich nicht selbst töten würden. Man fühlt sich daran erinnert, wenn Nawalny jetzt versichert, dass er sich nicht selbst töten werde.

Was also kann sich aus dieser Situation entwickeln? Kann die herausgeforderte Staatsmacht Nawalny aus der Haft entlassen? Wohl kaum. Das Risiko, dass auf einen in die Freiheit entlassenen Nawalny, erneut ein Anschlag verübt wird, wäre zu groß. Ein solcher Anschlag würde mit Sicherheit wieder Putin angelastet. Es bleibt der Staatsmacht nur Nawalny in Haft zu halten. Folge davon wäre jedoch mit ebenso großer Sicherheit eine Radikalisierung  der Bewegung für die Befreiung Nawalny’s und weitere Kritik, Sanktionsdrohungen und ähnliches aus dem Ausland. Es bleibt der Staatsmacht eigentlich nur – wie Kommentatoren bereits unken, Nawalny nach einem politischen Prozess des Landes zu verweisen.

Fragt sich also, wem diese ganze Inszenierung letztendlich nützt. Das ist die komplizierteste Frage. Die inzwischen schon routinemäßige Antwort darauf, lautet natürlich, sie nütze dem Westen, der schon lange eine Farbrevolution in Russland nach dem Muster der Ukraine befeuern möchte. Diese Annahme ist mit Sicherheit Teil der Wahrheit, allein schon dadurch, das der Anti-Korruptions-Fonds Nawalny’s vom Ausland finanziert wird, dass und wie Nawalny nach seiner Vergiftung in Deutschland versorgt wurde, bis dahin, dass er noch während seiner Zeit als Rekonvaleszent hierzulande in einem Schwarzwaldstudio seinen Film über das angebliche Schloß Putins mit großem technischen Aufwand herstellen konnte.

Aber aus all dem folgt selbstverständlich keineswegs zwingend, dass „der“ Westen der unmittelbare Anstifter der jetzigen Unruhen ist. Näher liegt die Beobachtung, dass ihm die in den Westen exilierten russischen Oligarchen sofort mit öffentlichem Beifall zur Seite sprangen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Kräfte aus dem Lande selbst daran interessiert sein könnten, Putin zu schwächen. Der Verdacht liegt nahe, dass schon der Mordanschlag wie auch alle darauf folgenden Etappen dieser Geschichte einer Regie aus dem Lande selber folgen, wenn man bedenkt, dass Putin selbst – bei seiner öffentlich bekannten Gegnerschaft zu Nawalny – keinerlei Interesse haben konnte, sich  dem Verdacht auszusetzen, ein staatlicher Mörder zu sein und wenn man bedenkt, wie viele Personen und Gruppen Grund hätten, Nawalny zum Schweigen zu bringen – ohne dass man jetzt an dieser Stelle über einzelne Namen spekulieren müsste.

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Wichtig aber ist beim Stand der Dinge sich zu erinnern, dass schon seit geraumer Zeit die Frage vor der russischen Gesellschaft steht, was nach Putin kommen werde, dass Putin es für notwendig hielt, sich bis 2036 das Amt des Präsidenten offen zu halten, sofern er darin bestätigt würde, dass er sich im letzten Jahr eine Immunität nach Verlassen des Amtes zusichern ließ. Dies alles, wie auch die unübersehbare Dezentralisierung von Befugnissen im Zuge der Corona-Krise verweist deutlich auf Befürchtungen Putins, der Konsens, auf dem er die Stabilität des Landes schaffen konnte, könnte gefährdet sein.

Der Inhalt dieses Konsenses ist ein doppelter: Zum einen ein Stillhalteabkommen zwischen den Teilmächten des Landes – den Oligarchengruppen, den Macht-Organisationen des Landes wie Geheimdiensten und Militär und den regionalen Machthabern. Wenn eine dieser Gruppen ausschert, ist die Einheit des Landes nicht mehr zu halten. Zum Zweiten der soziale Kompromiss zwischen Führung und Bevölkerung, der darin besteht, dass die Bevölkerung sich nicht um Politik kümmert, solange die Politik eine wirtschaftliche Stabilität, zumindest die Aussicht auf Stabilisierung halten kann. Dieser doppelte Konsens ist in den letzten Jahren, insonderheit durch das letzte Jahr unter Corona-Bedingungen, unter Druck geraten.

Was folgt daraus für den Charakter der gegenwärtigen Proteste? Markieren sie einen Aufbruch zu einer Demokratisierung der Gesellschaft, die sich unter dem Druck der nachwachsenden Generation von einer vorübergehend notwendigen autoritären Phase der Modernisierung emanzipieren will, wie die russische Linke es hofft? Oder führen sie zu einer Rückkehr in ein oligarchisches System, vergleichbar den ukrainischen oder Belorussischen Verhältnissen, durch Wechsel in den Etagen der Macht? Fragen dieser Art rücken mit Nawalny’s Coup aus dem Untergrund auf die offene politische Bühne.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

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Oben        —   Встреча с избирателями на выборах мэра Москвы 2013 года

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Gewaltszenarien in den USA

Erstellt von Redaktion am 27. Januar 2021

Systemwechsel statt Bürgerkrieg

Von Bettina Gaus

Der Rechtsruck bei den US-Republikanern hat nicht mit Donald Trump begonnen. Ein Klima der Einschüchterung prägt die Partei.

Je dramatischer die Worte, desto tiefer die Erschütterung. Der Wunsch, diesen Eindruck zu erwecken, hat schon zu vielen sprachlichen Fehlgriffen geführt. Wie sich derzeit am Beispiel der USA zeigt. Ob Bürgerkrieg, Aufstand oder Putsch: Kein Begriff schien in den letzten Tagen zu vollmundig, um die Lage dort zu beschreiben – in Kommentaren und Moderationen innerhalb und außerhalb des Landes. Falsch sind diese Begriffe allesamt.

Nein, die Vereinigten Staaten stehen nicht am Rande eines Bürgerkrieges, und es droht dort auch kein Putsch. Das ist jedoch keineswegs beruhigend. Denn die Demokratie in den USA ist tatsächlich gefährdet. Allerdings aus Gründen, die nicht in eine knappe Überschrift passen.

Beispiel Bürgerkrieg. Ein solcher setzt in einem modernen Staat voraus, dass – mindestens – eine von zwei Voraussetzungen erfüllt ist: ein Machtkampf innerhalb der Armee, möglichst zwischen annähernd gleich starken Kräften, oder ausländische Militärhilfe in nennenswertem Umfang für diejenigen, die einen Umsturz planen. Von beidem kann in den USA keine Rede sein.

Kaum eine andere Institution genießt vergleichbar hohe Anerkennung über Parteigrenzen hinweg wie das US-Militär – und zwar unabhängig davon, wie die Mehrheit der Bevölkerung zu einem konkreten Kriegseinsatz im Ausland steht. Ein Dienst an der Waffe gilt als patriotisch, und Patriotismus ist ein in den USA durchweg positiv besetzter Begriff. Hinzu kommt, dass die Armee besonders viele Chancen für Integration und Aufstieg bietet. Auch das bindet widerstreitende Kräfte innerhalb einer Gesellschaft.

Rechtsextremisten bekämpfen

Ja, es gibt Rechtsextremisten in der US-Armee – ebenso wie in vielen anderen Organisationen. Übrigens gibt es die auch in der Bundeswehr. So schräg der Vergleich in vielerlei anderer Hinsicht wäre, so stimmig ist er in dieser: Rechtsextremismus zu tolerieren birgt zum einen die Gefahr, dass er sich ausbreitet. Und zum anderen die, dass Waffen und anderes Material für Anschläge entwendet werden. Deshalb muss er bekämpft werden.

Weiter gehende Fantasien wären jedoch absurd. Die Gebirgsjäger werden nicht demnächst mit Waffen im Anschlag die Zufahrt zur Feldherrnhalle in München kontrollieren, die Infanterie bewacht nicht den Kurfürstendamm – und die US-Armee wird sich nicht über den Potomac hinweg beschießen. Wenn es in der gegenwärtigen Krise der Vereinigten Staaten lediglich darum ginge, derlei zu verhindern: Sie wäre bereits bewältigt. Rechte Milizen könnten gar nicht so schnell unter ihre Betten kriechen, wie sie das gerne täten, wenn das US-Militär sich ernsthaft räusperte.

Aber es geht eben nicht alleine darum. Nicht nur um Bürgerkrieg und nicht nur um das Militär und andere Sicherheitskräfte, wenn von politischer Gewalt in den USA die Rede ist. Ohne Mühe vorstellbar, sogar wahrscheinlich, sind Szenarien, in denen Leute ermordet werden, die von Rechtsextremisten als Feinde betrachtet werden. In denen Läden geplündert, Autos angezündet und Städte insgesamt „unsicher gemacht“ werden. Derlei genügt, um die Bevölkerung zu verstören. Und das politische und zwischenmenschliche Klima zu vergiften. Schlimm genug.

Institutionen funktionieren

Aber wenn das halbleere Glas als halbvoll beschrieben werden soll, dann lässt sich im Hinblick auf die USA in den vergangenen Tagen und Wochen sagen: Die Institutionen haben funktioniert. Die Gerichte haben Recht gesprochen, und zwar unabhängig davon, ob Richterinnen und Richter von Donald Trump ins Amt berufen worden waren oder nicht. Die Wahlaufsicht in den einzelnen Bundesstaaten hat ihre Aufgabe erfüllt. Zur Lichtgestalt wurde Brad Raffensperger, Innenminister von Georgia, der schamlosen Drohungen von Präsident Donald Trump standgehalten hat. Wäre er allerdings alleine und nicht einer von vielen, dann gäbe es kein brauchbares Wahlergebnis. Das alles ist nicht wenig.

Wenn das halbvolle Glas hingegen als halbleer beschrieben werden soll, dann muss festgestellt werden, dass die Sicherheitskräfte auf gewaltsame rechtsextreme Demonstrationen unfassbar schlecht vorbereitet waren. Schlimmer noch: Die Anzeichen mehren sich, dass zumindest einige Sicherheitskräfte gemeinsame Sache mit den Demonstranten gemacht oder diese wenigstens augenzwinkernd haben gewähren lassen. Möglicherweise waren sogar Kongressmitglieder den Gewalttätern behilflich.

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LINKE Sicherheitspolitik

Erstellt von Redaktion am 27. Januar 2021

 Für Aufrüstung und Krieg?

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Quelle    :    AKL

Erklärung des BSpR der AKL zu dem Papier „Linke Sicherheitspolitik“ von Matthias Höhn.

Der sicherheitspolitische Sprecher der Linke-Bundestagsfraktion, Matthias Höhn, unternahm einen erneuten Versuch, die friedenspolitischen Positionen der LINKEN zu schleifen. Unter dem Titel »Linke Sicherheitspolitik« ein »Diskussionsangebot« veröffentlichte er ein Papier, über das zuerst Der Spiegel online berichtete. Obwohl er also angeblich eine Diskussion in der Partei anstoßen will, werden zunächst bürgerliche Medien informiert, die ein Interesse daran haben, die konsequenten Antikriegspositionen der LINKEN zu ändern. Höhn stellt mit seinem Papier die programmatischen Positionen der Partei zu Rüstung und Krieg, zur Fortsetzung imperialer Politik durch militärische Interventionen kurzerhand auf den Kopf.

Wenn Matthias Höhn meint, dass „die heutige Situation kaum vergleichbar ist mit 2007, als sich DIE LINKE gründete, oder mit 2011, als sie ihr bis heute geltendes Programm formulierte“, kann man ihm insofern zustimmen, dass sich vieles verändert hat und die Gefahr weltweiter Kriege und auch die Gefahr eines Atomkrieges zugenommen hat. Aber Höhn zieht nicht die Konsequenz, gerade deshalb weltweite Abrüstung und den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland zu fordern.

In seinem Papier bezieht er sich völlig unkritisch auf einen angeblichen „Münchener Konsens“, in dem 2014 Bundespräsident, Außen- und Verteidigungsminister*in meinten, „mehr Verantwortung“ in der Welt übernehmen zu müssen. DIE LINKE hat diesen Kurs von Anfang an kritisiert und wir sehen, wohin dies geführt hat. Die deutschen Verteidigungsausgaben stiegen massiv an und werden 2021 nach NATO-Kriterien über 53 Milliarden Euro betragen. Die Friedensbewegung hat wegen dieser Aufrüstungspolitik unter dem Motto „Abrüsten statt Aufrüsten“ am Tag der Verabschiedung des Kriegsetats bundesweit protestiert und fordert Investitionen in Gesundheit, Bildung und Klimagerechtigkeit. Die Bundeswehr beteiligt sich innerhalb der NATO und der EU am Aufmarsch gegen Russland und soll nach Kramp-Karrenbauer auch im Pazifik eine militärische Rolle spielen.

Wie ein Mitglied der LINKEN in diesem Zusammenhang schreiben kann, „solange die Linke keine kurzfristige Auflösung der Bundeswehr fordert, sondern richtigerweise auf eine Neudefinition ihrer Aufgabe orientiert (keine weltweiten Kriegseinsätze, Konzentration auf die Landesverteidigung, Umbau auf defensive Fähigkeiten…), muss sie auch in der Lage sein zu definieren, welche Mittel sie dafür aufwenden will. Das bleibt bisher jedoch eine Fehlstelle. In den zurückliegenden Legislaturperioden hat die Linksfraktion nahezu keiner Beschaffung für die Bundeswehr, von der persönlichen Ausrüstung bis zum Kampfflugzeug, zugestimmt. Diese pauschale Ablehnung ist kein sicherheitspolitisches Konzept. Und sie zwängt uns argumentativ ein – zwischen nachvollziehbaren Sicherheitsinteressen der Bürgerinnen und Bürger einerseits und den Szenarien der Großen Koalition andererseits, die den Verteidigungsetat bis 2030 auf über absurde 80 Milliarden Euro anheben will, “ ist völlig unverständlich bzw. spricht linken Positionen Hohn.

Statt zwei Prozent des BIP fürs Militär schlägt Höhn ein 1-plus-1-Prozent-Ziel vor. Wie sollen wir diesen Irrsinn denn verstehen? Sind 1 plus 1 nicht immer noch zwei? Das 2-%-Ziel wird akzeptiert, er will „zwei Prozent in Sicherheit investieren“, allerdings ein Prozent „in die wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit sowie mehr Konflikt- und Krisenprävention“. Entwicklungszusammenarbeit bedeutet aber unter neoliberalen Vorzeichen, Strukturanpassungsmaßnahmen in Form von Privatisierungen von Staatsbetrieben, Abbau sozialer Leistungen und Freihandel also freie Fahrt für die Waren der Industrienationen. Matthias Höhn will einen „Schwerpunkt auf Landesverteidigung, Reduzierung der Sollstärke auf 150.000 Soldatinnen und Soldaten bei gleichzeitiger Integration in europäische Strukturen“. Also es soll auf einmal linke Politik sein, sich für eine gute Ausstattung der Bundeswehr mit Waffen und modernem Gerät und für eine Europäisierung der Außen- und Sicherheitspolitik einzusetzen? Das 2-%-Aufrüstungsziel der NATO wird vom DGB und seinen Einzelgewerkschaften sowie der Friedensbewegung seit Jahren mit einer guten Kampagne kritisiert. DIE LINKE unterstützt diese Kampagne und ist Teil davon.

Die Konflikte unter den Großmächten, insbesondere zwischen den USA und Russland sowie China nehmen spürbar zu. Und Deutschland und die EU möchten als globale Player mit dabei sein. Es geht um Rohstoffe, um Absatzmärkte und die Sicherung von Handelswegen und zunehmend auch um die Führungsrolle bei High-Tech-Geopolitik. Matthias Höhn schlägt als Alternative vor: „Die EU muss sich als politische Akteur mit eigenständigen Interessen, Zielen und Werten verstehen und auch als solcher agieren. Dies kann und wird immer wieder zu Interessenkonflikten, auch mit den Vereinigten Staaten, führen. Wer Sicherheitspolitik im europäischen Interesse und aus europäischer Perspektive machen will, kommt darum nicht herum. Für die Linke folgt daraus die Aufgabe, sich ernsthaft über Ziele und Mittel einer europäischen Sicherheitspolitik zu verständigen.“

Für Höhn scheint die EU frei von imperialen Interessen sein. Das Gegenteil ist der Fall. DIE LINKE hat dazu in ihrem Programm festgestellt, dass sich linke Kritik an den Vertragsgrundlagen der EU „gegen die in diesem Vertragstext enthaltenen Aussagen zur Militarisierung der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gegen die Grundausrichtung der EU an den Maßstäben neoliberaler Politik, gegen den Verzicht auf eine Sozialstaatsklausel, gegen die angestrebte Art der verstärkten Zusammenarbeit der Polizei- und Sicherheitsdienste sowie gegen das weiter bestehende Demokratiedefizit in der EU und ihren Institutionen“ richtet.   Als Antikapitalistische Linke können wir nur feststellen, dass diese Aussagen in unserem Grundsatzprogramm bei weitem nicht überholt sind, sondern sich ihre Richtigkeit in der aktuellen Politik der EU ständig bestätigt.

Die EU ist ein Zusammenschluss imperialistischer Staaten wirtschaftlich unterschiedlicher Stärke. Und gerade Deutschland als wirtschaftlich starke Exportmacht gibt in der EU den Ton an und möchte in und mit der EU insbesondere mit den USA oder auch China mithalten und global mehr Einfluss nehmen. Es gibt eine ganze Reihe von sicherheitspolitischen EU-Dokumenten, in denen militärische Interessendurchsetzung ganz oben auf der Agenda steht. Da ist zum einem die EU-Globalstrategie, in der Interessen bis nach Zentralasien und Zentralafrika und der Schutz von Handelswegen vom Indischen Ozean bis hin zum Südchinesischen Meer und der Straße von Malakka und auch im Mittelmeer aufgelistet sind. Ein Schritt für die Aufrüstung der EU war 2017 die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit PESCO“. Sie bindet 25 teilnehmende EU-Staaten an die Einhaltung zahlreicher Aufrüstungskriterien und länderübergreifender Militärprojekte. Finanziert werden diese durch den Europäischen Verteidigungsfonds, mit dem ein europäischer rüstungsindustrieller Komplex finanziert werden soll. PESCO war auch der Start für die Finanzierung von Militärausgaben durch den EU-Haushalt. Das war bis dahin vertraglich ausgeschlossen.

Sicherheit ist nach Höhn nicht durch Abrüstung und die Beendigung aller Auslandseinsätze sprich Kriege zu erreichen, sondern durch den Aufbau von Vertrauen. „Wichtige Pfeiler internationaler Rüstungskontrolle kamen ins Wanken oder sind bereits eingerissen“, schreibt er. Kein Wort davon, dass die Kündigungen von Kontrollabkommen ausschließlich von den USA und ihrer aggressiven Außenpolitik ausgingen. Aus linker Sicht sei es unerlässlich, auf klaren völkerrechtlichen Regeln zu beharren. Um dann zu dem Schluss zu kommen, „dass ein kurzfristig erklärter Austritt Deutschlands aus dem Verteidigungsbündnis… kein Beitrag zur Stabilisierung wäre“. Allein die Wortwahl verrät schon den Verrat, die NATO ist kein Verteidigungs- sondern ein Kriegsbündnis, dass weltweit Kriege anzettelt und einen Bündnisfall für gemeinsame Verteidigung sprich Kriegseinsätze vorsieht.

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Höhn stellt so das Programm der LINKEN massiv in Frage, in dem klar beschlossen wurde, „Unabhängig von einer Entscheidung über den Verbleib Deutschlands in der NATO wird DIE LINKE in jeder politischen Konstellation dafür eintreten dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird“.

Im Spätsommer sind Bundestagswahlen. Matthias Höhn will ganz offensichtlich kurz vor dem Wahlparteitag im Juni 2021 erneut wie bereits Dietmar Bartsch und Gregor Gysi die friedenspolitischen Positionen der LINKEN schleifen und eine Braut für eine rot-rot-grüne Koalition schmücken. Ganz abgesehen davon, dass die Optionen für eine R2G-Koalition gerade schlecht aussehen, noch eine neoliberal gewendete Partei braucht kein Mensch. DIE LINKE ist noch die einzige Partei, die konsequent gegen alle Auslandseinsätze der Bundeswehr und gegen jegliche Aufrüstung eintritt.

Matthias Höhn kandidiert auf dem kommenden Bundesparteitag als stellvertretender Parteivorsitzender. Ein Kandidat, der das Programm der Partei in Frage stellt und behauptet, die Partei vermeide aus Bequemlichkeit eine Diskussion über wichtige Leitsätze zu Krieg und Frieden, der sollte die Partei wechseln. Bei den B90/DIE GRÜNEN wäre er damit gut aufgehoben. Als stellvertretender Parteivorsitzender einer Friedenspartei ist er nicht wählbar!

Die große Mehrheit der Partei steht zu den friedenspolitischen Positionen der Partei. Gleich nach der Veröffentlichung dieses vergifteten Diskussionsangebotes hagelt es Kritik aus allen Teilen der Partei. Von Bernd Riexinger und Özlem Alev Demirel über Tobias Pflüger, Ulla Jelpke und Thies Gleiss wird eine Veränderung des Programms strikt abgelehnt. Und auch aus der Friedensbewegung kam sofort ein Aufschrei, wären dies die Positionen der LINKEN, würde sie jeglichen Anspruch verlieren, eine Friedenspartei zu sein. DIE LINKE scheint noch nicht verloren. Eine konsequente Friedenspartei wird dringender denn je gebraucht.


Grafikquelle      :

Oben       —     Celebration of the left-wing party in the Berlin Kulturbrauerei. Matthias Höhn.

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Retourkutsche für die USA

Erstellt von Redaktion am 8. Januar 2021

Die US-“ Scheiße“ aus der Sicht des „Shitholes“ der Welt

Von Dominic Johnson

Gerne erklären die USA anderen Ländern Demokratie. Nach der gewalttätigen Erstürmung des Kapitols muss sich Washington nun selbst etwas anhören.

In vielen Staaten auf der Welt gehört der robuste Umgang mit gewählten Parlamenten zum politischen Alltag. Dann gibt es aus Washington Demokratielektionen – oder Beschimpfungen, wie der berühmte „Shit­hole“-(Drecksloch)-Kommentar Donald Trumps über Afrika. Für die Betroffenen bieten die Ereignisse in Washington nun reichlich Gelegenheit für Retourkutschen.

Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu rief „alle Parteien“ in den USA zu „Mäßigung und gesundem Menschenverstand“ auf und verlangte eine „ruhige und rechtsstaatliche Lösung der Probleme“. Der südafrikanische Oppositionspolitiker Mmusi Maimane forderte die USA auf Twitter auf, „die Demokratie und den Rechtsstaat zu achten und eine friedliche Machtübergabe zuzulassen“, und schlug ein Protestschreiben der Afrikanischen Union vor.

Direkter war die Zeitung Le Pays in Burkina Faso – wo 2014 ein Volksaufstand gegen eine Diktatur zum Erfolg führte, indem junge Demonstranten das Parlament verwüsteten. „Wenn Scheiße sich über ‚shitholes‘ lustig macht“, titelte das Blatt jetzt und analysierte: „Die Lehrer der Demokratie sind schlechte Schüler.“ Dennoch seien die USA „ein wahrhafter Tempel der Demokratie, in dem die Abwege eines Einzelnen nicht das ganze demokratische System erschüttern können“.

TAZ-online

Bloß noch ein Feindbild

Angriffe auf Journalist*innen am Kapitol

Die Aggressionen der Rechtsextremen gegen Medienvertreter*innen in Washington geben eine ioAussicht auf das Erbe der Trump-Ära.

„Murder the Media“ hat jemand in den Lack einer Tür zum Capitol geritzt. „Ermordet die Medien“. Egal ob die Person ein Messer hatte oder den Schlüsselbund nahm: So etwas zu ritzen dauert seine Zeit. Jemand hat sich also in dem Gemenge der Krawalle in Washington D. C. am Mittwoch tatsächlich ein paar Minuten genommen, um ganz in Ruhe diese Botschaft in der elfenbeinfarbenen Flügeltür zu hinterlassen.

Capitol at Dusk 2.jpg

So ein Spruch mag erst mal niemandem wehtun, aber er fasst zusammen, was der Trumpismus hinterlässt: einen diffusen, gewaltvollen Hass auf „die Medien“. Für diejenigen, die am Mittwoch in den Sitz des US-Kongresses eingedrungen sind, gibt es keinen Unterschied zwischen den politischen Insti­tutionen und den Sendern und Zeitungen, die sie abbilden. Für die Rechtsextremen sind das beides Symbole von Autorität, an denen man lustvoll die eigene Wut und Aggression auslässt.

Mehrfach traf diese Aggression am Mittwoch auch Jour­nalis­t*in­nen. ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen geriet in eine Situation, in der Rechtsxtreme ihn und andere Medien­ver­trete­r*innen offenbar umringten und ihnen Equipment entwendeten, um es gewaltvoll zu zerstören. Übertragungsmaterial und Videotelefone seien zertrümmert worden, teilt das ZDF mit, im Schaltraum seien Drohanrufe eingegangen.

Eine Art Scheiterhaufen aus TV-Ausrüstung ist in mehreren Videos und Fotos dokumentiert. Ein Buzzfeed-Korrespondent spricht von einer „Schlinge“, die jemand aus einem Kamera­kabel geknotet und an einem Baum befestigt habe. Ein verstörendes Video eines Bloomberg-Reporters zeigt, wie eine Gruppe Medien­vertreter*innen gewaltvoll zurückgedrängt werden. Die aufgeheizten Männer, von denen einer den Ständer seiner Flagge nach den Jour­nalis­t*in­­nen schwingt, scheinen Verletzungen bei diesen in Kauf zu nehmen. Sie existieren nicht mehr als Personen, nur noch als Feindkonzept.

TAZ-online 

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Grafikquellen         :

Oben        —       Simulation eines nichtrotierenden Schwarzen Lochs von 10 Sonnenmassen, wie es aus einer Entfernung von 600 km aussähe. Die Milchstraße im Hintergrund erscheint durch die Gravitation des Schwarzen Lochs verzerrt und doppelt. Die Bildbreite entspricht einem Blickwinkelbereich von etwa 90°.

Ute Kraus, Physikdidaktik Ute Kraus, Universität Hildesheim, Tempolimit Lichtgeschwindigkeit, (Milchstraßenpanorama im Hintergrund: Axel Mellinger) – Galerie von Tempolimit Lichtgeschwindigkeit

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Unten      —       US Capitol at dusk as seen from the eastern side

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Gier vieler Deutschen?: Krieg

Erstellt von Redaktion am 5. Januar 2021

Eine untilgbare Konsequenz aus deutscher Schuld

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Von Gregor Schirmer

Warum die Linke bei der strikten Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr bleiben muss.

Je näher die nächste Bundestagswahl rückt, umso höher werden die Wogen der Diskussion über ein altes, aber nicht erledigtes Thema schlagen: Wie hält es die Linke mit den Einsätzen der Bundeswehr im Ausland? Nach heftigen Diskussionen hat sich die Linke 2011 in ihrem Erfurter Programm zu einer eindeutigen Position durchgerungen: Verzicht auf jegliche Beteilung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen gleich welcher Art und unabhängig davon, ob ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats vorliegt oder nicht, sowie Heimholung der fast 1300 Bundeswehrangehörigen aus den laufenden Einsätzen.

Bei dieser Position muss es bleiben. Der Verzicht ist eine untilgbare und unverjährbare Konsequenz aus der Schuld des faschistischen Deutschlands an den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs mit 70 Millionen Kriegstoten und den wahrscheinlich 100 Millionen weiteren Todesopfern des faschistischen deutschen Mordregimes. Die Zahlen sind so ungeheuerlich, dass es eigentlich keiner weiteren Begründung für die Forderung nach rigoroser militärischer Enthaltsamkeit der BRD bedarf. Deutschland soll seiner gewachsenen Verantwortung für den Frieden nicht mit Waffengewalt, sondern mit dem Einsatz seines großen zivilen Potenzials nachkommen, die Bundeswehr in einem stark abgerüsteten Zustand zu Hause lassen und für den völlig unwahrscheinlich eintretenden Fall der Landesverteidigung sowie für solidarische Hilfe in Natur- und anderen Katastrophen bereithalten sowie im Übrigen die Rolle eines Kriegsdienstverweigerers aus historischen und politisch-moralischen Gründen übernehmen.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das Töten von Menschen in Kriegen und anderen militärischen Auseinandersetzungen zwischen und zunehmend auch innerhalb von Staaten nicht aufgehört und das geht täglich weiter: Im Jahr 2019 wurden 23 Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen gezählt. Die Zahl der Todesopfer durch Waffengewalt seit 1945 liegt wahrscheinlich in der unfassbaren Größenordnung von Dutzenden Millionen Menschen.

Der Hauptschuldige dafür hat einen Namen: Imperialismus. Der Vietnam-Krieg hat, einschließlich der Toten in Laos und Kambodscha, 7 bis 8 Millionen Menschen den Tod gebracht, der Koreakrieg etwa 4,5 Millionen. Eine einigermaßen zuverlässige Schätzung der Gesamtzahl der Todesopfer der fortdauernden kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan seit dem Umsturz von 1978 bis heute gibt es bisher nicht. Sie liegt wahrscheinlich bei mehreren Millionen. Man darf natürlich die Todesopfer aus Naturkatastrophen und Seuchen nicht vergessen, Krisenzustände, bei deren Bewältigung auch die Bundeswehr helfen könnte.

Die Corona-Pandemie hat bisher eineinhalb Millionen Menschen den Tod gebracht. Allein in den Jahren 2006 bis 2018 betrug die Zahl der Todesopfer durch Terrorismus betrug ast 33 000. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO und des früheren UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler gibt es täglich Zehntausende Hungertote auf der Erde; jedes vierte Opfer ist ein Kind unter fünf Jahren. Es gibt noch vieles auf zivilen Wegen und mit zivilen Mitteln zu unternehmen, um die Zahl der Todesopfer zu minimieren. Das Töten von Menschen in Kriegen und zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten muss endlich aufhören. So wollen es auch die UN-Charta und das deutsche Grundgesetz.

Feierliches Gelöbnis.jpg

Ein Lied zwei, drei – wir werden niemals auseinander gehen,
und wenn wir uns in China sehen.

Die deutsche Linke darf bei Strafe ihres Untergangs nicht den Weg der Grünen gehen, die laut ihrem jüngsten Parteitag im »Notfall« durch ein Veto im Sicherheitsrat ohne eine Resolution des Rates, bereit sein wollen, militärisch loszuschlagen, wenn es denn sein muss. Da ist die Beschlussunfähigkeit des Rats keine Hürde für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Grünen können ja sogar Kanzlerin oder Kanzler, wenn man sie ranlässt.

Die Linken sind aber nicht die Grünen, sondern eine sozialistische Partei, der jeder getötete Mensch ein Opfer zu viel ist, auch wenn es sich um einen der offiziell mit »nur« 42 im Zeitraum 2002 bis 2020 in Afghanistan registrierten »gefallenen« Bundeswehrsoldaten handelt. Tausende Frauen und Männer der Bundeswehr sind direkt oder indirekt mit Militäreinsätzen in allen Teilen unseres Globus befasst. Nach Angaben des Ministeriums für Verteidigung haben 114 deutsche Frauen und Männer den Auslandseinsatz mit ihrem Leben bezahlt. Das sind 114 zu viel.

Quelle       :      ND-online           >>>>>         weiterlesen

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In Uniform wirds umtriebig:

Erstellt von Redaktion am 1. Januar 2021

 Vom gesellschaftlichen Vorbild, über den nestbeschmutzenden Einzelfall, zur Operation „Eiserner Besen“

Ein  Unterschied zu Heute ? Der Vogel ist kleiner geworden – aber er scheißt immer noch ähnlichen Schwätzern auf die Köpfe ?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Gruppen gegen Kapital und Nation

Noch im Jahr 2012 hatte der damalige Bundespräsident J. Gauck nur höchstes Lob für die Bundeswehr übrig: „Welch ein Glück, dass es uns gelungen ist, nach all den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland und nach den Gräueln des Krieges, in diesem Land eine Armee zu schaffen: eine Armee des Volkes, diesmal im besten Sinne, kein Staat im Staate in preußischer Tradition, keine Parteienarmee, sondern eine „Parlamentsarmee“, an demokratische Werte gebunden, an Grundgesetz und Soldatengesetz; eine Armee unter der Befehlsgewalt eines Zivilisten, rekrutiert aus eigenverantwortlichen Bürgern und heute auch Bürgerinnen, die zu kritischen Geistern ausgebildet werden […]“.[1] Höchstes Lob also für diejenigen, die auf Befehl eines demokratisch gewählten Zivilisten und abgesegnet vom Parlament die deutschen Interessen auf der Welt durchsetzen. Froh war Herr Gauck auch darüber, dass es sich bei der Bundeswehr nicht mehr um eine Armee handelt, die etwa falschen Traditionen und Werten folgt, sondern deren Angehörige sich ganz demokratischen Werten und dem Grundgesetz verpflichtet fühlen, um als ausgebildete kritische Geister auf Befehl zu töten und zu sterben. Dass der höchste Repräsentant des deutschen Staates voller Lob für die Herrschaft ist, der er vorsteht, verwundert nicht. Folgerichtig kann die Abteilung mit der Lizenz zur globalen Gewaltausübung nur mit besten Absichten und aus ehrbaren Gründen ihrem Kriegshandwerk nachgehen. Vor noch nicht einmal zehn Jahren sollten sich die Bürger_innen von der Bundeswehr eine Scheibe abschneiden. Denn in der Armee wisse man, so Gauck weiter in seiner Rede, dass eine funktionierende Demokratie auch Einsatz erfordere, manchmal auch den Einsatz des eigenen Lebens als das Höchste an Hingabe und Opferbereitschaft für das Vaterland (ebd.). Tugenden, die er in der Bevölkerung oft nicht mehr sieht.

Gewöhnlich stellen sich die führenden Politiker_innen ebenfalls hinter das zweite staatliche Gewaltorgan. „Wer Polizistinnen und Polizisten angreife, wer sie verächtlich mache oder den Eindruck erwecke, sie gehörten ‚entsorgt‘, dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen“.(W. Steinmeier, Bundespräsident, 2020),[2] denn sie seien es doch, die tagtäglich „unser friedliches Miteinander schützten und das Gewaltmonopol des Staates verteidigten.“ (ebd.) Dass es mit dem friedlichen Miteinander nicht so weit her sein kann, wenn es jeden Tag verteidigt werden muss, um die angepriesene freiheitliche Ordnung aufrechtzuerhalten, fällt gar nicht mehr auf.

Seit Monaten stehen verschiedene Abteilungen der Polizei auf Landes- und Regionalebene als auch die Bundeswehr, insbesondere das Kommando Spezialkräfte (KSK), vermehrt in der Kritik. Fast wöchentlich werden Vorfälle bekannt, die den Verdacht nahelegen, dass unter den Verteidiger_innen des staatlichen Gewaltmonopols braune Gesinnungsgenoss_innen unterwegs sind, die es nicht bei einer kritischen Meinungsäußerung gegenüber der Regierung auf einer Party unter Kameraden belassen, sondern Netzwerke aufbauen und zum Organisieren der Tat voranschreiten. Die dort schon seit Jahrzehnten zu beobachtenden rechten Umtriebe nehmen Ausmaße an, die sogar CSU-Politiker_innen Sorge bereiten und zum Einschreiten bewegen. So wies Innenminister H. Seehofer (CSU) sein Ministerium an, eine „Zentralstelle zur Aufklärung rechtsextremistischer Umtriebe im öffentlichen Dienst“ aufzubauen, um den Anfängen zu wehren.

Dass es Rechtsradikale in die Armee als auch zur Polizei zieht, war den Politiker_innen schon länger bekannt. Auf bekanntgewordene Vorfälle, etwa die Verbreitung eines Videos 1997 in den bundesdeutschen Kasernen, in denen Bundeswehrsoldaten kriegsverbrecherische Szenen  nachspielen, reagierte die damalige Regierung eher beschwichtigend und beteuerte, dass gegen die „rechtsradikalen Schmutzfinken“[3](V. Rühe, Bundesverteidigungsminister, a.D.) vorgegangen werden würde. Und da von solchen rechten Verrätern nichts anderes zu erwarten ist als weiteres verbales Nachtreten, werden gleich die nachträglichen Aussagen des herausgepickten Einzeltäters wie: „in den Kasernen würden Schriften rechtsextremer Organisationen und Parteien wie der Wiking-Jugend, der NPD und DVU verteilt. Auch habe man jederzeit das SS-Liederbuch erhalten können.“ (ebd.) nicht Ernst und stattdessen als Beleg für das schon getroffene Urteil des Nestbeschmutzers genommen. Ein Einzelfall eben, der in der Truppe nichts zu suchen gehabt hat und auch noch die ehrbaren Kameraden mit falschen Anschuldigungen belastet. Zwischen der Institution Bundeswehr und dem ‚Phänomen‘ Rechtsradikalismus darf es keinen Zusammenhang geben. Vielmehr wäre doch die Bundeswehr das Opfer rechter Übeltäter_innen, die diese unterwandern würden. Noch vor einigen Jahren konnte ein Skandal als Einzelfall heruntergespielt werden, und weiter ging’s. Doch 2020 kommt selbst die F.A.Z. nicht umhin festzustellen, dass aus dem Einzelfall nun Einzelfälle geworden sind, die „es laut jüngster Zahlen immer noch [sind]. Aber es werden mehr.“[4] Und der Militärische Abschirmdienst (MAD) spricht von einer „neuen Dimension“ und sieht Rechtsextremismus in der Armee weit verbreitet.[5] Wohl auch, weil der MAD, nun von der Politik unter Druck gesetzt, genauer hinschaut. Was aber einige mit der Abwehr von Extremist_innen Betraute nicht davon abhält, vertrauliche Informationen und Ermittlungsergebnisse an die überwachte Truppe weiterzugeben.[6] Zu dieser auch heute noch beliebten Netzbeschmutzer-, Einzelfall- und Einzelfälle-Theorie gesellte sich bereits damals die Vorstellung, die Bundeswehr sei der Spiegel der Gesellschaft und dort wie hier gäbe es halt rechte Spinner_innen. Andersherum geht es freilich auch: So schlug die Wehrbeauftragte des Bundestages, E. Högl (SPD) im Jahr 2020 vor, die Wehrpflicht wieder einzuführen, als Heilmittel gegen Rechtsextremismus, da dann auch die guten Patriot_innen der Truppe beitreten müssten, so dass sich eine Art Gleichgewicht einstellen möge oder der gute Patriotismus den schlechten besiegt. Es werden immer wieder dieselben alten Ideen neu auf den Tisch gelegt. Ein weiteres beliebtes Rezept, um das rechte Gedankengut aus den Köpfen der zu Gehorsam Verpflichteten zu vertreiben und durch demokratische Werte zu ersetzen, ist das Konzept der ‚modernisierten Kunst der inneren Führung‘. Blöd nur, dass auch bei denen, die Führen, Erziehen und Ausbilden sollen, rechte Überzeugungen vertreten sind.

File:Bundesarchiv Bild 102-06536, Berlin, Rückkehr des "Eisernen Gustav" aus Paris.jpg

Auch innerhalb der Abteilungen der Polizei sind es nicht nur die einfachen Streifenpolizist_innen, deren rechte Äußerungen bei ihren Chef_innen keine Beachtung finden. Gemeinsam chatteten dort (ehemalige) Mitglieder eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) und Polizeibeamt_innen im gehobenen Dienst, Reservist_innen der Bundeswehr und weitere Zivilist_innen unter dem Label „Nordkreuz“ über die zu treffenden Maßnahmen am Tag X, tauschten Bestelllisten über Ätzkalk und Leichensäcke aus, verfassten Feindlisten mit 25.000 Namen und horteten schon mal Munition und dazugehörige Maschinengewehre u.a. aus den Beständen eines Landeskriminalamtes.[7] Aufgeschreckt von der hohen Anzahl der Vorkommnisse und den weit vorangeschrittenen Vorbereitungen auf gewalttätige Auseinandersetzungen fördern Journalist_innen immer weitreichendere Verstrickungen innerhalb der Sicherheitsbehörden zu Tage und „fragen, wie viele Sorgen wir uns darum machen müssen, wer die demokratische Grundordnung schützt“.[8] Sich einfach wie in der Vergangenheit nur schützend vor ihre Kampftruppen stellen, ist bei verantwortungsvollen Politiker_innen nun nicht mehr angesagt. Die an sie herangetragene Sorge, dass möglicherweise eine höhere Anzahl der Uniformierten nicht mehr hinter der Regierung stehen könnte, teilen sie ebenfalls.

Nach den rechten Anschlägen in München (2016) und in Halle (2019), der Ermordung des CDU- Politikers Lübcke, dem Fall Franco A., die Waffen und Sprengstofffunde bei einem KSK-Mitglied und einem Beamten des SEKs, dem Bekanntwerden von Chat-Verläufen in denen sich Bundeswehrangehörige und Polizist_innen (SEK) auf das Zusammenbrechen der Regierungsgewalt vorbereiten, anstatt dies zu verhindern, einen Umsturz herbeisehnen und diesen sogar vorbereiten, werden weitergehende Maßnahmen fällig. Die Verteidigungsministerin A. Kramp-Karrenbauer kündigt mit der Operation „Eiserner Besen“ Veränderungen an, löst eine Kompanie des KSKs auf und vermutet auch auf der strukturellen Ebene tieferliegende Probleme.[9] Und auch der Innenminister von Hessen, P. Beuth, schließt ein rechtes Netzwerk in der Polizei nicht mehr aus.[10] Beide zivilen Befehlsinhaber_innen äußern sich zutiefst erschüttert über die offensichtliche Untreue, die aus bekanntgewordenen Äußerungen und den aufgedeckten Taten spricht – sind sie doch auf die unbedingte Dienst- und Opferbereitschaft ihrer Instrumente zur Gewaltausübung angewiesen. Von der angeblichen Vorbildfunktion für alle Bürger_innen wird nun nicht mehr so oft gesprochen.

Zwischen härterem Durchgreifen und schützender Hand: Polizei und Armee als Machtbasis des Staates nach Innen und Außen

Die Politik ist also alarmiert. Mehr noch: Sie stockt die Belegschaft für die Bekämpfung des Rechtsextremismus auf, weist den Verfassungsschutz und den Militärischen Abschirmdienst an, das zukünftige Personal schon vor der Einstellung schärfer zu überprüfen und Hinweisen entschiedener nachzugehen, versetzt, beurlaubt und suspendiert einzelne Beamte und Soldat_innen, ernennt Extremismusbeauftragte und fordert eine stärkere innere Führung. Auffallend dabei ist, dass einerseits ein härteres Durchgreifen und grundlegende Veränderungen bei Polizei und Bundeswehr selbst von Politiker_innen der CSU/CDU gefordert werden, andererseits ständig beteuert wird, dass die polizeilichen Behörden wie auch das Militär nicht unter Generalverdacht zu stellen sind und im Großen und Ganzen wertvolle Dienste leisten. Dass eine Institution, die das Töten im Namen des Vaterlandes lehrt, ehrt und praktiziert, selbst Ausgangspunkt für den nicht erwünschten Patriotismus sein könnte, kommt zu keiner Zeit in Betracht. Ebenso wird die Frage, ob in der polizeilichen Abteilung der staatlichen Gewalt das rechte Gedankengut nicht von Haus aus hervorragend gedeiht, nicht gestellt. Und wer sägt schon gern an dem Ast, auf dem er sitzt? Als Instrumente der Herrschaft sind die Männer und Frauen in Camouflage und Blau eben unerlässlich.

Der Dienst, den eine staatliche Armee leisten soll, besteht v.a. in der Aufgabe, die staatlichen Interessen nach Außen durchzusetzen. So kommt nach der Auflösung des Warschauer-Paktes und dem Abzug der Sowjetarmee der gesamtdeutschen Bundeswehr vermehrt die Aufgabe zu, weltweit Kriege zu führen, um deutsche (Bündnis)-Interessen militärisch zu verteidigen. Erstmals nahm die BRD an einem Kriegseinsatz 1999 gegen Jugoslawien teil. Auslandseinsätze in Mali, Afghanistan, Jemen, Libyen, im Mittelmeer und weitere folgten. Aus Sicht der deutschen Regierung bedarf es aufgrund der ’schwierigen Lage in der Welt‘, der Übernahme von mehr militärischer ‚Verantwortung‘. Eine funktionierende Armee dient den potenten westlichen Staaten als diplomatisches Druckmittel im Konkurrenzkampf der Nationalstaaten in Friedenszeiten oder als direktes Eingriffsmittel, um einen unfügsamen fremden Souverän abzuräumen. Das Militär ist damit ein entscheidendes Droh- und Gewaltmittel, um weltweit ordnungspolitisch agieren zu können und die Welt nach den eigenen nationalen Interessen herzurichten. Und zu tun gibt es da für einen Staat wie die BRD so einiges.

Gegen Feinde des Staates und subversive Elemente, die die Souveränität im Inland angreifen, unterhält die BRD verschiedene spezialisierte Abteilungen.[11] Der weit größere Teil des polizeilichen Sicherheitsapparates hat die Aufgabe, die Bevölkerung zur Einhaltung erlassener Gesetze zu zwingen und Verstöße zu ahnden. Die Bekämpfung dieser Sorte von Verbrechen ist eine ständige Aufgabe, da die Einzelnen bei ihrer privaten Interessenverfolgung gegeneinander in Stellung gebracht wurden. Dieser Gegensatz zwischen den Privatpersonen beruht auf der rechtlichen Grundlage, wie in dieser Gesellschaft die eigene Existenz zu sichern ist. So kommt es beständig bei der staatlicherseits verordneten Konkurrenz um die Vermehrung des Privateigentums zu Kollisionen.[12] Daher erlässt der Rechtsstaat weitere Bedingungen, unter denen der Kampf um den materiellen Reichtum der Gesellschaft gestattet ist, damit dieser ohne Anwendung von privater Gewalt stattfindet. Denn die einzige Gewalt hat vom Staate auszugehen. Praktisch zeigt sich dieser Anspruch darin, dass es nur seinen Sicherheitsbehörden erlaubt ist, Gewalt anzuwenden.

Für die Bürger_innen stellen sich die staatlichen Regeln nicht nur als Beschränkung für das eigene Vorankommen dar. Als nützliches Mittel erscheinen gesetzliche Bestimmungen immer dann, wenn sie für die Durchsetzung der eigenen Interessen etwas taugen. Wo Gesetze als Einschränkung wahrgenommen werden, stellt sich aus privater Sicht die Frage ihrer Legitimität. Auch stellt so mancher in einem solchen Fall Überlegungen an, wie das gesetzliche Hindernis unbestraft umgangen oder missachtet werden kann.[13] Viel zu tun also für die Polizei, denn Gründe für die Nichteinhaltung der gesetzlichen Vorgaben gibt es genug.

Die Staatsbürger_innen in Uniform: mit der verordneten Treue-, Gehorsams- und Dienstleistungspflicht und persönliche Überzeugungen für die nationale Sache

Für die Umsetzung der herrschaftssichernden Aufgaben braucht es das entsprechende Personal. Dieses soll nicht allein aus schnödem materiellen Eigeninteresse seine zugewiesenen Tätigkeiten verfolgen. Um für die Personifizierung des staatlichen Gewaltmonopols als tauglich zu gelten und mit der Waffe auf Tasche dieses praktisch umsetzen zu dürfen, verlangt der Dienstherr schon einiges mehr. Da ist neben dem Eintreten für die jeweils herrschende Staatsräson und die Verinnerlichung der für das Handwerk angemessenen Tugenden (Mut, Tapferkeit, Kameradschaft und Loyalität) eine gehörige Portion Vaterlandsliebe gefordert, denn „ohne eine patriotische Grundeinstellung können Sie kein guter Soldat sein.“[14] so der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur V. Wieker. Das Sterben und Töten braucht schon einen höheren Sinn. Auch die Durchsetzung der verlangten Ordnung im Innern braucht Polizeibeamt_innen, die von der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft überzeugt sind und für diese mit viel Teamgeist gegen zersetzende Kräfte eintreten. Am Besten bringen die Rekrut_innen der Polizei und Armee diese Überzeugungen gleich selbst mit, so dass auf den politischen Schulungen während ihrer Ausbildung nur noch Detailfragen zu klären sind. Passend dazu wird zum Dienstantritt eine öffentliche Erklärung gefordert, dass von nun an der eigene Wille sich der Dienstpflicht unterordnet, dass man bereit ist, mit selbstloser Hingabe sich für die Anliegen des Landes im In- und Ausland herzugeben. Für Soldat_innen gilt dies bis in den Tod. Auf einen dahin sagbaren Eid wird sich staatlicherseits allerdings nicht allein verlassen. Da auch unter Stahlhelm und Schirmmütze ein zu eigenen Überzeugungen fähiger Kopf sitzt, sind alle besonderen Anforderungen an diese Berufsgruppe in entsprechende Gesetze gegossen. Mit der Treue-, Gehorsams- und Dienstleistungspflicht ist das spezielle Verhältnis zum Dienstherren auch rechtlich gefasst. Bei Verfehlungen oder anderen Vergehen hinsichtlich der auferlegten Pflichten drohen den Beamt_innen und Soldat_innen disziplinarrechtliche Maßnahmen, die von einer Ermahnung bis zur Entfernung aus dem Dienstverhältnis reichen können.

Die aufrechte Ausübung beider Berufe braucht politische Überzeugungen, die an rechte Positionen besonders gut anschlussfähig sind: Dem Vaterland dienstbar zu sein, für das Land Opfer zu bringen, seine Pflicht für das Große und Ganze zu tun und Schaden von ihm abzuwenden, damit es weiterhin besteht und wächst, sind Forderungen, die bei allen rechten Parteien und Rechtsradikalen einen hohen Stellenwert haben. Darüber hinaus gibt es in beiden Berufen noch ein paar Eigentümlichkeiten, die einen besonderen Blick auf den allgemeinen Zustand der Nation nahelegen: Die Polizist_innen wurden vom Staat mit Gewaltmitteln ausgestattet, um dessen Vorgaben gegen die Bevölkerung durchzusetzen. Übersetzt wird diese Anforderung in das berufliche Selbstbild des ‚Freund und Helfers‘: Alle anständigen Bürger_innen gilt es mit Einsatz von Gewalt vor den Unanständigen zu schützen. Die Bevölkerung ist aus Sicht der Polizei von vornherein in zwei Teile aufgeteilt. Von Berufs wegen sind sie ständig mit dem Teil innerhalb der Bevölkerung konfrontiert, der sich nicht an die Gesetze hält. Dies legt den Schluss nahe, dass es einerseits an Sittlichkeit innerhalb der Bevölkerung mangelt. Noch zu Viele richten ihr Denken und Handeln nicht an den Verboten und Geboten der Gemeinschaft aus und ordnen ihre Privatinteressen ungenügend dem Großen und Ganzen unter.

Ein Standpunkt den jede AfDler_in unterschreiben würde. Aus Sicht der Polizei gibt es keine vernünftigen Einwände gegen die Rechtsordnung, die sie durchsetzen und verteidigen sollen. Gilt sie ihnen doch als Ausdruck der Gemeinschaft und für diese erlassen – notwendig für deren Funktionieren und daher im Interesse aller anständigen Bürger_innen. Dieser staatsbürgerliche Blick auf die bestehende Ordnung, der nicht nur oft bei Polizist_innen anzutreffen ist, legt einen ebenfalls weit verbreiteten Schluss nahe: Gesetzesbrecher_innen müssen etwas in sich haben, was sie dazu bringt, die Vorschriften der Gemeinschaft zu missachten. Mit der Unterstellung, es gäbe so etwas wie ‚kriminelle Energie‘, beginnt der suchende Blick nach denjenigen, die nicht nur mal aus Versehen ein Gesetz missachten. Dass sich der Blick dabei verstärkt auf Menschen richtet, denen unterstellt wird, dass ihnen schon allein weil sie ausländischer Herkunft wären, es an geforderter Sittlichkeit und Loyalität mangeln würde, verwundert nicht. Sie passen eben generell nicht hierher. Dies ist der Auftakt für Social- und Racial-Profiling, und führt mit der Erfahrung, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund Verbrechen begehen zu dem Urteil: Alles Ausländische stellt ein grundlegendes Kriminalitätsproblem dar. Ein mehr von ihm, untergrabe die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Im Selbstbild der Polizist_innen ist die Gewalt das Mittel zur Verhinderung von Verbrechen. Anhaltendes Verbrechen zeigt ihnen an, dass der Staat noch nicht genug Gewalt aufwendet, um den Schutz der Anständigen zu gewährleisten.

Aus der polizeilichen Berufsausübung heraus erwächst so die Forderung nach mehr Freiheiten für die Polizeiarbeit mit entsprechender materieller Ausstattung für ihren Einsatz. Dazu steht die Bindung der Polizeiarbeit an bestehende Gesetze in Widerspruch und erscheint den Polizist_innen als Fessel für ihre guten Taten: Mit u.a. der gesetzlichen Einschränkung zur Datenbeschaffung, des Betretens der Wohnung nur mit richterlichen Beschluss, dem Folterverbot von mutmaßlichen Entführer_innen und Vorschriften wer, wann, wie kontrolliert werden darf, ist der Verbrechensbekämpfung seitens des Rechtsstaats ein Rahmen auferlegt. Für die Beamtenschaft stellt dieser ein Hindernis dar, um gegen das Verbrechen vorzugehen und führt aus ihrer Sicht eher dazu, dass Gesetze weiterhin gebrochen werden. Der Staat gestatte den Unanständigen viel zu viele Freiheiten, anstatt für Recht und Ordnung zu sorgen. Den daran anknüpfenden Ruf nach einem starken Staat, der endlich ausreichend eingreifen lässt, möchten auch die Parteigänger_innen der AfD nur zu gerne Taten folgen lassen.

Soldat_innen wiederum werden ausgebildet, um die Souveränität des Staates nach Außen sicherzustellen. Sie stehen ihrer Überzeugung nach an der Verteidigungslinie zwischen einer Gesellschaft, deren ahnungslose Mitglieder ihre privaten Interessen verfolgen, und einer Welt voller bewaffneter Kampfinstanzen, die das friedliche Miteinander bedrohen. Insofern sind die Angehörigen des Militärs ständig in Alarmbereitschaft, bereit den Bedrohungen des Volkes mit Waffengewalt zu begegnen. Alles aus dem Ausland kommende hat für sie von Berufs wegen etwas Bedrohliches, denn auf feindliche Auseinandersetzungen mit ihm werden sie vorbereitet.

Und da ist es kein Rätsel mehr, warum im Verhältnis zu allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien die AfD die höchste Anzahl von (Ex-)Beamten aus Polizei und Bundeswehr aufweist.[15] Steht diese Partei doch für einen starken souveränen deutschen Staat nach Außen und Innen mit einer hochgerüsteten Armee und gut ausgestatteten Polizeitruppen, die wertgeschätzt werden wollen für ihren Dienst und allen (ausländischen) Bedrohungen Paroli bieten. Auch ist mit dem rechten Anspruch an alle Bürger_innen ihre Interessen für Deutschland zurückzustecken genau die berufliche Anforderung an alle Soldat_innen und Polizist_innen getroffen, dass sich alle für die ‚harmonische‘ Ordnung an Recht und Ordnung zu halten haben. Und wer sich unanständigerweise nicht auf diesen Wegen bewegt, bekommt mit polizeilicher Gewalt zu spüren, dass die geforderte Anständigkeit in ihrem Ausgangspunkt nichts anderes ist, als zu verinnerlichende Gesetzestreue. Mitnichten ist es also so, dass es keinen Zusammenhang zwischen den Institutionen der Bundeswehr und Polizei und rechten Standpunkten gibt, wie viele Politiker_innen behaupten. Vielmehr sind die dort geforderten und gepflegten Überzeugungen ein Sprungbrett für ihre Radikalisierung.

#Wir: Spezialeinheiten, die mit Waffen und Sprengstoff den Umsturz planen, denn so eine schlechte Regierung hat Deutschland nicht verdient

Angela Merkel - Αντώνης Σαμαράς.jpg

In den letzten Monaten wurden verschiedene rechte Gruppen, Vereinigungen und Netzwerke (die Telegram Chat-Gruppe #WIR, das Nordkreuz-Netzwerk, der Verein Uniter, etc.) aufgedeckt. An vielen dieser Gruppen waren oder sind u.a. Bundeswehrsoldat_innen, Polizeibeamt_innen und Reservist_innen beteiligt. Hausdurchsuchungen bei Angehörigen von Eliteeinheiten förderten erhebliche Waffen- und Munitionsdepots zu Tage. Von 62 kg Sprengstoff aus den Beständen des KSKs fehlt bislang jede Spur. Morddrohungen an bekannte Politiker_innen, Anwält_innen und linke Aktivist_innen werden mit Hilfe von Daten versendet, die aus polizeilichen Informationssystemen stammen. Mittlerweile (Herbst 2020) werden aus fast allen Bundesländern aufgedeckte rechtsradikale Vorfälle in den Sicherheitsbehörden gemeldet. Aus den Chat-Verläufen wird deutlich, dass die Aktivist_innen von einer existentiellen Bedrohung für Deutschland ausgehen, der entgegentreten werden müsse. Besonders der Zuzug von Geflüchteten 2015 und in den folgenden Jahren wird immer wieder als Initialzündung für die Radikalisierung genannt. Der amtierenden Regierung und den demokratischen Parteien wird Verrat an dem deutschen Volk vorgeworfen und daher müsse diese weg. Bestätigung für diesen Verrat finden sie an vielen Stellen. Besonders aber da, wo es für Rechte ums Eingemachte geht: Frau Merkel schleife die drei Grundsäulen des Staats: „Mit ihren offenen Grenzen verschwimmt das Staatsterritorium, mit der multikulturellen Masseneinwanderung das Volk und mit ihrer Politik der Rechtsbrüche und der Übertragung unserer Souveränität die staatliche Ordnung“[16] so J. Wundrak, AfD-Mitglied und Generalleutnant a.D. In den rechten Chat-Gruppen finden sich ähnliche Äußerungen bezüglich der „Masseneinwanderung“: „’Merkels Gäste‘ kämen ‚wie Heuschrecken über Europa’“ wird etwa ein Berliner Polizist zitiert.[17]

Eine Betreiberin der Chatgruppe „Der harte Kern“, aus der später die terroristische Vereinigung „S“ hervorging, deren Mitglieder einen Bürgerkrieg planten und in der viele Angehörige von Polizei und Armee zu finden waren, sieht sich selbst als Widerstand leistende Kämpferin gegen Geflüchtete. Von der moderierenden Ausländerfeindin, über die auf den „großen Knall“ Wartenden, bis hin zu den nicht mehr nur Abwartenden ist in diesen Netzwerken alles vertreten. Gemeinsamer Bezugspunkt ist die Auffassung, dass die amtierende Regierung mit ihrer Staatsräson nicht mehr ihrer Pflicht am deutschen Volk nachkommt und somit die vorgestellte Einheit von Staat und Volk bedroht ist. Das „Wir“, wofür sie ihr Leben geben sollen und für dessen Funktionieren sie einen Eid geschworen haben, sei kaputt oder drohe kaputt zu gehen. Dabei unterstellen sie, dass es so etwas wie eine vorstaatliche Gemeinschaft gäbe und der Staat diese als Auftragnehmer bloß organisieren würde.

In Wahrheit ist es andersherum: Das Volk ist Produkt der staatlichen Gewalt. Es ist eben der Staat der bestimmt, wer Staatsbürger_in ist oder dies werden kann. Er nimmt die Sortierung in In- und Ausländer_innen vor, wer dazu gehören darf und wer nicht. Als sie 2015 im Sommer der „Willkommenskultur“ darauf gestoßen werden, dass der deutsche Staat bestimmt, wer sich auf seinem Boden aufhalten darf, ziehen einige Angehörige der Streit- und Sicherheitskräfte den Schluss, dass die amtierende Regierung und alle sie unterstützenden Institutionen und Gruppen Verrat begehen. Mit dieser Diagnose über den Zustand der Nation, sind sie bereit an ihrem amtierenden Dienstherrn Verrat zu begehen und in äußerster Konsequenz zu den Waffen zu greifen, um die etablierte Regierung zu stürzen und die in ihren Augen destruktive Politik zu beenden. Diejenigen, die Gehorsam gegenüber dem Vaterland geschworen haben, kündigen diesen an der Stelle auf, wo sie feststellen, dass die Regierung sich der krassesten Pflichtverletzung schuldig gemacht hat: Mit der Aufnahme von Geflüchteten dient der Staat nicht mehr dem deutschen Volk, sondern zerstört die nationale Identität.[18] „Da ist bei vielen Beamten etwas in Schieflage geraten, was sich in Sympathien für das rechtsnationale Parteienspektrum ausdrückt.“[19]

So hat sich Herr Gauck seine an den Polizei- und Militärakademien ausgebildeten kritischen Geister sicherlich nicht vorgestellt. Dem ehemaligen Bundespräsidenten schwebte vielmehr vor, dass sie sich in den Dienst der deutschen Demokratie, eben seinem guten Deutschland stellen. Stattdessen nehmen die nunmehr braunen Soldat_innen, den letzten Satz ihres zu leistenden Eides – „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“[20] – brutal ernst und und kündigen den Diesnt für die BRD unter der Führung demokratischer Politiker_innen auf.

Das Dilemma: Teile des eigenen Gewaltmittels zur Aufrechterhaltung und zur Durchsetzung staatlicher Interessen wenden sich gegen die amtierende Regierung: zwischen vereinzelten Säuberungen und Anerkennung der Leistungen für die nationale Sache

Dass rechter Terror keine neue Erscheinung ist, lässt sich ganz einfach in der bekannten Online-Enzyklopädie nachschlagen. Auch sind immer wieder personelle Überschneidungen zwischen den einzelnen rechten Gruppen und Angehörigen der Bundeswehr und der Polizei nachweisbar. Darüber hinaus ist das Vorhandensein von rechten Standpunkten, rassistischen und antisemitischen Einstellungen, der Hang zur Verehrung der Wehrmacht und Gewaltbereitschaft bei den bewaffneten Befehlsempfänger_innen nichts Neues. Nur wurden jahrzehntelang die Vorkommnisse heruntergespielt oder gedeckelt, zum Einzelfall erklärt und da, wo es dann doch zu arg wurde, auch mal draufgehauen. Seit spätestens Frühjahr 2020 sehen die meisten Politiker_innen, außer der AfD, zumindest ein größeres Problem innerhalb der Repressionsorgane und versuchen mit ihren verschiedenen (althergebrachten) Erklärungsversuchen und daraus abgeleiteten Eingriffen, der Radikalisierung innerhalb der Truppen Einhalt zu gebieten. Dabei kommt es auch zu Suspendierungen und zur Anwendung des Disziplinar- und Strafrechtes auf Einzelpersonen, größere Gruppen und Truppenteile. Dass die Verfolgung rechter Umtriebe innerhalb der Gewaltabteilungen wiederum Aufgabe ebendieser ist, bringt ein wenig Geschmäckle in die Unternehmung und zeigt nochmal die besondere Angewiesenheit der Staatsmacht auf loyale Bedienstete. Die amtierenden Demokrat_innen nutzen derzeit ihre Macht, um die verschiedenen Kontrollabteilungen zu stärken und weisen diese an, genauer hinzuschauen. Und tatsächlich finden sie vermehrt Anhänger_innen rechten Gedankengutes, sowie Waffen- und Sprengstoffdepots. Sie verstärken also ihre Anstrengungen, die für das Bestehen des Staates so wichtige Beamtenschaft und militärischen Streitkräfte wieder auf den Boden des Grundgesetzes zu holen, sprich hinter der Staatsräson der etablierten Parteien zu versammeln.

Grund zur Sorge besteht ja allemal: In den letzten Jahren gelang es den organisierten Rechten vermehrt, den etablierten Parteien bei Wahlen Stimmen abzujagen und mit ihrer allseitigen Krisendiagnose, dass das nationale „Wir“ in Gefahr ist oder bereits durch die etablierten Parteien zerstört wurde, bei größeren Teilen der Gesellschaft zu punkten. Gerade auch bei den Sicherheitskräften: „Wir verlieren Teile der Bundeswehr und der Bundespolizei an die AfD“[21] stellt F. Merz (CDU) besorgt fest und fordert seine Partei auf, wieder das einzige Sprachrohr für deren Belange zu werden. Mit dem Mord an dem CDU-Politiker W. Lübcke zeigte sich zudem, dass Rechte ihren Überzeugungen durchaus Taten folgen lassen und sich gegen demokratische Politiker_innen wenden, die in ihren Augen durch die Verteidigung der Flüchtlingspolitik von 2015 Verrat am deutschen Volk begangen haben.[22] Nach dem Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 auf die dortige Synagoge und den Morden in Hanau am 19. Februar 2020 mit 10 Toten und den vielen Angriffen, Übergriffen und Drohungen aus rechten Kreisen, stellte selbst Bundesinnenminister H. Seehofer fest: „Die größte Gefahr geht von rechts aus.“[23] Dass wenigstens für die Bekämpfung der gewaltbereitesten Neonazis das wichtigste Mittel, die Polizei, selbst in Teilen mit rechten Überzeugungen sympathisiert und lieber gegen Ausländer_innen und Linke vorgeht als Gesinnungsgenossen überführt, stellt ein gravierendes Problem dar. Ebenso dürfte den Regierenden bei der ernsthaften Begutachtung der Bundeswehr ein wenig mulmig werden. Soll doch das deutsche Militär gegen andere unliebsame Herrschaften vorgehen, die aus Sicht der hiesigen zivilen Befehlshaber_innen das Recht verloren haben, über ihr Volk zu bestimmen. Dafür werden sie ausgebildet und hochgerüstet. Die radikalisierten Bürger_innen in Uniform kommen zu demselben Schluss und ziehen dieselbe praktische Konsequenz. Jetzt aber gegen die eigene Regierung.

Doch auch wenn die etablierten demokratischen Parteien die „rechten Umtriebe“ in Schach halten wollen, werden sie gegen den ideologischen Nährboden in der Gesellschaft und in den ihnen unterstellten Abteilungen der Gewaltanwendung nicht grundsätzlich vorgehen. Dafür teilen die „guten Demokrat_innen“, bei allen Unterschieden, dann doch zu viele Voraussetzungen dieser rechten Variante der Vaterlandsliebe: Auch sie sind darauf aus, dass der deutsche Staat möglichst souverän agieren kann, fordern und fördern einen starken Staat nach Innen und Außen mit den dazugehörigen Abteilungen für die Durchsetzung. Ebenfalls teilen sie das Anliegen, dass es auf die Anständigkeit aller Untertanen ankommt, gerade in einer Gesellschaft voller Konkurrenz und Gegensätze zwischen den Einzelnen. Auch hegt jede Regierung eine allgemeine Skepsis gegenüber Ausländer_innen, von denen sie annimmt, dass sie sich nicht im selben Maße wie die ‚Einheimischen‘ hinter der Staatsräson versammeln und sich uneingeschränkt der nationalen Sache, also dem vorgestellten „Wir“ verschreiben. Und nicht zuletzt ist es der von allen geteilte Standpunkt, dass es einer politischen Führung bedarf, die über entsprechende Mittel verfügt, um die Erfordernisse zum Erhalt und Voranbringen der Nation durchzusetzen.[24]

[1]https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html

[2]https://www.sueddeutsche.de/politik/steinmeier-polizei-stuttgart-1.4943916

[3]https://www.welt.de/print-welt/article643566/Ruehe-verteidigt-Soldaten-der-Bundeswehr.html

[4]https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextreme-beim-ksk-mehr-als-einzelfaelle-16665355.html

[5]https://www.tagesschau.de/inland/ksk-reform-105.html

[6]https://www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehr-mad-dienstgeheimnisse-1.4941888

[7]https://www.tagesspiegel.de/politik/200-leichensaecke-und-aetzkalk-bestellt-rechtsextremes-netzwerk-plante-attentate-auf-politische-gegner/24505056.html

[8]Extreme Sicherheit. Rechtradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz, Meisner/Kleffner (HG.), Herder, 2019

[9]https://www.tagesschau.de/inland/ksk-anhoerung-101.html

[10]https://www.zdf.de/nachrichten/politik/hessen-polizei-rechtes-netzwerk-100.html

[11]Für die Bekämpfung politisch motivierter Straftaten, also Taten, die sich direkt gegen die Staatsgewalt wenden, unterhält die BRD gleich mehrere spezialisierte Abteilungen: den auf verschiedenen Ebenen agierenden Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst und den Polizeilichen Staatsschutz. Nach Außen wahrt der Bundesnachrichtendienst deutsche Interesse in aller Welt.

[12]Ein kurzer Blick in die Kriminalitätsstatistik verrät, dass der Großteil aller Straftaten die gesetzwidrige Eigentumsaneignung zum Ziel hatten. „Die meisten Verurteilungen gibt es jedes Jahr wegen Eigentumsdelikten. Diebstahl, Betrug und ähnliche Delikte sind der Grund für mehr als 40 % der strafgerichtlichen Verurteilungen.“ (Bundesamt für Justiz) https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Strafverfolgung/Strafverfolgung_node.html eingesehen am 30.01.2020

[13]Mehr über den Zusammenhang zwischen Rechtsbruch und bürgerlicher Ordnung in: „Das Staatliche Strafen“ https://gegen-kapital-und-nation.org/media/uploads/das_staatliche_strafen.pdf

[14]https://www.welt.de/newsticker/news2/article106488398/Generalinspekteur-Soldatische-Tugenden-erleben-Renaissance.html

[15]Abgeordnete mit Militärhintergrund in der AfD-Bundestagsfraktion: 15,4% (CDU 9,8%, SPD 2,6%, Grüne, Linkspartei und FDP unter 2%. Ehemalige und oder vom Dienst freigestellte Polizeibeamt_innen: 7,7%, bei allen anderen Parteien unter 2%;Quelle: „Die neue Heimat für Law & Order? Soldaten und Polizisten in den AfD-Fraktionen“; Hock,A. und Naumann,A.; in: Extreme Sicherheit. Rechtradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz, Meisner/Kleffner (HG.), Herder, 2019

[16]https://afdkompakt.de/2019/08/16/generalleutnant-a-d-joachim-wundrak-rechnet-mit-kanzlerin-merkel-ab/)

[17]https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/polizei-chat-rassismus-101.html

[18]Über die unsinnigen Auffassungen, was denn die nationale Identität ausmachen würde, und deren Kritik, gibt der Text „Blut, Sprache, Kultur, Geschichte, Werte – Was für eine Gemeinschaft“ in der Broschüre: „Von Schland nach Gauland – Das Krisenprogramm der AfD und seine demokratische Grundlage“, Gruppen gegen Nation und Kapital, erhältlich unter: https://gegen-kapital-und-nation.org/page/broschueren-und-flugblatter-von-gkn

[19]Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bundespolizist Jörg Radek (https://www.presseportal.de/pm/30621/4304531)

[20]§ 9 Soldatengesetz, Gelöbnisformel für Berufssoldaten: „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“

[21]https://www.tagesspiegel.de/politik/rechte-tendenzen-bei-polizei-und-bundeswehr-da-ist-bei-vielen-beamten-etwas-in-schieflage-geraten/24487944.html

[22]„Stephan Ernst soll den CDU-Politiker am 1. Juni 2019 aus nur eineinhalb Metern Entfernung mit einem Kopfschuss getötet haben – aus Wut über die Flüchtlingspolitik der Regierung.“ https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-mord-walter-luebcke-prozess-verteidigung-eklat-1.4980731

[23]https://www.tagesspiegel.de/politik/die-groesste-gefahr-geht-von-rechts-aus-mehr-judenfeindliche-straftaten-als-in-den-vergangenen-20-jahren/25865262.html

[24]Mehr über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem demokratischen und rechten Standpunkt sind in der Broschüre: „Von Schland nach Gauland – Das Krisenprogramm der AfD und seine demokratische Grundlage“, Gruppen gegen Nation und Kapital, erhältlich unter: https://gegen-kapital-und-nation.org/page/broschueren-und-flugblatter-von-gkn nachzulesen.

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Grafikquellen        :

Oben     —    Reichstagsrede Hitlers zur Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten, Krolloper Berlin, 11. Dezember 1941

Berlin, Rückkehr des „Eisernen Gustav“ aus Paris

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Unten       —    Συνάντηση Σαμαρά Μέρκελ στο Βερολίνο

 

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Wenn Granit weich wird

Erstellt von Redaktion am 1. Januar 2021

Denkmalstreit in Hamburg

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Wer von den heutig, politischen Protzen würde nicht gern mit ihm um die Wette kotzen?

Von Alexander Diehl

Das Bismarck-Denkmal ragt über dem Hamburger Hafen in den Himmel. Derzeit wird es saniert – umso lauter erklingt die Kritik am umstrittenen Kanzler.

Im Winter ist es halb so schlimm. Wenn es spät hell wird, früh dunkel, und dazwischen der norddeutsche Himmel auch nur Schattierungen von Grau durchspielt, dann lässt sich der Hamburger Granit-Bismarck beinahe übersehen. Und das will etwas heißen: Rund 34 Meter hoch, inklusive Sockel, ist dieses Denkmal für den preußischen Politiker Otto von Bismarck (1815–1898) nicht nur weit und breit, sondern gleich weltweit das größte seiner Art. Aus 100 Blöcken Schwarzwälder Granits errichtet, nach Plänen des Architekten Emil Schaudt und des Bildhauers Hugo Lederer.

Seit 1906, da war Bismarck seit acht Jahren tot, ragt seine steinerne Repräsentation auf dem Hang über dem Hamburger Hafen empor, in einem Ausläufer der einst von Napoleons Truppen geschleiften Festungsanlagen. Er drehe der Stadt den Allerwertesten zu, so bekommen es Ortsunkundige manchmal erzählt, und dass das eine Art subversiver Distanzierung bedeute: Mit Preußen hätten sie es in Hamburg ja nie sonderlich gehabt. Ob er je ein Wahrzeichen war, darüber gehen die Meinungen auseinander, ebenso darüber, wie groß 1906 unter den Hamburger:innen die Begeisterung wirklich tobte.

„Das Denkmal ist eine Kreation Hamburger Kolonialkaufleute“

„Das Denkmal ist eine Kreation oder ein Fantasma der Hamburger Kolonialkaufleute“, sagt Hannimari Jokinen, Künstlerin, seit vielen Jahren engagiert in der Aufarbeitung von Hamburgs Verstrickungen in den Kolonialismus, und heute Teil der Initiative Decolonize Bismarck. Errichtet worden sei es „als Dank für die Kolonien und die Berliner Finanzspritzen für die Hafenerweiterung“ –, für preußisches Geld konnten sie sich an der Elbe also durchaus erwärmen.

Seinen rekordverdächtigen Dimensionen zum Trotz: „Den Bismarck habe ich immer so aus dem Augenwinkel wahrgenommen“, auch das sagt Jokinen, „schmuddelig und voller Graffiti.“ In der Tat waren das Denkmal und die kleine Grünanlage, in der es steht, ziemlich lange das, was in Leser:innenbriefen an Lokalzeitungen gerne ein „Schandfleck“ genannt wird, wegen der vielen Graffiti und der Drogenkonsumenten, die sich manchmal hierher zurückziehen.

Aber dass der Koloss wirklich schlechte Presse hatte, weil sich im Fackelschein nationalistische Burschenschaftler hier trafen – auch ein paar örtliche Sozialdemokraten übrigens –, das ist Jahre her. Manchmal ließen die Verantwortlichen ihn vom umgebenden Grün aus dem Blick wuchern, dann wieder nahm man Geld in die Hand und ließ die Büsche stutzen.

Der seit 1960 denkmalgeschützte Granit-Ritter könnte aber gut und gerne heute eine Art Dornröschenschlaf halten, den träumenden Blick die Elbe hinab gerichtet, in Richtung der Weltmeere, die der Stadt so viel von ihrem Reichtum bescherten. Wären da nicht diese Bauarbeiten – und gäbe es nicht auch hierzulande längst die Black-Lives-Matter-Bewegung.

Geht das noch: So einen zu ehren?

Insbesondere, was seine Haltung zur wilhelminischen Kolonialpolitik angeht, wandelt sich das Bismarck-Bild derzeit. Es werden diejenigen weniger, die daran festhalten, den Mann habe man zu deutschem Engagement in Afrika geradezu zwingen müssen. Geht das also noch: So einen zu ehren, derart prominent? Darüber ist in der Stadt eine Diskussion in Gang gekommen, nicht zum allerersten Mal, aber umso engagierter in einem Jahr, da anderswo die Statuen von Sklavenhändlern in Hafenbecken versenkt werden oder sogar Blut fließt im Kulturkampf um die richtige Erinnerung an den US-Bürgerkrieg.

Bismarck 072.jpg

Wie tief ist das Hafenwasser ?

„Bismarck stoppen!“ war Ende Juni in Hamburg eine Kundgebung überschrieben, ausgerichtet von den Initiativen Intervention Bismarckdenkmal und Decolonize Bismarck. Die Forderung bezieht sich dabei auf die laufenden Sanierungsarbeiten an dem Denkmal, bezahlt von der öffentlichen Hand: Mindestens seit 2003 ist bekannt, dass der steinerne Eiserne Kanzler sich gefährlich gen Osten neigt, Wasser eindringt ins Fundament. „Um 2013 herum ging dann die Diskussion um eine Restaurierung des Denkmals los“, erinnert sich Jokinen. „Schon da hieß es, es würde Millionen Euro kosten, und ich habe eine erste Kritik daran online gestellt. Und gefragt: Was soll da eigentlich restauriert werden?“

Im ausgehenden Jahr nun wurde der Bismarck tatsächlich eingerüstet, von Moos, Kalk und Vogelkot gereinigt und ausgebessert. Knapp neun Millionen Euro sollen die Arbeiten am Denkmal selbst kosten, zu großen Teilen bezahlt vom Bund. Noch einmal mehr als sechs Millionen gibt die Stadt aus: für die Aufhübschung des umgebenden Elbpark-Areals. Vorgesehen ist zudem eine kommentierende Ausstellung im Sockelgeschoss.

Quelle     :      TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben   —    Hamburg, Bismarck-Denkmal, HDR

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Unten     —      Bismarckstatue, Hamburg

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Der Schutz der Meere

Erstellt von Redaktion am 31. Dezember 2020

Rettet Ozean und Klima

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Von Sebastian Unger

Die Weltmeere regulieren das Klima, sie geraten aber zunehmend selbst in Not. Sie zu schützen, zahlt sich ökologisch und ökonomisch langfristig aus.

Der ehemalige US-Außenminister John Kerry soll den Klimaschutz wieder zur Priorität der US-Außenpolitik machen. Darüber hinaus sind von ihm neue Impulse für den Meeresschutz zu erwarten. Bereits 2014 begründete Kerry die jährlichen „Our Ocean“-Konferenzen, die sich unter seiner Ägide zum internationalen Motor für den Schutz des Ozeans entwickelt haben.

Gemeinsam mit Umweltstiftungen setzt sich der Top-Klimadiplomat für ein weltweites Netzwerk von Meeresschutzgebieten ein. Dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borell, ebenfalls eine neue transatlantische Agenda für globalen Wandel vorschlagen, trifft sich gut.

Diese sieht neben Klimaschutz und Pandemie-Bekämpfung gemeinsame Anstrengungen im Meeresschutz vor, wie etwa ein globales Abkommen gegen die Meeresvermüllung oder die Einrichtung von Meeresschutzgebieten in der Antarktis.Denn Klima und Ozean sind auf das engste miteinander verzahnt. Der Ozean nimmt etwa ein Viertel des in die Luft freigesetzten CO2 wieder auf und speichert über 90 Prozent der durch den Menschen freigesetzten Wärme.

Bisher verlangsamt er so den Klimawandel und damit auch seine Folgen für die Menschheit. Doch der Ozean ist an seiner Belastungsgrenze. Die Meeresökosysteme nehmen bereits erheblichen Schaden, warnt der Weltklimarat IPCC im „Sonderbericht über den Ozean und die Kryosphäre in einem sich wandelnden Klima“. Zur Meeresverschmutzung, insbesondere durch Plastikmüll, zur Überfischung und Vernichtung wichtiger Arten und Lebensräume kommen die negativen Auswirkungen des Klimawandels hinzu:

Meeresspiegelanstieg, Wassererwärmung und die mit steigender CO2-Konzentration einhergehende Versauerung des Ozeans. Zwei Drittel der Meere wurden bereits stark vom Menschen beeinträchtigt, so der Weltbiodiversitätsrat IPBES. Nur wenn Klimaschutz und Erhalt des Ozeans gemeinsam vorangebracht werden, wird sich daran etwas ändern. Neben ehrgeizigem Klimaschutz muss dafür die Widerstandsfähigkeit der geschwächten Meeresökosysteme gestärkt werden.

In der Meeresforschung besteht Einigkeit, dass dafür möglichst große Meeresflächen unter einen strengen Schutz gestellt werden müssen. Um die Überfischung zu beenden, sollten die Bestände nachhaltig und naturverträglich bewirtschaftet werden. Dafür müssen Fischereisubventionen abgebaut, aber auch Überkapazitäten reduziert und illegale beziehungsweise die Lebensräume schädigende Fischereipraktiken verhindert werden.

Durch die Wiederherstellung von Mangroven, Seegraswiesen und Korallenriffen ließen sich nicht nur wichtige Lebensräume für bedrohte Tierarten zurückbringen, sondern zugleich auch Treibhausgase binden. Außerdem wären die Küsten gegen steigende Meeresspiegel und heftigere Stürme widerstandsfähiger. All dies wäre ein Gewinn nicht nur für Meeresnatur und Klima, sondern auch für die direkt davon abhängigen Menschen:

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Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Küstenregionen und gut jeder dritte Mensch nutzt den Ozean als wichtige Nahrungsmittelquelle. Dass sich Schutz und nachhaltige Nutzung der Meere ökonomisch langfristig auszahlen, hat jetzt eine Gruppe von Regierungschefs aus 14 Ländern anerkannt – darunter wichtige maritime Nationen wie Chile, Indonesien, Japan, Kanada, Kenia oder Norwegen, aber auch kleinere Inselstaaten wie Fidschi und Palau.

Denn nur wenn der Klimawandel möglichst auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden kann und es gleichzeitig gelingt, die Meeresnatur effektiv zu schützen, wird der Ozean auch dauerhaft Beiträge zur Ernährungssicherheit, Armutsbekämpfung, Energieversorgung oder Gewinnung neuartiger Stoffe für die Pharmaindustrie liefern können. Gemeinsam hat die Gruppe der 14 Länder angekündigt, dass sie bis zum Jahr 2025 100 Prozent ihrer nationalen Gewässer nachhaltig bewirtschaften werden.

Mangroven, Seegraswiesen und Korallenriffe

Quelle       :          TAZ         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —       Houseboat Row on South Roosevelt Boulevard after Hurricane Georges September 1998. From the Dale McDonald Collection. Hurricane Georges in Key West, Florida, September 1998.

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Ein Diskussionsbeitrag

Erstellt von Redaktion am 31. Dezember 2020

Corona und die (radikale) Linke

File:Maskenpflicht Schild Hamburg Mönckebergstraße.png

Quelle      :    untergrundblättle ch.

Zuerst erschienen auf Sūnzǐ Bīngfǎ

von Maria von M.

Seit bald einem Jahr prägt Covid-19 all unsere Lebensbereiche und hat viel zu vielen Menschen weltweit das Leben kostet.

Momentan lassen die Herrschenden uns die Folgen einer durch den Kapitalismus mit hervorgerufenen Pandemie ausbaden. Dies zeigt sich ganz besonders brutal in diesem zweiten „Social Lockdown“ in Deutschland (dieser Text wurde vor dem „harten“ Lockdown geschrieben). Den Menschen ist es faktisch nur noch erlaubt zu konsumieren und zu arbeiten. Soziale Kontakte sind zwar nicht gänzlich verboten, aber nur stark eingeschränkt erlaubt, obwohl von jeglichem Kontakt abgeraten wird. In Ländern, in denen eine Ausgangssperre verhängt wurde, ist es noch brutaler, denn da dürfen die Menschen nicht einmal ohne Erlaubnis nach draussen. Das Leben ist banalisiert auf seine kapitalistische Verwertbarkeit. „Gesundheitsmanagement“, „Public Health“ und „Gesundheitspolitik“ sind dabei die medizinischen Hilfswissenschaften, die im Kapitalismus der Pandemie diese Verwertbarkeit aufrechterhalten.

Seitdem Covid-19 im März zu einer offiziellen Notlage wurde, scheint sich der Diskurs auf zwei Positionen verengt zu haben. Entweder man „nimmt Corona ernst“, das heisst man folgt weitestgehend allen staatlichen Massnahmen, oder schränkt sogar noch weitergehend sein Leben ein, um damit nicht selbst verantwortlich zu sein die Pandemie voranzutreiben. Oder man „nimmt Corona nicht ernst“ und ist damit Corona-Leugnerin, unverantwortlich und Verschwörungsideologin. Doch weder heissen wir es gut, wenn Menschen nach (autoritären) Führerinnen rufen noch sollten wir es stillschweigend hinnehmen, wenn der Staat unser Leben bis in die letzten Ecken versucht zu kontrollieren, während die Menschen weiter fürs Kapital schuften dürfen. Als (radikale) Linke ist es unsere ureigenste Aufgabe eine dritte Position zu entwickeln, die sich jenseits der vorherrschenden Rationalitäten befindet: Jenseits von staatlicher „Moral“; neoliberaler Selbstverantwortung und dem Recht des Stärkeren und autoritären Antworten.

Auch in der Linken wird häufig nur ein für oder wider der Massnahmen diskutiert. Streitet man jedoch für die Massnahmen macht man sich mit dem Staat gemein. Dabei wissen wir, dass es dem Staat niemals um das individuelle Wohl der Menschen geht. Es geht ihm lediglich darum, das System am Laufen zu halten, dafür braucht es einen gesunden Bevölkerungskörper. Natürlich gibt es auch hier widerstreitende Interessen. So fokussieren einige eher auf die Verhinderung der Überlastung der Krankenhäuser, wieder andere auf die Aufrechterhaltung der Wirtschaft. Gemeinsam ist diesen Interessen jedoch, dass sie einen Status Quo (der einigermassen unter Kontrolle stehenden Pandemie) aufrechterhalten oder wiederherstellen wollen (Kapitalismus ohne Corona). Wir lehnen jedoch jeden Status Quo ab! Eine (radikale) Linke, die sich aktiv für die staatlichen Massnahmen ausspricht, kämpft für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus, lediglich ohne Covid-19.

Wie wichtig ist der soziale Kontakt, wie geht es mir und meinem Gegenüber, welches Risiko bin ich bereit persönlich einzugehen. In unseren Kämpfen heisst dies: Wie wichtig ist unser Kampf für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse? Wenn momentan so vieles abgesagt oder in den digitalen Raum verschoben wird, signalisiert dies, dass wir unsere Kämpfe eigentlich für nicht relevant halten. Wenn dem so ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem und sollten darüber sprechen.

Alle staatlichen Massnahmen werden mit Infektionsschutz und der Notwendigkeit die Ausbreitung des Virus zu verhindern, begründet. Doch uns sollte klar sein, dass angeblich rationale Argumente, die naturwissenschaftlich und objektiv daherkommen, weiterhin bürgerliche Wissenschaft sind. Wie all unser Wissen, unsere Emotionen, unser Sein gesellschaftlich, Produkt von Menschen ist, und damit kritisch zu hinterfragen sind. Die Staatskassen seien leer, man könne dies und jenes nicht bezahlen, es könnten schliesslich nicht alle Geflüchteten kommen, Klimaschutz sei zu teuer, Griechenland hätte schlecht gewirtschaftet.

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All dies sind und waren Argumente die wir niemals als Rechtfertigung für Entscheidungen gegen das Wohl der Menschen gelten lassen. Denn die Notwendigkeit eines guten Lebens für Alle lässt sich nicht rational und naturwissenschaftlich begründen, genau so wenig, wie die Ewigkeit des Kapitalismus. Als (radikale) Linke sollten wir nicht in solch menschenverachtende Argumentationsmuster verfallen, denn letztlich halten sie das Leben einer Person, die sich nicht infiziert für schützenswerter, als das einer Frau, die von häuslicher Gewalt betroffen ist, oder einer Person die über Suizid nachdenkt und nicht die Hilfe bekommt, die sie vielleicht braucht. Überlassen wir diese Logik den Herrschenden.

Unsere Logik ist die von Überleben & Leben. Das heisst nicht, dass man sich dem Maske tragen grundsätzlich verweigert oder Partys mit vielen Menschen feiert. Es heisst, dass man immer wieder anhand der eigenen linken und kollektiv entwickelten Massstäbe abwägt. Im Alltag heisst das: Wie wichtig ist der soziale Kontakt, wie geht es mir und meinem Gegenüber, welches Risiko bin ich bereit persönlich einzugehen. In unseren Kämpfen heisst dies: Wie wichtig ist unser Kampf für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse? Wenn momentan so vieles abgesagt oder in den digitalen Raum verschoben wird, signalisiert dies, dass wir unsere Kämpfe eigentlich für nicht relevant halten. Wenn dem so ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem und sollten darüber sprechen.

Im herrschenden Diskurs erscheint die Corona-Pandemie wie ein höheres Übel, das über uns gekommen ist und das es nun zu beherrschen gilt. Hierfür ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass das Corona-Virus eben genau dies nicht ist. So haben zahlreiche Studien und Forschungen der letzten Jahrzehnte bereits gezeigt, dass die kapitalistische Landwirtschaft und die Urbanisierung der Gesellschaften das Entstehen und die schnelle Verbreitung von Viren hervorruft und rasant befördert.

Doch auch jetzt herrscht im breiten Diskurs schon wieder das Prinzip TINA: Die Bevölkerung wird bereits auf kommende Pandemien eingeschworen, wenn es heisst, dass die Menschen sich eben an das Tragen von Masken gewöhnen müssten, oder das Home Office als das neue ständige Arbeiten besprochen wird. Ein in Frage stellen der Tatsache, dass wir nun in der ständigen und unabwendbaren Gefahr von Pandemien leben und dass all die Massnahmen gerechtfertigt sind, gibt es nicht, geschweige denn, dass die Frage nach Gründen und der Überwindung der Gründe und Zustände die uns in diese Situation gebracht haben, gestellt werden.

Doch auch die (radikale) Linke in Deutschland scheint sich nicht zu trauen all dies praktisch und hörbar in Frage zu stellen. Noch viel schlimmer: Es scheint, als haben wir noch nicht einmal begriffen, was die staatlichen Massnahmen mit uns als Genossinnen machen. Wir entfernen uns ganz materiell voneinander, wir sind eine Gefahr füreinander. Einfach all unsere Treffen ins digitale zu verschieben und unsere Räume zu schliessen bedeutet, dass wir der Meinung sind, dass wir uns als Körper gegenseitig nicht brauchen. Dabei sind es eben diese Körper, die uns in Aktionen gegen Polizeigewalt geschützt haben, mit denen wir auf Partys geschwitzt haben, in zu engen Räumen auf Plena fast aufeinander gesessen haben, die uns in schweren Zeiten getröstet haben.

In den sozialen Räumen fand politischer Austausch und Vernetzung statt. Wir erfuhren von Ideen, Initiativen und Debatten. Es existierte so etwas wie Kooperation. Heute erfahren wir von drei thematisch ähnlichen Demos am selben Wochenende durch Twitter, spektren übergreifende Diskussionen finden nur sporadisch statt und so etwas wie Enthusiasmus ist ein Fremdwort auf Big Blue Buttom (oder auch Zoom). All das verweist auf die alte Erkenntnis, dass das soziale/private, politisch ist: Eine fast vergessene Erkenntnis aus fernen Zeiten, in denen sich die Linke noch Analyse leisten konnte.

Doch selbst die oben erwähnten Veranstaltungen die zumindest die wirtschaftliche Seite der Corona-Politik adressierten waren so klein, dass der Eindruck entstehen muss, der radikalen Linken seien die autoritären Massnahmen egal, oder noch schlimmer, dass sie einverstanden ist mit dieser Politik.

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Doch anstatt hierüber zu sprechen, geht alles weiter wie bisher, nur eben mit Maske und draussen oder digital. So kann man eben nicht behaupten, dass es 2020 keine linken Aktionen gegeben hätte. Von der BLM Demo, über die Aktionen im Danni bis zur Demo gegen die Liebig-Räumung, war alles dabei. Eine laute Kritik an den staatlichen Massnahmen, geschweige denn ein Aufbegehren gegen diese war jedoch kaum zu hören geschweige denn zu spüren. Man konnte bei all diesen Gelegenheiten den Eindruck gewinnen Corona habe es nie oder schon immer gegeben.

Die paar Veranstaltungen oder Aktionen die explizit die Politik der Regierung thematisierten, stellten die wirtschaftlichen Folgen in den Vordergrund. Doch das ständige Sich-empören über die angebliche Doppelmoral der aktuellen Politik verkennt, dass die ergriffenen Massnahmen in der Logik der Herrschenden äusserst kohärent sind. Malochen gehen und zu Hause bleiben. Einen anderen Lockdown wird es hier nicht geben! Doch selbst die oben erwähnten Veranstaltungen die zumindest die wirtschaftliche Seite der Corona-Politik adressierten waren so klein, dass der Eindruck entstehen muss, der radikalen Linken seien die autoritären Massnahmen egal, oder noch schlimmer, dass sie einverstanden ist mit dieser Politik.

Wir lassen uns vereinzeln und halten es für das einfachste, den staatlichen Massnahmen Folge zu leisten, anstatt gemeinsam zu überlegen, was für eine linke Gemeinschaft ein gangbarer Weg sein könnte. Ja, ein solcher Prozess ist anstrengend und erfordert Mut, denn es müssen Ängste ausgesprochen werden und in einem solchen Prozess würde deutlich werden, dass wir uns niemals 100% schützen können. Sicherheit existiert nur in der Ideologie von Herrschaft. Aber ein Kollektiv ist mehr als seine Einzelteile.

Es ist ein grosses Ganzes, das über die Einzelne hinausweist: Verantwortung für Ansteckung, durch eine gemeinsame Diskussion und vielleicht auch Entscheidung, auf das Kollektiv zu übertragen und damit jede Einzelne von der schweren Last der angeblichen „Schuld“, eine Freundin angesteckt zu haben zu entlasten, ist das, was zu gewinnen ist. Uns als Subjekte ernst zu nehmen oder Politik der 1. Person zu machen, heisst auch gemeinsam zu schauen, was diese Situation mit uns als Genossinnen macht, ganz zu schweigen vom Rest der Bevölkerung.

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Die radikale Linke kämpft für ein würdiges Leben aller Menschen auf diesem Planeten. Doch ein würdiges Leben ist weit entfernt. Momentan mehr denn je. Die soziale Verwüstung in Form von Millionenarbeitslosigkeit, Hunger und Gewalt fegt wie ein Tsunami, fast ungesehen in Deutschland, über den Globus. Wir werden in unsere Wohnungen eingesperrt und in unseren sozialen Beziehungen bevormundet. Schlimmer noch: wir bevormunden uns gegenseitig.

So entscheiden Kinder, ihre Eltern nicht zu besuchen, weil sie sich für ein Risiko für sie halten, obwohl ein Besuch sehnlichst gewünscht wird. Man glaubt für andere entscheiden zu können, ob man sich trifft, anstatt sich als Subjekte ernst zu nehmen und zu fragen, ob die andere Person bereit ist, „das Risiko“ einzugehen. In anderen Ländern werden den Menschen die Ressourcen und das Wissen, um sich vor dem Virus zu schützen verweigert. Denn genug Ressourcen existieren im Kapitalismus nicht für alle, sondern hauptsächlich für uns. – Was ist ein Leben wert, wenn es nicht mehr mit anderen gemeinsam gelebt werden kann?

Damit ist das Leben auf das banale Überleben reduziert. So ist es begrüssenswert, wenn darauf hingewiesen wird, dass es für Menschen ohne Obdach kaum möglich ist zu Hause zu bleiben. Damit wird auf die soziale Ungleichheit in den Möglichkeiten sich vor einer Ansteckung zu schützen hingewiesen. Doch gleichzeitig wird Wohnen darauf reduziert sich vor anderen Menschen schützen zu können. Diesen Widersprüchen muss sich eine radikale Linke stellen. Worum es bei einem guten Leben für alle gehen muss, scheint in den Zeiten von Covid-19 aus dem Blick geraten zu sein.

Als radikale Linke müssen wir hiergegen aufbegehren und wie sollen wir dies tun, wenn wir uns aus dem öffentlichen Raum verabschieden und ihn den Rechten überlassen? Wenn wir für die Menschen nicht greifbar, nicht ansprechbar im materiellen Sinne sind? Also lasst uns nicht über das Für und Wider „der Massnahmen“ im medizinischen oder virologischen Sinne streiten. Lasst uns stattdessen analysieren, welchen Effekt sie auf die Gesellschaft haben, ob sie Errungenschaften linker Kämpfe einschränken und ob sie linken Prinzipien entgegenstehen und sie entsprechend kritisieren. Denn mit uns ist kein Staat zu machen!

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen       :

Oben        —     Es wurden in Hamburg zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie Bereiche mit einer Maskenpflicht erlassen. Dieses Schild weist auf die geltende Maskenpflicht in der Mönckebergstraße hin.

Author Kalle Schmitz     / Source    –    Own work
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

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2.) von Oben      —    „I had just read Ernst Jünger’s brutal World War I memoirs, ‚Storm of Steel‘, and was really inspired to do some imagery from that time period. Naturally, I went looking for the Marine Corps‘ side of the story and read up more on the Battle of Belleau Wood. Initially I thought about doing this with traditional paints, but there’s already a lot of incredible paintings depicting Belleau Wood. So I did a sketch in ink brush, which I then scanned and colored in Adobe Photoshop. Although I do love doing drawings from real life, with this image I deliberately took a more exaggeratedly stylized approach to make something that looked like it could be a screencap from an animated film about Belleau Wood.“ (U.S. Marine Corps Artwork by Cpl. Reagan Lodge)

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3.) von Oben     —       Wounded arriving at triage station, Suippes, France from sanitary train. Selected by Scott.

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Unten         —         Suizide    –  кримзон VI

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Der Solidaritätskollaps

Erstellt von Redaktion am 30. Dezember 2020

Das Nehmen war für Politiker-Innen immer leichter als das Geben

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Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Wer Solidarität fordert, diese selbst aber, wie jetzt in Lipa, willentlich unterlässt, darf sich über verlorenes Vertrauen seitens eigener Bürgerinnen nicht wundern

Kaum ein Wort war im Jahr 2020 so wichtig wie Solidarität: Haltet euch an Hygieneregeln! Geht nicht raus! Schult eure Kinder zu Hause! Unterlasst alles, damit Menschen nicht sterben und das Personal in den Krankenhäusern geschont wird!Das eigene Handeln und Leben in Relation zu anderen zu setzen, ist nun leider etwas, das viele verlernt haben. Corona macht die Deformation dessen deutlich, was wir noch immer gerne „Gesellschaft“ nennen: Eine Ansammlung von Ich-Fanatikern. Keine Empathie, solange man sich nicht selbst in Sicherheit gebracht hat.

So hat Deutschland mit der Agenda 2010 Armut produziert, weil es aus der Rolle des „kranken Mannes in Europa“ rauswollte. Produziert hat es andere Krankheiten. Individuelle. Einzelschicksale, die wenig Lobby haben, Kinder alleinerziehende Mütter, die noch weniger Lobby haben. Die Debatten über die Kürzungen, die Präsident Macron vorantreiben wollte, bekommt man selbst in Deutschland mit, weil die Franzosen das neoliberale Primat noch nicht akzeptiert haben. Der Unmut in der Bevölkerung war so groß, dass Macron auf das Tête-à-Tête der Reichen in Davos verzichten musste. In Deutschland hingegen geschah der Abbau leise, wie von Geisterhand.

In dieser Atmosphäre aus Kälte und Apathie ist das Beschwören von Solidarität, wie Corona sie fordert, vergeblich. Wer kann, will sein Vergnügen, es ist schließlich „sein Leben“ – das Primat des Egoismus zählt. Und während die Solidarität ausgehöhlt wurde, entstand eine Parallelgesellschaft aus Millionären und Multimillionären. In diesem Coronajahr 2020 besaßen Mitte des Jahres Millionäre gemeinsam 65 Billionen Euro. Mehr als 100.000 neue Millionäre gibt es allein in Deutschland, so der World Wealth Report dieses Jahres. Die reichsten 10 Prozent besitzen inzwischen mehr als 56 Prozent des gesamten Vermögens, eine Zahl, an der sich Gerechtigkeitsfragen gut messen lassen.

File:Grundeinkommen statt Existenzangst BGE Berlin 2013.jpg

Die Frage ist derzeit nicht, ob der Staat viel verteilt, das tut er. Die Frage ist, von wem er sich das Geld, das er verteilt, nimmt. Und welche Vermögen unangetastet bleiben. In Zeiten der Neuverschuldung angesichts von Corona und der Klimakrise muss Solidarität die Gerechtigkeitsfrage neu stellen. In einer Gesellschaft, in der die meisten denken – auch wenn es nicht stimmt – sie hätten sich alles selbst erkämpft und die Reichsten kommen einfach so davon, wird Solidarität als Handlungsmaxime nicht umsetzbar sein.

Natürlich gibt es auch gelebte Solidarität, wie den Einsatz jener, die in den Krankenhäusern für zu wenig Gehalt für andere ihre Gesundheit riskieren; es gibt jene, die auf andere achten und ihr Privatleben maximal reduzieren. Doch hier geht es um das, was derzeit an Dysfunktionalität sichtbar wird: etwa an den Grenzen Europas. Hier endet die viel beschworene Solidarität von 2020. Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten kämpfen für Menschen auf der Flucht, für humanitäre Hilfeleistungen – doch wieder steht Europa vor Bildern von Menschen an den eigenen Grenzen, die verdeutlichen, dass nicht einmal mehr der Anspruch auf vorausschauendes politisches Handeln erhoben wird.

Wie glaubwürdig ist eine Politik, die Solidarität beschwört, den Lockdown verhängt, „weil jedes Leben zählt“, aber vor den Grenzen Europas Menschen dahinsiechen und Ratten an Kinderkörpern knabbern lässt? Kam denn das so überraschend? Eine europäische Politik, die so selbstbewusst versagt, verspielt ihre Glaubwürdigkeit. Auch deshalb bleiben politische Ansprachen oft wirkungslos: Die moralische Autorität ist längst verspielt. Wer solches Elend zulässt, dem glaubt man keine Sätze wie: „Jedes Leben zählt.“ Man vermutet wirtschaftliche Interessen dahinter, man wittert Manipulation.

Quelle      :         TAZ        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben     — 

  • Bildbeschreibung: „Brücke der Solidarität“ über den Rhein in Duisburg
  • Fotograf/Zeichner: de:Benutzer:AlterVista
  • Datum: April 2006
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

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Unten      —Mehr als 2.000 Teilnehmer demonstrieren für ein Bedingungsloses Grundeinkommen auf der BGE-Demonstration am 14. September 2013 in Berlin

Basic Income Demonstration in Berlin

Author stanjourdan from Paris, France
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Aktion Zivilen Ungehorsams

Erstellt von Redaktion am 26. Dezember 2020

Hausfriedensbruch im Atombombenlager

Wo kann der Mensch in Frieden leben, wenn es dem bösen eigenen Staat nicht gefällt ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Helmut Scheben /  25. Dez 2020

Am 9. Dezember stand Lies Welker vor Gericht. Sie hatte auf dem deutschen Militärgelände protestiert, wo die US-Atomwaffen lagern.

Lies Welker ist Jahrgang 1948. Sie sagt: «Sehen Sie, selbst mit über 70 ist das immer noch etwas, das gut tut. Ein Go-In ist etwas Verbotenes, und ich habe lange darüber nachgedacht, mit anderen darüber gesprochen, Argumente hin und her erwogen und bin zu der Überzeugung gekommen: Ich missachte das Verbot, ich mache das jetzt, weil ich es für richtig halte und weil es meine Pflicht ist.»

Lies Welker kämpft seit Jahrzehnten dafür, dass Deutschland frei von Atomwaffen wird. Am 30. April 2019 hatte sie am Fliegerhorst Büchel in der Eifel zusammen mit anderen Friedensaktivisten eine Einzäunung zerschnitten und war auf das Gelände vorgedrungen. So behinderten sie den Betrieb des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 der Bundeswehr. Dieses hat im sogenannten Ernstfall die Aufgabe, die US-Atombomben dort abzuwerfen, wo die NATO-Führung den Feind treffen will. Das wird im NATO-Diskurs als «nukleare Teilhabe» Deutschlands bezeichnet.

Am vergangenen 9. Dezember stand Lies Welker wegen Hausfriedensbruchs vor dem Amtsgericht Cochem an der Mosel. Man warf ihr vor, auf einem Gelände, wo der Atomkrieg eingeübt wird, den Frieden gebrochen zu haben.

Auf dem Luftwaffen-Stützpunkt Büchel, Landkreis Cochem-Zell, Rheinland-Pfalz, liegen 20 Nuklearsprengköpfe vom Typ B-61, jeder mit einer Sprengkraft von etwa 50 Kilotonnen. Das ist etwa viermal die Zerstörungskraft der Bombe, die die USA auf Hiroshima warfen. Die Luftwaffe bildet hier Jagdbomber-Piloten für den Einsatz mit taktischen Atomwaffen aus.

«Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf einen Zaun zu», sagt Lies Welker, «und da oben steht ein Soldat, der sagt: Gehen Sie nicht weiter, das ist verboten. Und ich bin so überzeugt von meiner Sache, dass ich sage: Nein. Wir gehen jetzt hier rein, gewaltlos, wir tun es. Das ist eine Erfahrung, aus der man eine grosse Kraft zieht.»

Lies Welker sagt, sie habe in ihrem Leben gelernt, dass Menschen, auch wenn sie am Anfang wenige sind, mit Aktionen zivilen Ungehorsams viel bewegen können. Eine enorm wichtige Lektion, die ihr gezeigt habe, dass «wir mit unserer Geduld und dadurch, dass wir immer mehr werden, Justiz und Politik und die Medien dazu bringen können, ihre Einstellung zu diesen Atomwaffen zu ändern.»

Wie alles anfing: Freispruch nach 12 Jahren

1986 blockierte die damals 38-jährige Lehrerin Lies Welker zusammen mit Friedensaktivisten die Zufahrt zur Wüschheim Air Station (Deckname Pydna) bei Hasselbach im Hunsrück. Dort sollten zur Umsetzung des sogenannten NATO-Doppelbeschlusses US-Atomraketen stationiert werden, die mit 2500 Kilometern Reichweite das Ziel Moskau erreichen konnten. Der Rüstungsbeschluss der deutschen Regierung war heftig umstritten und rief einen politischen Aufruhr hervor, wie es in der deutschen Nachkriegsgeschichte wohl wenige gegeben hat. Zunächst waren es nur kleine Gruppen von Friedensaktivisten, die an der Zufahrt zu dem Stützpunkt demonstrierten. Sie hatten Plakate mit der Aufschrift: Hier wird Krieg vorbereitet. Bald hatten sie die umliegenden Gemeinden hinter sich, und im Herbst 1986 kam es zu einer Protestkundgebung von rund 200’000 Menschen. Bekannte Künstler wie Udo Lindenberg und Hannes Wader waren zu hören, als damals die «Hunsrücker Erklärung» verlesen wurde, die eine Umkehr in der Sicherheitspolitik forderte.

Lies Welker wurde damals wegen «verwerflicher Nötigung» in erster Instanz zu 30 Tagessätzen verurteilt. 1988 wurde sie am Landgericht Bad Kreuznacht freigesprochen. Im gleichen Jahr hob das Oberlandesgericht Koblenz das Urteil auf, und das Landgericht Mainz verurteilte sie erneut zu 30 Tagessätzen à 40 DM. Dieses Urteil wurde 1999 endgültig aufgehoben. Lies Welker bekam ihr Geld zurück, und der Vermerk wurde aus ihren Berufsakten entfernt. Das Bundesverfassungsgericht war zu dem Schluss gekommen, dass der gewaltlose Widerstand der Friedensaktivisten in den 80er Jahren an verschiedenen Orten in Deutschland keine Straftat war. Die Cruise Missiles sind inzwischen abgezogen und verschrottet worden.

Lies Welker beruft sich auf diese mühevolle Erfahrung, wenn sie sagt, sie vertraue auf Recht und Gesetz. Vor zwei Wochen erklärte sie vor dem Richter in Cochem: «Die Justiz brauchte lange, diesen Weg zu gehen. Aber es gibt ihn, diesen Weg, das habe ich vor 30 Jahren gelernt. Ich habe nicht nur Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit der Justiz, sondern auch in die Einsichtsfähigkeit der Politik.»

Aber der Richter hatte kein Einsehen. Er ist der Ansicht, das Vorhandensein von Atombomben auf einer Air Base sei nichts anderes als das Vorhandensein einer Schere in einem Haushalt. Beide könnte man sowohl für nützliche und legale als auch für kriminelle Handlungen verwenden.

«Wir waren so eine Art Reinigungstruppe»

Alle Wege führen in die Kindheit, eine Erkenntnis, die oft erst zutage tritt, wenn man im Alter zurückblickt. «Ich bin in Kaiserslautern auf dem Weg zur Schule noch durch Ruinen gelaufen», sagt Lies Welker, «ich bin geboren, da war der Krieg gerade drei Jahre vorbei.»

Sie sagt, sie stamme aus einer Familie, in der die Männer Militärs und Nazis waren. Einer Familie mit eher autoritären Zügen. Über die Gefallenen wurde wenig geredet. Die kulturellen Schockwellen von 1968 erfassten Lies Welker wie viele andere. Da war ein Unwohlsein in diesem Deutschland der neuen Biederkeit und des neuen Obrigkeitsdenkens. Sie bewarb sich um eine Stelle in Brasilien, um Abstand zu gewinnen und «Deutschland von aussen zu sehen». In Brasilien arbeitete sie drei Jahre, und als sie zurückkam, sah sie, dass der Kalte Krieg unaufhörlich eskalierte. Das atomare Wettrüsten führte dazu, dass die Welt ein paar Mal haarscharf an einer nuklearen Katastrophe entlang schlidderte.

Friedensarbeit braucht einen langen Atem, davon ist Lies Welker überzeugt. «Wir haben zwei Pappteller zusammengeklebt, die waren mit Schotter gefüllt, sodass es knirschte, wenn man drauftrat. Die haben wir dann in der Fussgängerzone ausgelegt. Dazu Flugblätter verteilt mit dem Aufruf, Landminen zu verbieten.»

In den Industrieländern, in denen die Rüstungsbranche ökonomisch systemrelevant ist, muss einen breiten Rücken haben, wer für Abrüstung auf die Strasse geht. «Dann geht doch nach Moskau», war zu hören. Lies Welker sagt: «Wenn wir auf die Strasse gingen, waren wir so eine Art Reinigungstruppe. Die Leute konnten sich bei uns auskotzen und ihre Wut rauslassen. Das war etwas frustrierend.»

Aber es war erfolgreich. 1997 wurde in der Ottawa-Konvention der Gebrauch von Anti-Personen-Minen völkerrechtlich bindend verboten. Bereits sind 164 Staaten weltweit dieser Konvention beigetreten. Die internationale Kampagne gegen Landminen erhielt den Friedensnobelpreis.

Ähnlich die Kampagne für die Ächtung von Atomwaffen (ICAN). Diese Kampagne, hinter der weltweit 500 Organisationen stehen, bekam 2017 den Friedensnobelpreis, und am 22. Januar 2021 tritt der UNO-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen in Kraft. «Ein Sieg für die Menschheit» schrieb IKRK-Präsident Peter Maurer. Und UNO-Generalsekretär Antonio Guterres meinte, der Vertrag sei ein Schritt hin zu einer «kompletten Elimination von Nuklearwaffen.»

«Lachende, junge, uniformierte Männer»

Aber so weit sind wir noch lange nicht. Der Vertrag hat vor allem Symbolkraft, denn die Länder, die ihn unterzeichnet und ratifiziert haben, besitzen gar keine Atomwaffen. Die Atommächte, die USA, Russland, China, Grossbritannien, Frankreich, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea sind nicht an Bord, ebenso nicht Deutschland und die anderen NATO-Staaten, weil die nukleare Abschreckung zur Strategie des Bündnisses zählt. Zur Zeit ist unklar, ob der START-Vertrag zwischen Russland und USA, der die Zahl der Atomsprengköpfe begrenzt, verlängert wird.

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat im April angekündigt, sie werde beim US-Hersteller Boeing 45 Kampfjets kaufen, um die deutschen Tornados zu ersetzen. 30 der neuen Kampfbomber sind F-18 Superhornet, die mit den in Büchel gelagerten US-Atomsprengköpfen bestückt werden sollen.

Die USA haben unter Präsident Obama beschlossen, das nukleare Arsenal zu modernisieren, ein sogenanntes Updating. Dafür ist mehr als eine Billion Dollar (1000 Milliarden) für die kommenden 30 Jahre budgetiert. Das Pentagon hat unter der Regierung Trump in einem Bericht «zur Überprüfung der nuklearen Situation» verlauten lassen, man arbeite an Atombomben mit geringerer Sprengkraft, sogenannten Mini-Nukes. Diese seien zur Abschreckung eher geeignet, denn man müsse davon ausgehen, dass Russland womöglich darauf setze, dass die USA die strategischen Atomwaffen mit ihrer gigantischen Zerstörungskraft nicht wirklich einsetzen wollten. Das heisst, ein «kleiner Atomkrieg» wird als eine effizientere Strategie der Abschreckung angesehen.

Lies Welker sagt, es habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein kurzes Zeitfenster gegeben, in dem man die Hoffnung hatte, Atomwaffen könnten abgeschafft werden und der Albtraum Hiroshima kehre nicht wieder. Aber dieses Zeitfenster habe sich nun wieder geschlossen.

Vor Gericht sagte sie am 9. Dezember, sie habe am 30. April 2019, als sie mit ihrer Gruppe auf dem Flugplatzgelände in Büchel war, eine Gruppe junger Offiziere gesehen:

«Es schien für sie ein kleines Spektakel zu sein: eine Gruppe Aktivistinnen, festgehalten von den Wachsoldaten des Flugplatzes. Fröhlich standen sie zusammen und kommentierten das Geschehen untereinander. Dieses Bild erinnerte mich an die schwarz-weissen Fotos im Fotoalbum meines Vaters: lauter lachende, junge, uniformierte Männer (…) Für mich habe ich den Eindruck mitgenommen, dass ich diesen jungen Männern keine Atomwaffe anvertrauen würde. Sie können diese Verantwortung nicht tragen. Keiner kann sie tragen. Und ich denke, dass auch unsere Regierung nicht recht daran tut, diesen jungen Menschen Verantwortung für Atomwaffen aufzuladen. Unsere demokratisch gewählte Regierung müsste die Verantwortung, die auch sie im Zweifelsfall nicht tragen kann, zurücknehmen. Und den Abzug der Atomwaffen aus Büchel veranlassen. Und auf ihre Vernichtung hinarbeiten.»

Der Richter sah das nicht so. Er verurteilte die Frau wegen Hausfriedensbruch zu einer Strafe von 30 Tagessätzen. Lies Welker wird an die nächsthöheren Instanzen gelangen. Sie hofft, dass es nicht wieder 12 Jahre dauert, bis sie freigesprochen wird.

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Deutsche Gerichte

Erstellt von Redaktion am 24. Dezember 2020

Relativieren die Bedeutung der Grundrechte

Quelle      :        INFOsperber CH.

Jürg Müller – Muralt /  23. Dez 2020

Die USA benutzen für den völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg den Stützpunkt Ramstein. Gerichte streiten über die Rolle Deutschlands.

Die 5600-Seelen-Ortschaft Ramstein im Bundesland Rheinland-Pfalz gehört eigentlich zu den eher unscheinbaren Ortschaften in Deutschland – wäre da nicht die Air Base Ramstein. Das ist nicht bloss ein Militärflugplatz, sondern das Hauptquartier der US-Luftstreitkräfte in Europa und gleichzeitig die personell grösste Basis der US Air Force ausserhalb der Vereinigten Staaten. Diese riesige Drehscheibe der amerikanischen Luftwaffe dient auch der Steuerung der Drohnenangriffe in Irak, Afghanistan, Pakistan, Somalia und Jemen im Rahmen des so genannten «Kriegs gegen den Terror». Ohne Ramstein wäre der völkerrechtswidrige amerikanische Drohnenkrieg in dieser Weltregion technisch nicht möglich.

Drei deutsche Gerichte involviert

Das bringt Deutschland in eine heikle Lage. Bereits vor mehreren Jahren forderte die regierungsnahe deutsche Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die Ächtung von Kampfdrohnen, und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) schlug Alarm, weil die «unsichtbaren» Kriege das humanitäre Völkerrecht vor völlig neue Probleme stellen (siehe Infosperber). Seit 2015 haben sich auch drei deutsche Gerichte mit der Frage beschäftigt. Das jüngste, in der Öffentlichkeit wenig beachtete Urteil erging am 25. November 2020 vom deutschen Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Mit einem juristischen Eiertanz versucht das Gericht, die Bundesregierung aus dem Schussfeld zu nehmen.

Klage eines Jemeniten

Die Geschichte begann 2012. In einem Dorf im Osten Jemens schlugen damals fünf von US-Drohnen abgefeuerte Raketen ein. Ziel des Angriffs waren mutmassliche Al-Kaida-Mitglieder. Doch es wurden auch Unbeteiligte getötet, wie es bei diesen Angriffen häufig der Fall ist. Ein Angehöriger der Getöteten, Faisal bin Ali Jaber, klagte gegen die Bundesrepublik Deutschland. Seine Argumentation: Deutschland verstosse gegen seine grundgesetzlichen und menschenrechtlichen Schutzpflichten, weil Berlin die Drohneneinsätze der USA in Jemen unter Benutzung des US-Luftwaffenstützpunkts Ramstein nicht nur nicht unterbinde, sondern aktiv gestatte. Die Piloten der todbringenden Drohnen sitzen zwar in den USA. Doch in Ramstein steht die Satelliten-Relais-Station, die wegen der Erdkrümmung notwendig ist, um die Funksignale zur Steuerung der Operationen an die Drohnen weiterzuleiten.

Menschenrechte gelten universell

Ziel der Klage ist es, die Satellitenstation in Ramstein zu schliessen. Juristische Unterstützung erhält der Kläger aus Jemen vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), eine gemeinnützige und unabhängige Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin. Zur Motivation und zum Ziel der Klage schreibt das ECCHR: «Menschenrechte gelten universell. Die USA verletzen im Rahmen ihrer weltweiten Bekämpfung des internationalen Terrorismus immer wieder fundamentale Menschenrechte. In Jemen würden keine ZivilistInnen bei Drohnenangriffen getötet, wenn Deutschland die Nutzung deutschen Territoriums unterbinden würde.»

Erhebliche Zweifel

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Patt und Pattochinchen auf Suche nach einen Luftschutzbunker ?

Der Gang durch die Gerichte begann am Verwaltungsgericht Köln, das am 27. Mai 2015 die Klage abwies. Die Begründung in Kürzestform: Selbst wenn man annehme, dass eine Schutzpflicht bestünde, könne man davon ausgehen, dass diese erfüllt sei; denn die Regierung habe bei ihren Massnahmen einen grossen Ermessensspielraum. Die Klagenden gingen in Berufung – und siehe da: Das Oberverwaltungsgericht Münster sah die Sache anders und gab der Klägerschaft mit Urteil vom 19. März 2019 zumindest teilweise recht. Das Gericht verurteilte Deutschland dazu, sich durch «geeignete Massnahmen» zu vergewissern, dass eine Nutzung von Ramstein durch die USA für bewaffnete Drohneneinsätze in Jemen im Einklang mit dem Völkerrecht stattfindet. Nötigenfalls sei auf Völkerrechtskonformität hinzuwirken. Das Urteil besagt zudem, dass «nach Auswertung aller verfügbaren öffentlichen Erklärungen der US-Administration» erhebliche Zweifel bestünden, ob «die generelle Einsatzpraxis für Angriffe» dem Unterscheidungsgebot des humanitären Völkerrechts zwischen Kämpfern und Zivilisten genüge.

Beachtliches Signal

Natürlich tönt das auf den ersten Blick recht unverbindlich. Doch ein Gericht kann in militärischen und aussenpolitischen Bereichen nur wenig ausrichten. Deshalb ist der richterliche Hinweis auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesregierung ein beachtliches Signal. Heribert Prantl, einer der bekanntesten deutschen Publizisten, verweist in der Süddeutschen Zeitung auf das deutsche Grundgesetz. Dort heisst es, dass «Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören», verfassungswidrig seien. Zudem verbietet das Grundgesetz die Todesstrafe. Prantl folgert daraus, es sei «verfassungswidrig, auf deutschem Boden oder von deutschem Boden aus Exekutionen zu vollziehen». Bisher hat sich Deutschland einfach mit der Versicherung der Amerikaner begnügt, dass in Ramstein alles mit rechten Dingen zugehe.

Regierung geht in Revision

Kein Wunder, dass die Regierung an diesem Gerichtsurteil keine Freude hatte und auch in Erklärungsnotstand und Zugzwang geriet. Also legte sie, vertreten durch das Verteidigungsministerium, bei der nächsthöheren Instanz Revision ein, beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Dieses erklärte am 25. November 2020 das Urteil der Vorinstanz für nichtig. Schon der Titel der offiziellen Pressemitteilung sagt so ziemlich alles: «Kein Individualanspruch auf weitergehendes Tätigwerden der Bundesregierung zur Verhinderung von Drohneneinsätzen der USA im Jemen unter Nutzung der Air Base Ramstein».

Schutzpflicht mit Bedingungen

Die Klage sei «unbegründet», befand das Gericht. «Zwar können grundrechtliche Schutzpflichten des deutschen Staates auch gegenüber im Ausland lebenden Ausländern und im Fall von Grundrechtsbeeinträchtigungen durch andere Staaten bestehen.» Doch dazu brauche es bestimmte Voraussetzungen. Diese Schutzpflicht entstehe erst dann, wenn «aufgrund der Zahl und der Umstände bereits eingetretener Völkerrechtsverstösse konkret zu erwarten ist, dass es auch in Zukunft zu völkerrechtswidrigen Handlungen kommen wird». Ferner bedürfe es «eines qualifizierten Bezugs zum deutschen Staatsgebiet». Doch: «Für den erforderlichen qualifizierten Bezug zum deutschen Staatsgebiet reicht es nicht aus, dass der Datenstrom für die Steuerung der im Jemen eingesetzten Drohnen über Glasfaserkabel von den USA aus zur Air Base Ramstein übermittelt und von dort aus mittels einer Satelliten-Relaisstation an die Drohnen gefunkt wird.»

Friedensforschungsinstitut kritisiert Urteil

Das Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), eines der führenden Friedensforschungsinstitute in Europa, analysiert das Gerichtsurteil und kritisiert, dass es «den Schutz des Lebens im Zusammenhang mit dem Völkerrecht unzumutbar aushöhlt und das Entstehen einer Schutzpflicht von der unklaren und zufälligen Massgabe genügend vorheriger Völkerrechtsverletzungen abhängen lässt». Auch der enge Bezug zum deutschen Staatsgebiet leuchtet dem PRIF nicht ein. Für die Schutzpflicht bedürfe es keiner gesonderten Begründung oder eines spezifischen Bezuges; denn sie lasse sich allein aus der «objektiven Werteordnung» des deutschen Grundgesetzes herleiten. «Schon alleine aus der Überlassung des Hoheitsgebietes sowie der damit verbundenen Rücknahme von Kontrollrechten muss sich die Entstehung der Schutzpflicht ergeben.»

«Zusicherung der USA» reicht

Das Bundesverwaltungsgericht hält die bisherigen diplomatischen Schritte der Regierung gegenüber den USA für ausreichend. Deutschland habe ja «eine Zusicherung der USA eingeholt, dass Aktivitäten in US-Militärliegenschaften in Deutschland im Einklang mit geltendem Recht erfolgen. Diese Massnahmen können nicht als völlig unzulänglich qualifiziert werden. Weitergehende Schritte, wie insbesondere die von den Klägern letztlich geforderte Kündigung der völkervertraglichen Grundlagen für die Nutzung der Air Base Ramstein, musste die Bundesregierung wegen der massiven nachteilhaften Auswirkungen für die aussen-, bündnis- und verteidigungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht in Betracht ziehen.» Das Gericht gewichtet also politische Rücksichtnahme höher als Grund- und Menschenrechte.

Es geht um elementare Grundrechte

Diese Entscheidung zeige die enorme Zurückhaltung der Gerichte, den Handlungsspielraum der Bundesregierung in aussenpolitischen Angelegenheiten einzugrenzen, schreibt das PRIF. «Denn die Gerichte geben der Exekutive in Fragen der Aussen- und Sicherheitspolitik nur in Ausnahmefällen bestimmte Handlungsanforderungen oder Vorgaben. Ein solcher Ausnahmefall sollte jedoch gerade in derartigen Fällen der Betroffenheit von elementaren Grundrechten wie dem Lebensschutz, besonders in Verbindung mit völkerrechtlichen Vorschriften, angenommen werden.»

Erstmals exterritoriale Schutzpflicht anerkannt

Secretary Pompeo participates in a walking tour of Modlareuth, Germany (49033747618).jpg

Vier Mauerstützen

Das PRIF findet allerdings auch einen positiven Ansatz im Gerichtsurteil: In der Sache sei die Entscheidung zwar enttäuschend, doch die Klagenden konnten «zumindest abstrakt einen Teilerfolg erzielen». Denn «erstmals anerkennt das Gericht die grundsätzliche Möglichkeit des Bestehens einer extraterritorialen Schutzpflicht der deutschen Staatsgewalt an. Danach können auch gegenüber im Ausland lebenden Ausländerinnen und Ausländern im Fall von Grundrechtsbeeinträchtigungen durch andere Staaten grundrechtliche Schutzpflichten bestehen. Bisher waren derartige Pflichten zum Ergreifen von staatlichen Schutzmassnahmen lediglich in Inlandsfällen oder gegenüber Deutschen im Ausland anerkannt.» Die Völkerrechtlerin und Autorin der PRIF-Analyse, Vera Strobel, hält es für möglich, dass Deutschland aufgrund dieses Gerichtsurteils offiziell verpflichtet werden könnte, auf einer Völkerrechtskonformität konkreter US-Drohneneinsätze zu beharren. Doch dazu brauchte es ein Urteil der obersten deutschen Gerichtsinstanz, des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe.

«Das Urteil ist ein schwerer Schlag»

Die Kläger prüfen nun eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Andreas Schüller, Leiter Programmbereich Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim ECCHR, sagt: «Drohnenangriffe sind völkerrechtswidrig. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig verkennt die Bedeutung der Grundrechte. Ein Staat, der sein Territorium für Militäreinsätze zur Verfügung stellt, muss Völkerrecht und Menschenrechte stärker durchsetzen als es die Bundesregierung macht.» Und der Kläger Faisal bin Ali Jaber sagt: «Das Urteil ist ein schwerer Schlag. Meine Familie kann nicht angstfrei leben, während diese Drohnen, die mit deutscher Hilfe fliegen, über unserer Gemeinde im Jemen kreisen und Tod und Zerstörung bringen.»

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Stadtgespräch Corona

Erstellt von Redaktion am 23. Dezember 2020

„Wir werden als Erste geopfert“

Interview von Manuela Heim

Im Falle der Triage würde sie aussortiert werden, sagt Richterin Nancy Poser – und hat Verfassungsbeschwerde eingelegt. Ein Gespräch über Ethik und den Wert des Lebens

taz: Frau Poser, Sie wollen den Gesetzgeber per Verfassungsbeschwerde zwingen, sich mit der Triage zu beschäftigen. Dafür gibt es doch aber bereits Leitlinien, die mehrere medizinische Fachgesellschaften erarbeitet haben.

Nancy Poser: Als ich diese Leitlinien gesehen habe, war ich schockiert. Da wird zwar gesagt, dass wegen Alter oder Behinderung im Rahmen der Triage nicht diskriminiert werden soll. Aber die Kriterien zur Einschätzung, wer im Zweifel keine intensivmedizinische Behandlung bekommen soll, werden nur von alten und behinderten Menschen erfüllt.

Könnten Sie das näher erklären?

Da soll zum Beispiel der allgemeine Gesundheitszustand anhand einer Gebrechlichkeitsskala bewertet werden. Wenn man einen Rollstuhl braucht, Assistenzbedarf hat oder am Rollator geht, wird man im direkten Vergleich zu einer nichtbehinderten Person schlechter eingestuft. Man muss dazu wissen, dass die Triage ja nicht nur zwischen Covid-19-Patienten stattfinden soll, sondern zwischen allen, die intensivmedizinische Behandlung benötigen. Das heißt, wenn ich dort mit meinem Rollstuhl und meiner Muskelerkrankung mit einem Herzinfarkt eingeliefert werde und neben mir liegt ein Raucher mit Covid-19, werde ich anhand dieser Kriterien schlechter bewertet.

Dann bekommen Sie im Zweifel keine intensivmedizinische Behandlung  …………

… und muss sterben, ganz genau. Ich habe zwei Probleme mit den Triage-Leitlinien: Zum einen halte ich sie nicht unbedingt für tauglich, um die Erfolgsaussichten der Behandlung zu bewerten. Vor allem aber halte ich diesen Weg – survival of the fittest, der Stärkere soll leben – für falsch. Es wird dann gerne das Beispiel von dem 90-jährigen Rentner mit Vorerkrankungen und der 25-jährigen Mutter gebracht. Aber so eindeutig ist das in der Praxis kaum: Da kommen der 30-jährige Turner und die 40-jährige Rollstuhlfahrerin. Und dann habe ich einen Unterschied von vielleicht 60 und 40 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit. Wo fängt das an, wo hört das auf?

Ergibt es denn nicht grundsätzlich Sinn, die zu retten, die wahrscheinlicher überleben?

Natürlich erscheint der utilitaristische Ansatz verlockend. Das ist im Prinzip wie bei diesem theoretischen Fall mit dem Flugzeug: Das fliegt auf ein vollbesetztes Stadion zu und die Frage ist, ob man dieses Flugzeug abschießt, um die Leute im Stadion zu retten. Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Menschen im Flugzeug geht ja bei dem Absturz gegen Null, sie sind also quasi eh nicht mehr zu retten. Es gab ein Luftsicherheitsgesetz, das in einem solchen Fall den Abschuss vorsah. Und da hat aber das Bundesverfassungsgericht ganz klar gesagt: Das geht nicht. Ich darf selbst den totgeweihten Leuten im Flugzeug ihre Überlebenswahrscheinlichkeit, so minimal sie auch sein mag, nicht nehmen, um andere zu retten, weil ich sie damit zum Werkzeug degradiere und ihnen so die Menschenwürde nehme. Mit diesem Grundsatz bin ich auch groß geworden, als Mensch und als Juristin. Ich habe seit dem ersten Semester Jura gelernt, dass man Leben nicht gegen Leben abwägen kann, egal welche Chance man diesem Menschenleben beimisst.

Wounded Triage France WWI.jpg

Triage: ‚Auswahl, Sortieren, Sichten‘ zum Verb trier ‚sortieren, aussuchen, ‚auslesen‘), deutsche Bezeichnung auch Sichtung oder Einteilung, ist ein nicht gesetzlich kodifiziertes oder methodisch spezifiziertes Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung bei unzureichenden Ressourcen, zum Beispiel aufgrund eines unerwartet hohen Aufkommens an Patienten. Falls es unmöglich ist, allen, die Hilfe wünschen, sofort zu helfen, besteht ohne strukturierte Triage die Gefahr einer politisch oder ideologisch motivierten unethischen Selektion.   Quelle  —   Wikipedia

Im Fall der Triage ist das Dilemma doch, dass ich entscheiden muss. Ich kann das Flugzeug im übertragenen Sinne nicht einfach weiterfliegen lassen. Wie soll diese Entscheidung gerecht sein?

Sie kann nicht gerecht sein. Aber sie kann den Betroffenen mehr Chancengleichheit einräumen. Darum geht es in unserer Verfassungsbeschwerde zunächst aber noch gar nicht. Es gibt in Deutschland einen Wesentlichkeitsgrundsatz, der vorsieht, dass wesentliche Eingriffe in die Grundrechte vom Gesetzgeber legitimiert werden müssen. Wir wollen den Gesetzgeber dazu bringen zu handeln. Solange es nur Leitlinien aus der Ärzteschaft gibt, bin ich denen ausgeliefert. Dagegen kann ich nicht klagen, obwohl ich sie für willkürlich und diskriminierend halte.

Welche anderen Möglichkeiten gäbe es aus Ihrer Sicht, um Triage-Entscheidungen zu fällen?

Für mich kommt da nur das Prioritätsprinzip infrage: Wer zuerst kommt, bekommt den Platz. Oder das Randomisierungsprinzip.

… die Entscheidung nach Zufall, das ist schwer vorstellbar.

Quelle       :        TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben      —     Gemeinsames Gebäude des Amtsgerichts und des Landgerichts Trier

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Unten    —   Wounded arriving at triage station, Suippes, France from sanitary train. Selected by Scott.

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Zappenduster

Erstellt von Redaktion am 20. Dezember 2020

 Kriegsschiffe der Royal Navy gegen die EU

HMS ALBION Aerial Photex MOD 45165982.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Georg Korfmacher, München

Wenn schon vor Ablauf der letzten Frist Kriegsschiffe der Royal Navy zum Schutz britischer Fischereigewässer in Bereitschaft versetzt werden, ist wohl für alle erkennbar zappenduster. Es kommt unweigerlich die Frage auf, ob nicht alle Verhandlungen von Boris Johnson und seiner Regierung bisher rein spekulatives Theater waren.

Neben der diplomatischen Blamage wird die Sache dann grotesk, wenn man bedenkt, dass die Europäer in englischen Gewässern überwiegend Makrelen und Hering fangen, die in England überhaupt nicht beliebt sind und daher exportiert werden, während der in England beliebte Kabeljau dort importiert werden muss. Und jetzt auch noch Kriegsschiffe zum Schutz von 0,1 % britischer Wirtschaft. Und das auch noch seit langem vorbereitet, wie aus Quellen der Marine zu erfahren ist.

Da verwundert es nicht, dass selbt in England die Wellen hoch schlagen. “ Unsere Gegner [gemeint sind die Russen mit ihren U-Booten] werden darüber schmunzeln, dass sich die größten Militärblöcke in Europe wegen Fisch streiten“, ist vom Defence select committee zu hören. Hochrangige britische Politiker halten das Vorgehen für „unverantwortlich“ und schädlich für das Ansehen des Vereinigten Königreiches im Ausland. Oder: „Diese Regierung ist verantwortlich für schlicht die schlechteste Entscheidung der Neuzeit zu Friedenszeiten“. Und: „Souveränität und Kontrolle bringen keinen einzigen Arbeitsplatz, keinen Pfund mehr Investitionen oder irgendwelche Verbesserung des Lebensstandards“. Dass die Briten es sich mit dem größten Wirtschaftsmarkt vor ihrer Haustüre leichtfertig verscherzen, versteht kein auch nur einigermaßen mit Verstand begnadeter Mensch. Es fehlt auch nicht an Stimmen, die Boris Johnson einen „englischen Nationalisten“ nennen.

Amb Johnson at Commissioning Ceremony for HMS Elizabeth.jpg

Welche Tricks und Kapriolen will Boris Johnson in den letzten Tagen des Jahres noch zum besten geben, um seinen spektakulären Abgang richtig in Szene zu setzten?

Die völlig verkorkste Mobilmachung der Royal Navy zum 1.1.2021 ist da wohl eher ein Schuss ins Ofenrohr und treibt das Vereinigte Königreich nur noch weiter in die Isolation und ein bedauerliches Zappenduster.

Urheberrecht
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Grafikquelle      :      On the 29th August 2017 HMS ALBION had her first Aerial photos after coming out of refit at HMNB Devonport. HMS ALBION was in refit since 2011 and in January 2017, 350 Sailors joined her to start the final preparations to get her ready for going back to sea. HMS Albion is one of the Royal Navy’s two amphibious assault ships. Together, their mission is to deliver the punch of the Royal Marines ashore by air and sea. HMS Albion has been described as the Royal Navy’s ‘Swiss Army knife’ – and for good reason. This amphibious transport dock is capable of carrying 400 sailors and Royal Marines with a huge range of skills and experience, from technicians and engineers to medics and chefs. The loading dock of HMS Albion is packed with the trucks, machinery and water craft her crew use to carry out their duties. The ship also carries emergency supplies for use in disaster relief operations, from food supplies to water pumps. Organization: Royal Navy Object Name: DR170170008 Category: MOD Supplemental Categories: Assault, Ships, Equipment Keywords: L14, HMS Albion, Albion Class, Amphibious Transport Dock, Carrier, Equipment, Royal Navy, Sailing, Action, Photex Country: UK

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Unten       —       Today I joined our friends in the @RoyalNavy at the Commissioning Ceremony for @HMSQnlz – an impressive addition to a UK fleet working tirelessly for our shared defense + security.

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Schöne neue Logistik-Welt?

Erstellt von Redaktion am 16. Dezember 2020

 Warum Arbeiter*innen in Erzählungen über Lieferketten nicht vorkommen

DHL (DHL) Wroclaw dwarf masked 2020 P02.jpg

Quelle        :     Berliner Gazette 

Von Evelina Gambino

Entwickelt, um den Kapitalismus zu beschleunigen, ist Logistik der Schlüssel zur Aufrechterhaltung des westlichen Phantasmas, dass “der Kapitalismus ein intelligenter Computer” sei. Bequemerweise wird hier die Arbeit jener Hände ausgeblendet, die dieses vermeintlich durchautomatisierte System aufrechterhalten. Die Wissenschaftlerin und Aktivistin Evelina Gambino spricht im Interview darüber, wie Schauplätze der Logistik zu Orten von Arbeitskämpfen werden können.

Einer der Hauptschauplätze der “logistischen Revolution” ist Georgien, ein Land in der Kaukasusregion Eurasiens, das am Schwarzen Meer liegt. Mit seinen 3,7 Millionen Einwohnern steht Georgien im Zentrum ehrgeiziger Infrastrukturinvestitionen, die darauf abzielen, das Land in eine logistische Drehscheibe für das von China geführte Projekt der Neuen Seidenstraße zu verwandeln. Diese Entwicklungen formen Georgiens Territorium, seine Wirtschaft und nicht zuletzt sein Klassenregime der Arbeit um. In Ihrer Arbeit über Logistik sprechen Sie von der logistischen Assemblage, die die Neue Seidenstraße ausmacht, als einem “deterritorialisierten Cyborg”. Warum und auf welche Weise ist kann man hier Deterritorialisation sprechen?

Ich verwende diese Metapher, um auf die zusammengesetzte Natur der Neuen Seidenstraße und der logistischen Expansion im Allgemeinen hinzuweisen. Erstens zielt sie darauf ab, das relationale Element der logistischen Expansion hervorzuheben, sowohl in Bezug auf räumliche als auch auf Beziehungen der handelnden Akteure. Wie Deborah Cowen in ihrem Buch “The Deadly Life of Logistics” (2014) andeutet, hat der Fortschritt der Logistik seit der Erfindung des Containers eine “dramatische Umgestaltung der Beziehung zwischen Herstellung und Bewegung oder Produktion und Distribution” bewirkt. Die Produktion ist nicht mehr an einem Ort angesiedelt, sondern befindet sich in ständiger Zirkulation. Sie ist also immer unvollständig und gleichzeitig immer an vielen Orten. Diese Zirkulation bezieht sich nicht nur auf die physische Bewegung – der tatsächlichen Bestandteile einer Ware, die durch den Raum reisen, um zusammengebaut, gekauft und konsumiert zu werden – sondern auch auf die Zirkulation von Kapital und weicher Infrastruktur, die neue Geografien der Akkumulation formt.

Könnten Sie erklären, was Sie mit der Bezeichnung “Cyborg” in diesem Zusammenhang meinen?

Ich verwende den Begriff Cyborg, um von der Verschränkung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure bei der Herstellung/Entstellung/Domestizierung großer infrastruktureller Netzwerke zu sprechen. Das Wort Cyborg entsteht aus der Verbindung der beiden Wörter “Cyber” und “Organismus”. Cyber leitet sich von Kybernetik ab, die wiederum vom Verb “to steer” oder dem Substantiv “steersman” abstammt; Organismus hingegen ist ein Wort, das eine Ansammlung von Werkzeugen (Organen) bezeichnet, die zusammenarbeiten, um ein Ganzes zu schaffen. Zusammen legen sie eine neue Bedeutung nahe: ‘das, was nicht eindeutig identifizierbar ist’.

Als Wertschätzung der Verstrickung und der nicht reduzierbaren Natur von Handlungsbeziehungen hat “Cyborg” die Herausforderung verkörpert, die Donna Haraway an den Essentialismus einer bestimmten Art von Feminismus stellte, der die weibliche Biologie in den Mittelpunkt des Kampfes gegen das Patriarchat stellte. Ich denke, dass eine ähnliche Herausforderung an den logistischen Blick gestellt werden kann, der darauf abzielt, Technologien, Subjekte und Raum zu organisieren und die Überschneidungen zu glätten, die sie miteinander verbinden.

Indem dieser Begriff die Koexistenz von und die Kommunikation zwischen verschiedenen Komponenten innerhalb einer einzigen Einheit hervorhebt, macht er es möglich, die Logistik als eine komplexe Ansammlung von Operationen zu sehen, die von Körperfunktionen bis zu fortgeschrittenen Technologien reichen. Eine solche Sichtweise wiederum ermöglicht es uns, jedes oberflächliche Verständnis von Logistik als bloße technisch/technologische Bemühung um Synchronisation zurückzuweisen. Sie tut dies, indem sie die Unklarheit und letztendliche Unbestimmtheit des Terrains hervorhebt, auf dem sich neue Verbindungen abspielen. Diese Terrains werden von einer Reihe unterschiedlicher Akteure bewohnt – menschlich, tierisch, materiell, chemisch -, deren Interaktionen die Existenz der infrastrukturellen Lösungen prägen, aus denen sich logistische Netzwerke zusammensetzen.

Wie lässt sich sein technologischer Aufbau erfassen? Was sind seine technologischen Komponenten?

Es gibt kein einheitliches Design. Während das Versprechen, modernste Technologien beim Bau und Betrieb großer Logistikinfrastrukturen einzusetzen, in den Erzählungen, die um diese Entwicklungen herum entstehen, allgegenwärtig ist, bin ich in meiner Arbeit mehr daran interessiert, die Vielfalt der Regime – technologischer, aber auch produktiver und in der Tat biopolitischer Art – zu erfassen, die in diesen Netzwerken im Spiel sind. Es ist unbestreitbar, dass bestimmte Projekte einen extrem hohen Automatisierungsgrad erreicht haben und dass die globale Logistik ein Ort des rasanten technologischen Fortschritts ist – vom Einsatz von Robotern in Häfen wie Rotterdam über die Entwicklung von Geräten, die die Körperbewegungen und die Effizienz der Arbeiter in den Amazon-Lagern aufzeichnen, bis hin zum umfassenden Einsatz von maschinellem Lernen, um die Bestandserfassung und Lagerung in den Lieferketten zu beschleunigen. Neben diesen fast futuristischen und in der Tat etwas dystopischen Szenarien gibt es jedoch eine Vielzahl unterschiedlicher Beziehungen, die nicht nur als Begleiterscheinung, sondern als Kernantrieb dieser logistischen Welten existieren.

Gibt es eine Möglichkeit, diese Abstraktionen greifbarer zu machen?

Ich denke, diese seltsamen Überschneidungen werden brillant in Tekla Aslanishvilis dokumentarischem Essay Algorithmic Island gezeigt, der die Grundlage für eine Zweikanal-Installation bildet, die Teil der Berliner Gazette Winter School SILENT WORKS ist. Indem Aslanishvili den Fokus auf das Trial-and-Error-Verfahren bei der Schaffung logistischer Infrastrukturen in Anaklia an der georgischen Schwarzmeerküste richtet, legt sie die Risse, Reibungen und Narben hinter der glatten Oberfläche von Megaprojekten der Akkumulation frei. Anaklia, das auch Schauplatz meiner eigenen Feldforschung ist, stand in den letzten zehn Jahren im Zentrum einer Reihe von Projekten. Während sie alle das gleiche Gesamtkonzept teilen, nämlich einen Tiefseehafen und eine futuristische Stadt auf diesem Sumpfgebiet an der Grenze zum De-facto-Staat Abchasien zu errichten, ist das Scheitern früherer Versuche dennoch fest in die aktuelle Entwicklung des Projekts und in die Erwartungen derer, die es beobachten, eingewoben. Indem sie sich gleichzeitig auf die materiellen Spuren und die diskursiven Störungen konzentriert, die die Geschichte von Anaklia ausmachen, gelingt es Aslanishvili, die Überschneidung zwischen einer Form von technologischer Erhabenheit und den Ökosystemen, die sie verändern sollen, aufzuzeigen.

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Ein Bild zeigt diese unbeholfenen Begegnungen besonders stark: Das Justizgebäude, das der ehemalige Präsident Michail Saakaschwili als erstes Element der futuristischen Stadt Lazika, die am Südufer von Anaklia geplant ist, gebaut hat, liegt verlassen am Ende eines unterbrochenen Boulevards. Mehr als fünf Jahre sind seit dem Bau des Gebäudes vergangen; Saakaschwilis Ableben unterbrach das Projekt abrupt. Das Gebäude aus Glas und geschwungenen Stahlsäulen sollte das Design der lokalen Häuser, der “Megrelian Oda”, widerspiegeln, die auf Stelzen stehen, um die häufigen Überschwemmungen des Geländes zu vermeiden. Anders als die ursprüngliche Oda, die aus leichten und leicht zu reparierenden Holzpaneelen bestehen und auf Steinsäulen ruhten, wiegt diese futuristische Version so viel auf dem instabilen Boden, dass sie Fundamente benötigt, die fast so tief sind wie sie hoch sind. In einem der Eröffnungsbilder von “Algorithmic Island” sehen wir den Rohbau dieses Gebäudes, verrottet und verrostet durch die salzige Feuchtigkeit der Schwarzmeerküste, aber immer noch an die umgebende Landschaft gelehnt. Der Ort ist menschenleer, weit entfernt von dem, was Saakaschwili präsentierte, um seine Zukunftsvision vorzustellen: eine Stadt, in der es von Menschen, Fahrzeugen und Geschäften aller Art wimmelt. Nur Kühe kreuzen langsam auf verblichenen Zebrastreifen, gefolgt von einem Mann, der mit einem großen Spaten bewaffnet ist und fleißig ihre Exkremente einsammelt.

Wie tauchen die Diskurse von ‘selbstlernenden’ Algorithmen, ‘selbstfahrender’ Automation und KI in der Narration der Neuen Seidenstraße als deterritorialisierter Cyborg auf?

Die Horizonte endloser Experimente, die durch die Weiterentwicklung von KI und selbstlernenden Algorithmen bereitgestellt werden, sind von zentraler Bedeutung für die Ausdehnung der Logistik im Raum. Ich glaube jedoch, dass man, um die Rolle solcher Technologien bei der Gestaltung unserer logistischen Zukunft zu verstehen, auf einen grundlegenden Kampf zwischen dem Wunsch nach Offenheit und unendlichem Wachstum und der Notwendigkeit, die Interessen derjenigen zu schützen, die von der Verwaltung logistischer Räume profitieren wollen, achten muss. Dieser Kampf ist in der Tat in die Gestaltung von Logistikräumen eingebettet. Denken Sie an Smart Cities. In Anaklia ist geplant, in naher Zukunft eine Smart City zu errichten. Die Stadt ist laut ihrem CEO als “ein Raum des Experiments, eine Reformzone” konzipiert, die auf die sich verändernden Wünsche ihrer Bewohner*innen und, da sie eine völlig private Stadt sein soll, auf die Bedürfnisse ihrer Eigentümer*innen reagieren soll.

Anpassungsfähigkeit ist also ein Schlüsselelement bei der Planung und Gestaltung “intelligenter” Logistikräume, in denen Technologien und Daten eingesetzt werden, um maximale Flexibilität für eine scheinbar endlose Offenheit gegenüber Verbraucher*innenwünschen zu erreichen. Traumwelten unendlicher KI-getriebener Experimente werden all jenen skizziert, die zuhören wollen. Logistische Multifunktionsräume, das, was Keller Easterling “die Zone” nennt, sind vordergründig von dieser Offenheit für unendliche Anpassungen geprägt, aber solche Experimente werden durch harte Grenzen eingeschränkt. Wie der CEO deutlich machte, muss die Anaklia Smart City ein verlässliches und stabiles Umfeld für Investitionen bieten: Politische Unsicherheit ist nicht gut für die Sicherung von Gewinnen. Daher ist es wichtig, dass alle Experimente darauf abzielen, ein liberales und unbürokratisches Umfeld zu schaffen: Es soll einfach sein, niedrige Steuern oder Abgaben garantieren, das Fehlen von Kapitalkontrollen und Eigentumsbeschränkungen gewähren, mehrere Währungen erlauben – und schließlich eine vom Rest des Landes getrennte Arbeitsgesetzgebung haben.

In anderen Worten: Das Experimentieren sollte zwar grenzenlos sein, aber es gibt nur eine Richtung, in die es gehen kann! Das war, glaube ich, das zentrale Thema, das während der Berliner Gazette-Konferenz AMBIENT REVOLTS diskutiert wurde, wo wir KI und den Diskurs darum als Untersuchungsgegenstand nahmen, um die Gewalt, die Vorurteile und die Weltanschauungen aufzudecken, die durch diese Technologien naturalisiert und reproduziert werden. Und das Projekt SILENT WORKS knüpft daran an, indem es sich auf Arbeitskämpfe in diesem Kontext konzentriert. In ähnlicher Weise erinnert uns Orit Halpern daran, dass das unendliche Testen im Kern des Planungsparadigmas der Smart Cities durch seine Betonung der Offenheit die vielfältigen Wege verdeckt, auf denen es spezifische Interessen fördert und alte Formen der Gewalt auf verschiedenen Terrains materialisiert.

Wie werden die Diskurse über semi-autonome Technologien die Politik der Arbeit neu erzählen?

Ich denke, es gibt eine Tendenz, dass Arbeit in den Berichten über die Expansion der Logistik unsichtbar gemacht wird. Ich glaube, dass dies mit einem gewissen Fetisch des technologischen und technischen Fortschritts zusammenhängt, mit der versprochenen Reinheit, die diese Fortschritte voraussetzen. Die Fähigkeit einfacher Technologien, wie etwa des Containers, und komplexerer Technologien, wie etwa Software, die in der Lage ist, Abläufe zu synchronisieren, die Zirkulation von Waren und Informationen zu vereinfachen und zu beschleunigen, hat die produktiven Anstrengungen des Menschen unsichtbar gemacht. Diese Unsichtbarmachung wirkt auf verschiedenen Ebenen: von der Ästhetik über den Diskurs bis hin zur Politik.

Wie viele von uns, die sich der Kritik des logistischen Kapitalismus verschrieben haben, beobachtet haben, ist die Ästhetik von Cargo-Mobilitäten weit über logistische Räume hinaus prominent geworden: Unsere Städte, Modemagazine, Kunstgalerien und Musikvideos sind gefüllt mit umfunktionierten Containern, in Modeartikel verwandelten Waren von Logistikunternehmen und suggestiven Bildern von Verladehöfen. Bei dieser ästhetischen Übernahme werden jedoch, wie Alberto Toscano bemerkt hat, oft diejenigen ausgelassen, die – noch – wichtige Bewohner*innen logistischer Landschaften sind: die Arbeiter*innen, die die Waren und Teile, die in Containern durch die Welt reisen, stapeln, verpacken, bewegen und lagern. Wenn logistische Landschaften als stille Landschaften aus buntem Wellblech dargestellt werden, wie in Edward Burtynskys berühmten Bildern, wird ihre wichtigste Komponente unterdrückt und die Gerüche, Geräusche und Zusammenstöße ausgelöscht, die das tägliche Leben an den Docks, Knotenpunkten, Eisenbahnlinien usw. beleben, die logistische Verbindungen ausmachen.

Diese Auslöschung aus dem Bereich der Wahrnehmung spiegelt sich in der Art und Weise wider, wie die Arbeitskräfte von denjenigen behandelt werden, die die Räume der Logistik planen – zuweilen als eine Ware, deren Preisgünstigkeit in einen Vermögenswert für diejenigen verwandelt werden kann, die an Investitionen interessiert sind. Ein kurzer Blick auf die meisten Websites, die für Investitionen in Georgien werben, zeigt, dass “Arbeitskräfte zu konkurrenzfähigen Preisen” zu den Hauptvorteilen des Landes zählen. Die Ausbeutbarkeit wird also vermarktet und, wie der CEO der Stadt Anaklia deutlich macht, muss die Politik eingesetzt werden, um den “Wettbewerbsvorteil” zu erhalten.

In der oben erwähnten Diskussion erklärte der CEO auch, dass Maßnahmen wie der Mindestlohn nichts weiter als eine bürokratische Hürde sind, die einer echten Wettbewerbsfähigkeit im Wege steht. Aussagen wie diese, die bei den Befürworter*innen eines nahtlosen und integrierten globalen Kreislaufs keineswegs außergewöhnlich sind, machen die Arbeitskräfte nicht nur als arbeitende Körper unsichtbar, sondern auch als Akteure, die in der Lage sind, die Produktionsdynamik zu stören und umzugestalten. Der Mindestlohn ist, wie den meisten bekannt ist, keine Bürokratie: Im Gegenteil, er ist das Ergebnis eines aktiven und siegreichen Kampfes der organisierten Arbeiterklasse. Jenseits davon, ist der Mindestlohn eine Erinnerung an die Möglichkeit für weitere Widerstände und weitere Siege der organisierten Arbeiterklasse. Die Unsichtbarmachung der Arbeiter*innen ist daher auch eine Unsichtbarmachung ihrer Fähigkeit zu kämpfen. In diesem Sinne können wir verstehen, wie eine solche Unsichtbarmachung in Wirklichkeit ein verdeckter Angriff ist, eine Beschneidung der Rechte der Arbeiter*innen und ihrer Fähigkeit, der Ausbeutung zu widerstehen.

Was bedeutet es politisch, dass der Logistiksektor trotz der fortschreitenden, zunehmend KI-getriebenen Automatisierung immer noch auf große Mengen an Arbeitskraft angewiesen ist?

Ich glaube, dass die anhaltende Relevanz von Arbeitern innerhalb von Kreisläufen der Akkumulation, die zunehmend in Richtung Automatisierung streben, die erneute Notwendigkeit von Formen der Solidarität und Fürsorge impliziert, die über diese Kreisläufe hinweg praktiziert werden. Das klassische Märchen der Marktwirtschaft ist, dass “die unsichtbare Hand des Marktes” auf magische Weise all unsere Probleme lösen wird. Eine Fülle von Beweisen hat diesen Glauben als falsch erwiesen, aber er bestimmt immer noch die Art und Weise, wie Länder und Unternehmen arbeiten. Es gibt keine unsichtbare Hand des Marktes, aber es gibt Milliarden von unsichtbaren Händen derer, die diesen Markt funktionieren lassen und die von seinem Versagen betroffen sind.

Einen solchen Kontrast zwischen dem, was gesehen wird und dem, was unsichtbar gemacht wird, und wer die Arbeit macht und wer davon profitiert, fängt ein weiterer Beitrag der Berliner Gazette Winter School SILENT WORKS kraftvoll ein: Giorgi Gago Gagoshidzes Film “The Invisible Hand of My Father”. Der Künstler erzählt die Geschichte seines eigenen Vaters in und vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2008. Nugzari, der Protagonist des Films, verließ Georgien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Richtung Europa. Nachdem er viele Jahre als Arbeiter ohne Papiere in Portugal gearbeitet hatte, erhielt Nugzari 2008 durch eine Arbeitsamnestie endlich einen legalen Status. Im selben Jahr jedoch blieb sein Arm bei der Arbeit in einem Zementmischer stecken und seine Hand musste amputiert werden. Da er gerade ein Arbeitsvisum erhalten hatte, konnte er die öffentliche Gesundheitsversorgung und eine lebenslange Rente in Anspruch nehmen. Mit diesem kleinen Geldbetrag kehrte Nugzari in seine Heimat Racha, eine Region im Nordwesten Georgiens, zurück, wo er nun lebt und in seinem Garten Getreide anbaut und in seinem traditionellen Holzhaus Wein herstellt. Während die unsichtbare Hand des Marktes nie für ihn sorgte, war es seine eigene, abgetrennte und nun unsichtbar gemachte Hand, die ihm und seiner Familie eine menschenwürdige Existenz gewährte.

Indem er die ätherische, vermeintlich allgegenwärtige Hand des Marktes mit der einst lebendigen und nun weggeworfenen Hand seines eigenen Vaters invertiert, legt Gagoshidze die körperliche und in der Tat grausame Dimension des Spätkapitalismus offen. Er zeigt, dass der Markt Blut an seiner unsichtbaren Hand hat.

Aber das ist nicht alles, was Nugzaris Geschichte tut. Sie verwischt insbesondere auch die Grenzen zwischen den verschiedenen Akteuren, die an der Gestaltung des globalen Marktes beteiligt sind: Die Lebensgeschichte des Arbeiters Nugzari hängt von einer Reihe von Zufällen und Pannen ab, die sich über mehrere Skalen und epochale Veränderungen hinweg verbinden; sein abgetrenntes Glied wiederum wird als Akteur in die viel größeren Verwerfungen der Macht gestellt, die zur Finanzkrise von 2008 führten.

Ich glaube, dass dieser Film eine Erinnerung an die Verflechtung unserer gegenwärtigen Welt und die Unklarheit ihrer Funktionsweise ist. Innerhalb eines solch dichten und konstruierten Durcheinanders, das so weit von den glatten Geschichten entfernt ist, die in Erzählungen von automatisierten Landschaften erzählt werden, tauchen wiederum verschiedene Darstellungen von Arbeit auf, die an Marx’ Unterscheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeit erinnern. Auf der einen Seite stehen die undokumentierten, prekären und transnationalen Bedingungen, unter denen Nugzari seine Arbeitskraft verkauft und die schließlich zu seinem Unfall führen; auf der anderen Seite wird uns die tägliche Arbeit gezeigt, die ihm seine geopferte Hand gewährt, eine Arbeit, deren Früchte ihm nicht genommen werden, sondern Teil seiner Existenz sind. Innerhalb dieses Gegensatzes steht die abgetrennte Hand aufgerichtet und schließlich schmerzhaft sichtbar der Gewalt des Marktes gegenüber.

Gegen die Maskierung der Gewalt, die den zeitgenössischen Kapitalismus antreibt, die durch die Verbreitung von Erzählungen erreicht wird, die die Glätte des Funktionierens des Marktes und seine Autonomie preisen, brauchen wir eine andere Art von Sorgfalt. Wir müssen auf die vielfältigen Formen der Arbeit achten, die es gibt, von denen einige von anderen Produktionsweisen zeugen, in denen Ausbeutung durch Fürsorge ersetzt wird. Sie zu entdecken und aufrechtzuerhalten, kann ein Werkzeug für eine politische Anstrengung sein, die die Gegenwart untergräbt.

Wie kann die Infrastruktur logistischer Landschaften neu kodiert und für alternative Zwecke verwendet werden? Würde dies alternative Formen der Logistik nach sich ziehen, die die Macht der logistischen KI tatsächlich herausfordern? Ich frage mich, wo Sie die Grenzen dieses Ansatzes sehen?

Verschiedene Leute, die über Logistik schreiben, haben darauf hingewiesen, dass die Ausweitung der logistischen Verbindungen auch die Stärkung der Verbindungen zwischen verschiedenen Arbeiter*innen und ihren Kämpfen impliziert, und dass, was noch wichtiger ist, die Notwendigkeit der Logistik, all ihre verschiedenen geografischen Punkte zu koordinieren, um das beschleunigte Tempo der Just-in-Time-Produktion aufrechtzuerhalten, sie extrem anfällig für Störungen macht: Eine Verzögerung an einem Ort kann den gesamten Kreislauf unterbrechen. Die Arbeiter*innen an einem Ort können also einen enormen Einfluss auf die gesamte Lieferkette haben. Durch die gesteigerte Konnektivität können neue und vielleicht unerwartete Verbindungen hergestellt werden. Ich denke, dass dies sicherlich zutrifft, wie die jüngsten Episoden transnationaler Solidarität zeigen, wie z. B. die Hafenarbeiter*innen von Genua, die sich weigerten, ein saudisches Schiff mit Waffen zu beladen, aus Protest gegen den Jemen-Krieg und in Solidarität mit denjenigen, die unter den Folgen des Krieges leiden. In ähnlicher Weise glaube ich, dass Logistikkämpfe nicht nur verschiedene weit entfernte Kämpfe miteinander in Verbindung gebracht haben, sondern sich als ein Ort erwiesen haben, um transnationale Solidarität innerhalb einer einzigen Nation zu praktizieren, wie es bei den langjährigen Kämpfen im italienischen Logistiksektor der Fall ist, wo sich eine multinationale Arbeiterschaft zusammengefunden hat, um gegen die lokalen Bosse und die Imperative der internationalen Produktion zu kämpfen.

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Worüber ich mir jedoch nicht sicher bin, ist, ob wir diese und die vielen anderen Akte des Widerstands, die die logistischen Netzwerke befallen haben, als Formen der “Gegenlogistik” definieren können, wie bei der Umwidmung von logistischen Verbindungen für andere Zwecke. So sehr ich die Kraft eines solchen Begriffs und sein Potenzial, neue Formen der Organisierung hervorzubringen, auch spüre, fürchte ich, dass wir, wenn wir über die Möglichkeit einer “Gegenlogistik” sprechen, suggerieren könnten, dass die Logistik ein kohärentes und einheitliches System ist, das umfunktioniert oder gegen sich selbst gewendet werden kann. Ich denke, das wäre ein Missverständnis. Ich glaube, dass Gegenlogistik oder gegenlogistische Praktiken, wenn wir diesen Begriff verwenden können, stattfinden. Sie existieren innerhalb der logistischen Netzwerke, die wir bei ihrer Ausbreitung beobachten, und sind in diese integriert oder kollidieren auf unangenehme Weise mit ihnen.

Während meiner Feldforschung habe ich zahllose kleine Akte des Trotzes und viel größere Kraftanstrengungen beobachtet, die der synchronisierenden Rationalität der logistischen Verbindung entgegenwirkten. Nicht alle dieser Formen der Gegenwehr sind positiv und auch nicht alle sind in der Gegenwart verwurzelt: Einige von ihnen sind die Geschichte der Räume und Infrastrukturen, die sich innerhalb eines Transitkorridors verbinden. Was ich meine, ist, dass diese Netzwerke, wie ich schon sagte, zusammengesetzt und kontingent sind. Sie enthalten in sich unzählige Lebenswelten, von denen einige gegen den Drang zur Homogenisierung und Synchronisierung arbeiten, den die Logistik hervorruft. Das heißt nicht, dass wir uns einfach zurücklehnen und hoffen sollten, dass alles explodiert. Stattdessen sollten wir diesen Welten Aufmerksamkeit schenken, sie ausgraben und mobilisieren, um die internationalen Verbindungen, die all dieser neuen und glänzenden Infrastruktur gewährt werden, zu einer Brücke für neue Organisierungsstrategien zu machen.

Wie können wir das Narrativ der nahtlosen Logistik herausfordern? Mit anderen Worten: Wie können wir logistische KI als Erzählung, als Diskurs und als aufkommende Machtansammlung in Frage stellen?

Logistik, insbesondere wenn es um globale Logistikrouten geht, wird oft als von dem Streben nach Nahtlosigkeit angetrieben dargestellt – ob sich das nun auf Transit, Transaktionen oder schlanke Produktionsmodelle bezieht. Eine durch Logistik verbundene Welt, wie sie sich der chinesische Präsident Xi Jinping in seinen Ausführungen über die Belt and Road Initiative vorstellt, ist ein Raum der Konnektivität, in dem Waren, Kapital und bestimmte Körper ohne Hindernisse durch Raum und Zeit reisen könnten, zum Nutzen, wie er oft betont, der gesamten Menschheit. In diesem Kontext bietet sich KI zur Bekräftigung solcher Träume an, da sie verspricht, die Reibung und Unvorhersehbarkeit menschlicher Fehler zu beseitigen und so Zeit und damit Geld zu sparen.

Mit anderen Worten: Logistische Konnektivität entwickelt sich zum großen organisierenden Narrativ dieser Phase des Spätkapitalismus, und Technologie ist ein entscheidendes Element davon. Während sich diese Veränderungen direkt vor unseren Augen abspielen, scheint es schwierig zu sein, Erklärungen zu liefern, die ihre vielfältigen, sich überschneidenden Elemente erklären können. Aber während diese Vielfältigkeit von den Mainstream-Beobachter*innen abgelehnt zu werden scheint, glaube ich, dass die tatsächliche Aufdeckung dieser Konstruiertheit uns Werkzeuge an die Hand geben kann, um die logistische Macht, wie sie sich derzeit entwickelt, herauszufordern.

Wie ich bereits erwähnt habe, geschieht dies, indem wir die Koexistenz verschiedener Produktionsregime, Ethiken und zeitlicher Dispositionen aufzeichnen, die bei der Herstellung von Logistik im Spiel sind, und indem wir grundsätzlich verstehen, dass es bei jedem Versuch einer schlanken Produktion zu Reibungen und Zusammenstößen kommt. Das mag wie eine Ode an das Chaos erscheinen, ist aber stattdessen eine politische Notwendigkeit. Schon vor 20 Jahren rief die feministische Geografin J.K. Gibson-Graham dazu auf, das Macho-Narrativ der Kapitalexpansion umzustoßen, und zwar nicht nur so, wie es von den Kapitalisten präsentiert, sondern auch so, wie es, einigermaßen hartnäckig, von verschiedenen Strömungen der Linken reproduziert wurde.

Ich denke, dieser Aufruf ist immer noch relevant, und er trifft definitiv auf Narrative rund um die Logistik zu. In meiner aktuellen Feldforschung versuche ich, die Auswirkungen der logistischen Entwicklung – oder des Versprechens einer solchen – auf ein kleines und relativ peripheres Land wie die Republik Georgien zu erfassen, indem ich versuche, das zu erstellen, was Anthropologen eine “dichte Beschreibung” dessen nennen, was aus logistischer Sicht nichts anderes als ein Punkt auf der Landkarte ist, der es ermöglicht, Fracht schnell zwischen Ost und West zu transportieren. Ich glaube, diese Art der Beschreibung kann ein Ausgangspunkt sein, um das, was Sie als logistische KI bezeichnen, in Frage zu stellen.

Anm. d. Red.: Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion. Die künstlerischen Beiträge, Video-Talks und Projekte der Berliner Gazette Winter School SILENT WORKS, finden Sie hier.

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Grafikquellen     :

Oben       —          DHL (DHL) dwarf from DHL on Bierutowska in surgical mask during coronavirus pandemic


2.) von Oben        —      Elon Musk thinks that merging humans with AI-machines is the logical path of evolution. A progression of this thought are designer-children in which parents decide the blueprint of how their children should look like or be skilled. Interfaces can connect us to AI, forming a unity between man and machine. In this scenario, humans may live on, but with a drastically altered definition of what is human. So much so that the new human androids may be a completely different species altogether. The narrow interpretation of the cartoon is a a human head, in the tradition of Futurama or Elon Musk, that is kept alive in a kind of fish-bowl, and is connected to an artificial body. This is one of the scenarios Tamingtheaibeast.org has developed in which AI can take control away from humans. The other 5 are: 1. Rogue Malware 2. First Intelligence Explosion 3. Necessary Rescue 4. Ethnic Cleansing 6. Lonely Dictator


Unten      —      Robocop protesting

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Mit Corona-Politik —

Erstellt von Redaktion am 14. Dezember 2020

– – auf dem Weg in den „Obrigkeitsstaat“?

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Quelle      :    untergrundblättle ch.

Von    Meinhard Creydt

Eine gefährliche Rücksichtslosigkeit als Folge des bürgerlichen Materialismus. Eine gefährliche Rücksichtslosigkeit als Folge des bürgerlichen Materialismus.

AfD- und FDP-Politiker sagen das gern. Und auch manche Linksliberale und Linke sprechen vom „autoritären Staat“.

Björn Höcke hat am 21.11. auf einem Parteitag der Thüringer AfD in Pfiffelbach (!) seinen Kameraden aufgetischt, die Präventionsmassnahmen seien „Teil einer Kampagne gegen die AfD. Denn so, sagt er, werde die Mobilisierung erschwert“ (Spiegel 2020). Dabei zeigt das Handeln der Polizei bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik das glatte Gegenteil von Obrigkeitsstaat. So viel Nachgiebigkeit und so viel Toleranz gegenüber tausendfachen Überschreitungen von Vorgaben (hier: Maske tragen, Abstand halten) hat die Öffentlichkeit selten gesehen.

Unter den Anti-Corona-Politik-Demonstranten sind viele, die Corona für eine schwache Version der Grippe halten und die Angst vor Corona für gefährlicher als Corona selbst ansehen. Wer keine objektive Bedrohung annimmt, muss den Grund für die Corona-Politik jenseits von ihr verorten. Dann liegen Vorstellungen von einem „geheimen“ Plan nahe, unter dem „Vorwand“ der Corona-Pandemie eine „Diktatur“ zu errichten.

Kommen wir zu den legitimen Gründen für die staatlichen Auflagen: Erstens existieren Ursachen für Ansteckungsgefahren, die die Einzelnen nicht vermeiden können. In modernen Gesellschaften treffen viele Menschen zusammen. Ohne Staat müssten sich die Einzelpersonen untereinander verabreden. Ein solches Vorgehen dürfte in grösseren Orten recht aufwendig und zeitintensiv sein. Insoweit die hohe Anzahl von Individuen die Chancen ihrer selbstorganisierte Kooperation verringert, wird staatspolitisches Handeln nötig.

Der Staat „muss jene Verdünnung des Vertrauens ausgleichen, die dadurch entsteht, dass sich die Menschen in grossen Gruppen nicht mehr unmittelbar beobachten und korrigieren können und dass sie nicht mehr so ganz voneinander abhängig sind“ (Esser 2000, 160). Der Staat handelt, wenn er denn so handelt, als exogener Förderer der Kooperation. „Gerade in der regelmässigen Ausführung von Verhaltensweisen, die ohne eine gezielte Einflussnahme auf den Handelnden nicht oder jdf. nicht häufig genug ‚von selbst’ seinen Absichten entsprechen, ist mithin ein entscheidender Aspekt der sozialen Ordnung lokalisiert.

Eine Hauptsäule dieser Ordnung bilden soziale Handlungen, die nicht allein durch natürliche oder ‚spontan’ entstehende, sondern nur durch ‚künstliche’ Verhaltensdeterminanten herbeigeführt werden können“ (Baurmann 1998, 254f.). In einer nachkapitalistischen Gesellschaft fallen zwar günstigenfalls gesellschaftsstrukturelle Ursachen für „Ausbeutung“ weg. Die Versuchung, eigene partikulare Interessen ohne Rücksicht auf andere zu verfolgen oder sich an Trittbrettfahrerverhalten zu orientieren, wird allerdings nicht automatisch verschwinden. Antiautoritäre Linke haben in manchem zu Recht den Staat kritisiert, dieses Moment seiner Legitimität aber meist nicht berücksichtigt.

Zweitens haben die Individuen innerhalb der Marktwirtschaft wohl oder übel ein ambivalentes Verhältnis zueinander. Der Vertrag bildet die Normalform der Geschäftsbeziehungen. Inhaltlich sind die Interessen der Vertrags„partner“ oft voneinander verschieden oder einander entgegengesetzt. Im marktwirtschaftlichen Warentausch verfolgen die Teilnehmer ihren Eigennutz, ihren Sondervorteil oder ihr Privatinteresse. Zugleich müssen sich die Teilnehmer an Waren-, Konsum- und Arbeitsmärkten an die rechtlichen Regeln der marktwirtschaftlichen Ordnung halten. Diese überwinden allerdings nicht die Ursachen, die aus Kooperation eine antagonistische Kooperation machen.

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Die Privateigentümer „sind niemandem etwas schuldig, sie erwarten sozusagen von niemandem etwas; sie gewöhnen sich daran, stets von den anderen gesondert zu bleiben, sie bilden sich gern ein, ihr ganzes Schicksal liege in ihren Händen“ (Alexis de Tocqueville 1987, 149). Vorzufinden ist sowohl das Instrumentalisieren anderer für eigene Vorteile als auch die „mir sind die anderen praktisch egal“-Variante. Sie muss sich gar nicht offensiv artikulieren. Die Maxime „Rücksicht nehmen ist mir zu anstrengend“ reicht schon.

Ein Beispiel aus der Berliner Grundschule: Die Bezugserzieherin einer Klasse hat Corona. Die Klasse wird für 2 Wochen in Quarantäne geschickt. Zum Teil haben die Schüler Geschwister, die auf die gleiche Schule gehen. Das Gesundheitsamt ermöglichte die Gelegenheit, sich kostenlos testen zu lassen. Nur wenige Eltern schickten ihre Kinder dahin. Das Geschwister des nun vorsichtshalber in Quarantäne geschickten Schülers besucht weiter die Schule.

Ich spreche hier nicht von einer Schule in einem Berliner Problemkiez. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Es zeigt das gegenwärtige Unvermögen oder den Unwillen staatlicher Stellen zum Handeln gegenüber Bürgern, deren bürgerlicher Materialismus sich ausgewachsen hat zur für andere gefährlichen Rücksichtslosigkeit. Nicht nur Lehrer und Erzieher beschweren sich deshalb über diese zu lasche Politik. Auch ein Krankenpfleger schildert plastisch deren gefährliche Konsequenzen.

Markus Söder hat ausnahmsweise Recht, wenn er sagt: Die Corona-Vorsorge-Regeln einhalten ist kein Akt der Loyalität oder des Gehorsams gegenüber dem Staat, sondern ein Akt der Solidarität mit den Mitmenschen. Ein Einwand gegen diese These ist beliebt: Zugestanden wird, es sei sinnvoll, in einem Supermarkt eine Maske zu tragen und Abstand zu halten. Dann kommt aber das schon gar nicht mehr so grosse „Aber“: „Wenn ich aber keine Notwendigkeit sehe, in 3/4 leere Museen oder in 2/3 leere Theater nicht hineinzudürfen, oder in 3/4 leeren Einkaufsstrassen eine Maske zu tragen, dann ist das blosser Gehorsam.“

Gehen wir die verschiedenen Annahmen, die in diesem Satz stecken, der Reihe nach durch: Es fällt auf, wie viele gegenwärtig zu Freunden des Museums und des Theaters werden, die faktisch selten dort zu sehen sind. Diejenigen, die jetzt ihr Herz für diese Institutionen entdecken, sehen es auf ihre Freiheit ab und sehen von etwas Relevantem ab: Es geht nicht allein um die Orte selbst, sondern um die Fahrten dahin. Es geht um Menschenansammlungen. Keineswegs handelt es sich um Willkür, wenn die staatliche Politik Kriterien anlegt: Was braucht die Nation? Eine Ökonomie mit Arbeitskräften, sodann u. a. Schulen, die den Eltern den Rücken frei halten und ein Gesundheitswesen, das einerseits nicht zu viel kostet und andererseits jetzt nicht durch Corona-Patienten lahmgelegt werden soll. Man muss diese Rangfolge der Wertigkeiten nicht gut finden. Wer sie kritisiert, sagt aber nicht: Die Massnahmen sind willkürlich oder gehen in Richtung autoritärer Staat. Tatsächlich geht der Staat so vor, dass er diejenigen Risikoherde einschränkt, die sich reduzieren lassen, ohne die Geschäftsgrundlagen zu gefährden, auf die es in einer kapitalistischen Marktwirtschaft ankommt.

Nun zu dem Argument der „leeren Einkaufsstrasse“, auf der aus lauter „Willkür“ verlangt werde, die Maske zu tragen: Bislang handelt es sich z. B. in Berlin um wenige Strassen. Und die sind am Tag rappelvoll. Wie verhält es sich auf anderen „leeren“ Strassen? Nehmen wir mal einen Asthmapatient. Also einen unter bloss vier Millionen in Deutschland. Er wird häufig auf Gehwegen ausweichen, weil ebenso freiheitsliebende wie unbekümmerte Mitbürger zu zweit oder dritt nebeneinander flanieren und den Gehweg blockieren – und keine Maske tragen.

Als wenig durchdacht erweist sich die Idee, es sei „willkürlich“, dass ich mich auch dann an Regeln halten soll, wenn ihre Übertretung pragmatisch niemandem schade. Dieses Argument stellt das Einhalten von gesellschaftlich geltenden Regelungen ins Belieben der Individuen: „Vor der roten Ampel halten – warum denn? Ich habe niemand gesehen, der sich der Kreuzung nähert.“

Zettel „Wollt ihr die totale Hygiene?“.jpg

Der Einfall, Regeln seien eigentlich unnötig und die Entscheidungsbefugnis lasse sich an den Einzelnen übertragen, hat eine hohe Meinung von dessen Kompetenz, im Einzelfall die Situation angemessen einzuschätzen. Er muss sehen können, ob sich jemand der Kreuzung nähert. Und natürlich werden sich solche Freigeister und Eigensinnigen gegenseitig auf einander berufen. Wenn der eine im Einzelfall riskant handeln dürfe, könne das dem anderen nicht verwehrt werden. Zu viel Sicherheit schade der Freiheit – das meinten Anhänger der Marktwirtschaft schon immer. Peter Sloterdijk sieht angesichts der Corona-Seuche die „Machtergreifung der Securitokratie’“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.4.2020, S. 33).

Warum feiern die Anti-Coronapolitik-Demonstranten nicht die Falschfahrer auf Autobahnen? Diese vermehren die Extremsportarten um eine weitere Variante und praktizieren ihre Selbständigkeit und Autonomie. No risk, no fun! „Nur Konformisten und Untertanen halten sich an den Rechtsverkehr“ könnte eine neue Parole sein. Auf der Rückseite der Autos von entsprechenden Kandidaten lesen wir schon heute den Spruch „Kein Airbag: Wir sterben wie Männer!“

Angesichts einer Seuche darauf zu beharren, dass man sich aber auch nicht der kleinsten Einschränkung unterwerfen möchte, passt zu einer Kritik am „Obrigkeitsstaat“, die vom anarcholiberalen Standpunkt ausgeht (vgl. Creydt 2020). Viele USAmerikaner sind gegen alles, was aus Washington kommt, gegen Steuern, gegen Einschränkungen des Rechts, ihre Waffen zu tragen usw. Sie meinen, den autoritären Staat zu bekämpfen und bekämpfen stattdessen gesellschaftliche Kooperation und Rücksicht auf gesundheitlich weniger robuste Mitmenschen. Etwas wie positive Gesellschaftlichkeit existiert für solch entfesselte Bürger nicht, sondern nur Individuen und Familien. (So lautete schon die Maxime von Margaret Thatcher.) Bereits das Tragen einer Maske in Seuchenzeiten gilt Freiheitsfanatikern als Symbol von Unfreiheit.

Hauptsache, die „Freiheit“ von denjenigen, die Covid für harmlos und sich selbst für unverwundbar halten, werde nicht eingeschränkt. Die Ansprüche anderer Menschen, die das nicht tun, auf Gesundheit sind solchen Egozentrikern gleichgültig. „Menschen müssen für sich selbst sorgen. Wenn jemand Angst hat, soll er eben zu Hause bleiben“ (Wolfgang Kubicki (FDP) in der Sendung „Anne Will“ vom 10.5.2020). Nicht einmal im Jahr 2020 wird es als Problem angesehen, Rettungsdienste und Krankenhäuser an Silvester mit Feuerwerks-Unfällen zu belasten. In Ländern wie Frankreich, Dänemark und Griechenland gibt es keinen privaten Kauf und Gebrauch von Feuerwerk. Handelt es sich deshalb um „Tugenddiktaturen“ oder „Obrigkeitsstaaten“?

Bei manchen Kommentatoren und Parlamentariern steht die Manöverkritik am Verfahren an erster Stelle ihrer Aufmerksamkeit, nicht die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Wo alle politischen Parteien ausser AfD und FDP im Prinzip einig sind über die Massnahmen, ist es nachrangig, ob der Bundestag erst tagt und dann das beschlossen wird, was die grosse Mehrheit für notwendig erachtet, oder umgekehrt. Eine „Kungelrunde“ (Alice Weidel, AfD) ist die Konferenz der gewählten Regierungschefs der Bundesländer keineswegs.

Wer der Coronapolitik unabhängig von ihrem Inhalt etwas am Zeug flicken will, kann immer Einwände erheben: Entweder werden die Bundesländer zu wenig berücksichtigt oder der Bundestag. Er hat sich seit März mit der Corona-Seuche siebzig Mal befasst (Das Parlament, Nr. 45, 2.11.2020, S. 2).

Selbstverständlich kann das Parlament eine Verordnungsermächtigung, die schnelles Handeln im Notfall erlaubt, jederzeit widerrufen. Ein Freifahrtschein für die Exekutive ist nicht erteilt worden. Gewiss können sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bzw. Bereiche darum streiten, wer beim Ziel, die Kontakte massiv zu reduzieren, das Nachsehen hat. Die Vorstellung, es liessen sich die „Risikogruppen“ schützen, und die anderen brauchten sich nicht einzuschränken, ist unrealistisch. Wer es auf solche „Patentrezepte“ absieht, sieht beflissen davon ab, wie viel Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sind und wie viel Prozent relevante Vorerkrankungen aufweisen.

Ein so grosser Teil der Bevölkerung lässt sich nicht vor dem Kontakt mit Jüngeren und gesünderen abschirmen. Die These, die gegenwärtige Coronapolitik bewege sich in Richtung „Obrigkeitsstaat“, ist eng mit der Suggestion verknüpft, eine Wahl zwischen substanziell verschiedenen Strategien zur Corona-Eindämmung sei möglich. Wer diese Annahme teilt, kann nicht erklären, warum alle Staaten lock-down-Strategien folgen. Die meisten fallen viel strikter aus als in Deutschland. Der „schwedische Weg“ hat sich nicht als erfolgversprechend herausgestellt.

Vieles Räsonieren von „Linken“ über die ggw. Coronapolitik, deren Vertreter schon selbst ihre Vorbehalte gegen Einschränkungen betonen, resultiert aus einem Mangel: Es handelt sich um Leute, die keine eigene Agenda haben, was für sie wichtig ist und was nicht, was unterstützenswerte Tendenzen und Kräfte in Richtung nachkapitalistische Gesellschaft sind und was nicht. Bei diesem Mangel an Zentrierung herrscht eine Entropie der vielen Themen. Entsprechend reaktiv und pseudokonkret auf das jeweils einzelne Thema fixiert ist dann die Herangehensweise.

File:Corona Lockdown.svg

Die Fähigkeit, Phänomene urteilskräftig auf eine Totalität zu beziehen, ist vielen verloren gegangen. Sie können weder die Corona-Epidemie noch die staatliche Politik begreifen und stöpseln mit unverstandenen einzelnen Versatzstücken herum. Das Phänomen der „Abstraktionen der Hilflosigkeit“ ist auch aus der Psychotherapie bekannt: „Der Klient ist sehr beschäftigt und konstruktiv tätig, indem er seine Gefühlsinhalte auf verschiedene Weisen anordnet und gleichsam in Muster legt, ohne dass es klar ist, um was es für ihn eigentlich dabei geht und wie er das empfindet, was da von ihm hin und wieder arrangiert wird“ (Dahlhoff, Bommert 1978, 70f.).

Wer nicht von einer eigenen durchdachten Diagnose der Gegenwart und einem eigenem Paradigma des guten Lebens (vgl. dazu Creydt 2017, 2019) ausgeht, verbleibt zudem häufig in einem formellen Willen zur Kritik und folgt dem Motto: Ich bin kritisch, also muss ich irgendetwas finden, was ich an jedem einzelnen Phänomen in Staat und Gesellschaft auszusetzen habe. Diese zwar felsenfest auftretende, aber in ihrer inhaltlichen Substanz wackelige „Kritik“ hat in Bezug auf den Staat eine dogmatische Prämisse: Der Staat dieser Gesellschaft kann und darf nichts richtig machen.

Eine gesellschaftskritische Analyse von Staat und Gesellschaft kann demgegenüber bspw. unterscheiden: Die Zwecke und Folgen des rot-grünen Umbau des Sozialstaats (Hartz-Reform) verdienen Kritik. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass die Weigerung der gleichen Regierung, sich aktiv am Krieg gegen den Irak zu beteiligen, falsch war.

Viele Beanstandungen der Coronapolitik zeigen: Um die wirkliche Bekämpfung einer Pandemie geht es weit weniger als darum, dass der jeweilige Kritiker seinem Anspruch nachkommt, etwas zu Kritisierendes zu (er)finden. Das jeweilige Thema wird zum blossen Anlass dafür, einmal wieder die eigene „Kritikfähigkeit“ inszeniert zu haben.

Literatur:

Baurmann, Michael 1998: Universalisierung und Partikularisierung der Moral. In: Hans-Joachim Giegel (Hg.): Konflikte in modernen Gesellschaften. Frankfurt/Main, S. 245-287
Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
Creydt, Meinhard 2019: Was kommt nach dem Kapitalismus? Berlin, hg. von Helle Panke/RLS Berlin (Broschüre, 54 Seiten)
Creydt, Meinhard 2020: Die Mentalitäten von Corona-Skeptikern. http://www.meinhard-creydt.de/archives/994
Dahlhoff, Hans-Dieter, Bommert, Hanko 1978: Das Selbsterleben in der Psychotherapie. München
Esser, Hartmut 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 3: Soziales Handeln. Frankfurt/Main
Nielsen, Paul 2020: Ein intensiver Einblick in die Welt von Corona-Leugnern. http://www.trend.infopartisan.net/trd1220/t101220.html
Paulsen, Kai 2020: Die Methoden von Corona-Skeptikern.
https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2020/10/Paulsen290820.pdf
Spiegel 2020: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bjoern-hoecke-wie-der-thueringer-landeschef-corona-instrumentalisiert-a-64c1fc69-b9c8-4e4c-bc45-27fbe068b481
Tocqueville, Alexis de 1987: Über die Demokratie in Amerika. Zürich

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.


Grafikquellen        :

Oben      —        U-Bahnhof Rotes Rathaus

2.von Oben         —      Großdemonstration “ Querdenken711 Berlin invites Europe “ zwischen Bahnhof Fridrichstraße und Torstraße / Hannoverschestraße am 29. August 2020 um 12 Uhr 48 . Dieser Protestaufzug wurde wiederrechtlich von der berliner Polizeiführung an der Torstraße gestoppt. Trotz einer Genemigung !!!

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Innen ein Schlachthof

Erstellt von Redaktion am 13. Dezember 2020

Außen eine Kaserne

Moria Camp.jpg

Von Jimmy Bulanik

Am heutigen Samstag, 12. Dezember 2020 stand in der Innenstadt von Essen auf dem Gelände des Bistum Essen für ein Tag ein Objekt. Außen gab es einen Stand mit einer Gelddose. Darin warf ich ein Münzstück hinein.  Dafür durfte ich einen Button in Herzform mitnehmen. Die Farbe ist weiß, ein Herz in roter Farbe, eine Aufschrift in Schwarz. Der Text lautet: Ein Herz für Moria.

Diese Aktion wurde unterstützt von der Caritas. Ich betrat das Gelände des Bistum Essen. Auf dem Boden befanden sich Markierungen zu Corona Abständen.  Außen war ein künstlicher Behälter. Darin befand sich auf dem Grund schmutziges Wasser. Darüber Holzpaletten um darüber zu laufen.  Im inneren stand ein Zelt wie es in Moria steht. Eingerichtet ist es mit schlichten Feldbetten. Darüber Leinen auf denen ärmlich aussehende Kleidungsstücke angehängt worden sind.

Im Zelt befand sich ein Laptop mit einer Live Schaltung zu Menschen die sich auf der Insel Moria befinden. Eine Freiwillige trug eine Warnweste mit dem Aufdruck der Caritas. Daneben stand eine Frau welche deutsch und arabisch spricht.  Ein jeder Mensch konnte die Menschen in Moria live sehen. Fragen adressieren und ungefilterte Antworten bekommen. Diese Gelegenheit nutze ich.

Die von mir interviewten Personen haben Sorgen ihre Namen zu nennen. Zeitweilig kommt jemand mit Dokumenten in das Zelt zwecks dem Stellen einen Antrages auf Asyl in einem EU Land. Die Lage vor Ort ist menschenunwürdig.  Im Kern ist das Lager auf Moria von innen ein Schlachthof, von außen eine Kaserne. Zum Gegenwärtigen Zeitpunkt befinden sich auf Moria laut eigenen Angaben der Lagerbewohnerschaft zirka 13.000 Menschen. Von außen stehen Kräfte welche wie Militärs einen Objektschutz betreiben.

Diese Leute helfen im Inneren des Lagers den geflüchteten Menschen kein bisschen. Darin sind die Menschen in Verhältnissen sich selber überlassen. In beengten Räumen.  Im Grunde werden die Menschen im Lager von Moria gehalten wie Vieh. Die hygienischen Zustände sind mehr schwierig als normal. Von Eltern erfuhr ich das nur erwachsene Personen einmal pro Monat einen Betrag von 70 € zur Verfügung gestellt bekommen.

Wenn ein erwachsener Mensch im Lager auf Moria seine 70 € nicht innerhalb von einem Monat vollständig verbraucht hat, verfällt das übrige Guthaben. Für kein Kind wird ein Euro Cent zur Verfügung gestellt. Die Eltern müssen von ihrem wenigen Kontingent all ihre Kinder versorgen, so gut es ihnen möglich ist.

Der Kapitalismus und die Globalisierung sind reformbedürftig

Die Leute im Lager Moria stammen aus diversen Ländern. Mit ebensolchen Sprachen, Erfahrungen. Alle im Lager auf Moria sind mit sich selber beschäftigt. Da lassen sich untereinander die geflüchteten Menschen gegenseitig in Ruhe. Diese Existenz ist ein vegetieren. Eine Frau und Mutter berichtete mir im Interview, daß sie es bereut Syrien verlassen zu haben.

Offline Wikipedia in Greece for Syrian Refugee Camp 2017 02.png

Sie würde lieber in einem zerstörten Kriegsgebiet sich aufhalten wollen, als auf dem Lager in Moria. Diese Frau sagte mir, das es ihr im Lager auf Moria nicht vorkomme das Sie auf dem Grund der Europäischen Union befindet. Insgesamt kommt bei den Menschen im neuen Lager auf Moria von unserem Wertegerüst der Europäischen Union nichts an.  Dahingehend hat die Europäische Union ein Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit. Die Werte müssen praktiziert werden. Ein Mondscheineffekt für andere Kontinente besteht nicht.

Die Frau aus Syrien welche im Zelt in Essen übersetzt hat, scheint eigene Erfahrungen mit Krieg und Flucht hinter sich zu haben. Während des Übersetzen für mich während wir auf die Menschen via einem Bildschirm direkt schauten und zuhörten, zitterte unter ihrer Maske ihre Stimme. Die Tränen liefen ihr sichtbar über ihr Gesicht. Mit der jungen Frau neben der Übersetzerin sagte ich, daß der Gedanke dieser Aktion gut sei. Gleichwohl ein Tag dafür in der Weihnachtszeit ist zu kurz. Die Caritas, Kirche soll diese Aktion erneut und länger abhalten.

In Anbetracht des Reichtums der katholischen Kirche, der Caritas ist alles an Material bereits vorhanden. Die Kosten an Datenvolumen für eine direkte Übertragung sind keine Rede wert. Für die Zukunft soll die Kirche zeitnah solch eine Aktion wiederholen und in das dortige Lager live Schaltungen via Internet ermöglichen. Das archivierte Material an Videos, Ton kann auf dem Medium YouTube zur Verfügung gestellt werden. Dies darf die Kirche, die Caritas als einen Auftrag verstehen. Auch für diese ist die Zeit nicht statisch.

Als positives Beispiel kann ich die Freie Hansestadt Hamburg benennen. Dort steht in der Innenstadt ein Zelt mit Menschen aus Lampedusa. Sie haben zwar nicht via Internet eine Live Schaltung nach Lampedusa. Gleichwohl war ich im Zelt mit Menschen aus dem afrikanischen Kontinent welche über Lampedusa nach Hamburg kamen im Dezember 2013 zum Protest des Verlust der Esso Häuser, als auch im Dezember 2015. Dort wurde ich als unbekannter herzlich willkommen geheißen. Ich sprach mit einem welcher via Lampedusa geflüchtet ist während wir beide warmen Tee tranken.

Montage of the Syrian Civil War.png

Der persönliche Bezug ist einprägend. Dazu bedarf der Mensch allein den guten Willen und etwas angeborener Empathie. In jedem Fall lernte ich in allen Gesprächen etwas über den anderen Menschen und mich selber, weshalb ich Produkte bevorzuge welche zertifiziert ökologisch als auch gerecht gehandelt worden ist.

Dies kann jeder Mensch für sich allein bewerkstelligen. Etwas FairTrade Produkte gibt es mittlerweile in allen Geschäften ob Supermarkt und Discounter zu beziehen. Oftmals sind die Preise bezahlbar gestaltet worden.


Grafikquellen      :

Oben      —         Outskirts of Moria camp, Lesbos, on January 15th 2017.


2.) von Oben        —       Physician and Wikimedian Sam Zidovetzki visits Moria in Greece to offer healthcare and health information with meta:Internet in a Box devices containing meta:Kiwix – Wikipedia Offlinemeta:Grants:Project/Rapid/offline Wikipedia in Moria

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Showdown im Bundestag

Erstellt von Redaktion am 12. Dezember 2020

Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz

Bundestag - Palais du Reichstag.jpg

Bericht von Sebastian Erb und Christina Schmidt

Was macht eigentlich der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern? In Berlin sagen die Abgeordneten: So etwas haben wir noch nie erlebt.

Der Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat einen klaren Auftrag. Er soll herausfinden, ob es zu verhindern gewesen wäre, dass der Terrorist Anis Amri am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lkw in einen Weihnachtsmarkt raste. Zwölf Menschen starben damals, mehr als 60 wurden schwer verletzt. Der Attentäter schaffte es, aus Berlin zu flüchten, und wurde in Mailand von Polizisten erschossen. Wieso haben das weder die Nachrichtendienste noch die Ermittler*innen kommen sehen?

Damit sie solche Fragen beantwortet können, müssen ihnen der Generalbundesanwalt, das BKA, Ministerien und sogar die Geheimdienste ordnerweise Schriftstücke liefern, Kommunikation offenlegen, mal geschwärzt, mal streng geheim.

Dass etwas in ihren Unterlagen fehlt, bekommen die Abgeordneten in Berlin mit, als ein Journalist recherchiert. Im Mai 2020 heißt es in einem WDR-Bericht, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern habe sich an den Generalbundesanwalt gewandt. Vorgesetzte sollen ihm untersagt haben, Informationen über mutmaßliche Unterstützer Amris in Berlin weiter zu geben. Auch von Waffenhändlern ist die Rede, von dschihadistischen Netzwerken, jedoch alles vage.

Träfe das zu, wäre es ein mehrfacher Skandal: Der Generalbundesanwalt hatte nach dem Attentat alle verfügbaren Unterlagen aus Behörden in ganz Deutschland angefordert, warum blieben also Informationen in Schwerin liegen? Und: Warum erfährt der Bundestag erst jetzt davon?

Es ist ein seltsamer Verdacht: Ausgerechnet der kleine Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern soll Hinweise zur Vorbereitung des schlimmsten islamistischen Attentat in der deutschen Geschichte gefunden haben – um sie dann nicht weiter zu geben?

Die Ausschussmitglieder beschließen, der Sache nachzugehen. Sie fangen mit einem Puzzlestück an. Und am Ende zeichnet sich ihnen ein Bild von einem Bundesland, in dem das Innenministerium seinen Verfassungsschutz offenbar nicht im Griff hat.

Der Whistleblower

Am 26. November kommt ein Mann mit Schiebermütze in den Bundestag, aus Sicherheitsgründen nennen ihn alle hier nur T. S.. Er erscheint mit Begleitschutz.

Er war Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Mecklenburg-Vorpommern, ein Agent also, er führte sogenannte Vertrauensleute, kurzum: Es war seine Aufgabe, Informationen darüber zu gewinnen, wo Extremisten möglicherweise eine Gefahr darstellen. Islamismus und Dschihadismus sind sein Fachgebiet.

Was er dem Ausschuss erzählt hat, ist geheim. Genauso wie die Vermerke, Treffberichte und Briefe, die er schrieb. Wir haben anhand von vertraulichen Gesprächen und öffentlich gestellten Fragen und Antworten rekonstruiert, wie er den Sachverhalt darstellt.

Anfang Februar 2017 erhielt T. S. einen Anruf seines Kollegen A.B.. Auch der ist V-Mann-Führer. A.B. berichtet ihm von einem Gespräch mit einer Quelle, die er schon lange regelmäßig trifft. Diese Quelle hat erzählt, was mehr als drei Jahre später den Untersuchungsausschuss beschäftigt – und das Innenministerium in Schwerin unter Druck setzt.

Die Quelle berichtet, sie habe gehört, dass Anis Amri bislang unbekannte Kontakte in Berlin hatte. Zu einer Familie aus Neukölln. Mehrfach sei Amri bei Ihnen zu Besuch gewesen, vielleicht habe er auch in einer ihrer Immobilien gewohnt. Die Familie ist bekannt, sie soll Verbindungen in die organisierte Kriminalität haben. Nun könnten sie also auch noch Amris Unterstützer gewesen sein. Dann aber berichtet die Quelle von noch brisanteren Details: Die Familie hätte Amri für den Anschlag beauftragt und nach der Tat zur Flucht nach Holland verholfen. In einem schwarzen Auto. Von einer Belohnung sei die Rede gewesen, Bargeld in einer Tasche oder einem Sack.

Zu diesem Zeitpunkt, wenige Wochen nach dem Attentat, gilt Amri als Einzeltäter. Und als Islamist. So erklären sich Behörden die Tat. Die Informationen, die die Verfassungsschützer in Mecklenburg-Vorpommern hören, kratzen sehr an dieser Darstellung.

T. S. informiert seinen Referatsleiter über diese Wendung. Etwa drei Wochen später geht ein Vermerk an das Bundesamt für Verfassungsschutz raus. Darin berichtet das Landesamt von der Quelle und ihren Schilderungen zu Amris Bekanntschaft in Neukölln. Von einem Anschlagsauftrag steht darin aber nichts, auch nichts über einen Fluchtwagen oder Geld.

Warum wurde dieses Wissen nicht weitergegeben?

Hier unterscheiden sich die Schilderungen. P.G., der Referatsleiter von T. S. und A.B., sagte als Zeuge im Ausschuss, er habe damals, im Februar, davon nichts gewusst. Später zweifelt er die Glaubhaftigkeit der Information an und entschied deshalb, sie nicht weiterzuleiten.

Für die andere Version gibt es zahlreiche schriftliche Belege.

Im Herbst 2019 schreibt T. S. einen Brief an den Generalbundesanwalt. Er ist drei Seiten lang, in Kopie hat ihn auch das Bundesamt für Verfassungschutz bekommen und auch der Staatssekretär im Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Brief schildert T. S., wie er die Information bekam und was damit geschah.

Verfassungsschutz berlin.jpg

Jagdschlösschen für Uniformträger in Berlin

In seiner Version hat sein Vorgesetzter ihn gebeten, die Quelle erneut zu treffen. Die Schilderungen der Quelle bleiben konsistent. Trotzdem bekommen die Quellenführer T. S. und A.B. die Anweisung, das nicht zu verschriftlichen. Es folgen weitere Treffen mit der Quelle, Besprechungen mit der Referatsleitung, auch der Verfassungsschutzchef wird in Kenntnis gesetzt. Etwa zu diesem Zeitpunkt soll A.B. zurück zur Polizei versetzt werden. Die beiden V-Mann-Führer wollen ihr Wissen unbedingt weitergeben, und schreiben deshalb den Fluchtwagen und das Geld in einen späteren Treffbericht. Vor dem Ausschuss nennen sie das einen Trick. So wird ein Vermerk über den 24. Mai 2017 der erste Beleg darüber, dass die Information über Amri, über das Geld und den Fluchtwagen existiert.

Diese Variante wiederholt T. S. als er schließlich vom BKA befragt wird. Die Schilderungen seines Kollegen A.B. stimmen damit überein. Sogar die Quelle sagt bei den Ermittler*innen dasselbe aus.

Diese Version ist also mehrfach abgesichert. Oder haben sich hier drei Personen abgesprochen, um ihre Glaubwürdigkeit zu retten?

Der Verfassungsschutzchef

Am Donnerstagabend, 26. November, kommt es zu einem Auftritt, über die langjährige Abgeordnete sagen: An so etwas können sie sich nicht erinnern. Benjamin Strasser von der FDP wird von einer „vordemokratischen Haltung“ des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern sprechen.

Es ist zwanzig vor Acht, im Europasaal im Paul-Löbe-Haus läuft die Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Breitscheidplatz schon seit ein paar Stunden. Der Zeuge wird hereingerufen, Ministerialdirigent Reinhard Müller, 64, Chef des Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern seit 2009. Sein Amt ist direkt im Innenministerium angesiedelt, er ist Abteilungsleiter. Früher war er lange bei der Polizei.

Müller hat einen Rechtsbeistand dabei und Aktenordner. Schräg hinter ihm sitzt die Vertreterin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eine Juristin. Ihre Aufgabe ist es darauf zu achten, dass der Zeuge keine Dinge sagt, die von seiner Aussagegenehmigung nicht gedeckt sind. Bei der letzten Sitzung hat diese Aufgabe der Justiziar des Innenministeriums übernommen, aber er wurde des Saales verwiesen, weil er selbst in den Fall involviert war.

Müller liest sein Eingangsstatement vor. Die Vorwürfe seien unzutreffend sagt er, die zu Amri vorliegenden Informationen seien in sich nicht schlüssig gewesen und deshalb „nicht weitergabefähig“. Weitere Aussagen könne er aber nur in einer als geheim eingestuften Sitzung machen.

Als erster ist nun ein Abgeordneter der CDU an der Reihe, er schafft anderthalb Aufwärmfragen, bis sich die Landesvertreterin zum ersten Mal meldet. „Ich muss jetzt leider intervenieren“, sagt sie. „weil die Aussagegenehmigung gegen eine Antwort sprechen würde.“ Denn: Keine Aussagen zu Personalangelegenheiten und T. S. sei ja eine Personalangelegenheit. Sie fordert den Ausschluss der Öffentlichkeit.

Die Fronten sind jetzt klar. Auf der einen Seite die Bundestagsabgeordneten, die Fragen stellen wollen, weil das ihr Auftrag ist. Die das schon in 110 Sitzungen gemacht haben und die es nicht ausstehen können, wenn ein Zeuge selektiv berichtet. Auf der anderen Seite ein Verfassungsschutzchef, der nichts sagen darf oder will oder beides. Und der eine Landesvertreterin hinter sich weiß, die alles geben wird, damit er nichts sagen muss. Sie macht das gleichermaßen engagiert wie unbeholfen, dass sie manchen im Saal Leid tut.

In einer Beratungspause nimmt der Verfassungsschutzchef vor dem Saal sein Handy und telefoniert aufgeregt. Er gibt das Handy an die Landesvertreterin weiter. Das wird noch einige Male passieren an diesem Abend.

Die beiden haben mit Thomas Lenz telefoniert, dem Innenstaatssekretär in Schwerin, wie Müller später sagt. Lenz ist gerade der Chef im Ministerium, weil Lorenz Caffier Tage zuvor zurückgetreten ist, nachdem er seine Haltung zu einem rechten Netzwerk nicht erklären konnte. Es sei aber nur um die Auslegung der Aussagegenehmigung gegangen, sagt Müller. Lenz ist selbst Zeuge in dem Komplex.

Eine Landesregierung gegen den Bundestag. Geheimhaltung gegen Aufklärung. Der Ausschuss entscheidet einstimmig: Die Vernehmung wird öffentlich fortgesetzt.

2015-02-26 Didacta 2015 by Olaf Kosinsky-51.jpg

Wieder meldet sich die Landesvertreterin. Sie ruft: „Oktoberfestattentat!“ Im Saal schauen sich die Abgeordneten fragend an. Der Sitzungsleiter hat gerade gesagt, dass die Vetreterin „jede einzelne Beschränkung in der Aussage“ begründen müsse. Es folgt ein Dialog, der zeigt: Die Person, die aufpassen muss, dass alles rechtmäßig läuft, hat selbst große Schwierigkeiten, sich im Recht zu orientieren.

Landesvertreterin: „Ich wollte jetzt nur sagen, dass wir in den Bereich der Quellen kommen. Und da gibt es ja das Oktoberfestattentat. Das ist ziemlich eindeutig: Sobald es sich um Quellen dreht und tiefere Information fließen sollen – also definitiv nicht in öffentlicher Sitzung.“

MdB Volker Ullrich (CDU/CSU): „Was hat das mit dem Oktoberfestattentat zu tun? Finde ich, es ist eine seltsame Bemerkung, mit Verlaub.“

Landesvertreterin: „Wie bitte?“

Sitzungsleiter: „Also, das müssen Sie jetzt begründen. Sie haben damit angefangen.“

Landesvertreterin: „Die Entscheidung – Entschuldigung – natürlich. (…) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Oktoberfestattentat. Darauf beziehe ich mich.“

Ullrich: „Auf welchen Leitsatz und auf welche rechtliche Erwägung?“

Die Landesvertreterin liest in ihren Unterlagen und nennt dann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017. Die Abgeordneten werden ungeduldig.

Sitzungsleiter: „Ich warte auf die Begründung. Herr Ullrich hatte nach dem Leitsatz gefragt, auf den Sie Ihre Begründung stützen.“

Landesvertreterin: „Ich darf doch kurz nachdenken, oder?“

Die Abgeordneten fragen weiter. Sie wollen nichts zur Identität von Quellen oder anderen geheime Details wissen. Trotzdem wiederholt der Verfassungsschutzchef in unterschiedlichen Formulierungen vor allem: Er sage gerne aus, aber nur in geheimer Sitzung. Die Sitzung ist wie eine Schallplatte, die hängengeblieben ist.

MdB Benjamin Strasser (FDP): „Herr Müller, die Entscheidung, den Hinweis nicht weiterzugeben, also weder an die Polizei noch an andere Landesämter für Verfassungsschutz, die haben Sie letztendlich getroffen?“

Verfassungsschutzchef: „Herr Strasser, Sie können nicht von mir erwarten, dass ich jetzt an dieser Stelle zu diesen ganzen komplexen internen Abläufen…“

Strasser: „Ich habe eine ganz konkrete Frage gestellt: Wer hat die Entscheidung getroffen? Sie oder jemand anders?“

Verfassungsschutzchef: „Ich kann diese Frage an dieser Stelle nicht beantworten.“

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>        weiterlesen


Grafikquellen      :

Oben             —      Siège du Bundestag au Palais du Reichstag.

2-) von Oben        —      das Gebäude des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf dem Kasernengelände am Treptower Park in Berlin


Unten      —      Didacta 2015 in Hannover. Besuch am 26. Februar 2015 in den Messehallen und Außengelände

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Krieg oder Frieden ?

Erstellt von Redaktion am 12. Dezember 2020

Die Erfolgsgeschichte der Gehirnwäscher

Mercron.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Dauerberieselung mit kriegstreibender AgitProp hat böse Folgen / Liedermachers Realsatire: „Da kann man wieder sehen wie der Russe provoziert“(*)

„Deutschland wird außenpolitisch gebraucht“. „Wir müssen jetzt mehr Verantwortung in der Welt übernehmen.“ Können Sie abschätzen, wie oft Sie diese Standardsätze unserer regierenden Phrasendrescher schon gehört haben? „Was das allerdings genau heißt, ist noch nicht klar umrissen,“ behauptet die Tagesschau (1). Fälschlicherweise, denn das überhebliche Gequatsche der Befürworter von mehr deutscher Kriegsbeteiligung weltweit hat in den Nachrichten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eine gut erkennbare Funktion: Es soll uns im Glauben bestärken, „die Guten“ zu sein. Der Weihnachtsmann kommt schließlich auch in diesem Jahr wieder durch den Schornstein, und die Tagesschau beschert uns immer die reine Wahrheit.

So erklärt sich der Aberwitz, dass politische Fehlzünder wie Heiko Maas und Annegret Kramp-Karrenbauer sich über ihren ersten Tag hinaus im Ministeramt halten konnten. Und dass mehr als die Hälfte aller Mitbürger „mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden“ ist. (2) Nur so erklärt sich unser abwegiges Selbstbild: Wir stufen unser Land im Vergleich z.B. mit Frankreich oder England als “demokratischer” ein. 82 Prozent unserer Landsleute sind davon überzeugt, dass wir ein gutes Image in der Welt haben. (3)

Dass uns die anderen Völker viel kritischer sehen, erfahren wir schließlich nicht aus der Tagesschau: „Zu dominant. Zu belehrend. Zu ungeduldig. Besserwisserisch, gefühllos und egozentrisch“. So werden wir nicht nur in südeuropäischen Ländern wie Griechenland, Italien und Spanien empfunden. Dieses Negativ-Image haben wir beinahe weltweit. „Selbst in Ländern, in denen Deutschland traditionell ein hohes Ansehen genießt.” (4) Ein bemerkenswerter Widerspruch zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung.

Machtpolitiker, Bellizisten und journalistische Höflinge versuchen immer wieder, als Grund für unser Ansehensdefizit im Ausland die fehlende Bereitschaft zu Kriegseinsätzen vorzuschieben und damit den prinzipiellen Friedenswunsch der Bevölkerung zu diskreditieren. Ein Tageszeitungskommentar unter dem Titel „Deutsche Selbstüberschätzung“: „Bei den Friedensmissionen der Vereinten Nationen zahlt Deutschland zwar viel, überlässt es aber in erster Linie Entwicklungsländern, Soldaten und Polizisten zu entsenden.“ (6) Die indirekte Unterstellung, Deutschland kaufe sich von angeblichen Pflichten zur Kriegsführung frei, wiederholt sich in den gleichgeschalteten Medien häufig und in vielerlei Gestalt.

Der Rüstungsindustrie verbundene Politiker und einschlägige „Denkfabriken“ propagieren unentwegt die absurde Auffassung, dass vermehrte Bereitschaft zu Kriegseinsätzen das Ansehen Deutschlands in der Welt verbessere. Nicht ohne Folgen: Vor Jahren betrachteten noch zwei Drittel der Befragten den Schutz der Menschenrechte als wichtigstes Ziel der deutschen Außenpolitik. (7) Nur 18 Prozent traten für stärkeres Engagement der Bundeswehr im Ausland ein. (8) Seither hat sich diesbezüglich viel verändert; steter Tropfen höhlt den Stein.

Unsere US-Marionetten

Wie eifrig unsere militaristischen Wadenbeißer für Gewaltbereitschaft werben, zeigte sich auf der sogenannten Münchener Sicherheitskonferenz 2014 besonders eindrucksvoll. Joachim Gauck, damals Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, seinerzeit Außenminister, und Ursula von der Leyen in der Funktion als Kriegsministerin forderten unisono, Deutschland solle „mehr Verantwortung in der Welt übernehmen“. Das ist das Mantra der kaltherzigen Befürworter deutscher Kriegsbeteiligung. Sie wollen mit ihrer Schaumschlägerei den Deutschen die Friedensliebe austreiben und verfolgen ihre imperialistischen Ideen von „notfalls“ militärischer Gewaltanwendung unermüdlich. Pflichtgemäß bejubelte der gesamte deutsche Mainstream die demonstrative Kriegsbereitschaft unserer US-Lakaien, vorneweg selbstverständlich die ARD-aktuell:

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„… Verbündete und Nachbarn hatten lange darauf gewartet …“ (9)

Aber klar. Unsere Nachbarn sehnen sich bekanntlich schon immer danach, dass wir Deutschen in die Knobelbecher steigen und zu den Waffen greifen. Damit daran kein Hauch von Zweifel bleibt, narkotisiert die Tagesschau auch allerletzte selbstständig Denkende. Wie damals, so heute:

„Deutschland darf sich nicht mehr wegducken … Erschreckend schwach … Wer überzeugend diplomatisch vermitteln will, muss auch einen Waffenstillstand überwachen, muss als Ultima Ratio auch militärisch drohen können“. (10)

Unterm staatsvertraglich gepflegten Friedensrasen lässt das Hauptstadtstudio der ARD-aktuell den Maulwurf toben und bezieht für‘s satte Grün eine Farbe aus der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR):

„Die Politik muss der Bevölkerung besser erklären, warum deutsche Soldaten überall in der Welt eingesetzt werden. Warum das etwa im Interesse der Exportnation Deutschland ist, wenn Seewege aufrechterhalten werden“. (11)

Mit spürbarem Behagen referiert Hauptstadtstudio-Korrespondentin Ariane Reimers (NDR) auch das unaufrichtige Gesäusel der Bundeskanzlerin

„Amerika erwartet von uns – und zu Recht – stärkere eigene Anstrengungen, um für unsere Sicherheit zu sorgen und für unsere Überzeugungen in der Welt einzutreten“

und setzt hinter Merkels wolkiges Geschwafel (man täusche sich nicht, es steckt voll unausgesprochener Aggressionsbereitschaft) den Hinweis:

„Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer präzisiert, Europa müsse mehr Präsenz und gegebenenfalls auch militärische Macht in seiner direkten Nachbarschaft zeigen … im Baltikum, in Zentral- und Osteuropa, im Mittleren Osten, in Nordafrika und der Sahel-Zone.“ (ebd.)

Damit auch unsere treue Tante Trudi und der liebe Onkel Seppl aufm Sofa kapieren, worauf dieses äußerst raumgreifende und herrische Verständnis von Nachbarschaft hinausläuft, hilft Qualitätsjournalistin Reimers weiter:

„…der Satz ‚mehr Verantwortung übernehmen‘ muss gefüllt sein – im Idealfall mit einer sicherheitspolitischen Debatte, … aber auch mit dem „Sich-ehrlich-machen“, dass Sicherheit und Souveränität auch Geld kosten,”

nicht ohne zu bedauern:

„Der Weg dahin ist in jeder Hinsicht noch weit.“ (ebd.)

Schweineborsten weichquasseln

Stimmt, wir sind immer noch nicht soweit, obwohl ARD-aktuell sich doch soviel Mühe gibt, die deutsche Kriegsbereitschaft herbeizuhecheln. Mit allen qualitätsjournalistischen Mitteln: Dämonisierung vermeintlich gegnerischer Staatsmänner, Unterstellungen, Feindbildmalerei, Halbwahrheiten („Fake News“), Nachrichtenunterdrückung, Agitation, kurz: mit Desinformation über alle Kanäle.

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Die Tagesschau tut beständig so, als reisten Heiko Maas und die „AKK“ warmherzig auf Weltfriedens-Ticket, obgleich die beiden nebst Chefin Merkel dabei soviel Gefühlskälte ausstrahlen, dass es zum Eiswürfel-Pinkeln reicht. Russland und China wurden zu Schurkenstaaten stilisiert, ihre Präsidenten Putin und Xi dienen als Pappkameraden, auf die mit allem geballert wird, was sich zu pseudoargumentativer Munition verwenden lässt. Selbst der oberste Repräsentant unserer Republik, Spezialdemokrat Steinmeier, beteiligt sich regelmäßig am Schießbudenbetrieb: Russland habe

„militärische Gewalt und die gewaltsame Verschiebung von Grenzen auf dem europäischen Kontinent wieder zum Mittel der Politik gemacht“

und China beachte das Völkerrecht

„nur selektiv, wo es den eigenen Interessen nicht zuwiderläuft.“ (12)

Steinmeier hat ein sehr persönliches Interesse am Erfolg seines antirussischen Narrativs. Es macht vergessen, dass er selbst in der Ukraine-Krise von Anbeginn den hinterhältigen Schuft gegeben hat: Ein paar Stunden, nachdem er eine Vereinbarung mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zur Deeskalation getroffen hatte, brach er diese Absprache (13), machte sich mit den gewalttätigen rechtsextremistischen Kräften des Maidan-Putsches gemein (14, 15) und ließ zu, dass die rechtmäßig gewählte Regierung gestürzt und der verfassungsgemäß gewählte Präsident aus dem Land vertrieben wurden.

Steinmeier ignoriert wie das Berliner Kabinett und die gesamte Westliche Wertegemeinschaft bis heute, dass die Krim nicht annektiert wurde, sondern ihre Bevölkerung sich in freien Wahlen für den Wechsel in die Russische Föderation entschied und dass der gewaltlos erfolgte. Für die Erinnerung an das Blutvergießen bei der völkerrechtswidrigen Sezession des Kosovo im Zuge des verbrecherischen Angriffskriegs gegen Jugoslawien (16) und daran, dass er sich dabei als Schröders Schlimmfinger (17) mitschuldig machte, ist in der oberen Schublade unseres edelsten Politmöbels kein Platz mehr frei. Den Balken im eigenen Auge sieht man bekanntlich nicht, erst recht, wenn man Steinmeier heißt.

Das sind die Fakten …

Trotz mehrheitlich längst fehlender Zustimmung der Bevölkerung bleibt die Bundesregierung (vorerst noch) beim Militäreinsatz in Afghanistan. Sie belässt unter Bruch des Völkerrechts die Bundeswehr auch im Irak, und zwar gegen den ausdrücklichen Willen des dortigen Parlaments und der Regierung in Bagdad. Sie unterstützte die USA beim vernichtenden Bombardement und Massaker der Zivilbevölkerung von Mossul. Sie duldet die gezielten Massenmorde per Drohnen vom US-Stützpunkt Ramstein und damit von deutschem Boden aus; sie setzt rechtswidrig, ohne Zustimmung des Bundestags, Bundeswehreinheiten in Niger und Kamerun ein (18, 19). Sie vertieft das Elend der venezolanischen Bevölkerung mittels Unterstützung der US-Sanktionspolitik und der völkerrechtswidrigen Anerkennung der US-Marionette Juan Guaidó, des selbsternannten „Übergangspräsidenten“ bis auf den heutigen Tag. (20)

… und so werden sie frisiert

Die beständigen Propagandalieferungen – nicht nur – der Tagesschau geben Russland und China als uns bedrohende Feinde aus, weil sie nicht bereit sind, sich dem politischen, weltwirtschaftlichen und geostrategischen Vormachtanspruch Washingtons zu unterwerfen. Ein Blick auf die Militärausgaben der 29 NATO-Mitgliedsstaaten im Jahr 2019 – 1,035 Billionen US-Dollar (21) – sowie auf die rund um den Globus verteilten 1000 US-Militärbasen (22) zeigt beim Vergleich mit den Militäraufwendungen Russlands und Chinas, wer da wen bedroht. China gab dafür 261 Milliarden aus, Russland nur 65,1 Milliarden US-Dollar (23).

Wieviel böser Wille ist nötig, um angesichts dieser Daten eine chinesische oder russische Bedrohung zu erfinden?

Tagesschau-Meldung am 7. Dezember 2020:

„Die Ausgaben (sic!) für Rüstungsgüter sind im vergangenen Jahr weltweit gestiegen. Das geht aus Angaben des Friedensforschungsinstituts SIPRI in Schweden hervor. Demnach (sic!) lag der Umsatz der 25 größten Unternehmen 2018 bei umgerechnet 274 Milliarden Euro. 2019 waren es 297 Milliarden, 8,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten der größten Waffenproduzenten sind US-Unternehmen, chinesische Firmen rangieren auf Platz zwei gefolgt von Produzenten in Russland.“ (24)

Welchen Eindruck gewinnt der Zuschauer? Diesen: Die USA sind zwar Spitzenreiter bei den Rüstungsausgaben, aber Chinesen und Russen folgen dichtauf. Tante Trudi und Onkel Theodor bemerken wahrscheinlich nicht einmal, dass die Tagesschau hier die Rüstungsausgaben der Länder mit den Umsätzen ihrer jeweiligen Rüstungswirtschaft gleichsetzt und die Unvergleichbarkeit wahrscheinlich nicht mal selbst bemerkt.

Eine journalistisch korrekte Meldung, geschöpft aus der gleichen SIPRI-Quelle, hätte einen gänzlich anderen Eindruck vermittelt und ungefähr so ausgesehen:

Die Umsätze der Rüstungswirtschaft sind im vergangenen Jahr erneut weltweit gestiegen. Das geht aus den (hier in Euro umgerechneten) Angaben des Friedensforschungsinstituts SIPRI in Schweden hervor. Danach erzielten allein die 25 größten Unternehmen schon 297 Milliarden Euro. US-Waffenschmieden hatten daran mit 181 Milliarden Euro den größten Anteil, rund 61 Prozent. China hatte in diesem Feld mit 47,5 Milliarden Euro nur 16 Prozent Anteil, Russland erreichte mit 11,8 Milliarden Euro lediglich 3,9 Prozent. (25)

Die gigantische US-Rüstungswirtschaft überragt – objektiv betrachtet – ihre chinesische und russische Konkurrenten himmelhoch. Und noch etwas, werte Tagesschau-Dödel: Im vorigen Jahr lagen die weltweit gestiegenen Rüstungsausgaben, die ihr in eurem Bericht anfänglich ansprecht, bei 1,92 Billionen Dollar, wie ihr am 27. April selbst gemeldet hattet. (26)

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Die beständig herbeifantasierten absurden Bedrohungszenarien, in denen Russland und China den bösen Schwarzen Mann darstellen, beeinflussen natürlich die öffentliche Meinung. Nahezu die Hälfte der Deutschen betrachtet Russland mittlerweile als „bedrohlich“.  42 Prozent halten den wachsenden Einfluss der VR China für negativ. Die Befragten stützen ihr Urteil nicht auf eigene Kenntnis von Land und Leuten, sondern auf die „Informationen“ der transatlantisch dressierten und weitestgehend gleichgeschalteten Massenmedien. Deren ständig wiederholte AgitProp wirkt unausweichlich meinungsprägend und bewusstseinsbildend. (27)

Zwischen Berlin und Brüssel einerseits und Beijing andererseits liegen fast 9000 Kilometer (Luftlinie). Inwiefern China (von der anderen Seite dieser Welt) Deutschland militärisch bedroht, und welches Interesse das „Reich der Mitte“ damit verfolgen könnte, mögen die Götter wissen; der deutsch-chinesische Handel blüht, beide Seiten ziehen beträchtliche Vorteile daraus. Trotzdem verkneift sich die Tagesschau nicht, pure NATO-Propaganda als realitätsgetreue Nachricht anzubieten und die Volksrepublik China als „mögliche Bedrohung“ einzustufen. (28)

Heiko, wo bleibt Heiko?

Selbst in dem hier angesprochen kindischen Kurztext auf Tagesschau.de musste der größte deutsche Außenminister aller Zeiten noch eigens erwähnt und als erfolgreicher Diplomat gefeiert werden:

„Wie von der Bundesregierung verlangt und erwartet, schaffte es auch eine Initiative von Außenminister Heiko Maas in die Abschlusserklärung. Maas hatte sich für eine bessere politische Koordinierung unter den NATO-Partnern stark gemacht. Die Mitgliedstaaten konnten sich allerdings noch nicht auf die Einberufung einer Arbeitsgruppe verständigen.“ (ebd.)

Saustark mal wieder, unser Initiativling, was? Nur die Bildung einer Arbeitsgruppe hat er nicht gestemmt. Die zahlreichen Anlässe, über ihn zu spotten, sollten allerdings nicht über den Schaden hinwegtäuschen, den dieser Spezialdemokrat und seine aggressive CDU-Pfadfinderin AKK anrichten können. Zum Beispiel beim Zerdeppern des chinesischen Porzellans durch deutsche Kanonenbootpolitik im Südchinesischen Meer. (29)

2014 ergab eine Umfrage, dass 58 Prozent der Angesprochenen meinten, Deutschland solle Konflikte lieber mit Diplomatie und Geld lösen als mit Waffen. Nur 20 Prozent sahen das anders. 2016 hatte sich der Anteil der entschieden Friedliebenden auf 52 Prozent verringert. In einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung sprachen sich nur noch 49 Prozent für unbedingte Gewaltlosigkeit aus. Die Frage „Sollte sich Deutschland an militärischen Missionen zum Schutz offener See- und Handelswege beteiligen?“ beantworten inzwischen 49 Prozent mit ja und nur noch 43 Prozent mit nein. (30, 31) Das Umfrageergebnis zeigt, wie gefährlich sich die militaristische Dauerberieselung auf die Bevölkerung auswirkt.

Nebenwirkungen der Pandemie 

Dem propagandistischen Erfolg der Militaristen schlägt kaum mehr relevanter Widerstand entgegen. Wo er sich trotz der bösen Stimmungsmache noch formiert, wird er totgeschwiegen. Natürlich auch von der Tagesschau. In Zeiten der Überflutung mit Corona-Informationen und der täglich 600 Todesopfer fällt es leicht, Nachrichten über Friedensbewegte zu unterdrücken.

Ausführlich berichtete die Tagesschau über die Haushaltsdebatte im Bundestag und widmete der hohen Staatsverschuldung zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Pandemiefolgen viel Aufmerksamkeit. (32) Dass Merkel und ihre Entourage hinter den Corona-Kulissen die Rüstungsausgaben drastisch nach oben treiben, blieb der Öffentlichkeit weitestgehend verborgen. Der kleine Rest der Aufmerksamen wurde wie gehabt mit der Schauermär vom bösen Russen abgespeist.

Pillepalle wie die Weigerung Sachsen-Anhalts, der Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent zuzustimmen (ebd.), hatten für die Tagesschau mehr Gewicht als das Menschenrecht auf Frieden.

Rupert Polenz über die Turbulenzen im Landtag Sachsen-Anhalts:

„Wir brauchen Qualitätsjournalismus, damit wir den Fake News nicht auf den Leim gehen. In der Informationsflut des Internet brauchen wir journalistisch-unabhängige Filter, die Quellen überprüfen, Informationen einordnen und uns Orientierungsmöglichkeiten geben.“ (33)

Ja, journalistische Unabhängigkeit bräuchten wir wohl, finden sie aber garantiert nicht in den Nachrichtenredaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Deren konformistische Qualitätsjournalisten leimen mit ihren regierungsfrommen Fake News die Öffentlichkeit nicht minder. Polenz, vormals Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Parteikarrierist, ein halbes Jahr lang sogar CDU-Generalsekretär, Beirat der Atlantischen Initiative, ist bis heute Mitglied des CDU-Freundeskreises im ZDF-Fernsehrat; er täte gut daran, vor dessen Türe zu kehren.

Zum Schluss eine längst überfällige Laudatio: Die ARD-Tagesschau wurde zusammen mit ZDF-heute zum „Sprachpanscher“ des Jahres gekürt, verdientermaßen. (34) Zum Dank haben beide darüber auch nicht berichtet. Dabei war der Preis nur wegen des hemmungslosen Gebrauchs von Anglizismen und Gender-Manierismen vergeben worden, nicht für hirnrissige Sprachbilder und Realitätsverzerrungen, in denen unsere öffentlich-rechtliche Journaille schwelgt.

Aufmacher-Satz der 20-Uhr-Tagesschau am 7. Dezember:

„Die Diskussion über eine weitere Verschärfung der Corona-Maßnahmen vor Weihnachten nimmt an Fahrt auf.“  (35)

Ach ja? Im BMW oder im ICE? Wurscht. Vor soviel Sprachgewalt muss man einfach die Waffen strecken.

Quellen und Anmerkungen:

(*) https://www.youtube.com/watch?v=3NfdowVg1CU

(1) https://www.tagesschau.de/inland/sicherheitspolitik-bab-101.html

(2) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2953/umfrage/zufriedenheit-mit-der-arbeit-der-bundesregierung/

(3) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/234150/umfrage/umfrage-zum-image-von-deutschland-in-laendern-der-eu/#professional

(4) https://www.dw.com/de/das-bild-der-deutschen-in-der-welt/a-16693350

(5) https://taz.de/Gastkommentar-Vorsitz-Sicherheitsrat/!5582229/

(6) https://www.gppi.net/2019/04/03/deutsche-selbstueberschaetzung

(7) https://www.menschenrechte.org/de/2014/07/23/menschenrechte-realpolitisch-denken/

(8) https://www.freitag.de/autoren/vorabmeldung/deutsche-gegen-militaer-einsaetze-im-ausland

(9) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video1369820.html

(10) wahlomat.tagesschau.de/kommentar/sicherheitskonferenz-kommentar-101.html

(11) https://www.tagesschau.de/inland/sicherheitspolitik-bab-101.html

(12) https://www.tagesschau.de/inland/msc-steinmeier-101.html

(13) https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-janukowitsch-fuehlt-sich-von-steinmeier-und-eu-getaeuscht-a-962240.html

(14) https://www.tagesspiegel.de/meinung/ukraine-die-neue-deutsche-aussenpolitik-hat-ihren-preis/9530758.html

(15) https://www.dw.com/de/zwischen-hoffen-und-bangen-in-kiew/a-17448315

(16) https://www.heise.de/tp/features/1999-Der-Holocaust-als-Rechtfertigung-fuer-einen-Angriffskrieg-4347074.html

(17) https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-fotos_galerie,-Gerhard-Schroeder-und-seine-engsten-Vertrauten-_mediagalid,35412.html

(18) https://www.welt-sichten.org/artikel/36370/was-macht-die-bundeswehr-im-niger-und-kamerun

(19) https://www.bmvg.de/de/aktuelles/besucht-truppe-generalinspekteur-bundeswehr-afrika-niger-mali-211298

(20) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8467/

(21)https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2019_06/20190625_PR2019-069-EN.pdf

(22) https://www.nachdenkseiten.de/?p=37010

(23) https://www.sipri.org/media/press-release/2020/global-military-expenditure-sees-largest-annual-increase-decade-says-sipri-reaching-1917-billion

(24) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-40415.html

(25) https://www.sipri.org/media/press-release/2020/global-arms-industry-sales-top-25-companies-85-cent-big-players-active-global-south

(26) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-36813.html

(27) https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/fokusthema_russland-in-europa/pdf/2016/Umfrage_Tabellenband_Deutschland.pdf

(28) https://www.tagesschau.de/ausland/nato-gipfel-151.html

(29)https://www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/streitkraefte_und_strategien/Indo-Pazifik-bald-Operationsgebiet-der-Bundeswehr,streitkraefte638.html

(30) https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/handlungsfeld_internationale-verstaendigung/pdf/2019/Umfrage_Einmischen_oder_zuru__ckhalten.pdf

(31) https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/berliner-forum-aussenpolitik/pdf/2017/The-Berlin-Pulse.pdf

(32) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-40435.html

(33) https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/landespolitik/koalitionsstreit-erhoehung-rundfunkbeitrag-gastbeitrag-zur-rundfunkfreiheit-100.html

(34) https://vds-ev.de/pressemitteilungen/tagesschau-und-heute-nachrichten-sind-die-sprachpanscher-2020/

(35) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-40415.html

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

Urheberrecht
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Terror auch im Tessin?

Erstellt von Redaktion am 7. Dezember 2020

Der «Krieg gegen den Terror» ist zur politischen Droge geworden

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von Helmut Scheben / 07. Dez 2020 –

Die Reaktionen auf die «Terrorangriffe» in Lugano und Morges zeigen, wie gedopt unsere Herzen und Hirne seit 9/11 sind.

In Lugano griff letzten Dienstag eine nachweislich psychisch gestörte Frau zwei Frauen in einem Supermarkt an und verletzte eine der beiden mit einem Messer. Die 28jährige Täterin war der Polizei durch frühere Verbindungen mit radikalislamischen Personen bekannt. Ein ähnlicher Vorfall hatte sich im September ereignet, als ein Islamist mit Wahnvorstellungen in Morges VD einen Mann erstach.

Das sind sicher schwerwiegende Vorfälle. Es wird Aufgabe der Ermittler sein festzustellen, wie weit den Taten ein individuelles psychisches Krankheitsbild zugrunde liegt und wie weit der Faktor politischer Terror als Motiv in Betracht kommt.

Die Medien waren aber offenbar nicht gewillt, diese Abwägung abzuwarten oder zuzulassen. Sie stürzen sich auf den Vorfall in Lugano mit einer Erregung, als hätten Terroristen die Piazza della Riforma samt Palazzi in die Luft gejagt. «Terror wird zur konkreten Bedrohung» kommentierte die NZZ. Sie vermutet, dass «die Terrorfürsten» die Schwächen von Al Kaida und Islamischem Staat «mit den Handlungen von Einzeltätern kompensieren wollen».

Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle warnte: «Es reicht eine gewisse Inspiration, damit ein Täter denkt: Jetzt nehme ich ein Messer, gehe raus und mache auch etwas.» Der Zürcher Tagesanzeiger sprach von jenem «schlimmen und schaurigen Dienstag, als der Terrorismus in die Schweiz kam.» Das Blatt setzt gleich fünf Top-Journalisten an eine Analyse und verweist auf eine Historie des Terrors in der Schweiz: 1970 Absturz eines Swissair Maschine in Würenlingen, die Palästinensern zugeschrieben wurde, 1981 Bomben armenischer Kommandos, 1995 Ermordung eines ägyptischen Diplomaten in Genf und 2011 Explosion einer Briefbombe bei Swissnuclear in Olten.

Wir leben also in einem Land, in dem im Laufe eines halben Jahrhunderts fünf Ereignisse aktenkundig wurden, die als terroristisch angesehen werden können. Also alle zehn Jahre mal. Man darf sich daher fragen, ob all die, welche die Schweiz nach der Tat in Lugano schon im Terror versinken sehen, die Dinge noch in ihren realen Dimensionen wahrnehmen können. Der Tagesanzeiger konsultiert bereits einen Terrorismus-Experten der George-Washington-Universität, welcher urteilt: «Eine neutrale Aussenpolitik ist kein Mittel gegen Angriffe.» Doch die Neutralität der Schweizer Aussenpolitik hat im Leben der psychisch kranken Täterin in Lugano kaum je eine Rolle gespielt.

Terror-Obsession seit 9/11

Die Tagespresse richtet mit der grossen Kelle an, sie ist in ihrem Wesen bekanntlich ein Durchlauferhitzer. Mit dieser Feststellung könnte man die Aufregung um den Vorfall in Lugano abhaken. Die Sache ist aber nur Symptom eines viel tiefer greifenden Übels. Der Eifer, mit dem manche Journalisten seit Jahren «terroristischen Netzwerken» in der Schweiz nachspüren, hat etwas von Besessenheit. Und diese Obsession ist Teil einer Angst-Maschine, die seit 9/11 äusserst wirkungsvoll funktioniert. Die Terror-Dystopie ist eine durchschlagend erfolgreiche, massenpsychologische Kreation der Neo-Konservativen in den USA und in Israel. Sie erfanden die Erzählung, nach dem Anschlag von 9/11 gelte es, einen neuen Weltkrieg gegen den islamistischen Terror zu führen.

Der Mythos, der Westen befände sich in einem «Krieg gegen den Terror», hat sich seitdem wie ein Virus der Herzen und Hirne der Menschen bemächtigt. Die Terrorangst ist reflexartig abrufbar. Nach dem September 2001 gelang es Strategen wie Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Richard Perle und Robert Kagan, politische Entscheidungsträger im Westen davon zu überzeugen, man befände sich in einem «Kampf der Kulturen», der mit militärischen Mitteln ausgetragen werden müsse. Die Rolle des Westens sei es, seine Hegemonie unter Führung der USA durchzusetzen, wo nötig mit Waffengewalt und Überwachung der eigenen Bürger. Es gehe um nichts Geringeres als den Sieg von Freiheit und Demokratie. Das nannte sich «Project for the New American Century» (PNAC). Aus Politik wurde Kriegspolitik, die Terror-Psychose war ihre Grundlage, und dieser Mechanismus wirkt bis heute in vielen Köpfen.

Richard Perle ging so weit, zu prophezeien, mit dem Sieg im Irakkrieg, werde die «Schwatzbude» der UNO ihre Bedeutung verlieren. Es werde künftig nicht mehr der UN-Sicherheitsrat sein, welcher die Autorität habe, militärische Interventionen zu autorisieren. (Perle: United they fall. 22.3.2003 im britischen Spectator).

Die Nato führt seit bald zwanzig Jahren einen Krieg gegen die Taliban

2003 kam die Mannschaft um Präsident George W.Bush, Vize Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld indessen nicht daran vorbei, die UNO und die Weltöffentlichkeit hinters Licht zu führen. Die Behauptungen, Saddam Hussein bedrohe den Westen mit ABC-Waffen, sei mit Al Kaida verbündet und folglich Komplize bei den Anschlägen von 9/11, erwiesen sich erst als Fake, als die ersten hunderttausend Iraker und Irakerinnen schon unter den Bomben umgekommen waren.

Das Unbegreifliche an der Geschichte ist, dass das politische Establishment zwar zähneknirschend einsah, im Irak-Krieg von Washington belogen worden zu sein, die Begründung für den Afghanistan-Krieg aber nie in Frage stellte. In westlichen Medien gilt bis heute die Sprachregelung, die USA seien in Afghanistan einmarschiert, weil die Taliban Osama Bin Laden schützten und weil dieser der Drahtzieher von 9/11 sei. Nach den Erfahrungen des Irak-Krieges, des Libyen-Krieges (der als «Durchsetzung einer Flugverbotszone» verkauft wurde) und des Syrien-Krieges gehört eine grosse Portion Naivität dazu, die Afghanistan-Story immer noch so zu schlucken, wie sie von 9/11 an von der Regierung Bush unters Volk gebracht wurde. Man glaubt Pinocchio aufs Wort, während man zusieht wie die Nase immer länger wird.

Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, was vor 9/11 passiert ist. Nach dem schmählichen Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan (in Washington als «Rache für Vietnam» gefeiert) hatten die USA ab Mitte der neunziger Jahre den Vormarsch der Taliban weiterhin unterstützt. Man hoffte, sie seien stark genug, in dem von Warlord-Kämpfen zerrissenen Afghanistan Stabilität zu schaffen. Interessant für Washington wäre vor allem der Zugriff auf die Ölfelder in Zentralasien und der Bau von Pipelines durch Afghanistan zum Indischen Ozean gewesen. Doch schon unter der Clinton-Regierung hatte man sich kaum noch Hoffnung auf eine Einigung gemacht.

Im Juli 2001, also zwei Monate vor 9/11, unternahm die Bush-Regierung einen letzten Versuch. Eine US-Delegation traf Vertreter der Taliban in Berlin. Die USA verlangten die Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit und Teilung der Macht mit US-freundlichen Fraktionen. Sie redeten Klartext: «Entweder ihr akzeptiert einen Teppich aus Gold, oder wir begraben euch unter einem Teppich von Bomben.» (Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquié : Bin Laden, la Vérité interdite. 2001)

Die Taliban lehnten ab. Zwei Monate später wurden sie für den Anschlag in Manhattan verantwortlich gemacht, weil sie Al Kaida und Bin Laden beherbergten. Am 7. Oktober 2001 begann die Nato unter Führung der USA, Afghanistan zu bombardieren.

Die Täter-Version war offensichtlich schon in dem Moment druckfertig parat, als die Towers in Manhattan zusammenfielen. Die Bush-Regierung brauchte nicht einmal Stunden, um angeblich sicher zu sein, dass Bin Laden und Al Kaida hinter der Tat stünden.

Osama Bin Laden predigte zwar im Einklang mit seiner ideologischen Weltsicht den Kampf gegen die USA und ihre Verbündeten. Er stellte 9/11 als gerechten Vergeltungsschlag für die Politik Israels und der USA im Nahen Osten dar. Doch er erklärte wiederholt, dass er mit 9/11 als Planer oder operativ Involvierter nichts zu tun hatte.

Erst später tauchten Videotapes auf, die beweisen sollten, dass Bin Laden seine Täterschaft einräumt, zum Beispiel in einer angeblichen Videobotschaft, die er Al Jazeera geschickt haben soll. Die Echtheit solcher Videobotschaften wurde aber von etlichen Experten stark bezweifelt. Zum Beispiel im Guardian vom 30.11.2002: «Swiss scientists 95% sure that Bin Laden recording was fake», oder David Ray Griffin auf Global Research.

A montage of eight images depicting, from top to bottom, the World Trade Center towers burning, the collapsed section of the Pentagon, the impact explosion in the South Tower, a rescue worker standing in front of rubble of the collapsed towers, an excavator unearthing a smashed jet engine, three frames of video depicting American Airlines Flight 77 hitting the Pentagon

9/11 war kein Angriff eines fremden Staates

Nach dem Anschlag von 9/11 konstruierten die USA im Oktober 2001 einen Fall der legitimen Verteidigung, wie ihn die UN-Charta beim Angriff eines fremden Staates vorsieht. Und die NATO-Staaten konstruierten auf dieser Grundlage den Bündnisfall. Es gab aber keinen Angriff eines fremden Staates. Die drei Türme in Manhattan waren nicht von Afghanistan oder den Taliban zerstört worden. Die Attentäter sollen, wenn man den offiziellen Angaben glauben will, nicht Afghanen, sondern Saudis gewesen sein. Es genügt, heute noch einmal die Nachrichten von BBC und CNN aus jenen Wochen nach 9/11 anzusehen, um festzustellen, dass die Taliban sich wiederholt bereit erklärten, Bin Laden auszuliefern, wenn die Regierung Bush ihnen Beweise für die Täterschaft vorlegte. Die Antwort aus Washington kam wie von einem Anrufbeantworter: Man müsse nichts beweisen, man wisse, dass Bin Laden der Täter sei. Marjorie Cohn, Professorin für internationales Recht, schrieb bereits im November 2001: «Die Bombardierungen Afghanistans durch die Vereinigten Staaten und Grossbritannien sind illegal.»
[Siehe Infosperber: «Die USA decken die Hintermänner» (drei Teile).

Aufschrei nach Trumps Ankündigung eines Truppenrückzugs

Als Donald Trump Mitte November ankündigte, er werde die Hälfte der US-Truppen aus Afghanistan abziehen, überschlugen sich die Exponenten der NATO-Politik mit Warnungen, Befürchtungen, Kassandra-Rufen. Man gebe nun das Land gratis in die Hände der Taliban, hiess es. Der verfrühte Truppenabzug gefährde die Friedensverhandlungen, tönte es in Washington sowohl von Demokraten als auch von Republikanern. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sah Afghanistan nun in Zukunft erneut als Rückzugsort für internationale Terroristen, die Angriffe auf NATO-Länder planten. Das Ganze klingt wie eine düstere Parodie auf den November 2001, als die USA mit ähnlichen Behauptungen begannen, Afghanistan zu bombardieren. Unsere grossen Medien verstanden sich in der vergangenen Woche dienstbeflissen als Echokammer dieser absurden Logik. Seit wann hätte es einen Frieden gefährdet, wenn eine Imperialmacht sich aus einem besetzten Land zurückzieht? Die Frage stellen wohl auch Tausende von Prothesenträgern in Afghanistan.

Der Krieg hat nun 20 Jahre gedauert, und es gibt kaum keinen US-General, der nicht weiss, dass er nicht zu gewinnen ist und nie zu gewinnen war. Niemand investiert in Afghanistan, das Land lebt von ausländischen Hilfsgeldern und von Drogenhandel. Die vom Westen gestützte Regierung hat über weite Teile des Landes keine Kontrolle.

Kein Kenner der Lage in Afghanistan glaubt noch, dass es einen Unterschied macht, ob offiziell noch 4500 oder 2500 US-Soldaten am Hindukusch stationiert sind. Es waren einmal mehr als hunderttausend US-Amerikaner in einem Truppenaufmarsch von insgesamt drei Dutzend Ländern. Doch die schmutzige Arbeit wird und wurde – wie schon im Irak – ohnehin von «privaten Vertragsnehmern» (sprich Söldnern) und anonymen Undercover-Kommandos getan. Hinzu kommt der Drohnenkrieg. Bei den «targeted killings» durch Drohnen werden Personen getötet, die unter Terrorismus-Verdacht stehen, wobei oft Fahrzeuge und ganze Wohnblocks in die Luft gejagt werden. Die Zahl der Opfer ist hoch und von unabhängiger Seite schwer zu ermitteln. Zahlreiche US-Juristen sind der Ansicht, es handele sich um nichts anderes als aussergerichtliche Hinrichtungen. Lisa Ling, eine US-Drohnen-Technikerin, die in Afghanistan im Einsatz war, ist eine von vielen Whistleblowern, die sagen, der Krieg gegen den Terror habe längst «verbrecherische Ausmasse» erreicht. (WoZ, 13.August 2020)

Das Militärgefängnis auf der US-Air-Base in Bagram wurde in der New York Times wiederholt als ein Ort brutalster, sadistischer Folterpraxis bezeichnet. Die Zustände seien dort schlimmer gewesen als in Guantánamo und Abu Ghraib. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eröffnete im vergangenen März eine Untersuchung von Kriegsverbrechen in Afghanistan, die nicht nur gegen Verbrechen der Taliban, sondern auch gegen Verbrechen von Angehörigen der US-Armee und der Geheimdienste ermittelt werden sollte. Die Regierung Trump bedrohte daraufhin Mitglieder des Gerichtes mit Sanktionen. US-Behörden können den Mitarbeitern des Gerichtes sowie ihren Familienangehörigen Vermögenswerte einfrieren und Einreisesperren beschliessen.

Man wäre nicht erstaunt, wenn Umfragen ergäben, dass die meisten Leute in den USA heute nicht genau wissen, warum überhaupt in Afghanistan seit 20 Jahren amerikanische Soldatinnen und Soldaten sterben und eine halbe Million Afghanen getötet oder verwundet wurde. Die Regierung Trump hat im Februar in Doha ein Friedensabkommen mit den Taliban unterzeichnet, welches einen totalen Abzug der Amerikaner für April 2021 vorsieht. Skepsis ist angebracht. Weder in Syrien noch im Irak haben die USA ihre angekündigten Rückzieher jemals ganz wahr gemacht. Von Joe Biden ist nicht zu erwarten, dass er im «Krieg gegen den Terror» weiche Knie bekommt. Er war stets – im Schulterschluss mit Hardlinern wie Hillary Clinton – ein entschiedener Befürworter der US-Militärinterventionen. Den Einmarsch im Irak bezeichnete er unterdessen als Fehler.

Der militärisch-industrielle Komplex zieht die Fäden

Es gab immer wieder Stimmen in Washington, die sagten, man habe jetzt genug vom Krieg gegen den Terror. Robert Gates, altgedienter CIA-Mann und Verteidigungsminister unter Barak Obama, sagte 2011, jeder Verteidigungsminister, der dem Präsidenten künftig rate, Truppen nach Asien, Afrika oder in den Nahen Osten zu entsenden, sollte «auf seinen Geisteszustand untersucht werden.»

Mark Hannah, ein den Demokraten nahestehender Politanalyst der New York University, schrieb 2019: «Der Krieg in Afghanistan ist zu einer Mehrgenerationen-Übung in Absurdität geworden.»

Die Militärinterventionen der USA hätten sich als sinnlos erwiesen, und es zeige sich heute, dass Terrorismus nicht in irgendwelchen Höhlen in Afghanistan koordiniert werde, sondern hier bei uns «homegrown» entstehe [Siehe USA Today: «Afghanistan may be a mess if US troops leave; they should leave anyway. Trump is right»].

Doch solche kritischen Stimmen werden überdeckt von den Lautsprechern der Rand Corporation und anderer mächtiger Think Tanks des militärischen Establishments. Die Rüstungskonzerne und die Falken im Pentagon werden Präsident Biden wenig Spielraum für Friedenspolitik lassen. Der militärisch-Industrielle Komplex und die Strategen des «New Middle East» gehören immer noch zu denjenigen, die im Hintergrund die Fäden ziehen.

Selbst wenn es zu einem erneuten Nukleardeal mit Teheran kommen sollte, bleibt der Iran ein Angriffsziel. Er steht zusammen mit Syrien vielen US-Strategen im Weg, die einen freien Korridor nach Zentralasien anstreben. Es gilt, Israel zu stärken, den Vormarsch der Chinesen auf der Seidenstrasse zu blockieren und Russland von seiner unstabilen Südflanke her einzukesseln. Im Grunde war der «Krieg gegen den Terror» nie etwas anderes als eine Worthülse, die dazu diente, ein geostrategisches Projekt zu kaschieren. Das sehen heute viele etwas klarer, und dennoch ist wahrscheinlich im kollektiven Unbewussten etwas hängengeblieben vom «Krieg gegen den Terror»: ein Bodensatz von Terrorangst und Überwachungsmentalität.

USA arbeiteten schon lange mit Dschihadisten zusammenEs gibt eine lange Geschichte der Zusammenarbeit Washingtons mit Dschihadisten. Die USA hatten schon im Juli 1979 begonnen, in Afghanistan islamistische Aufständische zu bewaffnen, die sich gegen die kommunistische Regierung erhoben hatten. Kabul hatte die Sowjetunion um Hilfe gegen den Aufstand gebeten. Der Kreml zögerte lange, bis er – unter grossem Bedenken in der Armee – dem Ersuchen nachkam. Am 24. Dezember 1979 marschierten schliesslich russische Truppen in Afghanistan ein. Der Bär war in die Falle gegangen, wie der US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski Jahre später genüsslich feststellte. Damit verschärften sich die Probleme der UdSSR an ihrem muslimischen Südgürtel. Der Weltöffentlichkeit hatte Washington hingegen die umgekehrte Version verkauft: die USA seien den Mudschahedin und dem «afghanischen Volk» erst zu Hilfe gekommen, nachdem die Russen Afghanistan überfallen hätten

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Oben        —        Möglicher Terroranschlag Berlin ( Fotos: Andreas Trojak) am Montag, 19.12.2016 Am Weihnachtsmarkt bei der Gedächtniskirche. LKW rast in den Weihnachtsmarkt – 50 Verletzte – 12 Tote Täter: Anis Amri

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Ein Leben in Ketten

Erstellt von Redaktion am 5. Dezember 2020

Vom Leben der Menschen in Ketten

Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng / 05. Dez 2020 –

Psychosozial Beeinträchtigte werden in vielen Ländern der Welt noch immer eingesperrt, festgebunden oder angekettet.

In mehr als 60 Ländern weltweit werden Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen an Bäume gekettet, eingesperrt oder festgebunden. Hunderttausende verbringen Jahre ihres Lebens in Ketten, schätzt «Human Rights Watch» (HRW) in dem Anfang Oktober publizierten Bericht «Living in Chains».

In vielen Gemeinschaften sei das ein offenes Geheimnis, sagt Kriti Sharma, die Autorin des Reports. Die Praxis, Menschen mit mentalen Problemen in Ställe zu sperren oder unter freiem Himmel anzubinden, sei weit verbreitet. Dahinter steht die Sorge, die Betroffenen könnten sich oder andere verletzen oder der Glaube, sie seien verhext oder von Dämonen besessen.

«Behandlung» durch Prügel, Kräuter und Hunger

Zur Stigmatisierung kommt die in vielen Ländern mangelhafte psychiatrische Gesundheitsversorgung. In etlichen religiösen und öffentlichen Einrichtungen geht es den Kranken nicht besser. Sie müssen an Ritualen teilnehmen, fasten oder werden gezwungen, alle Arten von «Medizin» einzunehmen, sind nicht selten sexueller und psychischer Gewalt ausgesetzt.

«Sie gaben uns Weihwasser, etwas, das Teufelsweihrauch genannt wird, und manchmal peitschten sie uns aus, das waren die Behandlungen», berichtet Benjamin Ballah, der als 23-Jähriger fast ein Jahr in einem kirchlichen «Heilungszentrum» in Liberia angekettet war. «Teufelsweihrauch war eine Flüssigkeit. Sie schlugen dich nieder und gaben es dir in die Nase, es war sehr schmerzhaft».

Vom Bruder gerettet

Ballah hatte Glück – nach 11 Monaten brachte sein Bruder ihn in das psychiatrische Krankenhaus in der Hauptstadt Monrovia, wo seine Depression behandelt wurde. Der Lehrer setzt sich heute für die Rechte von psychosozial eingeschränkten Menschen ein.

Seine Geschichte ist kein Ausnahmefall. «Human Rights Watch» geht aufgrund eigener Nachforschungen und in Bezug auf Medienberichte von Zehntausenden oder Hunderttausenden aus, die in China, Indonesien, Indien und anderen Ländern in Ketten leben.

Die Organisation hat mit mehr als 350 Betroffenen gesprochen und 420 Familienangehörige, Heiler, Angestellte von Einrichtungen, Beamte und Aktivisten in 110 Ländern befragt. Die Kranken haben Depressionen, schizophrene Schübe oder Traumata, manche von ihnen sind noch Kinder, viele haben Narben von Fesseln oder Misshandlungen.

Eine Praxis, die im Verborgenen stattfindet

«Shackling», wie das Anbinden und Einsperren von mental Beeinträchtigten zusammengefasst wird, kommt in allen sozioökonomischen Klassen vor. Angehörige wissen oft keinen anderen Ausweg, kennen psychosoziale Betreuungsangebote nicht oder geben dem Druck der Gemeinschaft nach.

Offizielle Zahlen gibt es kaum. «Shackling» ist eine Praxis, die im Verborgenen stattfindet, manchmal wissen nicht einmal Familienangehörige und Nachbarn Bescheid.

In vielen Ländern werden «Prayer Camps» und private Institutionen nicht staatlich erfasst, obwohl sie mit der «Behandlung» und Unterbringung von psychisch Kranken viel Geld verdienen.

Frauen sind häufiger betroffen

Weltweit sind schätzungsweise 792 Millionen Menschen oder jeder Zehnte vorübergehend oder dauerhaft psychosozial eingeschränkt, und auch etwa eines von fünf Kindern. In Konfliktgebieten ist der Anteil sogar doppelt so hoch.

Besonders betroffen sind Frauen. Depressionen, die Hauptursache für solche Einschränkungen, kommen bei ihnen doppelt so häufig vor wie bei Männern. Wegen der häufiger auftretenden sexuellen Gewalt sind Frauen auch viel öfter von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) betroffen.

Von den 60 Ländern, in denen Human Rights Watch Beweise für «Shackling» gefunden hat, hat nur eine Handvoll Gesetze oder Richtlinien, die die Fesselung von Menschen mit psychischen Erkrankungen explizit verbieten.

Zögerlicher Fortschritt von Programmen und Gesetzgebung

Die Umsetzung erweist sich als schwierig. In Indien, das es seit 2017 verbietet, «Menschen mit psychischen Erkrankungen in irgendeiner Weise anzuketten», gab es beispielsweise bisher nur ein Gerichtsurteil, das den Bundesstaat Uttar Pradesh betraf.

In China wurden in nationalen Programmen einige hundert Angekettete von ihren Ketten befreit – von vermutlich Hunderttausenden. Fortschritte durch Programme gibt es in Indonesien und in afrikanischen Ländern, dokumentiert «Human Rights Watch» in einem Video.

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Oben         —        MARINE CORPS AIR STATION MIRAMAR, Calif. – Cpl. Michael Davis, right, a military working dog handler and a Klamath Falls, Ore., native, and Lance Cpl. Kyle Martin, left, a military police officer and a St. Louis native, both with Headquarters and Headquarters Squadron, practice handcuffing a compliant detainee during defensive tactics and handcuff training aboard Marine Corps Air Station Miramar, Calif., Nov. 1. The Marines rehearsed properly handcuffing and removing handcuffs from compliant and non-compliant detainees.


Unten       —      Handschellen mit Bauchkette und Daumenschellen im Bondage-Einsatz

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USA – 3. November 2020 :

Erstellt von Redaktion am 2. Dezember 2020

Der Blick in den Abgrund

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Von Albrecht von Lucke

Schon im Vorfeld des 3. November war klar, dass diese US-Wahl keine Wahl wie viele andere sein würde.[1] Doch die Ereignisse der Wahlnacht selbst wie auch der folgenden Tage haben sie endgültig zu einem existenziellen Vorgang für die Vereinigten Staaten, aber auch für die gesamte demokratische Welt gemacht. Diese Wahl wurde zu einem Exempel für die Angreifbarkeit und Verletzlichkeit der Demokratie.

Seit den ersten Hochrechnungen am Wahlabend durchläuft die demokratische Welt drei Phasen: erstens die Phase des Schocks, zweitens die Phase der Erleichterung, manche sprechen gar von einer Erlösung – und drittens, und zwar mehr und mehr, eine Phase der Ernüchterung, im besten Falle der Versachlichung, im schlimmsten aber einer neuerlichen, vielleicht noch gefährlicheren Polarisierung.

Der eigentliche Schock ereignete sich am Wahlabend um 19 Uhr 59 Washingtoner Ortszeit, als Noch-Präsident Donald Trump ankündigte, dass er den Ausgang der Wahl nicht anerkennen werde: „Dies ist ein Betrug an der amerikanischen Öffentlichkeit. Dies ist eine Peinlichkeit für das Land. Wir waren auf dem Weg, diese Wahl zu gewinnen, und offen gesagt: Wir haben diese Wahl gewonnen“, so Trump im O-Ton. „Das ist ein sehr großer Moment. […] Wir wollen, dass das Gesetz in der richtigen Weise angewendet wird. Wir werden vor den Supreme Court ziehen. Wir wollen, dass alles Wählen endet.“ Das war in der Tat ein großer, genauer: ein historischer Moment. Denn damit machte Trump unmissverständlich klar, dass er nach vier Jahren der Bekämpfung der US-amerikanischen Institutionen auch den letzten Schritt zu gehen bereit ist, nämlich den der Missachtung, ja der völligen Negierung der Wahl und ihres Ergebnisses als des heiligsten Akts der Demokratie.

Gewiss kann man sagen, Trump habe diese Strategie – nämlich die Verwerfung der Briefwahlstimmen – im Vorfeld bereits angekündigt.[2] Doch die Androhung ist das eine, die tatsächliche Durchführung aber macht die Ankündigung zu einem ungeheuerlichen Vorgang, zumal in den USA als der wichtigsten, da mächtigsten Demokratie der Welt. Es ist daher aus demokratischer Perspektive nicht übertrieben, von einem Blick in den Abgrund zu sprechen.

Darin aber steckte zugleich auch ein zutiefst aufklärerisches Moment. Obwohl Trump sich stets als Volkstribun, als der einzig wahre Vertreter des Volkes geriert – gegen den angeblichen deep state des Establishments –, hat er am Ende seiner Amtszeit dem amerikanischen Volk seine ganze Verachtung demonstriert, übrigens auch allen republikanischen Briefwählern, deren Stimmen er gleichfalls für null und nichtig erklärte. Die Behauptung der Populisten, sie allein handelten im Namen des Volkes wurde radikal konterkariert, genau wie der wohl bekannteste Ausspruch der US-Demokratie, aus Abraham Lincolns historischer Rede in Gettysburg: Demokratie ist die „Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk“. Mit seiner Aussage am Wahlabend hat Trump endgültig bewiesen, dass es ihm nie um eine Regierung durch und für das Volk ging, sondern allein um die Herrschaft seines Clans. In diesem Augenblick kehrten sich Trumps Worte gegen ihn selbst. Er selbst agierte als deep state – als tiefer Staat gegen das Volk. Getreu der Devise, nicht „the winner“, sondern „The looser takes it all“, als ein Tyrann der Minderheit. Es war die finale Selbstdemaskierung, ein Putsch von oben gegen die Demokratie – ein Schockmoment für die USA, aber auch darüber hinaus, als ein Moment von globaler Ausstrahlung. Denn in diesem Augenblick wurde klar, wie ungemein fragil der Vorgang der demokratischen Wahl ist und wie schnell – selbst in einer über Jahrhunderte gewachsenen Demokratie wie der der Vereinigten Staaten – der pure Kampf um die Macht bewährte Verfahren beinahe außer Kraft setzen kann. Insofern muss man Donald Trump fast dankbar sein – dafür, dass er auch noch diesen letzten, radikalsten Schritt seiner Regierungszeit gegangen ist. Trump hat demonstriert, wie schnell eine Demokratie den liberalen, rechtsstaatlichen Pfad verlassen kann. Zugleich hat er aller Welt gezeigt, was unter „illiberaler Demokratie“ zu verstehen ist, von der sein Bruder im Geiste Viktor Orbán spricht – nämlich faktisch die Abschaffung der Demokratie. Deshalb war schon der Wahlabend, ohne dass überhaupt ein Ergebnis vorgelegen hätte, von immenser globaler Bedeutung.

Trump hat die US-Demokratie damit ihrer maximalen Belastungsprobe ausgesetzt – wenn man von einer möglichen militärischen Steigerung absieht. Doch wie um diesen Schritt auch noch zu vollziehen, ging der Nächste in der Clan-Riege, Trumps ältester Sohn Donald jr., in den folgenden dramatischen Stunden noch über seinen Vater hinaus und sprach, in Übernahme der Worte aus Goebbels Sportpalastrede, vom „totalen Krieg“, den es nun auszufechten gelte. „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen“, hatte Goebbels in einem Aufsatz im Jahr 1928 das strategische Ziel der NSDAP ausgegeben. „Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren.“[3] Ohne auch nur in irgendeiner Weise die besondere Dimension des Nationalsozialismus relativieren zu wollen, wird man darin die zentrale Strategie zur Machterlangung jedes modernen Autokraten sehen müssen: die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zu untergraben, um sich ihrer zu entledigen – und sich wenn nötig, wie das Beispiel der beiden Trumps jetzt lehrt, mit allen antidemokratischen Mitteln an der Macht zu halten.

Vom Schock zur Erleichterung

Trump hat sich am 3. November als ein potentieller Diktator selbst entlarvt, der willens und auf dem Wege war, den Populismus zur Diktatur auszubauen. In diesem Augenblick des Wahlabends ist damit klargeworden, dass es diesmal nicht mehr nur – wie in normalen demokratischen Wahlen – um den Machtwechsel ging, sondern zugleich auch um die fundamentale Verteidigung der Demokratie.

Hier aber setzt die zweite Phase ein, die Phase zunehmender Erleichterung, die fast zu einer Erlösung wurde, als am Tag vier nach der Wahl Joe Biden endlich als president elect bestätigt wurde. Während die im Vorfeld befürchteten und von Trump provozierten militanten Aufstände ausblieben, funktionierten die demokratischen Verfahren. Damit war klar, dass die USA diesmal noch scharf an der Katastrophe vorbeigeschrammt sind.

Joe Biden gebührt ein doppelter Dank; erstens dafür, dass er in dieser hochangespannten Situation an den demokratischen Regeln und Gepflogenheiten strikt festgehalten hat. Indem die Demokraten insgesamt der Versuchung widerstanden, selbst in das Rennen um die schnellstmögliche Ausrufung des Wahlsiegers einzusteigen, haben sie ihrem Namen als Demokraten Ehre gemacht und zugleich bewiesen, dass es neben den Trumpisten weiterhin ein starkes anderes Amerika gibt.

Donald Trump's Big Tent Party has tents for eveyone! (25956698752).jpg

Zweitens gebührt Biden große Anerkennung dafür, dass es ihm gelungen ist, Trump überhaupt zu schlagen. Zur Erinnerung: Das letzte Mal, dass ein Präsident nach nur einer Amtszeit aus dem Weißen Haus vertrieben wurde, war 1992, als Bill Clinton George Bush senior besiegte. Und ein Zweites kommt hinzu: Trump konnte 72 Millionen Stimmen erringen – mehr als Barack Obama, als er 2008 auf einer Welle der Begeisterung in seine erste Amtszeit segelte, und mehr als je ein Republikaner vor ihm gewann. Am Ende erhielt Trump neun Millionen Wählerstimmen mehr als noch im Jahr 2016. Dass Biden diese enorme Zahl noch um sechs Millionen übertraf und mit 78 Millionen Stimmen das beste je erreichte Ergebnis erzielte, macht seinen Sieg bereits zu einem historischen.

Zugleich zeigt es aber auch, wie ungemein schwer es auch diesmal war, den großen Volksverhetzer und -verführer zu schlagen. Ohne Corona, so die Ironie der Geschichte, hätte Trump die Wahl mit großer Wahrscheinlichkeit gewonnen – wobei unklar ist, was ihm am Ende mehr geschadet hat: die Pandemie selbst oder sein totales Versagen bei ihrer Bekämpfung.

Inzwischen steht fest, dass Biden 306 Wahlleute gewinnen konnte – genauso viele wie Trump vor vier Jahren und deutlich mehr als die erforderlichen 270. Und dennoch wurde das zweite große Ziel der Demokraten, die Mehrheit im Senat zu erringen, aller Wahrscheinlichkeit nach verfehlt. All jene, die behaupten, dass Joe Biden ein schwacher, da wenig kämpferischer Kandidat gewesen sei, mögen in dieser Hinsicht Recht haben – und reden doch am Kern der Sache vorbei. Ja, Biden war offensichtlich nicht der richtige Mann, um klar, also mit dem erhofften und prognostizierten Erdrutschsieg auch den Senat zu gewinnen – aber er war offensichtlich der Richtige, um überhaupt gegen Trump zu gewinnen. Ob ein anderer der Kandidaten geeigneter gewesen wäre, ist rein hypothetisch und gehört in den Bereich der Legendenbildung. Biden jedenfalls gelang es, die „blue wall“ in Michigan, Wisconsin und Pennsylvania wieder zu errichten, indem er etliche der „alten weißen Arbeiter“ im Rustbelt zurückeroberte, die Clinton an Trump verloren hatte. Für seinen Sieg brauchte es aber auch das Bündnis zwischen Moderaten und Progressiven in der demokratischen Partei, mit „Trump muss weg“ als verbindendem Leitmotiv. Daran hatte es vier Jahre zuvor, im Wahlkampf von Hillary Clinton, noch gemangelt, als viele der Linken gar nicht erst zur Wahl gingen.

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Iran / Israel / USA :

Erstellt von Redaktion am 1. Dezember 2020

Die Zeichen stehen auf Sturm

Quelle      :        INFOsperber CH.

von Erich Gysling / 01. Dez 2020 –

Israel nutzt die letzten Wochen der Trump-Präsidentschaft, um die Wiederbelebung des Atomvertrages mit dem Iran zu verhindern.

Donald Trumps erste Amtshandlungen als Präsident der USA, 2017, bestanden im möglichst systematischen Abwracken all dessen, was sein Vorgänger Barack Obama hinterlassen hatte. Seine letzten Amtshandlungen, vor dem Auszug aus dem Weissen Haus, verfolgen offenkundig das Ziel, seinem Nachfolger so viele Steine in den Weg zu legen wie möglich. In erster Linie im Nahen und Mittleren Osten.

In dieser Region hat die Trump-Epoche Fakten geschaffen: Israel hat den Segen der US-Regierung erhalten, nicht nur im Palästinensergebiet praktisch unbeschränkt Siedlungen zu bauen, sondern auch Teile dieser Region zu annektieren. Abgefedert wird das durch «Deals», die Trump mit seiner Equipe mit arabischen Regimen ausgehandelt hat, vor allem mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Sudan. Fast schon ins Vertragswerk / in die Aussöhnung mit Israel eingebunden ist Saudi-Arabien.

Freie Hand für Israel in den Palästinensergebieten ist das eine, die Frontbildung gegen Iran das andere. Da stehen die Zeichen jetzt, in den letzten Wochen der Macht Donald Trumps, auf Sturm.

Hätte der amerikanische Präsident nicht doch noch ein paar halbwegs rational denkende Persönlichkeiten in seiner Umgebung gehabt, hätte das Verhängnis vor gut zwei Wochen seinen Lauf genommen – dann hätten US-Drohnen Ziele in Iran attackiert. Mit unabsehbaren Folgen. Das iranische Regime hätte dann, das lässt sich abschätzen ohne Rücksicht auf eigene Verluste mit einem Rundumschlag reagiert. Gegen US-Truppen in Irak, gegen amerikanische Kriegsschiffe im Persischen Golf und vielleicht noch mehr. Ein Flächenbrand wäre unausweichlich geworden. Wäre – glücklicherweise kann man es noch so beschreiben.

Gewollte Eskalation der regionalen Spannungen

Aber der Mordanschlag auf den iranischen Atomphysiker Mohsen Fahrizadeh lässt die Spannungen erneut dramatisch eskalieren. Es entspringt ja nicht einer «orientalischen» Fantasie der Iraner, dass dieses Attentat dem israelischen Geheimdienst Mossad zuzuschreiben ist und dass die USA dafür grünes Licht erteilt haben. Israels Premier Netanyahu bezeichnete Fahrizadeh vor zwei Jahren als «Gefährder» und hat angedeutet, dass der israelische Geheimdienst ihn observiere. Jetzt, nach dem Mordanschlag, deutete Netanyahu an, er wisse mehr als er offiziell bekannt geben dürfe. Und ein nicht namentlich genannter israelischer Geheimdienstler äusserte, die Welt sollte Israel dankbar sein – für den Anschlag in Iran. Die israelische Zeitung «Haaretz» listete fünf iranische Atom-Wissenschafter auf, die zwischen 2010 und 2012 Opfer von Attentaten wurden.

Dass israelische Institutionen, gemeinsam mit US-amerikanischen, in den Jahren vor 2015 ein Computer-Virus in die atomaren Anlagen von Natanz und auch in den im Endstadium des Baus befindlichen Atomreaktor von Busheer implantierten, ist bestätigt. 2018 gelang es den Israeli sogar, dicke Dossiers über das (frühere, im Wesentlichen ad-acta gelegte) Atomprogramm Irans aus einer Anlage mitten im Land des Gegners zu kapern und nach Israel zu schaffen. Im Januar 2020 folgte die Ermordung des al-Quds-Generals Soleimani (ausgeführt durch eine US-Drohne bei Bagdad), danach gab es eine ganze Serie von Explosionen in iranischen Industrieanlagen und im Juli einen Anschlag in der Urananreicherungsanlage von Natanz.

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Aus Israel gelangen regelmässig so genannte Indiskretionen im Zusammenhang mit Aktivitäten des Geheimdienstes Mossad an die internationale Öffentlichkeit. Diese Verbreitung geschieht gezielt – sie erhöht Respekt und Angst, und auf diese Weise kann die Regierung das Doppelspiel des «Nichtwissens» und des «Eben-doch-Wissens» geschickt tarnen. Das muss auch zugeben, wer die Attentate des Mossad als Verbrechen bezeichnet: Effizient ist diese Institution auf beeindruckende Weise. Das erkannten schon vor langer Zeit auch arabische und afrikanische Potentaten. Schon Jahre, bevor die Arabischen Emirate und Bahrain ihre Beziehungen zu Israel normalisierten, gab es eine Zusammenarbeit mit israelischen Geheimdiensten. Auch auf dem afrikanischen Kontinent und in Zentralamerika (Costa Rica zum Beispiel) schätzten verschiedene Regierungen die Professionalität der Israeli – oft so sehr, dass sie sich sogar entgegen der offiziellen aussenpolitischen Linie zur Zusammenarbeit bereit erklärten (oder diese vielleicht sogar gut honorierten). Sudan ist das eklatanteste Beispiel: In Khartum wurde einst die Doktrin muslimischer Staaten beschlossen, welche die berühmt/berüchtigten drei Nein zu Israel festschrieben: Keine Verhandlungen, kein Friede, keine Anerkennung. Vor kurzem aber beschloss die Regierung Sudans, mit Israel diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Gewiss spielte Druck aus den USA die wesentlichste Rolle (Sudan musste zahlen, um sich vom Makel einer indirekten Beteiligung an Anschlägen in Kenya freizukaufen, erhält nun aber dafür die Befreiung von US-Sanktionen), aber die Kooperation mit den israelischen Geheimdiensten pfadete sozusagen das Feld schon lange Zeit früher vor.

Wie die Geheimdienst-Zusammenarbeit zwischen Israel einerseits, den Arabischen Emiraten und Bahrain (und höchst wahrscheinlich auch Saudi-Arabien) andererseits sich entwickelte, bleibt reine Spekulation. Aber als gewiss kann man annehmen: Die vor kurzem bewerkstelligte diplomatische Normalisierung wurde angebahnt durch den israelischen Mossad. Die Aktionen des Mossad in Iran sind für Alle in der Region der Beweis, dass es möglich ist, das Regime in Teheran in Angst und Schrecken zu versetzen. Und vielleicht sogar die Ayatollahs zu schwächen oder gar zu entmachten – ohne in einen offenen Krieg mit Iran zu geraten.

Den offenen Krieg aber möchten Alle vermeiden, inklusive Israel und die USA. Weil sie ahnen, dass ein solcher Konflikt die ganze Region in wahrscheinlich noch gewaltigere Konvulsionen stürzen würde, als dies bereits der von den USA provozierte Krieg von 2003 gegen Irak getan hat.

Nun bleibt die wesentliche Frage: Wie wird Iran auf den Mordanschlag auf seinen Atomphysiker antworten? Nichts tun – das kann das Regime sich nicht leisten. US-Stützpunkte (beispielsweise in Irak) attackieren – das wäre kontraproduktiv, weil eine solche Aktion den künftigen US-Präsidenten in seiner Handlungsfreiheit den Iran betreffend lähmen müsste. Cyber-Attacken gegen Israel realisieren? Das machten iranische Hacker schon früher – aber effizient treffen konnten sie Israel nicht. Die iranische Hardliner-Zeitung «Kayhan» forderte Raketenangriffe auf die israelische Stadt Haifa. Das wird nicht geschehen – alle Verantwortungsträger in Iran wissen, dass dies zu massiven Gegenattacken führen und vielleicht Millionen von Iranerinnen und Iranern treffen würde. Das wollen, das müssen sie vermeiden.

Donald Trump und dem israelischen Geheimdienst ist es gelungen, die in Iran Regierenden in eine ausweglose Situation zu manövrieren. Reagieren sie hart, verbarrikadieren sie sich alle Verhandlungsmöglichkeiten mit der neuen US-Administration. Reagieren sie schwach oder gar nicht, verlieren sie jegliche Glaubwürdigkeit im eigenen Land.

Also, was sollen sie tun?

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Sich – Vertragen ?

Erstellt von Redaktion am 24. November 2020

Sicherheit durch Sich-Vertragen?
Oder:
Sicherheit durch Sich-Bewaffnen?

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Quelle     :       NachDenkSeiten

Von  Albrecht Müller

Die Bundesverteidigungsministerin hat am 17. November an der Bundeswehr-Hochschule in Hamburg eine Grundsatzrede gehalten, mit der sie den totalen Bruch mit der erfolgreichen Außen- und Sicherheitspolitik der Regierungen Brandt, Schmidt und Kohl propagiert und dokumentiert: der Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts begonnene und 1990 endgültig erfolgreiche Versuch, Frieden und Sicherheit durch Verständigung, durch Verträge, durch Sich-Vertragen zu gewinnen, ist jetzt aufgegeben und wird ersetzt durch Aufrüstung, durch Militär. Darum kreist das Denken unserer Verteidigungsministerin. Wir müssen davon ausgehen, dass die Bundeskanzlerin genauso denkt. Und der Bundespräsident und der Bundesaußenminister auch. Das ist ein wirklicher und gefährlicher Bruch. Die Betroffenen, wir alle, wir Erwachsenen und unsere Kinder und Enkel, sind uns offensichtlich dieser gravierenden Veränderung und der damit verbundenen Gefahr nicht bewusst. Deshalb dokumentieren und kommentieren die NachDenkSeiten diese Rede. Darüber hinaus haben wir die Rede Kramp-Karrenbauers in unsere Dokumentation “Interessante Dokumente des Zeitgeschehens” aufgenommen. Auf einige der besonders bemerkenswerten, ideologisch verhärteten und gefährlichen Stellen mache ich aufmerksam. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Bitte lesen Sie die unten wiedergegebene Rede. Es ist ein zeitgeschichtlich relevantes Dokument. Es dokumentiert die Rückkehr zum totalen Kalten Krieg.

Einige, nur wenige der besonders bemerkenswerten Stellen habe ich gefettet. Die Ziffern in Klammern beziehen sich auf die folgenden kommentierenden Anmerkungen, die mit der gleichen Ziffer gekennzeichnet sind:

Die 1969 von Bundeskanzler Willy Brandt formulierte Zielsetzung „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ gilt nicht mehr. Die Bundesverteidigungsministerin erweist sich in mehreren Bemerkungen als besonders feindselige Nachbarin. Auch die 1989 und 1990 vereinbarte enge Zusammenarbeit ist aufgegeben; die von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) zusammen mit Michael Gorbatschow praktizierte Verständigung mit Russland und die damals entwickelte Konzeption der Gemeinsamen Sicherheit gilt auch nicht mehr. Dass man die Sicherheit zum Beispiel des russischen Volkes und die Sicherheit des deutschen Volkes gemeinsam und eben nicht durch gegeneinander gerichtete Bewaffnung bis unter die Zähne und mit Atombomben und Atomraketen sicherstellen kann und sollte, gilt auch nicht mehr. Das ist ein wirklicher Bruch.

Das Wort Frieden kommt in der Rede der Bundesverteidigungsministerin nur beiläufig vor. Entspannung und Entspannungspolitik – Fehlanzeige. Vertragspolitik, sich vertragen – Fehlanzeige. Vertrauensbildung, eine in der Praxis der Entspannungspolitik zwischen 1966 und 1990 wichtige Verhaltensregel – Fehlanzeige. Der Gedanke, sich in die Lage des Anderen zu versetzen – Fehlanzeige. Versöhnen – selbstverständlich Fehlanzeige.

Im Verhältnis zu der Russischen Föderation und zum russischen Volk wird nicht Vertrauen, da wird Misstrauen gesät. Da wird Russland zum Aggressor aufgebaut (1). Von Russlands „Aufrüstung mit konventionell und nuklear bestückten Raketensystemen“ ist die Rede, aber nicht davon, wer mit der Aufrüstung angefangen hat und wer die Verabredungen gekündigt hat.

Es ist keine Rede davon, dass die NATO entgegen dem Geist der Verabredung von 1990 bis an die Grenze Russlands ausgedehnt worden ist. In diesem Zusammenhang hat die Bundesverteidigungsministerin sogar die Chuzpe, Russland anzuklagen. Das Land habe, jetzt wörtlich: „ … in direkter Nachbarschaft der Europäischen Union, unmittelbar an der Ostgrenze der NATO“ mit nuklear bestückten Raketensystemen aufgerüstet. – Wer einen Vorgang so verdreht, so auf den Kopf stellt, sät Misstrauen. Meine Gesprächspartner in Russland halten dieses Verhalten für unanständig. Sie haben mit dieser Einschätzung recht.

Bei Frau Kramp-Karrenbauer ist keine Rede davon, dass der Westen alles getan hat, um Russland aus Europa „hinauszuwerfen“, und deshalb versucht hat, ein Land nach dem anderen aus der engen Zusammenarbeit mit Russland herauszubrechen. Konkret zum Beispiel: Die USA haben mit 5 Milliarden $ für Public Relations und NGOs die Ukraine destabilisiert und aus der Verbundenheit mit Russland herauszulösen versucht – mit Erfolg, wie man heute sieht.

Ihre militärisch orientierte und aggressive Denkweise und die davon geprägte Politik nennt die Bundesverteidigungsministerin „Verantwortung“ (2). Und sie beruft sich dabei auf den Bundespräsidenten. Der damit verbundene Bruch mit der Friedenspolitik und mit dem Prinzip, dass wir uns mit anderen Völkern vertragen wollen und nicht gegen sie rüsten wollen, ist schon seit längerem so angelegt, schon mit der Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien und dann deutlich zum Beispiel bei der Münchner Sicherheitskonferenz von 2014. Dort haben gleich drei der hierzulande mächtigen Personen das Schlagwort von „mehr Verantwortung übernehmen“ eingebracht. Seitdem ist das das Kürzel für die Bereitschaft, militärisch zu intervenieren.

Die Bundesverteidigungsministerin belebt eine olle Kamelle. Sie nennt den „internationalen Systemwettbewerb“ eine der Herausforderungen, denen wir uns stellen müssten (3). Und dann kommt der gesamte ideologische Wust, den wir eigentlich glaubten, überwunden zu haben. Dann ist vom westlichen Modell der offenen Gesellschaft die Rede, von Demokratie und Rechtsstaat, denen wir wohl angeblich verpflichtet sind. Dem würden einige Staaten ein anderes Modell entgegenstellen. Auch behauptete sie, diese autoritären Systeme seien wirtschaftlich, gesellschaftlich und militärisch auf Expansionskurs und arbeiteten mit Nachdruck daran, Völkerrecht umzuschreiben und zu entstellen. Wer hat denn damit begonnen, das Völkerrecht umzuschreiben? Zum Beispiel mit der militärischen NATO-Intervention in Restjugoslawien?

Dann kommt gleich der Satz: „Handelsrouten und Lieferketten geraten unter Druck“. (4)

Wo denn, muss man da fragen? Bedroht Russland die Handelswege und die Lieferketten? Tut China das? Wer denn sonst? Wer von jenen Völkern, gegen die der Westen Krieg führt, hat denn unsere Handelswege und Lieferketten bedroht? Syrien? Der Irak? Afghanistan? Libyen? Der Iran?

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Russland möchte gerade – so wie es vertraglich vereinbart ist – den Handelsweg für russisches Gas nach Deutschland ausbauen – mit Nordstream 2. Die Bundesverteidigungsministerin verdreht offensichtlich mit Lust die Tatsachen.

China vorzuwerfen, es setze Handelsrouten und Lieferketten unter Druck, ist besonders witzig. China will die Handelswege sogar mit neuen Eisenbahnverbindungen weiter ausbauen. Welches Interesse sollte dieses exportorientierte Land an der Bedrohung von Handelsrouten und Lieferketten haben? In diesem Zusammenhang muss ich auf eine Meldung in meiner Zeitung aufmerksam machen, die die Absurdität der Politikerin Kramp-Karrenbauer, die ja aus dem Saarland kommt, besonders sichtbar macht. Diese Meldung vom 18. November lautet:

Saarland: Bau einer Batteriefabrik für 2 Milliarden €

Saarbrücken. Der chinesische Automobilzulieferer Svolt Energy Technology will seine Europa-Produktion im Saarland ansiedeln und dort 2 Milliarden € in den Bau einer Batterieproduktion für E-Autos investieren. Dabei sollen 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Sieht so die Bedrohung unserer Handelswege und Lieferketten aus? Das Saarland wird von einem CDU-Ministerpräsidenten regiert. Dessen Amt hatte vorher die jetzige Bundesverteidigungsministerin. Es wäre alles zum Lachen, wenn es nicht so gefährlich wäre.

Gefährlich ist die Neigung zur Kriegsspielerei, die bei der jetzigen Bundesverteidigungsministerin und der Bundesregierung sichtbar wird.

Damit bin ich bei einem besonderen Stück: Statt sich – ganz im Sinne der großen Investition eines chinesischen Unternehmens im Saarland – für dauerhafte Zusammenarbeit und Sich-Vertragen einzusetzen, setzt unsere Bundesverteidigungsministerin ein vor kurzem begonnenes neues Spielchen fort: In einem Abschnitt ihrer Rede (5) kommt sie auf den sicherheitspolitischen „Multilateralismus“ zu sprechen. Sie meint damit konkret die Partnerschaft zu Freunden in Australien, Japan, Südkorea oder Singapur. Diese Partnerschaft müsse man stärken. Daran anschließend geht es wörtlich weiter:

„Deutschland wird präsenter, etwa durch mehr Verbindungsoffiziere und im kommenden Jahr, so Corona das zulässt, durch ein Schiff der deutschen Marine. Wir werden Flagge zeigen für unsere Werte, Interessen und Partner“

Da soll also ein Schiff der deutschen Marine ins südchinesische Meer geschickt werden, um „Flagge zu zeigen für unsere Werte, Interessen und Partner“. Das ist wörtlich zitiert und rundum abenteuerlich. Und es ist gefährlich. Denn damit wird die Bundesrepublik Deutschland auf leichtfertige Weise in Konflikte hineingezogen, über deren Ursachen wir keinerlei Entscheidungsmacht haben. Außerdem ist die ganze Geschichte mit dem einen (!) Schiff rundum lächerlich.

Ich könnte diese kritischen Bemerkungen zu der Rede von Frau Kramp-Karrenbauer weiter fortsetzen. Aber es reicht. Es reicht, um festzustellen, dass unser Land in dieser wichtigen Funktion eine Person wirken lässt, die ideologisch noch über den elenden Zustand der Kalten Krieger der Fünfzigerjahre hinausragt. Dass die CDU immer wieder solche Politiker/innen hervorbringt, ist schrecklich, und dass wir heute drei davon, noch dazu Frauen in entscheidenden Positionen haben – die Bundeskanzlerin, die EU-Kommissionspräsidentin und die Bundesverteidigungsministerin – ist besonders bedrückend.

Frau Kramp-Karrenbauer hat vor jungen Studenten und Soldaten geredet und sie hat dort einen Geist verbreitet, den wir gerade nicht in der Bundeswehr haben wollen. Und auch nicht gebrauchen können.

Anlage

2. Grundsatzrede der Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Beckmann,
liebe Mitglieder der Hochschulleitung,
werte Generale,
sehr geehrte Damen und Herren,
aber vor allem Sie, liebe Studierende,

wieder einmal müssen wir uns dem Virus beugen und auch diese Zusammenkunft ins Virtuelle verlegen.

Ich freue mich, trotzdem heute zum ersten Mal zu Ihnen sprechen und mit Ihnen diskutieren zu können.

Ich bedanke mich herzlich bei all jenen, die das möglich gemacht haben.

Meine Damen und Herren,

Wir erleben derzeit einen Augenblick von großer Tragweite. Vor unseren Augen verändert sich die strategische Gesamtlage, verdichtet sich und wird klar erkennbar.

In den Vereinigten Staaten von Amerika haben wir eine Präsidentschaftswahl gesehen, deren Ausgang uns alte Herausforderungen präsentiert und uns neue Optionen in der internationalen Politik, auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eröffnet.

Jetzt können wir Europäer zeigen, dass wir und wie wir diese Chance nutzen wollen.

In Berg-Karabach ist zwischen Aserbaidschan und Armenien gerade der erste echte Drohnenkrieg der Geschichte ausgetragen worden, mit schwerwiegenden Konsequenzen für die unterlegene Seite.

China hat soeben mit vierzehn anderen Staaten des Indo-Pazifiks das größte Freihandelsabkommen der Welt abgeschlossen. Dieser Vertrag in der dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt, illustriert die globale Machtverschiebung hin zum Pazifik.

Hallo

Das strategische Gleichgewicht und potenziell auch die nukleare Balance in Europa werden dadurch empfindlich gestört.

Dies alles geschieht, während sich global die Covid-19-Pandemie noch immer ausbreitet. Wir können noch nicht vollständig absehen, welche wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und strategischen Folgen das winzige Virus haben wird.

Meine australische Amtskollegin Linda Reynolds sagte sehr treffend bei einem gemeinsamen Webinar vor zwei Wochen: „Es ist die Aufgabe von Verteidigungsministerinnen, die Welt erst einmal nüchtern so zu betrachten, wie sie ist – nicht, wie wir sie uns wünschen.“ Das fällt uns in Deutschland nicht immer leicht.

Wenn wir unsere Arbeit gut machen, können wir jedoch dazu beitragen, dass Deutschland und Europa sich außen- und sicherheitspolitisch in die von uns gewünschte Richtung entwickeln.

Deshalb ist es gut, dass es heute über die politischen Lager hinweg einen Konsens für „mehr Verantwortung“ Deutschlands und Europas gibt. (2)

Doch heißt dieser Konsens auch, dass man den Menschen im Lande die mit der höheren Verantwortung einhergehenden, mitunter auch unbequemen Wahrheiten zumuten kann und darf?

Wer glaubt, das nicht zu können oder nicht zu dürfen, der ist arrogant. Der respektiert die Menschen nicht. Der behandelt sie wie Unmündige.

Die Bürgerinnen und Bürgern in einer Demokratie haben ein Recht auf unbequeme Wahrheiten.

Denn wenn wir in Deutschland vom Konsens über mehr Verantwortung zu einem Konsens des konkreten Handelns kommen wollen, wenn wir die Einsicht, dass Deutschland mehr tun muss, nicht mehr abstrakt bereden, sondern konkret umsetzen wollen, dann geht das nur mit der demokratischen Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger.

Die Herausforderungen sind klar erkennbar, der internationale Systemwettbewerb auch. (3)

Einige Staaten stellen dem westlichen Modell der offenen Gesellschaft, der Demokratie und des Rechtsstaats ein anderes Modell entgegen, das mit unseren Werten in keiner Weise vereinbar ist.

Manche bauen mit unterschiedlichen Methoden aggressiv ihren Einfluss in Europa aus, um in unseren Ländern und unseren Institutionen mitzuregieren.

Autoritäre Systeme sind wirtschaftlich, gesellschaftlich und militärisch auf Expansionskurs und arbeiten mit Nachdruck daran, Völkerrecht umzuschreiben und zu entstellen.

Handelsrouten und Lieferketten geraten unter Druck. (4)

In der Cyberwelt haben wir es täglich mit einer Vielzahl staatlicher oder staatsnaher Angriffe zu tun, viele davon auf die Institutionen unserer Demokratie oder auf kritische Infrastrukturen.

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Sicherung durch Militär ?

Hochmoderne Waffensysteme, von KI-gesteuerten Drohnenschwärmen bis hin zu bisher kaum abwehrbaren hypersonischen Flugkörpern, sind bereits im Einsatz oder werden es bald sein.

Krisen und Kriege bestimmen leider den Alltag auch in unserer europäischen Nachbarschaft.

Gleichzeitig bleibt Terrorismus, besonders der islamistische, eine Geißel für alle Menschen überall auf der Welt.

Dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs müssen wir uns eingestehen: Das Ende des Kalten Krieges war nicht das Ende der Geschichte. Der Frieden ist nicht überall ausgebrochen. Unsere Sicherheit, unser Wohlstand, unser friedliches Zusammenleben werden ganz real bedroht.

Hinzu kommt, dass wir auch in der NATO und der EU derzeit fundamentale Ungewissheiten spüren:

Wie verlässlich sind die Vereinigten Staaten von Amerika?
Nehmen wir in Europa dieselben Bedrohungen wahr? Auf Russland beispielsweise schaut man in Riga oder Stockholm mit anderen Augen als in Paris oder Rom.
Wie entschlossen ist Deutschland selbst?
Können wir Europäer uns aufeinander verlassen, wenn es darauf ankommt?
Und schließlich wird auch Covid-19 die Verteidigungspolitik treffen. Die kommenden Verteidigungshaushalte benötigen aber einen gesunden Wachstumskurs. Denn die geschilderten Bedrohungen und Herausforderungen bleiben auch während der Pandemie bestehen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

um diesen Entwicklungen gerecht zu werden, brauchen wir Offenheit und Ernsthaftigkeit in der Debatte.

Ich möchte als verantwortliche Ministerin dazu meinen Beitrag leisten.

In einer vernetzten Welt brauchen wir ein vernetztes Politikverständnis. Wir brauchen eine gut abgestimmte Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Handels- und Entwicklungspolitik, wenn wir als Deutschland und Europa künftig besser weltpolitikfähig werden wollen und wenn aus unseren Fähigkeiten eine wirksame Verteidigungsdiplomatie erwachsen soll.

Im vergangenen Jahr habe ich deshalb an der Universität der Bundeswehr in München den Vorschlag gemacht, in Deutschland einen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten.

In der Zwischenzeit haben in diesem besonderen Jahr 2020 gleich eine ganze Reihe von Ereignissen gezeigt, wie hilfreich ein solches Instrument zur Koordinierung und Strategieentwicklung wäre. Auch die Coronakrise gehört dazu.

Ich bin sicher, dass in kommenden Koalitionsverhandlungen darüber gesprochen wird.

Ich freue mich, dass die Bundesregierung umfassende Leitlinien zum Indo-Pazifik beschlossen hat, die auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst. Die strategische Bedeutung der Region wird damit voll anerkannt.

Eine stärkere verteidigungs- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit füllt den für uns so wichtigen Multilateralismus mit Leben und stärkt die Partnerschaft zu Freunden in Australien, Japan, Südkorea oder Singapur.

Deutschland wird präsenter, etwa durch mehr Verbindungsoffiziere und im kommenden Jahr, so Corona das zulässt, durch ein Schiff der Deutschen Marine.

Wir werden Flagge zeigen für unsere Werte, Interessen und Partner. (5)

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Seit dem Ende des 2. Weltkrieges lebt Deutschland von einer Stabilität, die es gemeinsam mit seinen europäischen Nachbarn und den USA geschaffen hat.

Wir waren und sind für Freiheit, Frieden und gutes Leben der Menschen in unserem Land immer auf Verbündete angewiesen.

Der wichtigste Verbündete in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik waren und sind nach wie vor die Vereinigten Staaten von Amerika. Und sie werden es auf absehbare Zeit auch bleiben. Ohne die nuklearen und konventionellen Fähigkeiten Amerikas können Deutschland und Europa sich nicht schützen. Das sind die nüchternen Fakten.

Das renommierte Londoner RUSI-Institut schätzt, dass die USA derzeit 75 Prozent aller NATO-Fähigkeiten stellen.

Die USA stellen 70 Prozent der sogenannten „strategic enabler“, das heißt beispielsweise Aufklärung, Hubschrauber, Luftbetankung und Satellitenkommunikation.

Nahezu 100 Prozent der Abwehrfähigkeiten gegen ballistische Raketen werden von den USA in die NATO eingebracht. Und natürlich stellen die USA den weit überwiegenden Teil der Fähigkeiten zur nuklearen Abschreckung.

Etwa 76.000 US-Soldatinnen und Soldaten dienen in Europa. Das umfasst noch nicht die Truppen, die die USA im Ernstfall zur Verstärkung schicken würden.

All dies zu kompensieren würde nach seriösen Schätzungen Jahrzehnte dauern und unsere heutigen Verteidigungshaushalte mehr als bescheiden daherkommen lassen.

Wir haben also ein besonderes Interesse daran, dass Amerika weiter an der Verteidigung Europas interessiert ist, während es gleichzeitig seinen strategischen Fokus nach Asien verlegt.

Die beste Art das zu erreichen, ist selbst mehr für unsere eigene Sicherheit zu tun. Nur wenn wir unsere eigene Sicherheit ernst nehmen, wird Amerika das auch tun.

Das hat auch der französische Präsident gerade festgestellt – und ich stimme ihm zu.

Gleichzeitig kann ich nur unterstreichen, was Bundespräsident Steinmeier vor wenigen Tagen, anlässlich des 65. Geburtstags der Bundeswehr, sagte:

„Allein und nur auf die EU zu setzen, hieße Europa in die Spaltung zu treiben. Wir werden den stärksten und größten Partner im Bündnis weiter dringend brauchen. Aber nur ein Europa, das sich selbst glaubwürdig schützen will und kann, hat die besten Chancen, die Vereinigten Staaten in der Allianz halten zu können.“

Genau darum geht es jetzt. Dieses Paradox müssen wir aushalten: wir bleiben sicherheitspolitisch von den USA abhängig und müssen gleichzeitig in Zukunft als Europäer mehr von dem selbst tun, was uns die Amerikaner bisher abgenommen haben.

Die Idee einer strategischen Autonomie Europas geht zu weit, wenn sie die Illusion nährt, wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten.

Wenn es aber darum geht, auch eigenständig als Europäer handeln zu können, wo es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, dann ist das unser gemeinsames Ziel und entspricht unserem gemeinsamen Verständnis von Souveränität und Handlungsfähigkeit.

Deutschland und Frankreich wollen, dass die Europäer künftig selbstbestimmt und wirkungsvoll agieren können, wenn es darauf ankommt.

Wir wollen, dass Europa für die USA starker Partner auf Augenhöhe ist und kein hilfsbedürftiger Schützling.

Der neue amerikanische Präsident Joe Biden muss sehen und spüren, dass wir genau das anstreben.

Ich halte es für wichtig, dass wir Europäer der kommenden Biden-Administration daher ein gemeinsames Angebot, einen New Deal, vorlegen.

Für mich sind aus der Sicht der deutschen Verteidigungspolitik drei Eckpunkte dabei besonders wichtig:

Dass wir unsere Fähigkeiten in der Verteidigung ausbauen und dafür die Verteidigungshaushalte auch in der Corona-Zeit zuverlässig stärken.
Dass Deutschland sich zu seiner Rolle in der nuklearen Teilhabe in der NATO bekennt.
Dass beim Thema China dort, wo es mit unseren Interessen vereinbar ist, eine gemeinsame Agenda Europas mit den USA möglich und gewollt ist.
Alles dies passt nahtlos und bruchfrei zu unseren Ambitionen in Europa: wir wollen, dass Europa mehr kann, in der NATO und als EU.

Deutschland hat genau deshalb während seiner Ratspräsidentschaft wichtige EU-Projekte vorangetrieben:

aufbauend auf einer gemeinsamen Analyse der Bedrohungen erstellen wir einen Strategischen Kompass für eine klare sicherheitspolitische Ausrichtung.
Lernend aus Corona bauen wir die Kooperation unserer Sanitätsdienste aus. Das European Medical Command wird gestärkt, übrigens in Zusammenarbeit mit NATO-Alliierten.
Die Drittstaaten-Regelung bei PESCO, unserer strukturierten europäischen Sicherheitskooperation, ermöglicht die Anbindung gerade nicht-europäischer Partner.
Und wir suchen mit der European Peace Facility auch eine gute europäische Lösung, um Partnerstreitkräfte, die wir ausbilden, auch angemessen ausrüsten zu können.
Eine eigene Europäische Streitmacht, wie sie jetzt von einigen wieder vorgeschlagen wird, ist eine Vision unter vielen. Egal, wie man dazu steht, wer am Ende diesen großen Schritt gehen will, der muss vorher konsequent alle kleinen Schritte gehen. Das beginnt damit, die bestehenden Verpflichtungen in der NATO und der EU zu erfüllen.

Das kann nur heißen, die Handlungsfähigkeit Europas nicht nur abstrakt zu beschwören, sondern ganz konkret in sie zu investieren, ganz konkret für sie zu stimmen, sie mit ganz konkretem Handeln zu zeigen.

Die Kosten einer strategischen Autonomie im Sinne einer vollkommenen Loslösung von den USA würden im Übrigen ungleich höher ausfallen, als die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, zu denen wir uns selbst im atlantischen Bündnis verpflichtet haben.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir müssen europäischer werden um transatlantisch zu bleiben. Deutschland muss dafür bei sich selbst anfangen. Wir können das nicht irgendwo hin-delegieren.

Unsere Anstrengungen in diese Richtung können sich bereits sehen lassen, in der Einsatzbereitschaft, der Landes- und Bündnisverteidigung, im Auslandseinsatz, im personellen Aufwuchs, in der Beschaffung von Ausrüstung.

Auch übrigens als Akteur in der internationalen Verteidigungsdiplomatie, die es uns ermöglicht, für Freiheit, Frieden und Konfliktlösung aus einer Position der Stärke zu agieren – ob durch NATO-Präsenz, durch Ertüchtigung oder Militärbeobachter.

Das alles tut die Bundeswehr schon jetzt.

Ich sage gleichzeitig mit Nachdruck: das Verteidigungsministerium allein kann nicht dafür sorgen, dass unsere sicherheits- und verteidigungspolitische Verlässlichkeit als Verbündeter gestärkt wird.

Das ist eine gesamtpolitische Aufgabe. So muss auch die langfristige Finanzlinie des Verteidigungshaushalts ein gemeinsames Anliegen einer Regierung sein.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Ich kann mir daher gut vorstellen, in kommenden Legislaturperioden dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen, und ein Verteidigungsplanungsgesetz zu verabschieden, das die Finanzierung unserer Sicherheit überjährig und langfristig festschreibt.

Damit Sicherheit weniger Spielball der Konjunktur und kurzfristiger Stimmungsbilder ist, sondern als absolute Kernaufgabe des Staates stetig unterfüttert bleibt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir über das Geld für unsere Sicherheit sprechen, dann tut auch hier ein realistischer und kritischer Blick gut – auf die Welt, wie sie ist.

Lassen Sie mich daher eine unangenehme Wahrheit aussprechen: Die Anforderungen an Deutschland steigen. Sie verändern sich qualitativ.

Eine Konsequenz daraus ist, dass wir daran unsere Planungen immer wieder messen müssen.

Früher haben wir vor allem aus der Not knapper Kassen heraus priorisiert. Heute müssen wir dies tun, weil eine sich schnell ändernde Weltlage das nötig macht. Was ist wichtiger als anderes? Was ist jetzt dringender? Wir werden das genau benennen. Nicht jeder wird mehr das bekommen, was er sich erträumt hat.

Mir kommt es dabei auch darauf an, dass wir uns dabei gut im Bündnis abstimmen. Wir bleiben Anlehnungspartner. Und wir dürfen nicht an unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit im Einsatz sparen.

Und natürlich dürfen wir erst Recht nicht an der Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten sparen!

Das führt mich zu einem zentralen Punkt: Ich werde einer Finanzierung von Großprojekten zu Lasten der Grundausstattung und der Mittel des täglichen Betriebs nicht zustimmen.

Diesen Fehler hat die Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten gemacht und er hat die Streitkräfte bis ins Mark getroffen. Das darf sich nicht wiederholen.

Neue Großprojekte, so attraktiv sie scheinen und so schön es wäre, die damit versprochenen Fähigkeiten zu haben, können nur dann realisiert werden, wenn dafür in der Finanzplanung zusätzliches Geld bereitgestellt wird – oder wenn andere Großprojekte dafür nicht realisiert werden.

Deswegen bin ich froh, dass wir uns in den aktuellen Haushaltsverhandlungen darauf einigen konnten, einigen dieser Projekte bereits eine mittelfristige Finanzperspektive zu geben:

dem Eurofighter,
dem Hubschrauber NH90,
der Eurodrohne.

Das ist gut für die Truppe, verlässlich gegenüber unseren Verbündeten, fördert europäische Eigenständigkeit, industrielle Fähigkeiten und Technologie, und es ist gelebte Gesamtverantwortung in der Bundesregierung und im Parlament.

Liebe Studierende,

einige von Ihnen sind bereits Offizier, einige von Ihnen sind noch Offiziersanwärter. Sie alle werden schon bald die Geschicke unserer Bundeswehr mitbestimmen.

Sie haben sich bewusst für einen anspruchsvollen Weg in einer dienenden Funktion entschieden. Nicht wenige von Ihnen werden einmal für das strategische Geschick dieses Landes mitverantwortlich sein.

Sie haben es sicher bereits bemerkt: Große, komplexe Organisationen wie die Bundeswehr neigen durchaus dazu, sich mit sich selbst zu befassen.

Auch in Deutschland und Europa gibt es den Hang dazu, während sich die Welt gleichzeitig rasant wandelt und andere sie nach ihren Vorstellungen gestalten – und auch in unserer direkten Nachbarbarschaft Fakten schaffen.

Meine Damen und Herren,

Wir müssen gemeinsam in die Welt hinausblicken, statt nur auf uns selbst. Mein Anspruch ist es – unser Anspruch muss es sein – dass Deutschland und Europa die eigene Nachbarschaft und die globale Ordnung aktiv mitgestalten.

Dass wir konsequent im Blick haben, welche Interessen wir haben, wie wir ihnen dienen, welche Ziele in der Welt wir verfolgen und wie wir in der Zusammenarbeit mit anderen dort hingelangen.

Ich wünsche mir, dass Sie diesen Blick früh einüben, ihn stetig weiten, und ihn nie mehr verlieren, ganz gleich auf welcher Ebene sie gerade eingesetzt sind, vom jungen Truppenführer bis hin zur militärpolitischen Ebene.

Dafür braucht es Ihre Neugier und Offenheit und unsere Angebote zur geopolitischen und geostrategischen Schulung.

Genau hier möchte ich mit einer Initiative ansetzen, deren Ziel es ist, diesen Blick, also die geopolitische und geostrategische Schulung der Soldatinnen und Soldaten, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr zu stärken.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Soldatinnen und Soldaten gehören zu Deutschland nicht nur als Angehörige einer Institution oder eines Verfassungsorgans.

Männer und Frauen in Uniform gehören selbstverständlich überall in der Gesellschaft dazu. Nirgendwo wird das aktuell sichtbarer als bei der Hilfe, die Soldatinnen und Soldaten in der Corona-Pandemie leisten.

Mehr als 7.700 Angehörige der Bundeswehr helfen derzeit in rund 280 Gesundheitsämtern, in vielen Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen deutschlandweit. Es werden weiter mehr.

Die Soldatinnen und Soldaten sind da für unser Land, und die Bürgerinnen und Bürger nehmen das wahr.

Die Männer und Frauen in Uniform gehören auch als Staatsbürger zu dieser Gesellschaft, als Nachbarn und als Mitmenschen. Sie haben sich dazu verpflichtet, im Fall der Fälle mehr für diese Gemeinschaft zu geben als andere.

Wer verspricht, unser Land und unsere Demokratie tapfer zu verteidigen, auch unter Einsatz seiner Gesundheit oder gar seines Lebens, dem gebührt besonderer Respekt.

Meine Damen und Herren,

Der Namensgeber Ihrer Universität, Helmut Schmidt, hat einmal geschrieben:

„Ich bin der Meinung, dass die Probleme der Welt und der Menschheit ohne Idealismus nicht zu lösen sind. Gleichwohl glaube ich, dass man zugleich realistisch und pragmatisch sein sollte.“

Ich wünsche Ihnen bei Ihrem Weg durch die Bundeswehr, dass diese gesunde Mischung aus Idealismus und Realismus für Sie zum Maßstab wird, und dass Ihnen die Balance zwischen beiden immer gut gelingt.

Jetzt ich freue mich auf Ihre Fragen und unsere Diskussion.

Vielen Dank.

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Grafikquellen      :

Oben          —       Defense Secretary Dr. Mark T. Esper holds a joint press conference with Minister of Defence is Annegret Kramp-Karrenbauer during the Munich Security Conference 2020 in Munich, Germany Feb. 14, 2020. (DoD photo by Army Staff Sergeant Nicole Mejia)

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2.) von Oben       —   Defense Secretary Dr. Mark T. Esper meets with NATO members during the Munich Security Conference 2020 in Munich, Germany Feb. 14, 2020. (DoD photo by Army Staff Sergeant Nicole Mejia)

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3.) von Oben     —    SFC Raymond Montes, center left, and Capt. Robert J. Taylor, center right, work with other members of the Idaho National Guard to transport a patient, during a stretcher race Sept. 14 in Cambodia against members of the Royal Cambodian Armed Forces. Montes and Taylor, both members of the 116th Brigade Engineer Battalion, 116th Brigade Combat Team, were the Idaho National Guard’s convoy and engineer operation subject-matter experts. The exchange program facilitates the exchange of ideas, capabilities, training and experience between the two militaries.

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Universität Freiburg :

Erstellt von Redaktion am 24. November 2020

Mangel an Bewusstsein für Sensibilität von DNA-Daten

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Universität Freiburg

Studien zeigen, wie die Bevölkerungsgruppe der Roma in forensisch-genetischen Kontexten unangemessen behandelt wird

Die Bevölkerungsgruppe der Romnja und Roma wird in DNA-Datenbanken und in genetischen Studien in ethischer und wissenschaftlicher Hinsicht unangemessen behandelt – womöglich mit Auswirkungen auf Ermittlungen, die auf forensisch-genetische Datenbanken zurückgreifen: Zu diesem Ergebnis kommen Prof. Dr. Veronika Lipphardt und ihr Kollege Dr. Mihai Surdu von der Professur für Wissenschaftsforschung der Universität Freiburg in zwei Fachpublikationen, die sie nun als Preprints veröffentlicht haben – eins davon unter Beteiligung der Heidelberger Humangenetikerin Prof. Dr. Gudrun Rappold.

Wie Lipphardt und Surdu ausführen, werden etwa seit Beginn der 1990-er Jahre DNA-Daten von Roma in Osteuropa und auf der iberischen Halbinsel gesammelt. Große internationale Forschungsteams aus Ost- und Westeuropa analysieren und publizieren diese Daten in Zeitschriften unterschiedlicher genetischer Fachgebiete – allein 45 forensisch-genetische Publikationen sind seit 1990 dazu erschienen. „Forensische Genetikerinnen und Genetiker betrachten die Roma seit Jahrzehnten als eine genetisch interessante Bevölkerungsgruppe. Einige forensisch-genetische Datenbanken enthalten proportional viel mehr DNA von ihnen als von anderen Bevölkerungsgruppen“, sagt Lipphardt.

Die Datensammlerinnen und -sammler gehen von der Annahme aus, dass es sich bei den Roma um eine aus Indien stammende und genetisch isolierte, klar abgrenzbare Gruppe handle. Eine Fehlannahme mit weitreichenden Konsequenzen: Denn die Forscherinnen und Forscher suchen nur Probandinnen und Probanden, die aus isolierten Gemeinschaften oder Ortschaften kommen. Aber isolierte Ortschaften, wie etwa Alpendörfer, können keine größeren Bevölkerungsgruppen repräsentieren; in diesem Vergleich die Bevölkerung der Schweiz: Denn der Rest der Bevölkerung lebt nicht isoliert. Auch Roma haben in den vergangenen Jahrhunderten nicht isoliert gelebt, und sie haben Vorfahren aus vielen verschiedenen Regionen, vor allem aus Europa. Die Darstellung als isolierte, fremde Gruppe könnte zu Stigmatisierung und Ausgrenzung beitragen, argumentiert das Forschungsteam.

Außerdem ziehen Lipphardt und Surdu international anerkannte ethische Standards für genetische Forschung heran, um problematische Aspekte der Verwendung von DNA-Daten von Roma in forensischen Kontexten zu dokumentieren. Sie zeigen, dass zwei wesentliche ethische Anforderungen nur selten erfüllt werden: die informierte Einwilligung aller Probandinnen und Probanden sowie die Befürwortung von Studien und Datenerhebungen durch eine Ethikkommission. Darüber hinaus beobachten Lipphardt und Surdu, dass mehrere forensisch-genetische Studien, die DNA-Daten von Roma verwenden, Ko-Autorinnen und Ko-Autoren aufweisen, die mit Polizei-, Ermittlungs- oder Militärkräften in institutionell enger Verbindung stehen. Dieser Befund weise auf das Risiko hin, dass bewusste oder unbewusste Stereotypen und Diskriminierungen in forensisch-genetische Studien und Ermittlungen einfließen.

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„Was wir in den verfügbaren Quellen beobachtet haben, kann man als weitreichende Intransparenz beschreiben, die auf einen Bewusstseinsmangel für die ethische Sensibilität von DNA-Daten von Roma bei mehreren forensischen Genetikerinnen und Genetikern hindeutet“, fasst Lipphardt zusammen. „Diese Ergebnisse sind vor dem Hintergrund der gewaltvollen Geschichte biowissenschaftlicher Forschungen an Roma sowie des ethnischen Profilings durch Polizeikräfte zu betrachten.“ Die Publikationen beinhalten Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Roma sowie der ethischen Standards in der forensischen Genetik: etwa einen nachhaltigen institutionalisierten Dialog zwischen Forschenden und Roma, die gemeinsame Überprüfung ethischer Standards sowie die Einbeziehung von Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in Review-Verfahren.

Originalveröffentlichungen:

Lipphardt, V./ Rappold, G./Surdu, M. (2020): Representing vulnerable populations in genetic studies: The case of the Roma.

DOI: 10.13140/RG.2.2.13286.04165

Lipphardt, V./Surdu, M. (2020): DNA Data from Roma in forensic genetic studies and databases: Risks and challenges.

DOI: 10.13140/RG.2.2.16641.48484

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Grafikquelle        :

Oben        —     Roma people in Istanbul.

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Unten       —       For documentary purposes the German Federal Archive often retained the original image captions, which may be erroneous, biased, obsolete or politically extremeAsperg, Deportation von Sinti und Roma

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Krieg in Äthiopien

Erstellt von Redaktion am 23. November 2020

„Danach wird es keine Gnade geben“

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Von Dominic Johnson

Der Krieg in Äthiopiens Region Tigray spitzt sich zu. Die Zentralregierung droht der Zivilbevölkerung der Regionalhauptstadt Mekelle.

Die Warnung ist unmissverständlich. „Die nächsten Phasen sind der entscheidende Teil der Operation“, erklärte Äthiopiens Militärsprecher Dejene Tsegaye am Sonntagmorgen im Staatsfernsehen an die Bevölkerung von Mekelle gerichtet, Hauptstadt der umkämpften nordäthiopischen Region Tigray.

Er kündigte die Einkesselung der 500.000-Einwohner-Stadt durch Äthiopiens Armee an und fügte hinzu: „Wir möchten der Öffentlichkeit in Mekelle eine Botschaft senden.“ Die Menschen hätten jetzt noch Zeit, sich vor Artilleriebeschuss in Sicherheit zu bringen und sich vor der „Junta“ zu retten, wie Äthiopiens Zentralregierung die Regionalregierung von Tigray bezeichnet. „Die Öffentlichkeit muss sich von der Junta trennen. Danach wird es keine Gnade geben.“

Seit Tagen warnt Äthiopiens Regierung vor dem bevorstehenden Höhepunkt des Krieges gegen Tigrays Machthaber, der am 4. November begonnen hatte. Die Regierung von Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed, der 2018 als international gefeierter Reformer an die Macht in Addis Abeba gekommen war, geht militärisch gegen die in Tigray regierende TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) vor, die sich 2019 von Abiys Regierungskoalition losgesagt hatte und im September 2020 trotz Verbots durch die Zentralmacht eigene Regionalwahlen abhielt.

Aus Sicht Addis Abebas sind die TPLF-Regierenden in Mekelle seitdem Rebellen. Als sie angeblich eine äthiopische Militärbasis angriffen, erklärte die Regierung ihnen den Krieg.

Äthiopischer Vorstoß ins Kerngebiet Tigrays

Äthiopiens Armee nahm in den vergangenen zweieinhalb Wochen erst die westlichen Teile Tigrays ein und rückte anschließend in Richtung des historischen Kerngebiets der Region vor, wo die Hauptstadt Mekelle liegt.

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Nach eigenen Angaben hat sie in der vergangenen Woche die Geburtsstadt Shire des TPLF-Führers Debretsion Gebremichael erobert, die stategisch wichtige Stadt Adigrat auf der Straße nach Eritrea sowie die uralte christliche Kaiserstadt Axum, ein Weltkulturerbe, dessen jahrtausendealte Klöster Moses’ Bundeslade aus dem Alten Testament beherbergen sollen.

Von Adigrat rücken die äthio­pischen Truppen jetzt Richtung Mekelle vor. Sie sollen noch 100 Kilometer entfernt sein. Die Lufthoheit hat Äthiopiens Luftwaffe bereits.

Die Universität von Mekelle wurde am Donnerstag bombardiert. Nach Angaben von Augenzeugen gegenüber der taz, durch Fotos unterstützt, wurden 22 Studenten und vier weitere Zivilisten verletzt. Andere Quellen sprechen von 50 Verletzten.

In einer Botschaft, die die taz erreichte, listete Universitätspräsidentin Fetien Abay auch Luftangriffe auf ein Wasserkraftwerk, eine Zuckerfabrik und ein Lebensmittellager auf. „Wie kann eine Regierung ihr eigenes Volk bombardieren?“, fragt sie.

Quelle       :      TAZ          >>>>>        weiterlesen

Krieg gegen das eigene Volk

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Kommentar von Dominic Johnson

Das Auswärtige Amt stellt den Konflikt in Äthiopien vor allem als humanitäres Problem dar. Das verhöhnt die Menschen im Kriegsgebiet.

Als Abiy Ahmed 2018 Äthiopiens Ministerpräsident wurde und umgehend einen politischen Frühling einläutete, galt er als neuer Hoffnungsträger Afrikas. Er öffnete die Gefängnisse, er schloss Frieden mit dem Erzfeind Eritrea, und als smarter junger Technokrat, der die autoritäre Wende seiner Vorgänger rückgängig machte, erhielt er 2019 den Friedensnobelpreis. Heute führt er Krieg gegen einen Teil des eigenen Landes.

Hunderte von Menschen sind gestorben, Zehntausende sind auf der Flucht, und die Zentralregierung droht den Einwohnern von Mekelle, Hauptstadt der Region Tigray, unverhohlen mit der Auslöschung, wenn sie sich nicht von ihren lokalen Führern lösen.

Der äthiopische Staat war schon immer in erster Linie ein Gewaltinstrument. Vom absoluten Kaiserreich über die marxistisch-leninistische Militärdiktatur, beide mit Millionen Hungertoten auf dem Gewissen, bis zum Regime der seit 1991 regierenden EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker), in dem Abiy zum Premierminister aufstieg – die Entrechtung der Bevölkerung ist absolut. Die Bauern besitzen nicht einmal das Land, das sie bebauen.

Quelle         :      TAZ            >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —     Map of regions and zones in Ethiopia.

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Trumps Geschäfte

Erstellt von Redaktion am 18. November 2020

Der oberste Plutokrat

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Von IIija Trojanow

Seit 2016 recherchiere ich Geschäften und Kontakten von US-Präsident Donald Trump hinterher. Jetzt brauche ich eine neue Obsession.

Bald ist es vorbei. Spätestens am 20. Januar 2021 werde ich mir eine neue Obsession suchen müssen. Es wird sich schon was finden, unsere Epoche bietet einiges an verwirrenden Entwicklungen und beängstigenden Bedrohungen. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach wird meine Existenz am Tropf der täglichen Nachrichten nicht so sehr auf eine Person fixiert sein, wie dies in den letzten vier Jahren der Fall war, sondern eher thematisch fokussiert. Höchste Zeit also, die Ära Trump Revue passieren zu lassen.

Als Mensch war Donald Trump von Anfang an völlig uninteressant, als Chiffre und Sinnbild hingegen von faszinierender Bedeutung. Meine Obsession begann an einem extrem kalten Januartag 2016. Als Wahrnehmung eines medialen Zirkus. Inmitten der Manege, alle Scheinwerfer auf ihn gerichtet und jede seiner Aussagen von Trommelwirbel untermalt, stand der Clown, der seine bösartige Verachtung über alles ergoss, was seiner egozentrischen Weltsicht nicht ins Konzept passte.

Schon früh war offensichtlich, dass dieser Digitalhofnarr eine hypnotisierende Wirkung auf die Medienwelt hatte. Schon wenige Wochen später hatte er die angeblich stärkste Riege von Kandidaten und einer Kandidatin aller Zeiten als Vertreter eines maroden Systems hinter sich gelassen und wurde zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei gekrönt. So endete der erste Akt dieser Tragikomödie und ich stand völlig in ihrem Bann.

Das Frühjahr verbrachte ich als Gastprofessor an dem renommierten Dartmouth College in New Hampshire. Es verfügt über eine außergewöhnliche Bibliothek, zudem kann man so gut wie jede existierende Publikation von einer der anderen Ivy-League-Universitäten bestellen. Ich nutzte die Gelegenheit und begann über diesen Mann zu recherchieren, der mir bis dahin nur als Bild geläufig war. Es dauerte nicht lange und ich hatte erstaunlich viel zusammengetragen über die wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtungen, die sein korruptes Wirken ausgemacht haben. Besonders auffällig: die engen, jahrzehntelangen Verbindungen zu russischen Oligarchen und Mafiosi, die ihr Geld mit seiner Hilfe wuschen; da besaß er noch Casinos in Atlantic City und schon Gespür für große Auftritte.

Wer die Demokratie aufgegeben hat, für den war Trump eine zynische, aber realistische Wahl

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Seine halbseidenen, pseudolegalen Geschäfte waren kein großes Geheimnis, mit ein wenig Aufwand und etwas Zeit konnte man genug über ihn herausfinden, um zu wissen, dass er „bad news“ war. Aber offenbar nicht „schlechte Presse“, denn die Medien stürzten sich auf ihn und skandalisierten seine Sprüche, ohne sein bisheriges Verhalten als Geschäftsmann ausreichend zu thematisieren. So wurde er geradezu zur Karikatur des hässlichen alten weißen Mannes, aber nicht zum Symbol der plutokratischen Durchherrschung der Gesellschaft. Offensichtlich steht derart viel Information zur Verfügung, dass wir das Wesentliche zugunsten des Aktuellen aus den Augen verlieren.

Wäre er nicht zum Präsidenten gewählt worden, ich hätte mein Interesse wieder verloren. Stattdessen verbrachte ich täglich mehrere Stunden im Netz, recherchierte weiter und schrieb schließlich einen Roman über „Schiefer Turm“ und dessen schmutzigen Hände („Doppelte Spur“). Der Mann im Weißen Haus beging derweil einen Tabubruch nach dem anderen, zwischendurch sorgte er aber für eine Steuerreform, die den Konzernen und den Ultrareichen ins Portfolio spielte. Er zerbrach so viel Porzellan, dass er manchen als Abrissbirne der Demokratie erschien.

Quelle        :     TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —      March for Science in New York City, 22 April 2017. The March began in Central Park and made its way over to Broadway, down to Times Square.

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Alle blicken auf Trump

Erstellt von Redaktion am 7. November 2020

Fast niemand scheint sich für Deutschland zu interessieren.

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Den Amerikanern ihren Trump

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Wolfgang Gerecht

Alle schauen nach den USA und scheinbar nimmt niemand wahr, dass es in der Bundesrepublik Deutschland keine parlamentarische Opposition gibt, die diesen Namen verdient. Alle wollen in die Regierung.

Opposition ist Mist, so die verfassungsfeindliche Definition des ehemaligen Bundes-Ministers und Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Herr Müntefering.

Das ZDF-text Politbarometer vom 23.10.2020 weist aus, dass 89% der Befragten, Biden als US-Präsident lieber wäre als Trump, der mit 4% befürwortet wurde. Solche repräsentative ZDF-Umfrageergebnisse in der BRD zeigen doch, dass die Menschen in Deutschland, 1. Ohne Kenntnisse über die realen US-Gesellschaftsverhältnisse (Reiche/Arme und größter Militär-Haushalt weltweit) sind und 2. von der deutschen Meinungs-Industrie weitgehend erfolgreich manipuliert sind.

Dieser Erfolg der bundesdeutschen Meinungs-Industrie im Blick auf die US-Wahlen, lässt sich bestimmt auch weitgehend auf Deutschland übertragen.

Banken-Skandale (z.B. durch die Deutsche Bank, WireCard und weitere Banken in der ganzen EU), Steuerbetrugs-Skandale (Cum-cum, Cum-ex, Umsatzsteuer-Karussell in der EU usw). Umwelt-, Klima-Skandale, Fette „Abfindungen“ und großzügige Regelungen für die Kohle-Industrie-Konzerne beim sog. „Kohle-Ausstieg, Abgasbetrugs-Skandale (VW, Daimler und weitere), Autobahn-Maut-Skandal. Versagen in der Energie-Politik (Einführung der Atom-Kraft-Werke ohne reale Risiko-Kenntnisnahme und der von Anfang an unmöglichen und bis heute ungeklärten „Entsorgungsfrage“ des „Atom-Mülls“ für Hunderttausende Jahre).

Die sogenannten Aufsichtsorgane, wie die BAFIN oder das Kraftfahrt-Bundesamt schauen nicht nur weg, sondern gehen sogar gegen Kritiker juristisch vor. Wohlgemerkt, nicht die Täter (Rechtsverletzter) sondern die Aufklärer werden belangt, so geschehen z.B. gegen die Financial Times.

Aktuell das Versagen in der Corona-Pandemie (Anfangs keine Masken, keine Beatmungsgeräte, völlig unzureichendes Pflege-Personal und deshalb bis heute aktuell völlig überlastetet.

Extreme Dokumentationspflichten für jeden Handgriff am Krankenbett für die profitorientierte Abrechnung gegenüber den Krankenkassen.

Profite (Börsennotierte Klinikbetreiber) vor Menschen (Patienten, Pfleger, Ärzte) durch die Privatisierung des „Gesundheitswesens“. Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) sei Dank.

Niemand !!! übernimmt eine Verantwortung.

Und wer hat das alles verursacht?

CDU-CSU-SPD jeweils ergänzt durch FDP-GRÜNE.

DIE LINKE will jetzt gerne auch mal ihre Kapitaltauglichkeit beweisen.

Deshalb deren Linie für die BTW:  GRÜN, ROSA, „ROT“.

Als nächstes werden nach der BTW 2021 von der dann im Amt befindlichen Bundes-Regierung die kreditfinanzierte Corona-Finanz-Geschenke von der Masse der Bürger Innen wieder per Steuer-Erhöhungen und sozialen Leistungskürzungen wieder zurück in den Staatshaushalt geholt („schwarze Null“). Die Schuldenbremse tritt ja, wenn die Pandemie von der Bundes-Regierung wieder als beherrschbar deklariert wird, wieder in Kraft.

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Wir spielen mit unseren Corona Trumpf

Die schwarze Null, grundgesetzlich als „Schulden-Bremse“ verankert, von SPD und CDU-CSU mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossen, kann somit de facto nicht mehr gelöst werden. Die Schulden-Bremse als solche, ist ja ein Beweis für die Unwilligkeit der angeblichen Vertreter des Souveräns, ihren gesetzlichen Aufgaben im Interesse des Bürgers nachzukommen.

Jede Bundes-Regierung könnte ja mit ihrer parlamentarischen Unterstützung auf eine „Neu-Verschuldung“ von sich aus / selbst verzichten

Da sie aber die sich bei einer Schulden-Aufnahme ergebenden parlamentarischen Diskussionen mit der formal die Opposition darstellenden Parteien nicht auf sich nehmen will, haben SPD-CDU-CSU die Schuldenbremse beschlossen, die nun von allen Parteien, wer auch immer die Regierungs-Mehrheit bildet, benutzt werden kann.

Schließlich muss und will auch die CDU-CSU-SPD für Biden den Militär-bzw. Kriegshaushalt auf 2% des BSP endgültig erreichen. Bald 50 Milliarden Euro pro Jahr für die Kriegsbereitschaft nach NATO-Ziel.

Wer denkt daran, dass die Regierungs-Politiker Innen in der BRD, in der die Europäischen Union (EU) in den USA noch nicht einmal in der Lage sind das Covid 19 – Virus zu beherrschen. Aber „Verteidigungsausgaben“, für was?

Die militärische Freisetzung eines biologischen Kampfstoffes, führt die gesamte – die Menschheit belastende – Kriegswaffen-Produktion und Militär-Kosten in das Reich der Absurdität.

Urheberrecht
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Grafikquellen   :

Oben        —   Matthias Laurenz Gräff, „Trump. The Killing Machine“, oil on canvas, 60×80 cm, 2017———– Permission link – Website Matthias Laurenz Gräff https://www.matthiaslaurenzgraeff.com/kontakt/

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Die Wahl als Farce

Erstellt von Redaktion am 5. November 2020

Donald Trump und der Aufstieg der Autokraten

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Trump oder Biden –

Erstellt von Redaktion am 3. November 2020

Die USA bleiben ein Land der Gewalt

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Diese Menschen leben weitgehend friedlich, weil Gewalt in ihrer Gemeinschaft verpönt ist.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von Niklaus Ramseyer / 03. Nov 2020 –

Grosses Getue um die US-Wahlen auch hierzulande. Wozu? Die USA bleiben ein Land der Gewalt und Erpressung – egal wer gewinnt.

«The Semai, a Nonviolent People of Malaya», ist der Titel eines Buchs, das der US-amerikanische Ethnologe Robert K. Denton 1968 in New York publiziert hat. [1] «Die Semai, ein gewaltloses Volk in Malaya». Er beschreibt darin die Semang Semai, eine Gruppe von Ureinwohnern im schwer zugänglichen Hügelland Zentral-Malaysias, bei und mit denen er längere Zeit gelebt hat. Besonderes Merkmal dieser Menschen: Sie leben weitgehend friedlich, weil Gewalt als Problemlösung bei ihnen generell sehr verpönt ist.

Das pure Gegenstück zu diesen Semai würde Denton heute wohl unter dem Titel beschreiben: «Die US-Amerikaner, ein gewalttätiges Volk in Nordamerika». Zu diesem Thema gibt es unzählige Publikationen. Eine der neueren ist Daniele Gansers Buch «Imperium USA» mit dem Untertitel «Die skrupellose Weltmacht». [2] Wie andere Autoren vor ihm, zeigt Ganser auf, wie Gewalt sich als destruktive «Problemlösung», als roter Faden durch fast alle Aspekte der Gesellschaft, der Politik und der Geschichte der USA zieht. Es gibt dazu in den USA das geflügelte Wort: «If all you have is a hammer, every problem looks to you like a nail.» (Wer nur einen Hammer in der Werkzeugkiste hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.)

Der «Weltpolizist» als Gewalttäter

Dem «Rest der Welt» (wo 95 Prozent der Menschheit leben) zeigen US-Regierungen oft mit militärischer Gewalt, wo dieser Hammer hängt. Als einziger Staat weltweit führen die USA permanent mehrere Kriege. Auf Hunderten von US-Militärbasen hat Washington rund um den Globus weit über 200’000 Soldaten stationiert – zehntausende immer noch in Europa.

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben diese USA gegen mehr als 20 Länder offen oder verdeckt Kriege geführt. Millionen Unbeteiligte sind dabei ums Leben gekommen. US-Truppen haben ganze Volkswirtschaften, staatliche Strukturen und private Existenzgrundlagen von Millionen von Menschen nachhaltig zerstört. Da wird das hinterher laut beklagte Problem der «gescheiterten Staaten» (Failed States) regelrecht herbeigebombt. Damit werden mitunter auch jene Flüchtlingsströme verursacht, die wohl übers Mittelmeer nach Europa gelangen – kaum je aber über den Atlantik bis in die USA.

Die gewalttätigen «Interventionen» der US-Regierungen verschlingen im eigenen Land Unsummen an Steuergeldern, die für wichtige Staatsaufgaben fehlen: Das Watson Institut an der Boston University hat schon 2016 die Kosten der US-Kriege in Afghanistan, Syrien, Iraq und Pakistan bis dahin auf 4790 Milliarden US-Dollar berechnet, in Afghanistan allein seit 2001 auf weit über 1000 Milliarden. Das Budget der US-Streitkräfte beläuft sich gemäss dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI derzeit auf über 700 Milliarden Dollar jährlich. Das ist etwa zehnmal mehr als Russland und mehr als doppelt so viel wie China für Militär ausgeben. Der «Militärisch-Industrielle Komplex», vor dessen Einfluss der Weltkrieg-General und spätere US-Präsident (1953–1961) Dwight D. Eisenhower schon 1961 gewarnt hatte, ist in den USA heute mächtiger denn je.

Propagandistisch haben die US-Machthaber ihre verheerenden Kriege stets als «Verteidigung» (Defence) dargestellt. Fakt ist hingegen, dass sich die USA in ihrer Geschichte seit nun fast 200 Jahren noch nie gegen militärische Angriffe auf ihr Kern-Land haben verteidigen müssen (Hawaii mit Pearl Harbour ist Tausende Kilometer vom US-Homeland und Washington entfernt.) Ihre weltweit geführten Invasionen – von Vietnam bis in den Irak – haben die US-Regierungen darum meist auch mit Lügen begründet. Und ideologisch verbrämt: «Restore democracy in Kuwait.» Als ob es dort je eine Demokratie gegeben hätte, die man mit Krieg «wiederherstellen» könnte.

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Schon die Bezeichnungen für diese Kriege sind falsch und stellen die Opfer als Täter dar. Der «Vietnamkrieg» der «Afghanistankrieg», die «Irakkriege» und viele mehr, waren alle faktisch US-Kriege, angezettelt aus Washington, aber mit fatalen Folgen für die weit von den USA entfernten Millionen betroffener Menschen. Kurz und schlecht: Der oft zitierte «Weltpolizist» ist ein weltweit agierender, eigenmächtiger Gewalttäter. Selbst der ehemalige (39.) US-Präsident Jimmy Carter (1977–1981) bezeichnet heute sein Land offen als «das kriegerischste in der ganzen Weltgeschichte».

Völkermord und Sklaverei als Grundlagen

Gewalt stand bereits am Anfang: Schon die «Indianer-Kriege» waren eigentlich «US-Kriege» oder «Siedler-Kriege», faktisch ein Völkermord. Im letzten Jahrhundert hat die US-Filmindustrie in Hollywood diese Verbrechen dann in unzähligen «Western» systematisch ins Gegenteil verdreht – hat die Opfer zu Tätern gemacht, und umgekehrt. Eine der wenigen Ausnahmen dazu ist etwa «Little Big Man» (von Arthur Penn 1970). Da werden die schlimmen Massaker der U.S. Cavalry an den Indianern für einmal schonungslos dargestellt.

Gewalttätiger Landraub stand somit am Ursprung der Nation USA. Gewalttätige Ausbeutung gab es auch durch Sklavenwirtschaft auf den Plantagen in den Südstaaten (Old South). Die aus Afrika in die USA eingeschleppten schwarzen ZwangsarbeiterInnen wurden aber noch lange nach ihrer «Befreiung» (im Nachgang zum Bürgerkrieg von 1861–1865) diskriminiert, unterdrückt und ausgebeutet. Das jüngste Kapitel in ihrem oft brutal niedergeknüppelten Widerstand gegen die «White Supermacy» in all ihren offenen und versteckten Formen ist die aktuelle Bewegung «Black Lives Matter».

Hunderte Millionen Feuerwaffen in US-Häusern – über 30’000 Erschossene jedes Jahr

Gewalt hat in den USA eine lange Tradition. Wo schon der Staat absurd überrüstet ist und weltweit mit militärischer Gewalt aggressiv auftritt, wollen auch viele seiner BürgerInnen privat und lokal nicht auf Waffen verzichten. Schätzungen gehen davon aus, dass in den Haushalten der USA mit ihren insgesamt 328 Millionen EinwohnerInnen gut 400 Millionen Faust- (Pistolen, Revolver) und Handfeuerwaffen (Gewehre aller Art) mitsamt reichlich zugehöriger Munition gehortet und gelagert werden – vorwiegend bei der weissen Bevölkerung. Und jedes Jahr kommen über fünf Millionen Schiessgeräte neu dazu.

Das zeigt fatale Wirkung: Weit über 30’000 AmerikanerInnen sterben jedes Jahr durch Feuerwaffen, davon 300 bis 400 bei Massakern an Schulen oder sonst in der Öffentlichkeit. «Für einen Bürgerkrieg ist das Land bestens gerüstet», stellt «Die Zeit» (1.Oktober 2020, kostenpflichtiger Artikel) fest. Und warnt: «Die Aussicht jedenfalls, dass die Armee der Trump-Anhänger klaglos eine Niederlage akzeptiert, ist gering.»

Doch genau diese Niederlage droht dem amtierenden, republikanischen US-Präsidenten Donald Trump und seiner teils gut bewaffneten Anhängerschaft («Proud Boys») mit den Wahlen vom 3. November nun. Trump hat auch schon angetönt, dass er eine Abwahl nicht akzeptieren könnte. Er ist überzeugt: «Nur durch Betrug können wir diese Wahl verlieren.» «Die Zeit» stellt fest: «Ganz sicher hat dieser Präsident die Zerstörungskräfte nicht geschaffen, er geht nur äusserst virtuos mit ihnen um.» Und dies als Präsident einer ebenso waffenstarrenden wie gespaltenen Nation, in der wohl eine grosse Mehrzahl netter Menschen leben – aber eben auch viele, die einander verachten oder gar hassen. «Die Zeit» analysiert, da breche gerade eine «zunehmend dysfunktionale Gesellschaft» zusehends auseinander, die schon lange nur noch «durch ihre globale Dominanz zusammengehalten» worden sei.

USA verteidigen Welt-Dominanz mit Willkür und Erpressung

Diese weltweite Dominanz der USA ist gerade dramatisch am Bröckeln. Das könnten wir eigentlich gelassen beobachten – oder gar begrüssen. Die Machthaber in Washington reagieren darauf jedoch aggressiv und invasiv: Mit offener und versteckter Waffengewalt durch Militär und Geheimdienste sowieso. Aber schon länger auch indem sie willkürliche Sanktionen zur Durchsetzung ihrer übergriffigen Weltpolitik vorab kleineren Ländern aufzuzwingen. Dass Obama, Trump und/oder Biden alle (mit Unterschieden aber doch gleichermassen klar) meinen oder behaupten, Nordkorea, der Iran oder Kuba und sogar Venezuela seien eine Bedrohung für die USA und die ganz Welt (und diese Länder entsprechend sanktionieren), könnte in der «Restwelt» als US-Besonderheit mit Verwunderung bis Kopfschütteln aber gelassen Kenntnis genommen werden.

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Doch die USA (unter welcher Präsidentschaft auch immer) gehen weiter. Sie stellen Freund und Feind vor das Ultimatum: «Entweder boykottiert ihr diese Länder auch, oder wir boykottieren euch gleich mit!» Souveräne Staaten werden so auf US-Linie gezwungen, was nicht in ihrem Interesse liegen kann.

Das trifft auch die Schweiz immer wieder: Nordkorea, der Iran oder Kuba sind nicht unsere speziellen Freunde, aber auch nicht unsere Gegner – und erst recht nicht unsere Feinde. Auf Druck der USA boykottiert jedoch auch die mutlose Regierung der neutralen Schweiz in Bern diese Staaten: Hilfswerke wie «mediCuba» können darum inzwischen kaum mehr Geld nach Kuba überweisen. Führende deutsche und auch EU-Politiker schauen derweil devot zu (oder klatschen gar Beifall), wenn Washington in seiner Kampagne gegen eine neue Erdgasleitung von Russland nach Deutschland (Nord Stream II) mit massiven Drohungen souveräne Staaten bis hin zu einzelnen Gemeinden fremdbestimmen will. (Infosperber berichtete: «Die USA drehen weiter an der Sanktionsschraube».

Diese strukturell anmassende und invasive Weltmacht USA würde sich kaum ändern, wenn nun nach dem 3. November der Republikaner Donald Trump als US-Präsident gehen müsste, und der Demokrat Joe Biden «das Weisse Haus gewinnen» könnte. Sofort sowieso nicht: Denn Amtsübergabe wäre erst am 20. Januar 2021. Die Übergangszeit «dürfte zu einer Fortsetzung des Wahlkampfs mit noch härteren Mitteln werden», warnt zudem «Die Zeit» jetzt schon. Als Verlierer könnte Trump im «Interregnum» gar versucht sein, das «Problem» seiner Abwahl nach der in Jahrhunderten eingeübten US-Manier zu lösen: mit Gewalt

PS: Robert K. Denton ist nach dem Abschluss seiner Studien in Malaysia nicht in die gewalttätigen USA zurückgekehrt – er blieb und lebte noch längere Zeit bei den gewaltlosen Semang Semai.

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[1] Robert K. Denton: The Semai, a Nonviolent People of Malaya, New York 1968

[2] Daniele Ganser: Imperium USA. Die skrupellose Weltmacht. Orell Füssli Verlag, Zürich 2020

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Grafikquellen        :

Oben      —     Bird Nesting Cave Sabah

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Unten           —      A Paraguayan comando shoots targets during a stress shoot event during Fuerzas Comando, July 19, 2018 at the Instituto Superior Policial, Panama. Partner nations competing in Fuerzas Comando refine the tactics used by their special operations forces. By increasing their special operation capabilities, countries become more capable of confronting common threats. (U.S. Army Photo by Spc. Jose, Vargas/ Released)

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Trump und Berlusconi

Erstellt von Redaktion am 31. Oktober 2020

Der Trumpusconi-Mythos

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Von Fabio Ghelli

Präsident Trump könnte bald Geschichte sein. Nicht aber der Trumpismus. Das lehrt uns das Beispiel seines bekanntesten politischen Vorläufers

Ich kann mich an jenen Morgen noch sehr gut erinnern. Ich wachte auf, schaltete den Fernseher ein und stellte fest, dass entgegen allerErwartungen ein großmäuliger, politisch unerfahrener, dennoch sehr kühner Ex-Immobilienmogul mit einer ausgeprägten Medienpräsenz (und einer ebenso ausgeprägten Verachtung für Frauen) plötzlich ein wichtiger Entscheidungsträger der Weltpolitik geworden war. Ich war sprachlos. Wie konnte das geschehen?, fragte ich mich. Wie konnten wir den Aufstieg dieser skurrilen Witzfigur mit ihren dubiosen Bekanntschaften und abenteuerlichen Affären nicht aufhalten – oder zumindest vorhersehen? Lange konnte ich darüber jedoch nicht grübeln. Ich musste in die Schule. Ich war 15 und lebte noch in Italien. Es war 1994. Und das Gesicht, das mich aus allen Bildschirmen anlächelte, war das von Silvio Berlusconi.

Viele Italiener:innen mussten sich an jenen Tag erinnern, als Donald Trump 2016 vor einer jubelnden Menge im Manhattan Hilton auftrat. „Ich war mein ganzes Leben Unternehmer“, sagte der frisch gekrönte Kandidat – und schien dabei Berlusconis Worte bei seiner ersten Siegesrede 1994 direkt zu zitieren.

Die Ähnlichkeiten zwischen den zwei Figuren sind frappierend. Wie der italienische Medienunternehmer ist Trump ein politischer Outsider. Und genau wie Berlusconi wusste er diese Rolle geschickt zu nutzen. Sowohl Berlusconi als auch Trump haben behauptet, sie seien ins politische Schlachtfeld gezogen, um gegen die korrupte Elite zu kämpfen. Deshalb würden sie gnadenlos verfolgt – von politischen Gegnern, Richtern, dem FBI, dem „Deep State“. In ihrer Selbsterzählung kommen sie einem wie eine Art Messias vor.

Und wie jeder gute Messias kündigten beide Leader den Anbruch einer neuen Ära an, in der die komplexen Dynamiken und Rituale der repräsentativen Demokratie Vergangenheit sein würden; einer Zeit, in der es keine Politiker:innen und Wäh­le­r:in­nen mehr gibt, sondern nur den Leader und sein Volk.

In einer Demokratie muss man verhandeln können, Kompromisse finden. Nicht aber in der „Trumpusconi“-Demokratie. Diese ist in erster Linie ein Wettbewerb. Nicht umsonst benutzen beide gerne Metaphern aus dem Sport (vorzugsweise Fußball oder Golf): Es gibt Winner und es gibt Loser. Und sie gewinnen. Immer.

Tatsächlich scheint Trumpusconi von einer Aura der Unbesiegbarkeit umhüllt. Normale Politiker können aufsteigen und stürzen, sie können sich blamieren, scheitern – und sich bei Bedarf in die Unternehmensberatung zurückziehen. Nicht aber Trumpusconi. Er kann in mehr als 30 Gerichtsverfahren verwickelt werden. Er kann im Zentrum einer FBI-Ermittlung stehen und sich einem Amtsenthebungsverfahren unterziehen müssen. Am Ende steht er immer noch da mit einem breiten Lächeln – und stabilen Umfragewerten.

Fumetto Berlusconi.JPG

Trumpusconi scheint unverwundbar. So verpassten italienische und US-Medien unabhängig voneinander dem ehemaligen Regierungschef wie dem aktuellen US-Präsidenten den gleichen Spitznamen: Berlusconi war der „Teflon-Ritter“, Trump ist der „Teflon-Präsident“. Skandale, Blamagen, eklatante Misserfolge: Alles perlt an ihnen ab.

Na ja, nicht alles. Vor neun Jahren trat der „Teflon-Ritter“ zum letzten Mal als Regierungschef vor die Kameras, um seinen Rücktritt anzukündigen. Was weder die Opposition noch die Richter vollbrachten, schaffte die Finanzkrise. Das zeigt: Wie alle mythischen Helden ist Trumpusconi zumindest an einer Stelle verwundbar. Es ist nicht die Ferse und auch nicht die Schulter. Nein. Trumpusconi ist nur verwundbar, wenn er nicht im Mittelpunkt der Berichterstattung steht, sondern als Nebendarsteller zusehen muss, wie sich um ihn herum eine Krise entfaltet, über die er keine Kontrolle hat – sei es die Eurokrise oder die Coronakrise.

Quelle      :        TAZ        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       .

Oben          —     <a href=“http://en.wikipedia.org/wiki/Donald_Trump“ rel=“nofollow“>Donald John Trump, Sr.</a>, aka Donald Trump, is a celebrity business man and star of the NBC reality show The Apprentice. This caricature of Donald Trump was adapted from Creative Commons licensed images from Gage Skidmore’s Flickr photostream: <a href=“https://www.flickr.com/photos/gageskidmore/5440384453/„>face</a> and <a href=“https://www.flickr.com/photos/gageskidmore/5440990018/„>body</a>.

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Zunehmende Entfremdung

Erstellt von Redaktion am 31. Oktober 2020

Ungeliebte Volksvertreter

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Rüdiger Rauls

Weder bei Putin, Trump und Chinas Xi sind sich die politischen Lager in der Ablehnung so einig wie bei Erdogan und der Türkei. Die Sichtweisen des westlichen Mainstream werden dabei weitgehend vorbehaltlos sogar von jenen übernommen, die sich ihm sonst verweigern. Moralische Empörung jedoch kann die sachliche Analyse nicht ersetzen.

Es ist das vorherrschende Muster in der Darstellung des Wertewestens, dass die Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen immer bei den anderen liegt: Putin, Xi Jingping, Lukaschenka, Maduro und natürlich auch Erdogan. Sie sind die Störenfriede in der Welt, denn sie halten sich aus der Sicht der Meinungsmacher nicht an die Maßstäbe, die der Wertewesten für die ganze Welt als verbindlich erklärt hat. Das nimmt man zum Anlass für Strafmaßnahmen, meist in der Form von Sanktionen.

Man muss Erdogan nicht mögen. Man muss auch Putin oder Trump oder Merkel oder Chinas Xi nicht mögen. Aber bei aller persönlichen Abneigung darf eine wesentliche Tatsache nicht übersehen werden: Sie vertreten Hunderte Millionen Menschen. Besonders im Westen werden Emotionalisierung, moralische Empörung und Diffamierung immer wieder als Mittel der Auseinandersetzung eingesetzt. Sie aber sind schlechte Berater, wo es doch eigentlich darum gehen sollte, politische Vorgänge zu erkennen und gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Da hilft nur sachliche und an den Tatsachen orientierte Analyse.

Der türkische Ministerpräsident wie auch die anderen Buhmänner des Wertewestens sind – außer Chinas Xi Jingping – nach Verfahren gewählt worden, die gemeinhin als Maßstab für demokratische Wahlen im westlichen Sinne gelten. Nach diesem Verständnis dürfte es eigentlich keine Rolle spielen, ob die Ergebnisse den Wünschen des Wertewestens entsprechen, denn Wahl ist Wahl. Auch die westlichen Wähler richten sich bei ihrer Stimmabgabe ja nicht nach den Wünschen der türkischen, russischen oder chinesischen Regierung.

Die Gewählten vertreten die Interessen ihres Landes gegenüber anderen Staaten, so wie sie selbst und der Großteil ihrer Bevölkerung diese Interessen verstehen. Das gilt für Erdogan genauso wie für Merkel, Putin oder Trump. Andererseits berühren die Interessen des einen Staates mitunter die eines anderen, wodurch Konflikte entstehen können. Da werden dann sehr schnell Hoffnungsträger zu Buhmännern, nur weil sie den eigenen Interessen den Vorzug geben gegenüber denen des Wertewestens.

Druck und Härte

Die führenden kapitalistischen Staaten waren es über Jahrzehnte gewohnt, dass Wirtschaft und Politik der anderen sich nach den westlichen Interessen ausrichteten. Das war der politische Kern des Imperialismus. Dabei ging es in der Regel um die Öffnung der Märkte. Dort, wo es nicht funktionieren wollte mit der freiwilligen Marktöffnung, half man mit Kanonenbooten nach bis hin zum Einsatz von Truppen.

So entstand eine Vorstellung, die noch heute viele westliche Politiker verinnerlicht zu haben scheinen und deshalb als alternativlos ansehen: “Die einzige Sprache, die Putin versteht ist eine der Härte”(1), wie Norbert Röttgen beispielhaft für diese Haltung in der Auseinandersetzung um Nawalny und Nordstream2 feststellte.

Der Irrtum aber besteht auf westlicher Seite. Die Putins verstehen nur deshalb die Sprache der Härte, weil sie die einzige ist, die der Wertewesten zu sprechen versteht. Dass aber Druck in Form von Sanktionen immer weniger Erfolge bringt, wollen die Vertreter dieser These nicht erkennen und noch weniger wahrhaben.(2)

Im Gegensatz dazu steht das diplomatische Geschick Russlands, das auch andere Sprachen beherrscht. Ihm gelingt es im Nahen Osten mit allen Akteuren in den Konflikten um Syrien, Libyen und auch aktuell zwischen Armenien und Aserbaidschan im Gespräch zu bleiben und zu belastbaren Vereinbarungen zu kommen. Dies geschieht auf der Grundlage des Respekts gegenüber den Interessen der Gesprächspartner in der Sprache des Interessenausgleichs.

Auf diese Weise können Russland und auch China ihren eigenen Einfluss in der Welt immer weiter erfolgreich ausbauen. Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass militärischer Druck an seine Grenzen stößt – besonders in Zeiten von Atomwaffen.

Ehemaliger Hoffnungsträger

Auffällig ist in der Politik des Wertewestens, dass seine Vertreter immer häufiger mit anderen Staaten in Konflikt geraten. Um den eigenen Willen durchzusetzen, greifen besonders die USA zunehmend zu Sanktionen. Während Russland und China die Beziehungen zu anderen Staaten ständig verbessern, verschlechtert sich das Verhältnis des Wertewestens zum Rest der Staatengemeinschaft. Das macht selbst nicht Halt vor dem eigenen Lager.

Es knirscht innerhalb der EU, zwischen den USA und der EU und seit einiger Zeit besonders innerhalb der NATO zwischen der Türkei und den anderen Staaten des Bündnisses. An diesem Zerwürfnis ist aus der Sicht der Meinungsmacher der anderen NATO-Staaten alleine die Türkei schuld. Kritische Worte zur eigenen Politik gegenüber dem Bündnispartner sind nicht zu hören. Nicht einmal die Annäherung der Türkei an Russland führt zu einem Überdenken der eigenen Politik.

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Dabei hatte doch alles so gut begonnen mit Erdogan als dem neuen Mann in Ankara. In einem Rückblick beschreibt Jürgen Gottschlich, Türkei-Korrespondent der Tageszeitung, die Veränderungen in der türkischen Politik, mit denen Erdogan bereits im Jahr 2004 hatte aufwarten können: „In den zwei Jahren der Regierung Erdo?an sind mehr Reformen realisiert worden als in den 20 Jahren davor. Meinungsfreiheit und Null-Toleranz gegen Folter wurden proklamiert und gesetzlich verankert, kulturelle Rechte für die kurdische Minderheit garantiert und die Todesstrafe endgültig abgeschafft.… Im Gespräch kündigte er [Erdogan] damals an, er werde es schaffen, die Türkei in die Europäische Union zu führen.“ (3).

Zudem verfolgte er „einen Kurs, der viele auch westliche geprägte Intellektuelle begeisterte“ (4). Das war sogar ganz nach dem Geschmack des früheren Salon-Revoluzzers und später gut dotierten grünen Europa-Politikers Daniel Cohn-Bendit. Selbst er „zeigte sich von Erdogan angetan, er sah in ihm einen verwandten Geist im Widerstand.“(5). Viel Vorschuss also gerade von  Kräften, die ihm heute Betrug an den westlichen, also ihren eigenen Idealen vorwerfen.

Nur eines aber hatten sie bei all der Idealisierung Erdogans und ihrer Verliebtheit in die eigenen Ideale nicht beachtet: die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei. Denn diese waren schwieriger als in den bereits höher entwickelten westlichen Gesellschaften. Waren die großen türkischen Städte weitgehend westlich geprägt durch eine moderne, gebildete Bevölkerung, lebten die meisten Türken jedoch noch immer in der Rückständigkeit und Armut ländlicher Verhältnisse. Es fehlte an Arbeitsplätzen, um für die schnell wachsende Bevölkerung eine Lebensgrundlage zu schaffen. Diese wird nicht satt von westlichen Idealen allein.

Entgegengesetzte Interessen

Deshalb war seit den 1960er Jahren der Ausbau der Beziehungen zur EU, früher EWG(Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) Schwerpunkt türkischer Politik. Ihr Ziel, das über all die Jahrzehnte und alle politischen Spannungen hinweg nie aus den Augen verloren wurde, war die Vollmitgliedschaft in der EU. Das wird auch aus dem oben erwähnten Zitat von Erdogan deutlich.

Die sich verschärfenden politischen Spannungen zwischen der Türkei und dem Westen im allgemeinen und der EU im besonderen haben ihren Ursprung in den unterschiedlichen Interessen der Türkei und  der EU-Staaten. Die unterschiedlichen moralischen, politischen und rechtlichen Bedenken und Vorwürfe sind in erster Linie Vorwände, die die EU als Ablehnung des türkischen Wunsches nach Vollmitgliedschaft vortrugen.

Denn Menschenrechte und sonstige politisch-idealistischen Argumente spielen in den Erklärungen und Begründungen des Wertewestens nur dort eine Rolle, wo sie den eigenen Interessen dienen. Das wird besonders in dem weitgehend unkritischen Werben um die arabischen Monarchien deutlich, die weit entfernt sind von den rechtsstaatlichen Zuständen der Türkei, was Demokratie und Menschenrechte angeht. (6)

Die Türkei suchte in der EWG, später EU einen Absatzmarkt für ihre landwirtschaftlichen Produkte. Besonders in der Anfangszeit der gemeinsamen wirtschaftlichen Beziehungen waren sie aufgrund der gering entwickelten türkischen Wirtschaft die einzigen Exportprodukte des Landes. Des weiteren hoffte sie auf einen leichteren Zugang der eigenen Bevölkerung zu den Arbeitsmärkten in Europa. Zur Entwicklung der eigenen Wirtschaft setzte das Land auf Investitionen durch westliche Staaten.

In der Frage der Investitionen bestand ein gemeinsames Interesse zwischen der türkischen und europäischen  Wirtschaftspolitik. Im diesem Bereich kam es in der Folgezeit deshalb auch nur selten zu unüberbrückbaren Konflikten zwischen den türkischen und europäischen Interessen. Sie ergänzten sich noch bis weit in die 2000er Jahre hinein. Denn das eigentliche Interesse der Europäer an der Türkei bestand im Export von Industrieprodukten und Kapital.

Dagegen hatten die europäischen Staaten zum Schutz der eigenen Bauern nur wenig Interesse an der Lieferung türkischer Agrarprodukte. Die EU verfügte doch selbst bereits über gewaltige Überschüsse in Form von Butterbergen sowie Milch- und Weinseen. Ihre  Kühlhäuser waren voll mit den Fleischüberschüssen der europäischen Bauern.

Mit dem Auslaufen des deutschen Wirtschaftswunders und der zunehmenden Arbeitslosigkeit in den europäischen Industrienationen sank auch das Interesse in der europäischen Industrie an billigen Arbeitskräften aus der Türkei, die in der Regel nur wenig qualifiziert waren. Selbst die bereits in Deutschland lebenden Türken wäre man nur zu gerne losgeworden. „1983 beschloss die damalige schwarz-gelbe Koalition, allen arbeitslos gewordenen Türken eine Rückkehrprämie anzubieten“ (7).

Vor verschlossenen Toren

Während die Türkei über Jahrzehnte sich vergeblich bemüht hatte, Vollmitglied der EU zu werden, musste sie erleben, wie nach dem Untergang der Sowjetunion die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes im Handumdrehen Vollmitglied wurden. Aus strategischen Gründen sollten die ehemaligen Ostblockstaaten schnellst möglich in die EU und auch die NATO eingemeindet und dem Einfluss Russlands entzogen zu werden.

Der Türkei wurde 1996 als Trostpflaster eine Zollunion eingeräumt und im Jahr 2005 Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union aufgenommen. Aber diese Verhandlungen scheiterten an der Zypernfrage, was abzusehen war, als das Thema Zypern überhaupt auf den Tisch kam. Es ist also nicht auszuschließen, dass damit schon von vorneherein die Sollbruchstelle eingebaut worden war, um die Verhandlungen scheitern zu lassen.

Wie anders ist zu erklären, dass man ein Jahr zuvor das im Verhältnis zur Türkei wirtschaftlich unbedeutende Zypern als Vollmitglied aufgenommen hatte. Denn „mit dem Beitritt Nikosias „importierte“ Brüssel den Inselkonflikt. Die Entwicklungen auf der Insel beeinflussen die türkisch-europäischen Beziehungen“ (8).

Den politisch Erfahrenen in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten hätte doch von vorneherein klar gewesen sein müssen, dass die Türkei niemals einer Anerkennung der zypriotischen Regierung zustimmen würde, mit der sie seit der Teilung des Landes 1974 in Konflikt lag. War die Bevorzugung der osteuropäischen Staaten gegenüber der Türkei aus den oben erwähnten strategischen Gründen noch nachvollziehbar, so gab es für die Vollmitgliedschaft Zyperns nur eine Erklärung: Der Beitritt der Türkei war zu diesem Zeitpunkt politisch und wirtschaftlich gar nicht mehr gewollt.

Denn mit der Vollmitgliedschaft der Türkei wäre diese mit ihren etwa 80 Millionen Bürgern neben Deutschland zu einem europäischen Schwergewicht geworden und Freizügigkeit für türkischen Arbeitskräfte innerhalb der EU hätte die Probleme am europäischen Arbeitsmarkt verschärft, die durch die Integration der osteuropäischen Staaten bereits erheblich zugenommen hatten.

Eigentlich hatte die EU mit dem Zollabkommen von 1996 die eigenen Interessen in Bezug auf die Türkei weitestgehend verwirklicht: Öffnung des türkischen Marktes für europäische Industrieprodukte und Kapital, keine Freizügigkeit für türkische Bürger in der EU und Schutz der eigenen Landwirtschaft vor türkischer Konkurrenz. Die Türkei bekam, was für sie wichtig war: westliches Kapital und Investitionen sowie einen begrenzten Zugang zum europäischen Agrarmarkt, mehr aber auch nicht.

Alleingelassen

Mit dem Syrienkrieg entstand ein neues Feld für weitere Spannungen, dieses Mal nicht nur zwischen der Türkei und der EU sondern auch mit den restlichen NATO-Partnern. Von Anfang an hatte die Türkei sich gegen Assad gestellt und Rebellen unterstützt, die ihn militärisch bekämpften. Aber sie griff auch aktiv in die Kämpfe ein, indem sie sich Gefechte mit der syrischen Luftwaffe lieferte.

Bald wurde jedoch deutlich, dass die Rebellen alleine die syrischen Streitkräfte nicht würden besiegen können. In den Jahren  2012 und 2013 kam es immer häufiger zu Konflikten zwischen dschihaddistischen und prowestlichen Gruppen innerhalb des Rebellenlagers, weil die Unterstützung des Westens hauptsächlich letzteren zufloss. Die Konflikte unter den Rebellen förderten ihren Zerfall und damit sanken die Aussichten auf einen Sieg über Assad. Der Druck vonseiten des Wertewestens auf die Türkei wuchs, sich stärker in dem Krieg zu engagieren.

Zwar schien die Türkei dazu bereit, wie sie es auch schon durch den Abschuss syrischer Flugzeuge unter Beweis gestellt hatte, aber sie wollte das Risiko nicht alleine tragen. Bereits im Jahre 2012 drängte sie die anderen NATO-Staaten zur Ausrufung des Bündnisfalls, der ihr die Unterstützung des gesamten Bündnisses sichern sollte. Aber dazu waren die Partner nicht bereit. Man ließ die Türkei alleine den Kampf gegen Assad führen und beschränkte sich auf die Unterstützung der Rebellen durch Geld, Waffen und Helfer, aber keine regulären Truppen.

Von da an ist das Verhalten der Türkei nicht mehr strategisch, also in einem Regime-Change in Syrien, zu verstehen, sondern taktisch, d.h. in der Wahrung der eigenen Interessen. Das schloss mit ein, zur Verwirklichung der eigenen Vorhaben Druck auf die NATO-Partner auszuüben. In diesem Zusammenhang sind besonders die Streitigkeiten um die Nutzung des Flughafen Incirlik durch NATO-Flugzeuge zu sehen, was zu deren Verlegung nach Jordanien und einer Schwächung der Luftüberwachung durch die NATO-Staaten führte.

Auch die spätere Unterstützung des Islamischen Staates durch die Türkei und die Bekämpfung der Kurden beziehungsweise das wiederholte Eindringen in kurdische Gebiete und deren Besetzung in Nordsyrien müssen im Rahmen dieses taktischen Verhaltens gesehen werden. Einerseits wollte man seine Interessen gegenüber den Kurden wahren. Andererseits aber sollte Druck ausgeübt werden auf die mit den Kurden verbündeten Amerikaner. Die Türkei zwang sie, sich zwischen den Kurden und dem NATO-Partner entscheiden.

Bisher haben sich die Amerikaner immer für die Interessen der Türken entschieden. Zwar hat diese Taktik zu Vorteilen für die Türkei zulasten der Kurden geführt, hat aber andererseits auch die Spannungen zwischen der Türkei und den USA erhöht und das Verhältnis zwischen den beiden verschlechtert.

Nicht erhörte Signale

Ein Höhepunkt im Zerwürfnis innerhalb des NATO-Bündnisses stellte die taktische Hinwendung der Türkei zu Russland und der Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs im Jahre 2016 dar. Mit der Annäherung der Türkei an Russland war die Niederlage für den Westen eingeläutet. In dieser Lage hätte der Putsch gegen Erdogan eine Wende in der türkischen Politik gegenüber Russland und Assad bringen können.

Weil Erdogan aber im Gegensatz zu den Putschisten die breite Unterstützung der eigenen Bevölkerung hatte, schlug der Militärcoup fehl. Erdogan beschuldigte die USA und den Westen als Drahtzieher hinter der Erhebung, was nicht von der Hand zu weisen ist, wären doch gerade sie  Nutznießer des Putsches gewesen (9). Diese Ereignisse vertieften den Riss zwischen den NATO-Partnern, zumal der Westen den Putsch kaum verurteilte.

Immer wieder gab es aber auch  Signale besonders in Richtung EU, die ein Umlenken in der Politik gegenüber der Türkei möglich gemacht hätten. Besonders die Abkommen in der Flüchtlingsfrage hätte der EU zu verstehen geben müssen, dass die Türkei weiterhin die Nähe zur EU sucht. Denn eigentlich trägt sie in viel stärkerem Maße die Lasten der Flüchtlingsbewegungen, die durch die vom Wertewesten unterstützten Kriege in der Region verursacht werden.

Auch wenn die Türkei mit Russland inzwischen gute Beziehungen pflegt und auch die wirtschaftliche Verbindung ausgebaut hat, so ist es keineswegs der türkische Wunschpartner. Der liegt weiterhin im Westen. Selbst in den aktuellen Streitfragen um Libyen und die Gasbohrungen im Mittelmeer zeigt eigentlich die Türkei weit mehr politische Weitsicht als der Wertewesten.

So unterstützt sie in Libyen die Regierung Sarradsch, die auf Initiative des Westens eingesetzt worden war, von diesem aber keine Rückendeckung erhalten hatte, als General Haftar schon vor den Toren von Tripolis stand. Das türkische Engagement an Sarradschs Seite sicherte die westlichen Interessen in der Region maßgeblich auch gegenüber Russland, wozu der Westen selbst nicht in der Lage war (10).

Das eigene Interesse

Und selbst im Konflikt um die Gasbohrungen im Mittelmeer kommen „Signale der Entspannung aus der Türkei. Ankara hat im Erdgasstreit ein Forschungsschiff abgezogen und eine Hotline mit Athen eingerichtet“ (11). Solche Zeichen der Entspannung wurden von den Europäern kaum gewürdigt, noch weniger misst man in Brüssel den Interessen des NATO-Partners Bedeutung bei.

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Denn: „Die Türkei hat zwar die längste Küste aller Mittelmeeranrainer, ist aber von der Ausbeutung der Bodenschätze weitgehend ausgeschlossen. Denn kleine griechische Inseln wie Kastellorizo, die nur zwei Kilometer vom türkischen Festland entfernt liegt, können auf Kosten der Türkei eine ausschließliche Wirtschaftszone beanspruchen“ (12).

Das internationale Recht ist auf der Seite Griechenlands, das auch kleinsten Inseln einen Festlandsockel von 200 Seemeilen als ausschließliche Wirtschaftszone verbrieft. Andererseits ist aber auch das Anliegen der Türkei nachvollziehbar, dessen eigener Festlandsockel von dem der griechischen Inseln in Sichtweite der eigenen Küste eingeschränkt wird.

Deswegen ist die unnachgiebige Haltung der EU gegenüber den türkischen Einwänden nicht nachvollziehbar. Aber anscheinend hat sich im Falle der Türkei wie auch im Verhältnis zu Russland die Feindseligkeit mittlerweile so sehr verselbständigt, dass vernünftige Politik und Regelungen nicht mehr vorstellbar sind und besonders im Wertewesten nur noch als Niederlage empfunden werden können.

Jedoch einen Vorteil hat diese Haltung des Wertewestens gegenüber der Türkei: Sie schwächt die NATO und vermindert damit die Gefahren, die von dem Bündnis für den Rest der Welt ausgehen. Solange sich die Konflikte im Bündnis und innerhalb des Wertewestens häufen, hat die Welt vor ihnen Ruhe. Das gilt ganz besonders für die Streitigkeiten in den USA.

Insofern ist die feindselige Haltung von NATO-Gegnern gegenüber der Türkei politisch unklug. Damit übernehmen sie unkritisch die Sichtweise des Mainstream, den sie sonst ablehnen. Anstatt einen eigenständigen und politischen Standpunkt zu entwickeln, lassen sie sich emotional einbinden. Man muss die Türkei und Erdogan nicht mögen, aber man sollte sie sachlich und besonders nach den eigenen Interessen beurteilen, und diese liegen nicht in einer Stärkung der NATO.

(1) Reuters vom 3.9.2020: Röttgen stellt die Erdgas-Frage

(2) Siehe dazu Rüdiger Rauls: Die Sanktionierten schlagen zurück

(3) TAZ vom 26.9.2018: Aufstieg von Recep Tayyip Erdogan

(4) ebenda

(5) ebenda

(6)  siehe dazu Rüdiger Rauls: Das israelisch-arabische Komplott

(7) Zeit-online vom 2.8. 2013,  Türken waren Kanzler Kohl fremd )

(8)  Bundeszentrale für politische Bildung: Zypern und die türkisch-europäischen Beziehungen

(9)  siehe dazu Rüdiger Rauls: Türkei: Vorwärts in die Vergangenheit

(10) siehe dazu Rüdiger Rauls: Geht die Nato am Mittelmeer baden?

(11)  FAZ vom 6.10.20: Signale der Entspannung aus der Türkei

(12) ebenda

Rüdiger Rauls Buchveröffentlichungen:

Krieg um Syrien Buchbeschreibung

Wie funktioniert Geld? Buchbeschreibung

Kolonie Konzern Krieg – Stationen kapitalistischer Entwicklung Buchbeschreibung

Zukunft Sozialismus oder die Grenzen des Kapitalismus Buchbeschreibung

Die Entwicklung der frühen Gesellschaften-Die Geschichte Afghanistans Buchbeschreibung

Was braucht mein Kind? Buchbeschreibung

Späte Wahrheit (Prosa) Buchbeschreibung 

Herausgeber von:

Imre Szabo: Die Hintermänner ( ein politischer Krimi) Buchbeschreibung

Imre Szabo: Die Unsichtbaren ( ein politischer Krimi) Buchbeschreibung

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Mein Leben wurde zerstört

Erstellt von Redaktion am 30. Oktober 2020

Prozess zum Mord an Walter Lübcke

Von Konrad Litschko

Stephan E. soll nicht nur Walter Lübcke ermordet, sondern auch einen Geflüchteten niedergestochen haben. Am Donnerstag sagte dieser vor Gericht aus.

Ahmed I. schildert, wie er damals, an diesem regnerischen Januarabend vor fast fünf Jahren, von seiner Asylunterkunft in Kassel-Lohfelden zur Tankstelle lief. Er wollte Zigaretten holen, Kopfhörer in den Ohren, Kapuze auf. Als plötzlich ein Radfahrer von hinten kam und er einen Schlag im Rücken spürte. Er sei zu Boden gegangen, habe erst nur Wärme gespürt, dann das Blut bemerkt und die Schmerzen.

Er habe aufstehen wollen, aber es ging nicht. Weil niemand für Hilfe in der Nähe war, kroch er auf die Straße. Autos fuhren vorbei, dann hielt doch eines, ein Mann brachte ihn auf den Bürgersteig. „Ich dachte, ich werde sterben. Ich hatte so starke Schmerzen.“ Die herbeigerufenen Ärzte brachten ihn schließlich ins Krankenhaus.

Die Geschichte erzählt Ahmed I., akkurat gestutzter Bart, gegelter Seitenscheitel, dunkelblaues Jackett, am Donnerstag im Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Ein attraktiver Mann, der lächelnd Zuschauern winkt, die ihn begleiten und vor dem Gericht eine Kundgebung für ihn organisiert haben. Verhandelt wird hier der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vom Juni 2019. Angeklagt ist dafür Stephan E., ein 47-jähriger Kasseler Rechtsextremist. Und als möglicher Helfer sein früherer Kumpel Markus H.

Nun aber wendet sich das Gericht einer zweiten Tat zu: der Messerattacke auf Ahmed I. am 6. Januar 2016. Der Radfahrer soll auch Stephan E. gewesen sein. Die Ausführungen des Irakers verfolgt er regungslos, schaut ihn nicht mal an. Während Stephan E. den Mord an Lübcke gestand, bestreitet er den Messerangriff – und schweigt ansonsten dazu. Aber es gibt Indizien.

DNA-Spuren auf Messer

Stephan E. wohnt in Tatortnähe, fuhr dort mit seinem Fahrrad regelmäßig zur Arbeit entlang. Die Unterkunft, in der Ahmed I. lebte, ist genau die, über die Walter Lübcke ein Vierteljahr zuvor auf einer Bürgerversammlung informierte – und die Stephan E. nach eigener Aussage derart in Rage brachte, dass er Lübcke vier Jahre später erschoss.

Schwerwiegender noch: Auf einem Messer in E.s Keller fanden Ermittler eine DNA-Spur, die in einigen Teilen zu Ahmed I. passt. Und der Rechtsextremist selbst berichtete den Ermittlern, wie er Anfang 2016, nach Berichten über die Kölner Silvesternacht, aufgebracht war und einem Migranten zugerufen habe, man müsse ihm den Hals aufschneiden.

Quelle        :       TAZ           >>>>>         weiterlesen

Als Ergänzung die Sendung Frontal 21 / ZDF vom letzten Dienstag   

>>>> Ahmed I. und der Lübcke-Mord<<<<

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Grafikquelle     :

Als Beispiel für Rechtspopulismus in westlichen Staaten gilt die pauschale Ablehnung des Islams, wie hier bei einer Anti-Moschee-Demonstration von Pro Köln im Jahr 2008: “Sachsenmut stoppt Moslemflut”

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Wagenknecht und Gabriel ?

Erstellt von Redaktion am 29. Oktober 2020

„Gendersternchen und Lifestyle-Fragen“

Wie sich Linke und SPD von Arbeiter- zu Akademikerparteien wandeln

von  GEORG ISMAR

Sahra Wagenknecht und Sigmar Gabriel wirken wie einsame Rufer im Wald: Sie sehen eine dramatische Entfernung bei Linkspartei und SPD von früheren Wählern.

Sie sind zwei zunehmend Unerhörte in ihren Parteien. Die zuletzt mehr nach außen strahlten, als dass sie nach innen mit ihrem Kurs überzeugen konnten. Beide eint die Sorge, dass Linkspartei wie SPD in der Versenkung verschwinden, da sie viele frühere Wähler verloren haben oder nicht mehr erreichen.

Und so kann sich der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel einen Seitenhieb nicht verkneifen, als er am Wochenende ein bemerkenswertes Interview der früheren Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht empfiehlt. „Bemerkenswerte und kluge Gedanken“, lobt Gabriel und fügt bei Twitter hinzu: „Lesetipp für mehrheitsorientierte Sozialdemokraten und Linke.

Was heute als links gelte, habe mit den traditionellen Anliegen linker Politik nicht mehr viel zu tun, sagte Wagenknecht der „Süddeutschen Zeitung“. „Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Debatten heute oft um Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestyle-Fragen.

Diejenigen, für die linke Parteien eigentlich da sein sollten, also die Beschäftigten, die untere Mittelschicht, die Ärmeren, wenden sich deshalb ab. Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Parteien kaum noch gewählt.“ Es ist eine ziemliche Abrechnung, sie erwartet keinen neuen Kurs, wenn am kommenden Wochenende Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow als Nachfolger von Bernd Riexinger und Katja Kipping zu den neuen Parteichefs gewählt werden.

Fortgesetzter Niedergang

Sie vermisst wie Gabriel bei der SPD eine innere Unruhe über die Reihe an Wahlniederlage, bei der Linken mit der Ausnahme Thüringens; dank des pragmatischen Kurses von Bodo Ramelow. Allerdings konnten auch sie beide in politischer Verantwortung den Negativtrend nicht aufhalten, anders als die Grünen geht es für Linke und SPD seit Jahren eher bergab, auch die Hoffnung auf eine rot-rot-grüne Mehrheit wirkt ob der Umfragen und der internen Flügelkämpfe illusorisch.

Wie sagte Ch. Lindner FDP  einen richtigen Satz:
Es ist besser nicht zu regieren als schlecht !

„Die linken Parteien sind Akademikerparteien geworden“, meint Wagenknecht im SZ-Interview. Anders als früher seien es nicht mehr die Benachteiligten, sondern die Bessergebildeten und tendenziell die Besserverdienenden, die links wählen. Ihr Urteil: „Das ist schon ein Armutszeugnis für die Linke, wenn sie die Armen nicht mehr erreicht.“

Akademiker- statt Arbeiterparteien

Beide Parteien eint, dass viele Funktionsträger heute eher in der akademischen Mittelschicht verankert sind, Arbeiterbiografien sind auch im Bundestag selten geworden. „Deshalb werden Debatten geführt, die an den Problemen vorbeigehen, die etwa eine Rentnerin hat, die von 900 Euro im Monat leben muss. Oder jemand, der jeden Tag Postpakete die Treppen hochschleppt“, so Wagenknecht.

Sie kritisiert Klimadebatten, wo ihr zu viel über Biofleisch und E-Autos,  als über die Klimaschäden durch die Globalisierung mit „ihren endlosen Transportwegen und dreckigen Containerschiffen“ diskutiert wird. Auch die SPD versucht sich ja mit ihrer klaren Absage an Hilfen für die noch auf Verbrenner setzende Automobilindustrie den Grünen Anteile abzujagen – der Kollateralschaden ist eine fortgesetzte Entfremdung zu den Industriegewerkschaften.

Streitpunkte Flüchtlinge und Klima

Wagenknecht, die anders als Gabriel noch im Bundestag sitzt, aber sonst keine parteipolitischen Ambitionen mehr hegt, ist immer wieder angeeckt, vor allem wegen ihres Kurses in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die Auffassung, dass Zuwanderung begrenzt werden muss, sei nach linker Auffassung Rassismus.

Das sei absurd. „Für die Herkunftsländer ist Migration ruinös, weil es in der Regel die Besserqualifizierten sind, die abwandern. (…) Wenn wir wirklich den Bedürftigen helfen wollten, dann müssten wir vor Ort helfen.“ Es sei auch nicht rechts, anzusprechen, dass es kaum möglich sei, eine Schulklasse zu unterrichten, in der über die Hälfte der Kinder kein Deutsch spricht, „oder dass wir auch in Deutschland ein Problem mit dem radikalen Islamismus haben“. Wenn Linke das alles ausblenden, müsse man sich nicht wundern, dass viele Bürger zur AfD überlaufen.

Merkel: „Weg in die Bedeutungslosigkeit“

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Entwicklung der Parteien, er ist auch Mitglied in der SPD-Grundwertekommission. Man müsse heute unterscheiden zwischen einem kulturellen und einem sozio-ökonomischen Linkssein, also dem akademischen Milieu und jenem, in dem es vor allem um Verteilungsfragen gehe. „Eine der Tragiken ist, dass man es nicht mehr schafft, diese Milieus vernünftig zusammenzubringen“ sagt Merkel. Es werde heute von bestimmten Gruppen mit einer „gewissen kulturellen Verachtung auf den Pöbel geschaut“, man verstehe sich gegenseitig oft nicht mehr.

Quelle      :             Tagesspiegel          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben         —  Den Rechte Flügel ? Blogsport  / Ein ganzes Leben wie Göttin und Gott in Frankreich  – andere Arbeiten lassen !

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2.) von Oben       —        Sigmar Gabriel in 2010

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Unten          —       Lafontaine Fotomontage:

Die Fotomontage stammt aus der Projektwerkstatt


Virtuelle Projektwerkstatt von SeitenHieb Verlag steht unter einer Creative Commons

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Vom Mythos der Reife

Erstellt von Redaktion am 28. Oktober 2020

Vormarsch des Militarismus

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Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Ist politisch erst erwachsen, wer Truppen ins Ausland schickt? Ein törichtes Narrativ, von den Grünen erfunden, bedrängt nun die Linkspartei.

Ein Jüngling zieht hinaus in die Welt, bewährt sich in Kampf und Krieg, auf dass er bei seiner Heimkehr als erwachsen gelte und sich fortpflanzen darf. Die Bereitschaft, einen anderen zu töten als Beweis von Reife, das ist eine archaische Vorstellung. Und doch hat dieser Atavismus einen festen Platz in der modernen Politik. Eine Partei gilt als erwachsen, wenn sie bereit ist, Soldaten in die Welt zu schicken.

Die Grünen erlagen dem seltsamen Narrativ schon vor Jahren. In ihren Reihen entstand überhaupt die Idee dieser Art des Heranwachsens, eine Waffe (sic!) im Strömungskampf, und irgendwann blickten die Gereiften dann mit Schaudern zurück auf die friedenspolitischen Utopien ihrer nun entrückten Adoleszenz.

Ähnliche Geister plagen nun die Linkspartei, wenn sie in diesen Wochen eine neue Führung bestimmt und einen Kurs berät, der – oh nimmermüdes Zauberwort! – regierungsfähig machen soll. Erneut kennt die begleitende öffentliche Beschallung nur eine Richtung: Wer ernst genommen werden will, muss zu auswärtigen Einsätzen der Bundeswehr stehen, das beweise Pragmatismus und einen als „gesund“ apostrophierten Willen zur Macht.

Zunächst: Wer spricht da eigentlich? Eine Mehrheitsmeinung der Wählenden jedenfalls nicht. Die Deutschen seien in ihrer Grundorientierung eher antimilitaristisch, befand 2019 erneut eine Untersuchung der Bundeswehr; eine klare Mehrheit lehne auswärtige Kampfeinsätze ab.

An der Aufgabe, Militäreinsätze kritisch zu spiegeln, versagen Medien und Parlament gleichermaßen

Im politischen Raum haben sich derweil andere, eigenständige Prioritäten entwickelt. Sie basieren weder auf den Wünschen der hiesigen Gesellschaft noch haben sie unmittelbar mit konkreten Erfordernissen an den Einsatzorten zu tun. Es handelt sich vielmehr um strategische Projekte des außen- und sicherheitspolitischen Establishments, und sie speisen sich jeweils aus verschiedenen Erwägungen. Etwa: Was bringt Deutschland dem begehrten ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat näher? Wie werden bündnispolitische Interessen und Konkurrenzen austariert? Und wie viel globale Präsenz der Bundeswehr ist nötig für die Marktstellung deutscher Rüstungsexporte?

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Was immer dabei herauskommt, findet in der Regel eine so wohlwollende publizistische Begleitung, dass man sie embedded nennen sollte. An der Aufgabe, Militäreinsätze kritisch zu spiegeln, versagen Medien und Parlament gleichermaßen. Das Beispiel Mali ist dafür der jüngste Beleg. Als dort nach sieben Jahren westlicher Intervention Putschisten zum Wiederaufbau des Landes aufrufen, herrscht hier zunächst betretenes Schweigen, gefolgt von der Losung: Weitermachen, als wäre nichts gewesen! Im bitterarmen Mali werden pro Tag 4 Millionen Euro für eine militärisch verstandene Sicherheit aufgewendet, während das Leben der Malier jeden Tag unsicherer wird. Studien, die seit Langem auf falsche Prioritäten hinweisen, wurden geflissentlich ignoriert. Und die EU trainiert weiter eine Armee, die für mehr zivile Opfer verantwortlich ist als der dschihadistische Terror. Kann mehr schiefgehen?

Wenn man fragt, warum die Bundeswehr überhaupt in Mali ist, lautet die Antwort: Erst, um Frankreich einen Gefallen zu tun, und dann kam die Migrationsabwehr hinzu.

Wer heutzutage nach Argumenten gegen eine militärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder sucht, muss sich nicht mehr auf Pazifismus berufen. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte liefern allen Grund, Interventionen mit höchster Skepsis zu betrachten: vom Experiment Kosovo, wo 60.000 Nato-Soldaten in einem Gebiet von der halben Größe Schleswig-Holsteins eingesetzt wurden, über die Kriege in Irak und Libyen bis zum Desaster in Afghanistan. Keine Entsendung, ob mit oder ohne deutsche Beteiligung, hat auch nur im Entferntesten jene Ziele erreicht, die zu Beginn versprochen wurden.

Quelle       :     TAZ        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben         —     VISIT

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Unten     —      Malian soldiers stand in formation during the closing ceremony of Exercise Flintlock in Bamako, Mali, November 20, 2008. Flintlock, a multinational military exercise, is designed to build relationships and capacity among security forces throughout the Trans-Saharan region of Africa.

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Linke fordert ein Ende

Erstellt von Redaktion am 28. Oktober 2020

Deutschland muss die Nukleare Teilhabe innerhalb der NATO beenden!

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Quelle:    Scharf  —  Links

von Kathrin Vogler, MdB,

Fraktion DIE LINKE, zum Beitritt des 50. Staates zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag:

„Jetzt darf es keine Ausflüchte und Verzögerungen mehr geben: Deutschland muss die Nukleare Teilhabe innerhalb der NATO beenden, die US-Atomwaffen aus Büchel abziehen lassen und dem Atomwaffenverbotsvertrag der UN beitreten!“

Vor wenigen Stunden hat der 50. Staat den UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen ratifiziert.

Kathrin Vogler, friedenspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, dazu: „75 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und nach 75 Jahren atomarer Aufrüstung, die die Welt bis heute am Rande der Vernichtung hält, ist es endlich so weit: Heute Nacht hat Honduras als der 50. Staat den Vertrag der Vereinten Nationen über das Verbot von Atomwaffen unterzeichnet und nun wird dieses Verbot nach einer Frist von 90 Tagen zum bindenden Völkerrecht: dann sind Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Kernwaffen verboten.

Ich gratuliere allen 50 Unterzeichnerstaaten und natürlich ICAN, die für ihr Engagement 2017 mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden sind und allen Menschen in der weltweiten Friedensbewegung, die diesen historischen Schritt hin zu einer atomwaffenfreien möglich gemacht haben, von ganzem Herzen!

Kathrin Vogler weiter: „Ich selbst setze mich seit fast 40 Jahre in der Friedensbewegung für die Abschaffung aller Atomwaffen ein. Der heutige Tag ist außergewöhnlich, historisch, berührend und macht Mut für die nächste, sehr große Aufgabe: Nun müssen wir die Atomwaffenstaaten und die NATO-Staaten ohne eigenen Besitz von Atomwaffen, dazu bringen, ihre atomaren Massenvernichtungswaffen zu verschrotten. Auch die Bundesregierung hat bisher verhindert, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt und hält gegen den Willen der Bevölkerung weiterhin hartnäckig an der Nuklearen Teilhabe fest.“

Kathrin Vogler abschließend: „Das UN-Verbot von Atomwaffen hat jetzt seine 50. Ratifizierung erreicht und ich werde mit meiner Fraktion, beflügelt von diesem großartigen Erfolg der internationalen Friedensbewegung, den Druck auf die Bundesregierung weiter erhöhen: Jetzt darf es keine Ausflüchte und Verzögerungen mehr geben: Unser Land muss jetzt das Zeichen setzen, das die Unbelehrbarkeit und Skrupellosigkeit der Atomkriegsbefürworter überwindet: Deutschland muss die Nukleare Teilhabe innerhalb der NATO beenden, die US-Atomwaffen aus Büchel abziehen lassen und dem Atomwaffenverbotsvertrag der UN beitreten! Atomwaffen abschaffen! Es ist an der Zeit.“

Urheberrecht
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Grafikquellen     :    Kathrin Vogler. Foto: Niels Holger Schmidt

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Das Atomwaffenverbot

Erstellt von Redaktion am 27. Oktober 2020

Atomwaffen werden ab 2021 verboten

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Andreas Zumach / 26. Okt 2020 –

Honduras hat als 50. Land den UNO-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen unterschrieben – im Gegensatz zur Schweiz und Deutschland.

Mit Honduras ratifiziert der 50. Staat den Vertrag zum weltweiten Verbot atomarer Massenmordwaffen. Damit wird das Atomwaffenverbot am 22. Januar 2021 universell gültiges Völkerrecht. Ein besseres Geschenk zum 75. Geburtstag der UNO, deren Charta am 24. Oktober 1945 in Kraft trat, hätte es kaum geben können. Das ist ein «Sieg für die Menschheit», wie Peter Maurer, der ansonsten eher nüchterne Schweizer Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), zu Recht festgestellt hat – und ein grosser Erfolg für die vielen hundert an der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen beteiligten Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt.

Schweiz steht abseits

Die NGOs waren es, die das Abkommen initiiert und gegen den massiven Widerstand der USA, Deutschlands und anderer Staaten durchgesetzt hatten. Noch letzte Woche hatte die Trump-Administration zahlreiche Vertragsstaaten schriftlich aufgefordert, ihre Ratifikation rückgängig zu machen. Mit der Begründung, ein weltweites Verbot von Atomwaffen schwäche den seit 1970 bestehenden NPT-Vertrag, der lediglich die Weitergabe dieser Massenmordinstrumente untersagt. Mit dieser Falschbehauptung hatte auch die deutsche Bundesregierung vergeblich versucht, das Verbotsabkommen zu verhindern. Der Schweizer Bundesrat machte nach seiner anfänglichen Zustimmung zum Abkommen eine Kehrtwende und verweigerte die Ratifikation mit der Begründung, die Schweiz sei auf die atomare Schutzgarantie der NATO angewiesen. Nun heisst es aus Berlin und Bern, ohne Teilnahme der acht bis neun existierenden Atomwaffenstaaten sei das Abkommen nutzlos, und ein Beitritt Deutschlands oder der Schweiz würden daran nichts ändern. Die Regierung Merkel behauptet zudem, ein Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbot sei nicht vereinbar mit der Mitgliedschaft in der NATO, die eine gemeinsame Politik zur Abschreckung mit und dem eventuellen Einsatz von Atomwaffen betreibt.

Verträge setzen Druck auf

Diese Argumentationen stehen im Widerspruch zur Entstehungsgeschichte und der Entwicklungsdynamik zahlreicher Abkommen zur Rüstungskontrolle und anderer Fragen aus den letzten 75 UNO-Jahren. Erst mit dem Inkrafttreten dieser Abkommen wuchs der politische und moralische Druck auf die zunächst abseits stehenden Staaten, diesen Verträgen ebenfalls beizutreten. Für den Beitritt Deutschlands und anderer NATO-Mitglieder zum Atomwaffenverbot haben sich inzwischen zwei ehemalige Generalsekretäre der NATO sowie 55 ehemalige Aussen- und Verteidigungsminister aus 20 Mitgliedsstaaten der Allianz ausgesprochen. Mit ihrer hartnäckigen Weigerung schürt die Bundesregierung den Verdacht, sie wolle die Option auf eine Mitverfügung Deutschlands über Atomwaffen im Rahmen einer künftigen gemeinsamen atomaren Abschreckungskapazität der EU offenhalten.

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Oben      —       The BADGER explosion on April 18, 1953, as part of Operation Upshot-Knothole, at the Nevada Test Site.

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Türkei in Nordsyrien

Erstellt von Redaktion am 27. Oktober 2020

Türkische Kriegsvorbereitungen auf Nordsyrien

__ Gebiete und Städte unter Kontrolle der türkischen Streitkräfte und der Freien Syrischen Armee

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Civaka Azad

Seit vergangener Woche haben die Türkei und ihre dschihadistischen Verbündeten der sogenannten „Syrischen Nationalarmee” (SNA) ihre Angriffe auf Ain Issa im Autonomiegebiet Nordostsyriens massiv ausgeweitet. Mehrere Versuche, die Stellungen des örtlichen Militärrates zu umgehen und die Kleinstadt zu infiltrieren, wurden von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) vereitelt. Diese jüngsten Angriffe, bei denen vor allem zivile Siedlungen und Dörfer entlang der Schnellstraße M4 und auch das Flüchtlingslager Ain Issa angegriffen wurden, zeigen besonders deutlich die rasanten Kriegsvorbereitungen der Erdogan-Regierung gegen Nord- und Ostsyrien.

Die jüngsten Angriffe, bei denen immer wieder auch türkische Aufklärungs- und Kampfflugzeuge zum Einsatz kommen, stellen einen Bruch der Waffenstillstandsabkommen dar, welche die Türkei nach ihrem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Nordsyrien mit Russland getroffen hatte. Beobachter der Region vermuten einen möglichen Zusammenhang zwischen der jüngsten Räumung eines türkischen Beobachtungspostens in der Provinz Idlib und den aktuellen Angriffen der Türkei.

Angriffe konzentrieren sich entlang der Schnellstraße M4

Der internationale Verkehrsweg M4 durchzieht den Norden Syriens wie eine Lebensader. Er erläuft etwa 30 Kilometer entfernt von der türkisch-syrischen Grenze und führt von Aleppo bis Mosul im Nordirak und ist insbesondere für die Versorgung der Zivilbevölkerung von größter Bedeutung. Von der M4 aus bestehen Verbindungsstraßen nach Damaskus und in die arabischen Länder. Mit der Einnahme dieser Schnellstraße, die vor allem wegen ihrer relativen Nähe zur Stadt Raqqa und somit zum Tor nach Deir ez-Zor eine Schlüsselposition in den Besatzungsplänen der Türkei einnimmt, würde die Türkei ihren neoosmanischen Träumen näherkommen, ihre Außengrenzen auf alle anderen Städte im Grenzstreifen auszudehnen und Erdöl aus Kerkûk und Deir ez-Zor ans Mittelmeer zu transportieren. Außerdem ließe sich die Ansiedlung von Angehörigen der dschihadistischen Verbündeten des Erdogan-Regimes problemlos gestalten.

UN bestätigen Kriegsverbrechen in türkischen Besatzungszone in Nordsyrien

Seit Jahren thematisieren sowohl die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens als auch Binnenflüchtlinge aus den von der Türkei besetzten Gebieten, insbesondere den Regionen Efrîn und Serêkaniyê (Ras al-Ain), die schweren Menschenrechtsverletzungen durch die türkische Armee und ihre Söldnertruppen.

In einem Bericht der UN-Kommission zu Syrien, der dem UN-Menschenrechtsrat am 14. August vorgelegt worden war, ist von klaren und beweiskräftigen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten Nord- und Ostsyriens durch die türkischen Hilfstruppen der sogenannten „Syrischen Nationalarmee“ (SNA) die Rede. 68 Europaabgeordnete fordern nun in einem offenen Brief an EU-Parlamentspräsident David Sassoli die umgehende Untersuchung der von den UN dokumentierten türkischen Kriegsverbrechen in Nord- und Ostsyrien.

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Erdoğans Führerstaat

Erstellt von Redaktion am 24. Oktober 2020

Tagebuch eines türkischen Exilanten

Changing of the Guard at Anıtkabir.jpg

Von Ali Nail

Kurdische Zivilisten werden aus dem Helikopter gestoßen. Journalisten, die darüber berichten, sind kriminell. Und die Ärztekammer? Voller „Verräter“.

20. September

Ich habe mir Hochzeitsfotos angeschaut. Der Generalstaatsanwalt Yüksel Kocaman hat im Sheraton in Ankara geheiratet. Der Vorsitzende des Kassationshofs, der Justizminister, der Innenminister, der Generalstabschef, der Vorsitzende der Wahlkommission und viele, viele wichtige Männer mehr waren Gäste. Schon die Flitterwochen vor der Hochzeit waren medial präsent: Per Helikopter in die touristische Küstenstadt Bodrum, dort abgestiegen in einem Hotel, das 1.000 Euro pro Nacht kostet.

Im Anschluss an die Hochzeit ging es in den Präsidentenpalast. Tayyip Erdoğan in der Mitte des Brautpaares. Der Fototermin mit dem Präsidenten ist Hochzeitsgeschenk genug. Doch wie kann ein Oberstaatsanwalt, der sich in der Vergangenheit ohnehin wie der ergebene Lakai des Tyrannen aufgeführt hat, beim Dank noch einen draufsetzen? Noch mehr Festnahmen, noch mehr staatlicher Terrorismus? Warum erinnere ich mich jetzt an einen Satz von Innenminister Soylu, der ja auch Trauzeuge der Hochzeit war? „Sie können uns nicht mit Hitler vergleichen. Wir haben niemanden in Gaskammern umgebracht.“

Die Mesopotamische Nachrichtenagentur, deren Webseite in der Türkei gesperrt ist, berichtet über einen Vorfall, der sich vor neun Tagen zugetragen hat. In einem Dorf in der Provinz Van wurden die Dorfbewohner von Soldaten zusammengetrieben und mussten sich niederknien. Zwei Männer, der 55-jährige Servet Turgut und der 50-jährige Osman Şiban, wurden im Militärhelikopter mitgenommen. Erst Tage später konnten Angehörige die beiden in einem Krankenhaus, mehrere Hundert Kilometer vom Dorf entfernt, auffinden.

Ihre Körper entstellt, liegen sie im Krankenhaus. „11 Knochenbrüche, Gehirmblutungen, und Risse in der Lunge hat mein Vater“, sagt der Sohn Turguts. Die Männer wurden vom Helikopter in die Tiefe gestoßen. Der Satz ist menschenverachtend, aber wahr: „Kein Hahn kräht nach irgendwelchen armen kurdischen Bauern.“

25. September

Die exklusiven Flitterwochen, die pompöse Hochzeit und das Fotoshooting mit dem Präsidenten tragen Früchte. In den frühen Morgenstunden schlugen Anti-Terror-Einheiten der Polizei zu. 82 Spitzenfunktionäre der HDP (Demokratische Partei der Völker) wurden festgenommen. Unter ihnen der Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, und der ehemalige Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder, der einst mit der Regierung einen Friedensplan für die kurdische Frage ausarbeitete.

Laut Staatsanwaltschaft stehen die Festnahmen in Zusammenhang mit den Ereignissen im Oktober 2014, bei denen 46 Menschen starben. Die kurdische Grenzstadt Kobani in Syrien stand damals kurz vor der Einnahme durch die Dschihadisten des „Islamischen Staates“. Genüsslich feierte Tayyip Erdoğan den bevorstehenden Fall der Stadt. Die Kurden in der Türkei waren in Aufruhr und die HDP rief zum Massenprotest auf.

Die Festgenommenen werden wohl jahrelang in Untersuchungshaft verbringen, so wie der ehemalige Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş. Der brillanteste Politiker, den die Türkei je gesehen hat, sitzt seit vier Jahren im Gefängnis. „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ ist der Vorwurf. Die HDP erhielt bei den letzten Parlamentswahlen fast 12 Prozent der Stimmen. Vielleicht lässt der Führer sie ja verbieten. Tausende Parteifunktionäre sind ohnehin hinter Gittern.

29. September

Ein Abgeordneter der Opposition hat ein internes amtliches Dokument über Coronafälle in der Türkei publik gemacht. Es handelt sich um eine detaillierte Bestandsaufnahme des 10. Septembers – Anzahl der genehmigten Tests, Testergebnisse usw. Demnach wurden an diesem Tag 29.377 Personen positiv auf Corona getestet. Das ist das Zwanzigfache, was offiziell bekanntgegeben wurde. Die tägliche Verlautbarung des Gesundheitsministeriums spricht für diesen Tag von 1.512 positiv Getesteten.

Quelle       :         TAZ         >>>>>          weiterlesen

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Oben       —       Changing of the Guard at Anıtkabir, Ankara

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Unten       —       https://twitter.com/Smiley007de

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte

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KOLUMNE * MACHT

Erstellt von Redaktion am 17. Oktober 2020

Der Mensch an den Stellschrauben

File:Maischberger - 2016-12-14-7439.jpg

Von Bettina Gaus

Unsere Autorin wünscht sich, an der Wahl für den CDU-Vorsitz teilzunehmen – es geht ja um ihre Zukunft. Warum nicht den Kanzler direkt wählen?

Noch nie habe ich bisher heftige Gefühle bei der Frage entwickelt, wer den Vorsitz der CDU übernimmt. Warum auch? Personalfragen in Organisationen, denen ich distanziert gegenüberstehe, mögen mich inte­ressieren – aber Leidenschaft entsteht da bei mir im Regelfall nicht. Ich fiebere ja auch nicht mit, wenn Machtfragen bei Springer oder Daimler entschieden werden. Zu meiner eigenen Überraschung ist das aber in diesem Jahr beim CDU-Vorsitz anders.

Wenn ich mir das Ringen um den Posten anschaue, dann fühle ich mich ein bisschen wie bei der Beobachtung des Wahlkampfs in den USA. Ob Donald Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnen, hat unmittelbaren Einfluss auf mein Leben – die Chancen für die Bekämpfung der Klimakrise ist eines von vielen Stichworten –, aber dennoch darf ich nicht mitreden. Ich kann nur auf die Vernunft von anderen Leuten hoffen, in dem Fall: der US-Bevölkerung.

Ähnlich ist es jetzt bei der Frage, wer CDU-Vorsitzender wird. Wenn nicht alle Meinungsforschungsinstitute irren und zugleich der Mond vom Himmel fällt, dann stellt die Union den nächsten Kanzler. Entschuldigung, Frau Baerbock, Verzeihung, Herr Scholz. Die Entscheidung über die Führungsspitze der Christdemokraten ist eine wichtige Weichenstellung.

Den Kanzler wird die Union stellen

Das sei doch früher oft auch nicht anders gewesen? Stimmt. Aber damals waren die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Parteien so groß, dass die Frage vergleichsweise unbedeutend schien, wer den Vorsitz in einer Gruppierung hatte, die man ohnehin nicht wählen würde.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass diese Unterschiede inzwischen weitgehend verschwunden sind. Erinnert sich noch jemand, wer in Berlin einen großen Teil des Bestands an öffentlichen Wohnungen an Finanzinvestoren verkauft hat? Genau, es war ein rot-roter Senat. So viel dazu.

Women's March LA 2019 (31864309817).jpg

Sehr lange war ich fest überzeugt, dass Geschichte nicht von einzelnen Personen geschrieben wird, sondern dass es vielmehr Machtverhältnisse und gesellschaftliche Entwicklungen sind, die Verhältnisse ändern. Oft infolge neuer Erfindungen wie der Dampfmaschine. Vielleicht ist diese Sicht auch nicht falsch. Aber wenn – wie derzeit – ein System, nämlich der Kapitalismus, unangefochten ist oder zu sein scheint: dann gewinnen einzelne Personen eben doch an Bedeutung. Und sei es nur, um an einzelnen Stellschrauben zu drehen

Quelle        :        TAZ         >>>>>           weiterlesen

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Unten     —      The third annual Women’s March LA at Pershing Square in downtown on Jan. 19, 2019.

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Über den Zaun geblickt

Erstellt von Redaktion am 14. Oktober 2020

 Das Scharfrichterbeil gegen die direkte Demokratie

Quelle      :        INFOsperber CH.

Niklaus Ramseyer / 14. Okt 2020 –

Beim Rahmenabkommen geht es nicht nur um «drei offene Punkte». Es geht zentral um die «Guillotineklausel» und unsere Souveränität.

Jetzt verlangt auch die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S), der Bundesrat solle beim Entwurf zum EU-Rahmenabkommen (InstA) «die drei noch offenen Fragen (Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen und flankierende Massnahmen/Lohnschutz)» in absehbarer Zeit mit Brüssel «klären, respektive präzisieren». Die Landesregierung will sich diese Woche wieder über das heikle Dossier beugen.

Die alte und die neue Guillotineklausel

Inzwischen stehen allerdings nicht mehr nur die «drei offenen Fragen» zur Debatte. Als «toxisch» (giftig, wie CVP-Präsident Gerhard Pfister es ausdrückt) für das Schweizer Rechtssystem und die direkte Demokratie werden teils auch weitere Elemente des geplanten Rahmenvertrags kritisiert: So etwa die automatische «dynamische» Übernahme des EU-Rechts in den «umrahmten» Verträgen. Aber auch der EU-Gerichtshof (EuGH) als letzte Instanz bei Streitigkeiten. Und vor allem die sogenannte «Guillotineklausel».

Diese Klausel steht folgendermassen in Artikl 22/2 unter dem Titel «Inkrafttreten und Kündigung» des InstA-Entwurfs: «Die Europäische Union oder die Schweiz kann dieses Abkommen durch Notifikation gegenüber der anderen Vertragspartei kündigen.» Aber: «Dieses Abkommen und die Abkommen, die sich auf dieses Abkommen beziehen, treten sechs Monate nach Erhalt dieser Notifikation ausser Kraft.» Das ist darum fatal, weil gemäss seinem Artikel 2 das Rahmenabkommen über alle fünf bestehenden Marktabkommen hinaus (Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse, Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Anerkennung von Konformitätsbewertungen) auch auf die «künftigen Marktzugangsabkommen zwischen den Vertragsparteien anwendbar» sein, sich also «darauf beziehen» soll. Und diese so automatisch auch unter der Guillotine stehen werden.

Diese neue in die Zukunft hinaus ragende «Super-Guillotine», wie sie inzwischen von Kritikern genannt wird, entspricht der ursprünglichen «Knebel-Klausel», welche die Bundesräte Pascal Couchepin (FDP) und Joseph Deiss (CVP) zusammen mit den Bilateralen Verträgen I schon am 21. Juni 1999 unterschrieben haben. Sie ist in allen sieben Abkommen so formuliert: «(4) Die in Absatz 1 aufgeführten sieben Abkommen treten sechs Monate nach Erhalt der Notifikation über die Nichtverlängerung gemäss Absatz 2 oder über die Kündigung gemäss Absatz 3 ausser Kraft.»

All or nothing – «Vögeli friss oder stirb»

Das schien den verantwortlichen Bundesräten damals unproblematisch, weil sie ohnehin den baldigen EU-Beitritt der Schweiz erwarteten – oder erhofften. Inzwischen ist dieser jedoch bei nicht einmal mehr zehn Prozent Zustimmung in der Schweizer Stimmbevölkerung definitiv zur Illusion geworden. Die «hässliche Guillotineklausel» jedoch, welche die NZZ jetzt gerade wieder als «mörderischen Vorbehalt» (16. Sept. 2020) bezeichnet hat, ist geblieben. Sie verhindert seither wirksam jegliche nüchtern-sachliche Diskussion über einzelne Verträge der Schweiz mit der EU. Statt die Frage zu diskutieren, ob etwa der Vertrag über den freien Personenverkehr oder jener über den Verkehr (Schwerverkehrsabgabe) neu verhandelt und angepasst werden solle, stehen immer gleich sämtliche sieben Abkommen zur Disposition.

Das zeigte sich auch wieder vor der Abstimmung über die Begrenzungs- oder Kündigungs-Initiative der SVP: Bei der letzten Umfrage vom 15. September nannten (gemäss swissinfo) «die meisten der befragten InitiativgegnerInnen den drohenden Wegfall aller Bilateralen I aufgrund der Guillotineklausel als Hauptmotiv, die Vorlage abzulehnen». Der Bundesrat – allen voran die federführende Schweizer Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) – hatte die Alles-oder-nichts-Klausel ihrerseits im Abstimmungskampf als wichtiges Argument benutzt. Hierzulande nennt man das: «Vögeli friss, oder stirb!»

Grundsätzlich «Wahrung der direkten Demokratie»

Was die freisinnige Bundesrätin handkehrum nicht daran hinderte, die Schweizer Unterschriften unter die fatale Guillotineklausel von 1999 auch zu bedauern. Doch im Entwurf zum Rahmenabkommen steht diese «Guillotine» nun gleich wieder drin. Und noch auf alle künftigen Verträge «erweitert». Sie macht folgende Deklaration in der Einleitung des Rahmenabkommens auf Seite 2 zum Lippenbekenntnis: Die Vertragsparteien seien «entschlossen», besonders in Bezug auf die Schweiz «Grundsätze der direkten Demokratie und des Föderalismus» zu «wahren».

Guillotine in Gravensteen castle.jpg

Grundsätze schon. Im Detail jedoch kommen die direktdemokratischen Rechte des Volkes, die in unserem Land gelten, dann nur noch als Pflichten der Regierung vor – als «verfassungsrechtliche Verpflichtungen». Konkret: «Erfordert die Änderung des betroffenen Abkommens die Erfüllung verfassungsrechtlicher Verpflichtungen» (Art. 14. 3), so verfüge die Schweiz dafür über «eine Frist von höchstens zwei Jahren, wobei sich diese Frist im Falle eines Referendums um ein Jahr verlängert». Formal werden wir also über die «dynamische Übernahme» von EU-Recht abstimmen können. Faktisch aber nur zustimmen und absegnen. Weil sonst die «erweiterte Guillotine» gleich das gesamte Vertragswerk köpft. Die EU mag dabei zudem nicht einmal auf den Volksentscheid warten: Bis zur «Erfüllung ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtungen durch die Schweiz wenden die Vertragspartner die Änderungen vorläufig an», steht in Absatz 2, desselben Artikels.

Mit Guillotineklausel gegen Initiative der Grünen

«Vorläufige Anwendung» der Gesetze (wenn die Schweiz nicht begründet eine Ausnahme geltend macht) noch vor der Volksabstimmung: Da wird dem Einspruch des Schweizer Souveräns also schon mal die aufschiebende Wirkung entzogen. Diese Anomalie zeigt, wie wenig Brüssel von direkter Demokratie versteht und hält.

Und das nächste Opfer des völkerrechtlichen EU-Fallbeils steht schon vor dem Schafott: Diesmal ist die «Initiative gegen Massentierhaltung» der Grünen bedroht. Diese ist eingereicht. Sie will die industrielle Tierproduktion in der Schweiz entscheidend einschränken – und den Tierschutz massiv verbessern. Weil die neuen Regeln aber auch für importierte Tierprodukte gelten sollen, sieht der Bundesrat damit das Agrarabkommen mit der EU bedroht. Und wegen der Guillotine auch gleich alle Bilateralen I. Das Badener Tagblatt berichtete darüber (29. Aug. 2020) unter dem Titel: «Grüner Angriff auf die Bilateralen.»

So bedroht die EU-Guillotine zusehends die direktdemokratischen Rechte in der Schweiz. Das sorgt für Ärger. Wie auch der Artikel 4 «Grundsätze der einheitlichen Auslegung» im InstA-Entwurf bei Schweizer PolitikerInnen, JuristInnen und Diplomaten zusehends Kritik erntet: Diese Auslegung erfolge nämlich «gemäss» (…) der Rechtssprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union». Mehr noch: Für das ausführlich im Entwurf dargestellte paritätische «Schiedsgericht» mit je zwei Vertretern der EU und der Schweiz unter einem neutralen Präsidenten gilt gemäss Artikel 10. 3 in vielen Fällen ebenfalls: «Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für das Schiedsgericht verbindlich.» Kritiker des geplanten Abkommens argumentieren, das wäre etwa so, wie wenn ein Fussballteam den Schiedsrichter gleich selber im Mannschaftsbus zum Spiel mitbringen würde – oder jedenfalls den Video-Assistenten.

«Ergänzungen» und «Erklärungen» reichen nicht

Damit ist nun über die vom Ständerat erneut bemühten «drei noch offenen Fragen» hinaus so viel grundsätzlich «Toxisches» und Problematisches zusammengekommen, dass «Ergänzungen» und «Erklärungen» zum InstA-Entwurf kaum mehr ausreichen. Es brauche «neue Verhandlungen» fordert darum der Gewerkschaftsbund. CVP-Chef Pfister nennt die «Souveränität» der Schweiz als «grundlegendes Problem» im Entwurf. Und selbst die SP fordert Nachverhandlungen. Noch-SP-Chef Christian Levrat betonte der NZZ gegenüber, ein Scheitern des vorliegenden Vertrags wäre «kein Drama» und sicher «nicht das Ende der Welt». Ohnehin sei in unserem Land «die EU-Euphorie verflogen» – sogar auch in seiner eigenen, bisher EU-freundlichen SPS.

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Giftmischer am Werk

Erstellt von Redaktion am 14. Oktober 2020

Abgedreht: Merkel, Scholz, Maas, Navalny

Datei:Degenhardt - Pressefoto 2016 - 1.jpg

Die Giftmischer der Politik

Quelle        :      Scharf   —   Links

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Mit dieser Regierung ist kein Staat zu machen und von ARD-aktuell kein Journalismus zu erwarten

„Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge“ (1), fand Willy Brandt, erster der vier sozialdemokratischen Außenminister (2) in der 71jährigen Geschichte der Bundesrepublik – und deren einziger rühmlicher. (3) Nach ihm und nach jahrzehntelanger Pause hielt die Degeneration der SPD auch Einzug im Außenamt. Auf dem absteigenden transatlantischen Ast ließen sich Frank-Walter Steinmeier, hernach Sigmar Gabriel und schließlich Heiko Maas nieder. Danach kann nur noch Mickymaus kommen. Unfasslich, aber wahr: Im krassen Gegensatz zu Brandt – dessen Ostpolitik war auf Entspannung und Friedenssicherung gerichtet – sucht Maas heute Provokation und Konfrontation mit Russland. Er hat Kanzlerin Merkels Segen. Beide setzen erwartungsfroh aufs kurze Gedächtnis ihrer Wähler – oder auf deren Apathie. Zeit, dass wir die Erinnerung an ein paar der übelsten Machenschaften dieses Gespanns stützen. Die Tagesschau bringt´s ja nicht.

Für Agnostiker und Sonstige: Die Gott-ist-tot-Theologie ist belegt. Lebte der Allgütige noch, dann hieße Maas mit Vornamen Heini und wäre nicht Außenminister. Sein ideeller Hoflieferant Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP (4), wäre ungeboren geblieben oder hätte zumindest keine transatlantisch-imperialistische AgitProp vom Stapel gelassen wie diese:

Der Fall Nawalny fügt sich in ein zunehmend negatives Bild Russlands im Westen ein, das durch den Skripal-Anschlag, den Tiergartenmord, die Hackerangriffe auf den Deutschen Bundestag und die Einmischungsversuche in die Wahlkämpfe verschiedener westlicher Staaten geprägt ist.“ (5)

Keine dieser Bezichtigungen ist mit Tatsachen belegt. Nicht einmal halbwegs diskutable Indizien sprechen für sie. Die Anwürfe wurden in den Giftküchen westlicher Geheimdienste und Propaganda-Apparate kreiert, nach einer Rezeptur, die dem AgitProp-Großmeister Joseph Goebbels zugeschrieben wird, obwohl es keine Primärquelle dafür gibt:

Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben. … Deshalb ist es von lebenswichtiger Bedeutung für den Staat, seine gesamte Macht für die Unterdrückung abweichender Meinungen einzusetzen … die Wahrheit (ist) der größte Feind des Staates.“ (6)

Es geht der Kumpanei von bedenkenlosen Mainstream-Journalisten und hinterhältigen Politstrategen mit dem eingangs zitierten Befund um die Verfestigung russlandfeindlicher Einstellungen und die Unterdrückung davon abweichender Meinungen. (Anm.5) Auf diesem Feld macht auch der „Faktenfinder“ seinem Namen und der Institution der ARD-aktuell besondere Unehre, wie sein Beitrag über Nawalny zeigt. (7)

Giftmischer am Werk

Prüft man die Behauptungen auf Tatsachengehalt und logische Konsistenz, dann kommt rein gar nichts dabei heraus. Dröseln wir´s auf:

Der Skripal-Fall ist nicht geklärt. Die britischen Behörden haben Vater und Tochter Skripal einfach verschwinden lassen. Die Gruselmär vom Nowitschok-Attentat auf die Beiden, ausgeführt von erfundenen russischen Geheimdienstkillern nach Drehbuch von James Bond-Filmen, war rundum derart unhaltbar geworden, dass man sie einfach aus den Schlagzeilen verbannte und den „Fall“ der Vergessenheit überließ. War da noch was? (8)

Der „Tiergartenmord“ – Käseblattjournalisten lassen sich ums Verrecken nicht von diesen depperten Metaphern abbringen, Tagesschau-Redakteure schon gar nicht (9) – genauer: Motiv und Hintergründe der Ermordung eines dschihadistischen Gewaltverbrechers im Berliner Tiergarten – ist ebenfalls absolut unklar. (10) Auf der Anklagebank sitzt ein Russe, von dem man nicht mal den Namen mit Bestimmtheit weiß. Auf Basis hauchdünner, reichlich konstruiert wirkender Indizien behauptet der Generalbundesanwalt als oberster, jedoch weisungsgebundener Kläger der Regierung, der Beschuldigte sei ein geheimdienstlicher Auftragsmörder. (11) Mehr ist nicht.

Nach wie vor unbekannt sind die Verantwortlichen für die Hacker-Angriffe auf den Bundestag. (12) Hochprofessionelle Hacker lassen sich nun mal nicht einfach aufspüren, sie können immer falsche Spuren legen. Natürlich verdächtigt unsere politische Funktionselite so kaltschnäuzig wie beweislos den russischen Geheimdienst. Russophobie bis unter die Haarspitzen. Erwiesen hat sich hingegen, dass die US-amerikanischen Schnüffeldienste bei uns längst Hausmeister sind und die NSA sogar das Handy der Kanzlerin abgriff. Der Merkel-Satz „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht“ (13, 14) gehört als weltweit dämlichste Stellungnahme eines Spitzenpolitikers zu einem geplatzten Geheimdienstangriff auf seinen Staat ins Guinnessbuch der Rekorde.

Auch die angeblichen russischen Einmischungsversuche in ausländische Wahlvorgänge sind nachweislich nur Propagandaböller. Sie dienen jedoch fortwährend zur Rechtfertigung zunehmender staatlicher Kontrolle über den öffentlichen Meinungsaustausch. Die vom US-Kongress veranlassten Muller-Untersuchungen gegen Trump haben zweifelsfrei ergeben, dass an der intriganten Kabale namens „Russiagate“ nichts Wahres war. (15) Dennoch wird den Russen auch von deutscher Seite nach wie vor unterstellt, sie versuchten demokratische Prozesse im Ausland zu manipulieren.

Gaddafi merkel kuss web.jpg

An Widersprüchlichkeit, Stupidität und Realitätsferne wie an Feindseligkeit und Gefährlichkeit unerreicht sind die Storys unterm Rubrum Nawalny-Experiment.

Der Faktenfinder der ARD-aktuell hat in Erfüllung seines AgitProp-Auftrags die Einflussagentin Silvia Stöber Gift spritzen lassen, eine Autorin mit privilegiertem Arbeitsvertrag und bescheidener, von der Konrad-Adenauer-Stiftung geschulter Sichtweise. Ihr Artikel beweist, wie billig man Fakten mit Meinung ersetzen und gutes Geld mit schlechtem Journalismus machen kann. (Anm. 7)

Inkompatibilität, was ist das?

Dass auch im Journalismus Unvereinbarkeitsregeln gelten, hat sich ersichtlich nicht bis zur ARD-aktuell-Chefredaktion und erst recht nicht bei den zuständigen NDR-Rundfunkräten herumgesprochen. Über Stöber ist eigentlich bekannt, dass sie in Georgien an einer Regierungskonferenz teilnahm, die vom Atlantic Council, dem German Marshall Fund of the United States und der Konrad Adenauer Stiftung unterstützt wurde. Wohlgemerkt: Die ARD-Journalistin agierte dort nicht als Berichterstatterin, sondern als Mitwirkende an der Seite von Ministern und NATO-Generälen. (16)

Der zweite Autor des in Rede stehenden Beitrages (Anm. 7) ist Patrick Gensing, Redaktionsleiter des Tagesschau-Faktenfinders. Von ihm weiß man aus eigenem Bekenntnis, wes Geistes Kind er ist:

Ich glaube, dass man die Leute eher gewinnen kann, wenn im Journalismus eine Haltung vertreten wird, als wenn man da irgendwie einfach nur Fakten angehäuft werden. (sic) Das ist in meinen Augen auch überhaupt nicht Journalismus.“ (17)

Ach so. Gesinnung also statt Fakten. „Leute gewinnen“ statt informieren. Die neue Maßeinheit für miesen Journalismus im übergesetzlichen Notstand:  der „Gensing“. Der werte Kollege glaubt doch tatsächlich, er dürfe die staatsvertragliche Pflicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu faktenorientierter, objektiver Berichterstattung in faktenfreie Beeinflussung umkehren. Wenn er das nicht auch noch im Qualitätsdeutsch eines BILD-Reporters gestammelt hätte, würde man zum Schreikissen greifen.

Seine „Haltung“ zeigt er reichlich ungeniert:

„Russland weist stets jede Beteiligung zurück – und schlägt mit Desinformation zurück… Attacken, Vorwürfe – aber keine Angaben zum eigentlichen Thema …: So reagierte Russland oft, wenn der Kreml in der Kritik stand.“

Gensing und Seinesgleichen demonstrieren damit ein absurdes Rechtsverständnis: Wenn Russland nicht beweist, dass die Beschuldigungen unzutreffend sind, dann stimmen die eben. Der Beitrag ist gespickt mit derlei Anwürfen unter Beweislast-Umkehr: „…offenbar von russischen Behörden…, „…mutmaßlich …“, „… es könnte sich um Rache handeln …“

Es zeichnet diesen „Faktenfinder“ aus, dass er keine Fehler einräumt und Falsches nicht richtigstellt. Die fraglos russlandfeindlichen Aussagen der Regierung reflektiert er als unstreitig zutreffend, auf Gegenrecherche und Berücksichtigung der russischen Sichtweise verzichtet er konsequent.

Ohne Ehrgefühl

Auf politischen Konformismus abgerichtete Journalisten interessiert eben nicht, warum die Bundesregierung sich weiterhin weigert, den russischen Ermittlern Zugang zur deutschen Untersuchung des Nawalny-Vorfalls und den vorläufigen Ermittlungsergebnissen zu gewähren. Mehrere russische Rechtshilfeersuchen „prüft“ die Berliner Justizverwaltung seit Wochen, erfüllt ist bisher keines. (18) Dabei liegt doch nahe, die Blut-, Urin- und Gewebeproben, die dem Patienten Nawalny im Krankenhaus Omsk und danach in der Berliner Charité entnommen wurden, noch einmal von unabhängigen Instituten außerhalb Russlands und Deutschlands abgleichen und prüfen zu lassen. So käme man der Wahrheit auf die Spur. (19) Die deutsche Weigerung kann nur einen Grund haben: Merkel, Seibert, Maas & Co. haben etwas zu verbergen, sagen die Unwahrheit und manipulieren die Öffentlichkeit. Eine schlechte Kopie der britischen Skripal-Farce.

Nawalny, der „führende Oppositionspolitiker“, kam ihnen nun in die Quere, unverfroren pöbelnd, wie man ihn halt kennt. Knapp vier Wochen nach seiner vorgeblichen lebensgefährlichen Vergiftung mit Nowitschok sonnt er sich erwartungsgemäß und mopsfidel wieder in medialer Aufmerksamkeit. Ungeachtet seiner medizinischen Erste-Klasse-Versorgung in Deutschland und des ihm gewährten, extrem teuren Personenschutzes, ungeachtet der deutschen Gastfreundschaft, die auch seine Angehörigen und seine politische Entourage einbezog, erdreistete er sich, im Gespräch mit dem Schmutzblatt BILD den Alt-Kanzler Gerhard Schröder als korrupten, aus Schwarzen Kassen bezahlten „Laufburschen Putins“ zu beschimpfen. (20)

Bundeskanzlerin Merkel hätte die Anwürfe umgehend zurückzuweisen müssen, schon aus Selbstachtung und aus Respekt vor der Würde des Amtes, das Schröder vor ihr bekleidet hatte. Nawalny hat sein Gastrecht missbraucht. Schon deshalb hätte Merkel ihn auffordern müssen, das Land zu verlassen. Desgleichen waren Vizekanzler Olaf Scholz und die SPD-Vorsitzenden gefordert, klare Kante zu zeigen. Aber auch sie bestätigten nur ihre Stillosigkeit und Mangel an Ehrgefühl.

Und wie verhielten sich ARD-aktuell und die anderen Medien des Mainstreams angesichts dieses Skandals? Sie schienen ihn feixend zu goutieren. Ihr auffällig neutrales Wiederkäuen des Groschenblatt-Interviews konnte nicht darüber hinwegtäuschen.

Großmaul im Staatsschutz

Größere Verkommenheit und weitergehender Verzicht auf politischen Anstand waren nicht denkbar. Ein rassistisches Großmaul, zuhause mehrmals vorbestraft, unter anderem wegen Steuerbetrugs, gerade erst einen Monat vor dem angeblichen Nowitschok-Attentat mit dem Politreklame-Institut „FPK“ pleite gegangen (21), darf sich weiterhin auf Staatskosten unbesorgt in Deutschland erholen. Toll. Merkel kann von Glück sagen, dass Schröder ihr erspart, ihren Protegé Nawalny auch noch vor deutscher Strafverfolgung wegen Verleumdung in Schutz nehmen zu müssen; die politischen Kollateralschäden der Nawalny-Affäre für Deutschland sind schon genug. (22) Schröder ist lediglich gegen BILD zivilrechtlich vorgegangen. Nawalny ist zu klein für eine Begegnung vor Gericht.

Auch Norbert Röttgen, Nullnummer im Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, schaffte es nicht, Schröder zu provozieren. Sein Geifern:

„Dass sich Gerhard Schröder, der ja in bezahlten Diensten im russischen Öl- und Gasgeschäft steht, an der Vertuschung und Verwischung der Verantwortung, die in Russland liegt, beteiligt, erfüllt in Deutschland viele mit Scham. (…) Das trifft auch für mich zu.“ (23, 24)

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Hatte der sich so gschamig gebende Herr, selbst Laufbursche der Amis auf der „Atlantikbrücke“, nicht anno 2006 neben seinem Bundestagsmandat unbedingt auch noch Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie werden wollen, weil er den Hals gar nicht voll genug kriegen konnte?

Wuppertal Elisenhöhe 2018 047.jpg

Aus einem anderen trüben Tümpel quakt der sozialdemokratische „Russlandexperte“ Gernot Erler. Putin solle beweisen, dass staatliche russische Stellen nicht in den Nawalny-Fall verwickelt seien. Schröder habe zwar recht, wenn er sage, dass es keine gesicherten Fakten gebe. Aber:

„Wenn man rein rechtlich das betrachtet, rein juristisch, ist das zutreffend, aber natürlich nicht politisch. … Es ist auch schwer beweisbar, dass Putin hinter diesem Anschlag steht. Aber die politische Verantwortung ändert sich ja dadurch nicht und der muss sich Russland stellen. Und da können wir nicht länger akzeptieren, dass dieser Spruch, der immer wieder kommt – „keine Beweise“ – dann die einzige Antwort ist”. (25)

Zu Brandts und Wehners Zeiten hätte ein sozialdemokratischer Exponent für diese gleichermaßen hinterhältige, diffamierende und dummdreiste Sprücheklopferei von seiner Parteiführung eine Abreibung der Extraklasse bekommen. Heute sind solche rechtsdrehenden Absonderungen politische Norm. Würde „der Kreml“ sich derartige Denkweisen zu eigen machte, könnte er Kanzlerin Merkel politisch und den deutschen Staatsschutz juristisch für jeden relevanten Mord hierzulande verantwortlich machen, vom Attentat beim Münchner Oktoberfest bis zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheid-Platz; Moskau könnte – nach dem Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ – unter Hinweis auf rechtsextreme Netzwerke im deutschen Sicherheitsapparat und auf deutsche Demokratiedefizite Sanktionen verhängen, beispielsweise mal den Gashahn zudrehen.

Die Sanktionitis ist endemisch

Womit wir wieder zu Maas kommen, fast wäre er uns durchs Sieb gefallen. Seine sanktionsbewehrten Demarchen sind ja im Grund nur hochfrequente Hilfeschreie, ihn doch bitte bitte endlich auch für voll zu nehmen. Ob mit Vorstößen in der UNO, in Syrien, in Libyen, in der Ukraine oder in Weißrussland, die südamerikanischen und die fernöstlichen Gefilde nicht zu vergessen: Überall hat der Mann nur Pups im Parfümladen gespielt, statt seines Amtes zum Nutzen unseres Landes zu walten. Jetzt hat er doch tatsächlich mithilfe Frankreichs neue EU-Sanktionen gegen ein paar vermeintlich schuldige russische Amtsträger erwirkt. Beflissen bot sich ihm die Tagesschau als Bühne an, auf der er wieder Warmluft ablassen konnte. (26) Nun denn, wenigstens fordert er nicht mehr, über den Verzicht auf die Fertigstellung der Gasrohrleitung Nord Stream 2 nachzudenken.

Moskau hat natürlich Gegensanktionen angekündigt. Originell wäre es, unserem Staatsgast Nawalny bis zur einwandfreien Klärung des vorgeblichen Nowitschok-Anschlages die Rückkehr nach Russland zu verweigern. Dann müsste Heikos Kabinettskollege Horst Seehofer schauen, wie er mit dem „bedeutendsten russischen Exil-Oppositionspolitiker“ und dessen Effekthaschereien klarkommt.

Nicht ausgeschlossen ist, dass Maas aus schierer Geltungssucht selbst von den Oliv-Grünen abkupfert: Deren „Experte“ Stefan Meister nämlich, wohlbestallter Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, verstieg sich zu der Empfehlung, Russland mit einer „robusten EU-Mission“ in der Ost-Ukraine unter Druck zu setzen. Einen völkerrechtswidrigen Krieg beginnen, um einen der westlichen Geschäftemacherei hinderlichen Bürgerkrieg in der Ukraine zu beenden: Auf solche hirnrissigen Einfälle kann nicht mal Maas ohne grüne Nachhilfe kommen. (27, 28, 29)

Zu Beginn unserer Überlegungen hatte der aufrichtige Friedenspolitiker Willy Brandt das Wort. Am Schluss wollen wir Frank-Walter Steinmeier zitieren, einst Handlanger in Schröders völkerrechtswidrigem Angriffskrieg auf Jugoslawien, später Mitwirkender an der Vorbereitung des blutigen Staatsstreichs in Kiew. Heute gibt er die pastoral säuselnde Silberpappel:

„Feindbilder, Stimmungsmache und Kampagnenjournalismus sind ein Missbrauch dieser vierten Gewalt, ebenso wie eine fortgesetzte Verletzung der Sorgfaltspflicht“ (30)

psalmodierte er bei der Eröffnung des Springer-Neubaus am 6. Oktober in Berlin. Er muss längst nicht mehr befürchten, dass ihm ein Journalist den Spiegel vorhält. Berufen zu dergestalt kritischem Nachrichtenjournalismus wären die Redakteure im ARD-Hauptstadtstudio. Aber – wir sagten das eingangs schon – die bringen es einfach nicht.

Quellen und Anmerkungen:

(1)   https://www.zitate.de/autor/Brandt%2C+Willy

(2)   In dieser Reihe ist Helmut Schmidt nicht berücksichtigt, er hatte das Amt im Herbst 1982 nur 17 Tage übergangsweise inne.

(3)    https://www.auswaertiges-amt.de/de/aamt/geschichte-des-auswaertigen-amts/aussenminister-node

(4)  https://dgap.org/de/forschung/publikationen/europaeische-ostpolitik-mit-augenmass

(5)  https://dgap.org/sites/default/files/article_pdfs/dgap-policy_brief-2020-19-de_6.pdf

(6)  https://beruhmte-zitate.de/zitate/1974292-joseph-goebbels-wenn-man-eine-grosse-luge-erzahlt-und-sie-oft-genug/

(7)  https://www.tagesschau.de/faktenfinder/russland-nawalny-desinformation-101.html

(8)  https://www.heise.de/tp/features/Und-die-Skripals-4619504.html

(9)  https://www.tagesschau.de/suche2.html?query=Tiergartenmord&sort_by=date

(10)  https://www.tagesschau.de/inland/prozess-tiergartenmord-russland-103.html

(11)  https://www.anti-spiegel.ru/2020/tiergartenmord-wie-der-spiegel-propaganda-als-enthuellungen-verkauft/

(12)   https://de.wikipedia.org/wiki/Hackerangriffe_auf_den_Deutschen_Bundestag

(13)  https://rp-online.de/politik/deutschland/nsa-ausschuss-mein-name-ist-angela-dorothea-kasner_aid-19267741

(14)  https://programm.ard.de/TV/Programm/Sender/?sendung=2810676942639

(15)  https://www.heise.de/tp/features/Die-Mueller-Daemmerung-4353673.html

(16)  https://linkezeitung.de/2018/03/20/ard-im-tiefschlaf-das-seltsame-desinteresse-an-einer-aufklaerung-der-maidan-morde/

(17)  https://www.vocer.org/patrick-gensing-medien-duerfen-keine-aengste-schueren/

(18)  https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/news-von-heute–russland-schickt-drittes-rechtshilfeersuchen-wegen-nawalny-9431310.html

(19)   https://www.heise.de/tp/features/Informationskrieg-ueber-mutmassliche-Nawalny-Vergiftung-4925886.html

(20)  https://www.nachdenkseiten.de/?p=65630

(21)  https://www.fairobserver.com/region/europe/dmitri-gorelov-alexei-navalny-poisoning-anti-corruption-foundation-smart-voting-russia-elections-2020-news-15211/

(22)  https://www.nachdenkseiten.de/?p=64877

(23)   https://www.nachdenkseiten.de/?p=65630

(24)   https://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_R%C3%B6ttgen

(25)  https://www.deutschlandfunk.de/schroeder-und-putin-eine-maennerfreundschaft-ohne.694.de.html?dram:article_id=485436

(26)  https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-39525.html

(27)  https://dgap.org/sites/default/files/article_pdfs/dgap-policy_brief-2020-19-de_6.pdf

(28)  https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8404/

(29)  https://kenfm.de/deutsche-aussenpolitik-gedopt-durch-ecstasy-oder-chrystal-meth-von-hermann-ploppa/

(30)   https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/10/201006-Axel-Spinger-Neubau.html;jsessionid=B633859DC2F5097E1C702F85A8EFEE58.1_cid370

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

Urheberrecht
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Grafikquellen       :

Oben      —       Degenhardt – Pressefoto 2016 – 1.jpg

Pressefoto des Rappers Degenhardt

Urheber Lukas Wiegand       —     Quelle :  Heart Working Class
w:de:Creative Commons
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2. von Oben           —       Illustration/political cartoon portraying Libyan dictator Muammar al-Gaddafi and German Chancellor Angela Merkel kissing one another.

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Coventry am 14.11.1940

Erstellt von Redaktion am 11. Oktober 2020

Erinnerung an ein deutsches Kriegsverbrechen

A wrecked bus stands among a scene of devastation in the centre of Coventry after the major Luftwaffe air raid on the night of 14-15 November 1940. H5593.jpg

Quelle        :      Scharf   —   Links

Von René Lindenau

Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist eine Geschichte des Terrors. Und der kam auch aus der Luft. Eine verheerende Rolle in diesem – Kriegstheater – sollte die englische Stadt Coventry spielen. Am Morgen des 14. November 1940 wurden die Luftflotten 2 und 3 angewiesen, in der Nacht die mittelenglische Industriestadt anzugreifen. Insgesamt kamen 515 Bombenflugzeuge von Görings Luftwaffe zum Einsatz. Am Ende der Aufführung der„Operation Mondscheinsonate“ hatten 586 Menschen, meist Zivilisten ihr Leben verloren. Ferner gab es 1.000 Verletzte, wurden 4.000 Wohnungen vernichtet, Teile der Fabriken beschädigt und zwei Krankenhäuser schwer getroffen. Fast vollständig zerstört wurde mit der St. Michel´s Kathedrale ein berühmtes Wahrzeichen. Bewirkt haben dieses Vernichtungswerk etwa 500 Tonnen Sprengbomben kombiniert mit 30 Luftminen und 36.000 Brandbomben. (siehe Militärgeschichte Extra, Sonderheft 13, 2020). Einer der Regisseure dieses Grauens, um im Bild zu bleiben, war Generalfeldmarschall Albert Kesselring, der von Januar 1940 bis Juni 1943 die Luftflotte 2 befehligte. In den Folgejahren „bewährte“ er sich noch an weiteren Kriegsschauplätzen (Sowjetunion, Afrika, Italien). Die Duldung von Geiselerschießungen in Italien und seine Befehle zur „Bandenbekämpfung“ brachten ihm 1947 das Todesurteil ein. Zunächst wurde er begnadigt und die Strafe wurde mehrfach verkürzt. Letztlich wurde Hitlers Vollstrecker 1952 freigelassen. Kesselring konnte so 1960 in Frieden sterben, so viel Glück hatten die Opfer seiner Verbrechen nicht. Zynismus hat ja bis heute eine lange Tradition im deutschen Militär und in der deutschen Politik.

Doch zurück zum Tathergang in Coventry. Der britische Kriegspremier Winston Churchill beschrieb die damalige Szenerie in seinem Buch „Der Zweite Weltkrieg“ unter anderem so: „Alles in allem war dies der verheerendste Angriff, den wir zu erdulden hatten. Das Zentrum von Coventry war in Trümmern, das Leben der Stadt für eine Zeitlang völlig aus den Fugen geraten.(…) Die deutschen Sender erklärten, unsere übrigen Städte werden gleichermaßen „coventrisiert“ werden“. Wenden wir uns nun den sachdienlichen Hinweisen zu, die der DDR-Militärhistoriker, Prof. Olaf Groehler in seinem Werk „Geschichte des Luftkriegs 1910-1980“ (Militärverlag der DDR, 1981) dazu gemacht hat. Groehler konnte sich bei seinen Ausführungen auf einen umfassenden Bericht der Luftflotte 3 stützen, der in den Akten vorlag:.„Der Angriff wurde eröffnet von 13 He-111 der Kampfgruppe 100, die gegen 18:15 Uhr die britische Küste überflogen und um 20:20 Uhr Coventry erreichten. Ihre Hauptaufgabe war es, Brände zu entfachen, um das Ziel für die folgenden Bombengeschwader „auszuleuchten“.(…) Der Angriff zog sich bis gegen 3 Uhr hin. Besatzungen des Kampfgeschwaders 1, die gegen 3:30 Uhr Coventry angriffen, meldeten „Ganze Stadt Coventry wie ein Flammenmeer“.(…) Zum ersten mal in diesem Krieg war ein Stadtzentrum weitgehend eingeäschert worden“ (siehe Seite 283).

Operation Moonlight Sonata- Bomb Damage in Coventry, November 1940 H5599.jpg

Das zuvor schon besprochene Vorkommnis, A. Kesselring, hat nach dem Krieg behauptet, jener Angriff habe nur der Flugmotorenindustrie der Stadt gegolten und damit nicht der Zivilbevölkerung Er bedauerte sogar auf „tiefste“ dass dabei viele Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Aber wen kann man glauben? Hitlers loyalen Gefolgsmann oder den Piloten, deren Bomben bei guter Erdsicht befehlsgemäß, zuerst auf das Zentrum fielen? Sollte hier nicht vielmehr an der Legende von einer „sauberen“ Wehrmacht gestrickt werden? Aber die ist längst durch die Maschen gefallen.

Cottbus, 9.10.2020 René Lindenau

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Oben         —      A wrecked bus stands among a scene of devastation in the centre of Coventry after the major Luftwaffe air raid on the night of 14/15 November 1940. A wrecked bus stands among a scene of devastation in the centre of Coventry after the major Luftwaffe air raid on the night of 14/15 November 1940.

Unten        —        Operation Moonlight Sonata- Bomb Damage in Coventry, November 1940 Soldiers march past the ruins of buildings on Broadgate, Coventry, on 16 November 1940. The Owen Owen department store can be seen in the distance. Much of the city was destroyed during the severe German air raids on the night of 14-15 November 1940.

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Spreader in Chief

Erstellt von Redaktion am 10. Oktober 2020

US-Präsident Donald Trump

Matthias Laurenz Gräff - "Trump. The Killing Machine".jpg

Von Dorothea Hahn

Seine Erkrankung hat Donald Trump keineswegs demütiger gemacht. Im Gegenteil. Sie hat ihn zu einer radikaleren Version seines Ichs werden lassen.

Es hätte anders kommen können. Der Coronapatient, der am Montag vorzeitig aus dem Militärkrankenhaus Walter Reed entlassen worden war, galt zwar noch lange nicht als geheilt, aber er hatte erst einmal überlebt. Auch die schwierigen Momente, darunter mindestens eine Fieberepisode und zweimal ein gefährliches Absinken der Sauerstoffsättigung im Blut. Das hatte sein Leibarzt nach tagelangem Jonglieren mit der Wahrheit zugegeben.

Donald Trump war von mehr als einem halben Dutzend Ärzten versorgt worden und in den Genuss der modernsten und aufwändigsten Behandlungsmethoden gekommen. Darunter ein noch nicht zugelassenes Antikörpermedikament der Firma Regeneron. Und er hatte Genesungswünsche aus aller Welt erhalten – auch von vielen, die er zuvor mit Tiefschlägen und Gemeinheiten bedacht hatte.

Diese Erfahrungen hätte Donald Trump nutzen können. Nicht für einen richtigen Neuanfang, das wäre wohl zu viel verlangt. Aber für ein paar kleinere Experimente mit Demut, Einfühlungsvermögen und Ansätzen von Fürsorge für seine Mitarbeiter und Landsleute. Dreieinhalb Wochen vor den Wahlen hätte ihn das menschlicher gemacht. Vielleicht hätte es ihm auch politische Sympathiepunkte eingebracht.

Trump hat diese Chance nicht genutzt. Stattdessen ist er mit seiner Covid-19-Erkrankung zu einer noch radikaleren Version seines hässlichsten Selbst geworden. Er kam noch egoistischer, rücksichtsloser und brutaler aus dem Krankenhaus zurück. Das wurde schon am Vorabend seiner Entlassung klar. Da brachte der Oberste Befehlshaber, von dem zu dem Zeitpunkt die ganze Welt wusste, wie ansteckend er war,mutwillig seinen Fahrer und einen Leibwächter in Gefahr, indem er sich mit ihnen in eine gepanzerte Limousine setzte und sich winkend an Fans vor dem Krankenhaus vorbeikutschieren ließ.

Seither hat er kontinuierlich weiter an der Verleugnung seiner eigenen gesundheitlichen Realität und der seines Landes gearbeitet.

Das politische Ziel ist durchsichtig. Drei Wochen vor den Wahlen will Trump die Pandemie aus den Schlagzeilen verdrängen. Er will sie als beherrscht und kontrolliert darstellen, als ein Ereignis der Vergangenheit, um von seinem eigenen Versagen abzulenken.

Wahlen, in denen das Virus im Zentrum steht, kann Trump nicht gewinnen. Er ist kein Präsident, der das Land geschützt hat, sondern ein Superspreader. Deswegen drängt er zurück zu den Themen, die er für seine Stärken hält. Zu Law und Order, zu Steuersenkungen, zu konservativen Richtern und zu dem Kampf gegen das Böse in Form von Einwanderern, Anarchisten und Black-Lives-Matter-Aktivisten.

Dieser Themenwechsel ist aber aus verschiedenen Gründen schwerer geworden. Dass es selbst den obersten Mann im Land erwischt hat, verunsichert viele. Und lädiert die Glaubwürdigkeit des Präsidenten. Es zeigt, dass Trump leichtsinnig ist. Dass er – was möglicherweise schwerer wiegt – nicht einmal in der Lage ist, sich selbst zu schützen. Und dass die Krankheit keineswegs unter Kontrolle ist, wie er seit Langem behauptet.

Der Themenwechsel wird auch dadurch erschwert, dass es an der Spitze des Landes gleich mehrere Cluster von Covid-Infektionen gibt. Neben der Viruswelle im Weißen Haus gibt es auch eine Viruswelle an der militärischen Spitze des Landes.

Protests against the dismissal of the FBI director 5100507.jpg

Viele Zeichen deuten darauf hin, dass im November die ersten Virus-Wahlen der US-Geschichte stattfinden werden. Dagegen – und nicht gegen die Krankheit – kämpft Trump. Seit seiner Rückkehr ins Weiße Haus arbeitet er verstärkt daran, die Krankheit, die bis jetzt 210.000 Menschen in den USA getötet hat, zu verharmlosen. Dabei beruft er sich neuerdings auch auf seine eigene Erfahrung. Er gibt seiner Krankheit etwas Religiöses, wenn er sie als ein „Segen in Verkleidung“ bezeichnet und wenn er behauptet, er fühle sich seit seiner Rückkehr besser als irgendwann zuvor in den vergangenen 20 Jahren.

Trump redet von seiner eigenen Behandlung und US-Spitzenmedizin, während mehr als 30 Millionen Bürger nicht kranken­versichert sind

Während US-Chef-Immunologe Anthony Fauci warnt, ohne extreme Vorsichtsmaßnahmen könnten die USA bis zum Jahresende 400.000 Tote zählen, sagt Trump seinen Landsleuten: „Habt keine Angst vor dem Virus.“ Und während es noch keinen Impfstoff gegen das Virus und noch keine Heilung der Krankheit gibt, tut er so, als stünde die Medizin unmittelbar vor dem Durchbruch.

Ganz absurd wird es, wenn Trump seine eigene Behandlung beschreibt, als wäre sie typisch für eine amerikanische Covid-Erfahrung und als hätten alle Patienten so wie er Zugang zu Spitzenmedizin. In einem Land mit schon jetzt mehr als 30 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung – die Zahl wird in den kommenden Monaten wegen der Massenarbeitslosigkeit weiter in die Höhe gehen –, in dem Covid-19-Tests immer noch nicht für alle zugänglich sind und es monatelang an Masken und Schutzkleidung für die Beschäftigten der Intensivstationen fehlte, klingen solche Dinge wie Hohn.

Anstatt sich zurückzuziehen, bis er nicht mehr ansteckend ist, trägt Trump auch nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus oft keine Maske. Er stellt sich mit unbedecktem Gesicht auf einen Balkon, auf dem auch ein Fotograf steht, arbeitet ohne Maske im Oval Office, wo seine Mitarbeiter dafür in Schutzanzügen herumlaufen müssen, und erwägt immer wieder, sogar Leute außerhalb des Weißen Hauses in Gefahr zu bringen.

Trump plant bereits seine nächsten Wahlkampfauftritte. Kaum zurück im Weißen Haus versucht er, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden zum Festhalten an der nächsten Fernsehdebatte in einem geschlossenen Raum zu drängen. Als die Debattenkommission entscheidet, das Ereignis virtuell abzuhalten, sagt Trump am Donnerstag früh seine Teilnahme ab: „Ich verschwende meine Zeit nicht mit virtuellen Debatten.“ Am Donnerstagabend will er dann doch wieder eine Debatte haben. Aber da haben der Sender ABC und Biden bereits eine Alternativveranstaltung für Biden allein organisiert, die nun auch abgesagt wurde.

Einen brutalen Stinkefinger zeigt Trump auch den Millionen Menschen, die wegen Corona ihre Arbeit verloren haben, den Geschäftsleuten, die kurz vor dem Konkurs stehen, und den 35 Millionen Amerikanern, darunter fast die Hälfte Kinder, die Hunger leiden. Aus dem Krankenhaus zurück bläst der Präsident die Verhandlungen mit den Demokraten über ein Konjunkturpaket ab. Das demokratische Repräsentantenhaus hatte das Hilfspaket schon im Mai verabschiedet. Der republikanische Senat und Trump haben es seither blockiert. Erst nach den Wahlen will Trump über weitere Hilfsmaßnahmen entscheiden. Die dahinter stehende Botschaft: Erst wenn Ihr mich wählt, wird der Staat Euch helfen.

Nur in einem Punkt drängen Trump und der republikanische Mehrheitsführer des Senats Mitch McConnell zur Eile: bei der Bestätigung von Trumps Kandidatin für das Oberste Gericht. Trump will, dass Amy Coney Barrett am Wahltag bereits vereidigt ist und die konservative Mehrheit am Obersten Gericht verstärkt. Womöglich wird er sie gleich nach den Wahlen, falls das Ergebnis wie erwartet angefochten wird, brauchen.

Senatschef McConnell spielt wie üblich mit. Andere Termine auf dem Kalender seiner Kammer hat er abgesagt, weil drei republikanische Senatoren an Covid-19 erkrankt sind. Aber die Berufung der Richterin will er durchpauken. Spätestens am 19. Oktober will er alle Senatoren wieder in Washington haben, weil er sie für das republikanische Quorum braucht. Abgestimmt werden muss im Senat persönlich vor Ort.

„Ich möchte euch gesund“, hat McConnell seinen Kollegen geschrieben. In einem schärferen Ton hat Senator Tom Cotton hinzugefügt: „Notfalls werden die positiven Senatoren reingerollt.“ Er wirft seinen infizierten Kollegen Leichtsinn vor. Eine 48-jährige Richterin, die auf Lebenszeit im Amt bleiben wird, und die gegen Oba­mas Gesundheitsreform und gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch eintritt, ist wichtiger als die Gesundheit der Senatoren und ihrer Mitarbeiter.

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Auch in anderen Bereichen liefert Trump in dieser Woche eine verschärfte Version von sich selbst. Am Dienstag schießt er binnen zwei Stunden mehr als 40 Tweets und Retweets in die Welt. Es sind aggressive, erratische und verleumderische Texte. In einem ist die ehemalige First Lady, Michelle Obama, vor dem Hintergrund von brennenden und geplünderten Häusern zu sehen. In einem anderen kommt Trump zurück auf die nachgewiesene russische Einmischung in seinen letzten Wahlkampf, die er bis heute als „Schwindel“ bezeichnet.

Am Donnerstag zieht der kranke Präsident wieder einmal über die angeblich schwache Gesundheit Joe Bidens her. Der würde eine Präsidentschaft nicht einmal zwei Monate lang überstehen, diagnostiziert Trump. Er fügt hinzu, dass dessen Vizepräsidentin, Ka­ma­la Harris, eine „Kommunistin“ sei. Jede Provokation ist recht, um das Thema zu verschieben.

Quelle         :         TAZ        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben     —      Matthias Laurenz Gräff, „Trump. The Killing Machine“, oil on canvas, 60×80 cm, 2017———– Permission link – Website Matthias Laurenz Gräff https://www.matthiaslaurenzgraeff.com/kontakt/

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2.) von Oben      —     Demonstrations and protests against the dismissal of James Comey, Lafayette par, Washington, D.C.

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For Future?

Erstellt von Redaktion am 9. Oktober 2020

Im Zeitalter der ökologischen Katastrophen

Quelle      :    untergrundblättle ch.

Franz Schandl — streifzuege.org

Es war 1975, da sang Rudi Carell noch „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“, und tatsächlich waren die Sommer in diesen Jahren meist kühl und verregnet.

Seit Anfang der Neunziger hat sich das fast schlagartig geändert, nicht schleichend, sondern prompt. Selbst im nördlichen Waldviertel, einer der kältesten Gegenden der Alpenrepublik, dort, wo ich aufgewachsen bin, spürt man die überbordende Hitze. Immer mehr Sommernächte werden zu Tropennächten. Meine Dachkammer wird zur Sauna. Wetterkapriolen häufen sich. Nicht nur wissenschaftlich belegbar ist der Klimawandel, er ist auch sinnlich erfahrbar.

 Der anthropogene Treibhauseffekt ist strukturbedingt, kein Unfall der Natur, aber auch keine Böswilligkeit der Menschen, sondern unweigerlich Folge der Produktions-, Distributions- und Konsumtionsverhältnisse. Kurzum, die Emissionen sind die Ausdünstungen des Kapitalismus. An diesem herumzudoktern wird zu keiner Lösung führen, sondern die Probleme prolongieren und potenzieren. „Energie = Wachstum = Wohlstand“, so hiess früher und auch noch heute, was nie wieder so heissen darf. Es gilt nicht bloss den Strom alternativ herzustellen, es gilt den Energieverbrauch radikal zu senken.

 Lösungen sind nicht primär in der Technik zu suchen, sondern in deren Begrenzung. Wir brauchen den Dreck nicht, der Dreck braucht uns. Und er verbraucht uns geradewegs so wie wir die Welt verbrauchen anstatt sie zu gebrauchen. Obsoleszenz ist den Produkten auszutreiben, nicht einzuverleiben. Es gibt viel zu tun. Ein Green New Deal ist nur eine Fortsetzung des Gehabten, kein Bruch. Der grüne Kapitalismus ist nicht mehr als eine Nebelgranate.

 Ökologie hat radikal zu sein, ansonsten wird es ihr ergehen wie der Sozialdemokratie. Indes können wir uns das gar nicht leisten. Den Kapitalismus vor sich selbst zu retten ist eine gemeingefährliche Drohung. Von Reindustrialisierung und Wachstum zu schwärmen, ist einfach nur diesseits. Soeben hat man den Flughafen Schwechat und die AUA (Austrian Airlines) gerettet. Das begeistert. Indes, die Flugzeuge sind vom Himmel zu holen, damit dieser wieder so blau wird wie er des Öfteren sein könnte.

 Der seit Wochen ganz vehement wieder einsetzende Individualverkehr in einer Grossstadt wie Wien demonstriert hingegen, es soll so weiterlaufen wie bisher. Ausserdem ist es doch seit Corona im Auto scheinbar sicherer als in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn man von allen anderen Gefahren absieht und lediglich die eine gelten lässt, ist diese Lüge eine glatte Wahrheit.

 Wer meint, die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie sei eine Frage der Wirtschaftspolitik, irrt. Mit dem Kapitalismus muss der ihm immanente Industrialismus fallen. Der industrielle Trieb ist kein menschlicher Instinkt, er folgt dem kapitalistischen Getriebe. D.h. nun nicht, dass nichts mehr seriell gefertigt werden soll, doch jede Massenproduktion muss eingebettet sein in ein Dasein, wo Maschinen Menschen nicht durchstreichen und unterjochen.

 Automaten haben keine Rhythmen vorzugeben, sie sind auf den Status von Werkzeugen zu reduzieren. Fabriken sind zu Werkstätten zu schrumpfen. Nicht nur der Profit, auch das Geld hat zu verschwinden. „Wer bei uns nun komplizierte Lösungen sucht, wird freilich enttäuscht – Produktion für konkrete Bedürfnisse anstatt für Geld, that’s all“, schrieb Andreas Exner (Streifzüge Nr. 46/2009). Das gilt auch weiterhin.

 Negativ pointieren ist besser als positiv denken. Guilleaume Paoli propagiert in der Berliner Wochenzeitung Freitag offen für den Alarmismus. Und zweifellos hat er recht, wird derlei nicht marktschreierisch, sondern gezielt eingesetzt. Es sind immer noch zu wenig Apokalyptiker unterwegs. Günther Anders sprach schon vor Jahrzehnten von einer Apokalypseblindheit. Wir verdrängen das gesellschaftliche Unglück, das wir uns antun, und verwandeln es durch positives Denken in positive Artefakte. Alles ist gut und was nicht gut ist, wird gut. So kann das Gute nicht werden, weil es schon vorab behauptet wird. Warum wollen wir uns nur immer betrügen? Was haben wir davon? Warum lassen wir nicht wanken, was ökonomisch und ökologisch wankt. Warum zurren wir es fest?

 Drängt sich nicht ein Aspekt der multiplen Krise brachial in den Mittelpunkt, dann dominieren und reüssieren jedoch gänzlich andere Stimmen: Johan Norberg etwa, der ein schwedischer Bestsellerautor ist. Sein Band „Progress“ schaffte es beim renommierten Economist zum Buch des Jahres 2016. Also muss was dran sein. „Wir leben in der besten Epoche der Geschichte und gehen einer grossartigen Zukunft entgegen“, sagt er. Die Verkaufszahlen seines Werks belegen zumindest den Wunsch, dass es so zu sein hat.

 Im Alten Testament lesen wir: „Dann segnete Gott Noach und seine Söhne und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, vermehrt euch, und bevölkert die Erde! Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen, auf alle Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf der Erde regt, und auf alle Fische des Meeres; euch sind sie übergeben. Alles Lebendige, das sich regt, soll euch zur Nahrung dienen. Alle übergebe ich euch wie die grünen Pflanzen.“ (Gen 9, 1-3)

 In dieser instrumentellen Tradition steht die gesamte Menschheitsgeschichte, zumindest seit der ersten Globalisierung durch Imperialismus und Kolonialismus. Insbesondere auch Liberalismus und Marxismus sind Abkömmlinge dieses Denkens und Verhaltens. Auch wenn die Marx’sche Kritik weiterreicht, ist der Marxismus Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.

 Ökologie behandelt die Rationalität des menschlichen Daseins hinsichtlich seiner stofflichen Bedingtheit – deren Form und Inhalt sind ihr Gegenstand. Die Ökologie kann als Disziplin von der stofflichen Grundlage menschlichen Seins verstanden werden. Stoff meint hier die materielle Basis, organisch wie unorganisch, es geht um den Stoffwechsel in allen Facetten. Die ökologische Problematik übersteigt freilich alle anderen Fragen in ihrer Dimension, sie ist keine zusätzliche Frage, sondern eine übergreifende. Letztlich die alles integrierende Frage. Die Evidenz der Zerstörung, ja der Vernichtung ist kaum noch zu leugnen.

 Einer emanzipatorischen Transformation geht es nicht schlicht um Ökologie, sondern insbesondere auch um die Kritik der politischen Ökologie. Deren Vertreter sind Umweltbewegungen und Grüne. Durch sie manifestiert sich nicht das Andere, was meint, die gesellschaftliche Alternative, sondern die Bearbeitung der Umweltprobleme im konventionellen Rahmen. Analog zum Sozialen wird das Ökologische zu einem zusätzlichen Referenzpunkt der Politik. Die Befangenheit in der Form wird nicht gesprengt, es wird dieser vielmehr entsprochen.

„Wieso gelingt es, Ängste vor einer Öko(logie)-Diktatur zu schüren, ohne dass bemerkt wird, dass wir längst in einer Öko(nomie)-Diktatur leben?“, fragt Helga Kromp-Kolb in der Wiener Zeitung. Dieser Erkenntnis ist nichts entgegen zu setzen, aber warum folgt nichts aus ihr? Warum setzt trotzdem immerwährend das Gerechtigkeits- und Demokratiegelaber ein, das alles wiederum zukleistert. Mehr als eine andere Politik will einem nicht und nicht einfallen. Doch das Problem ist um vieles grösser. Dieser Lebensstil ist eine Katastrophe: ökologisch, sozial, mental. Der Kapitalismus untergräbt unsere Existenz, wobei es zwar nicht alle gleich trifft, aber auf jeden Fall alle trifft.

 Ihre Äusserungen sind oft imposant und bunt, attraktiv und effektiv. Die neuen Bewegungen geniessen vorerst unsere Sympathien. Doch betrachten wir die Inhalte, die hier vorgetragen werden, so tut es uns leid, sagen zu müssen, dass die „Young rebels“ älter aussehen als sie sind. Was sie verbreiten, ist weniger modern als dass es modert. Frisch ist nur der kulturindustrielle Touch. Ihre Hypes und Stars hinterlassen einen fahlen Geschmack. Sie erregen zwar Aufmerksamkeit oderbesser Empörung, aber zuvorderst, weil sie sich des grossen Spektakels bedienen und damit dem grossen Spektakel dienen.

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 Die Kulturindustrie, in deren Strängen sie agieren, wird nicht nur nicht in Frage gestellt, jene wird nicht einmal als Problem begriffen. Bewegungen bewegen sich nicht gegen jene, sondern bloss in ihr. Sie reproduzieren, wogegen sie kommunizieren. Lediglich das Denkbare wird gedacht, nicht das Undenkbare – aber auf das kommt es an. Dieses Engagement ist im ehernen Gehäuse des Bürgerlichen und seiner Werte gefangen, ohne dass das den Engagierten auffällt. Man transportiert, aber man transformiert nicht. Wir leben im Déjà-vu. Perspektive bedeutet freilich auch, nicht nur etwas zu sagen zu haben, sondern auch etwas schaffen zu können. Insofern tappen wir selbst noch immer mehr im Dunkeln als uns recht ist. Überheblichkeit ist also fehl am Platz.

 Das gute Leben ist auch nicht durch die Digitalisierung zu gewinnen. Das Virtuelle ist mehr Krücke als Brücke des Lebens. Nicht nur die friends sind keine. Ökologisch ist jene der nächste Fortschritt in der Akkumulation der Katastrophen. Der Kampf um das Lithium und der Abbau dieses Rohstoffes allein sollten uns schaudern lassen. Da müssen Bergwerke errichtet, Urwälder gerodet, Menschen vertrieben, Regierungen weggeputscht werden. Technik und Wachstum sind nicht unsere Zukunft, unsere Zukunft liegt in der Empathie für den Planeten, für Menschen, Tiere, Pflanzen. Der sollten wir uns auch verschreiben. Wir sind „Untergangsgegner“, wie Günther Anders sich und unsereins zurecht benannte. Was sonst?

 Es geht nicht einfach um den Schutz der Natur – was immer die sein soll, wäre gesondert zu bestimmen. „Geschichte ist die Negation der Natur“, behauptete Herbert Marcuse. „Natur ist der erste Standpunkt aus dem der Mensch seine Freiheit in sich gewinnen kann“, so Hegel. Aber eben nicht muss und auch nicht einfach wird. Beschrieben wird hier eine Möglichkeit, deren Wahrscheinlichkeit allerdings immer weniger gegeben ist. Menschwerdung ist also nicht bloss als Heraustreten aus der Natur zu verstehen, sondern ebenso mit dem Einfügen in sie. Jede Vereinseitigung ist hier abzulehnen. Die Einfügung in die Welt ist keine einfache Fügung, sie ist eine sensible Anschmiegung, die prinzipiell gegen jede Unterordnung zielt. Aktuell spuren wir jedenfalls nach den ökonomischen Gesetzen, als wären diese Natur und unhintergehbar.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —        Fire suppression efforts on September 14

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LEICHTE BEUTE LIBYEN

Erstellt von Redaktion am 6. Oktober 2020

Hoffnung auf friedliche Lösung des Konflikts.

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Von Jean Michel Morel

Der am 21. August vereinbarte Waffenstillstand nährt Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Dafür bräuchte es allerdings ein Einlenken der diversen internationalen Akteure im Land.

Seit dem Volksaufstand vom Februar 2011, den Luftangriffen der Nato-Staaten und dem Tod von Staatschef Muammar al-Gaddafi versinkt Libyen im Chaos. Die drei großen Regionen des Landes haben sich in brudermordende Inseln verwandelt.1 Die Kyrenaika im Osten mit dem Sitz des Abgeordnetenrats in Tobruk ist heute die Hochburg von General Khalifa Haftar, der bis zu seinem Abfall in den 1980er Jahren als Offizier in Gaddafis Armee diente und heute die sogenannte Libysch-Nationale Armee (LNA) anführt.

Im Westen, in Tripolitanien, herrscht die von der UNO anerkannte Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA), die diesen Namen eigentlich nicht verdient und die den Muslimbrüdern nahesteht. Und in der multiethnischen Region Fessan im Süden des Landes, wo ein Viertel des libyschen Erdöls gewonnen wird, herrschen die Tubu-Milizen, die zwischen beiden Lagern gespalten sind.

Die GNA wird aktiv von der Türkei unterstützt und in geringerem Ausmaß auch von Katar, hinzu kommt die diskretere Hilfe Italiens und Deutschlands. Ihre Streitkräfte bestehen im Wesentlichen aus Milizen der Koali­tion Fadschr Libiya (Morgendämmerung Libyens).

Im Gegenlager hat Khalifa Haftar ebenfalls lokale Milizionäre sowie sudanesische und tschadische Söldner um sich versammelt (siehe den nebenstehenden Artikel von Akram Kharief). Seine ausländischen Paten sind Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Saudi-Arabien – also die Anti-Muslimbrüder-Front – und vor allem Russland, das seine Position am Mittelmeer stärken will. Hinzu kommt Frankreich, das zwar nicht mit Tripolis gebrochen hat, aber lieber Haftars Lager als Sieger ­sähe.2

Die zwiespältige Position der Regierung in Paris war schon im Juli 2019 durch die Entdeckung französischer Raketen nahe Tripolis ans Licht gekommen, die Haftars Armee zurückgelassen hatte.3 Heute, gut ein Jahr später, wird die Unterstützung für Haftar immer problematischer. Erst im Juni wurden in Tarhuna, in einem Gebiet, das bis dahin von einer Pro-Haftar-Miliz kontrolliert worden war, mehrere Massengräber entdeckt.4 Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats müsste Frankreich sich eigentlich an die internationalen Vereinbarungen halten und die von der UNO anerkannte Regierung der Nationalen Übereinkunft unterstützen.

Mit seiner Unterstützung für Haftar steht Frankreich in Frontalopposition zur Türkei, die seit Anfang dieses Jahres massiv in Libyen präsent ist. Das türkische Interesse an der Region geht bis ins 16. Jahrhundert zurück, als die Osmanen den Maghreb besetzten und drei Provinzen mit den Hauptstädten Algier, Tunis und Tripolis errichteten. Der türkische Präsident Erdoğan will das 1920 zerschlagene Reich in Nordafrika zwar nicht wiederherstellen, rühmt aber regelmäßig dessen einstige Größe.

Außerdem nutzt er jede Gelegenheit, die Fähigkeiten seiner Armee jenseits der türkischen Grenzen unter Beweis zu stellen. Das zeigen nicht nur die Aktivitäten in Libyen, sondern auch die Invasion in Nordsyrien, die Einsätze im irakischen Kurdistan, die Planungen für eine Militärbasis im Jemen, die militärischen Einrichtungen in Katar und die Drohung, sich im Konflikt um Berg-Karabach militärisch an die Seite Aserbaidschans zu stellen.

Erdoğan ist also fest entschlossen, das türkische Einflussgebiet zu vergrößern. 2018 zählte die regierungsnahe Zeitung Yeni Akit zehn Länder auf, in denen türkische Soldaten stationiert sind, und verkündete unverhohlen: „Die Türkei kehrt in ihre osmanischen Gebiete zurück.“ Der expansionistische Drang wird auch durch die Reaktivierung des außenpolitischen Konzepts „Mavi Vatan“ (Blaue Heimat) deutlich, das der ehemalige Admiral Cem Gürdeniz 2006 entwickelt hatte. Es legt den Akzent nicht auf Diplomatie, sondern auf die rigorose Durchsetzung der türkischen Interessen im Mittelmeerraum. Die militärische Unterstützung Ankaras für die GNA ist ein perfektes Beispiel für diesen Ansatz.

Deserto Libico - La roccia a dito - Adadh - panoramio.jpg

Der Bürgerkrieg in Libyen schwelt trotz diverser internationaler Konferenzen – zuletzt im Januar 2020 in Berlin – immer weiter. So ist das Land eine leichte Beute für eine entschlossene Regionalmacht. Und eine solche „Trophäe“ würde Präsident Erdoğan nicht zuletzt dabei helfen, seine Position zu Hause zu festigen5 , wo die Bevölkerung immer kritischer wird.

Moskau spekuliert auf einen eingefrorenen Konflikt

Bei den Kommunalwahlen im März 2019 erlitt seine Partei AKP schwere Niederlagen. Die Opposition eroberte unter anderem die Rathäuser von Istanbul und Ankara. Zwei Abspaltungen von der AKP in diesem Jahr zeugen von großen Unstimmigkeiten innerhalb der Präsidentenpartei. „Innen- und Außenpolitik der Türkei sind eng verwoben. Die Außenpolitik dient als Treibstoff für die Innenpolitik“, schrieb der türkische Journalist Fehim Taştekin am 21. Juni auf der Website daktilo1984.

Für die Türkei ist Libyen auch die Ausgangsbasis für eine wirtschaftliche und ideologische Expansion, unter anderem durch die Rückeroberung der Netzwerke des Predigers Fethullah Gülen in Subsahara-Afrika. Bis zum gescheiterten Staatsstreich 2016 war Gülen ein Verbündeter Erdoğans.6

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Quelle      :     Le Monde diplomatique        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben     —    Koalizioaren ekintzak Libiaren aurka, eu:2011ko Libiako gerra zibilaren barruan.

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Unten    —         Deserto Libico – La roccia a dito – Adadh

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KOLUMNE * MACHT

Erstellt von Redaktion am 4. Oktober 2020

Die Liebe zum Land, aber ganz billig

File:Maischberger - 2016-12-14-7439.jpg

Von Bettina Gaus

Die Steueraffäre von US-Präsident Trump mag nicht überraschend sein, aber interessant ist sie schon. Und das gleich mehrfach.

Wenn etwas quakt wie eine Ente und watschelt wie eine Ente, dann liegt der Verdacht nahe, dass es eine Ente ist. Wenn jemand auftritt wie ein Gangster und ein Wertesystem vertritt wie ein Gangster, dann – ja, genau. Überraschend ist die Steueraffäre von US-Präsident Donald Trump also nicht. Aber in mehrfacher Hinsicht trotzdem interessant.

Wenn irgendetwas an den Enthüllungen der New York Times stimmt – und die Dementis klingen seltsam matt –, dann ist Trump entweder ein Steuerbetrüger in großem Stil oder ein spektakulär erfolgloser Geschäftsmann, dem es in erstaunlicher Weise gelungen ist, das beträchtliche väterliche Erbe durchzubringen. Oder beides.

Es bedarf eines gerüttelt Maß an Fantasie, um sich auszumalen, wie es legal möglich sein soll, die eigene Tochter (oder auch irgendjemand sonst) einerseits fest anzustellen und ihr dennoch ein hohes Beraterhonorar zu zahlen. Richard Nixon sei ein Anfänger gewesen verglichen mit Donald Trump, sagte auf CNN ein ehemaliger Ermittler zornig, der in den 70er Jahren mit der Watergate-Affäre befasst war. Die hatte den früheren US-Präsidenten schließlich zum Rücktritt gezwungen. Nur durch die umstrittene Amnestie seines Nachfolgers Gerald Ford war er vor Strafverfolgung geschützt worden.

Gut möglich, dass Donald Trump derzeit nur durch sein Amt vor einer Gefängnisstrafe bewahrt wird. Ein amtierender Präsident darf nicht angeklagt werden. Aber wenn er die Wahl verliert, was ich inzwischen zu hoffen wage? Ob Joe Biden ihn begnadigen würde? Seltsame Vorstellung. Das Bild eines ehemaligen US-Präsidenten im Knast wäre allerdings nicht weniger wunderlich. Die Tatsache, dass Trump inzwischen ziemlich unverhohlen auf die Hilfe rechtsextremistischer Milizen setzt und offenbar wünscht, dass diese demokratische Wählerinnen und Wähler einschüchtern mögen, spricht für Verzweiflung.

White House Coronavirus Update Briefing (49889892138).jpg

421 Millionen Dollar Schulden soll Trump derzeit haben. Bei wem? Der größte Teil dieser Summe wird angeblich in den nächsten vier Jahren fällig. Geheimdienstler und führende Demokraten sehen darin ein Sicherheitsrisiko. Je nachdem, wer die Gläubiger seien, könne der Präsident dadurch erpressbar sein. Man stelle sich vor: Moskau! Oder Saudi-Arabien! Dass er Geschäfte in der Türkei macht, ist ohnehin bekannt.

Quelle     :      TAZ       >>>>>        weiterlesen

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Attribution: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

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Unten     —          President Donald J. Trump listens to a reporter’s question at an update briefing on testing capacity Monday, May 11, 2020, in the Rose Garden of the White House. (Official White House Photo by Shealah Craighead)

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Streit Griechenland – Türkei

Erstellt von Redaktion am 2. Oktober 2020

GRENZSTREIT IM ÖSTLICHEN MITTELMEER

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von Niels Kadritzke

Im Konflikt mit Athen spielt die Türkei mit dem Feuer – und mit dem Völkerrecht. Durch ihre Usurpation eines umstrittenen Seegebiets fordert sie nicht nur Griechenland, sondern die gesamte EU heraus. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle griechischen Ansprüche in der Region legitim und rechtens sind.

Es war eine der gefährlichsten maritimen Kollisionen der letzten Jahre: Am 14. August kam es im östlichen Mittelmeer zu einer Karambolage zwischen der türkische Fregatte „Kemal Reis“ und der griechischen Fregatte „Limnos“.

Das türkische Kriegsschiff gehörte zum Geleitzug des Forschungsschiffs „Oruç Reis“, das in einem Seegebiet 110 Seemeilen (etwa 200 Kilometer) südlich der türkischen Küste mit seismischen Untersuchungen des Meeresbodens beauftragt war. Das Operationsgebiet liegt nach Auffassung Ankaras innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) der Türkei. Das griechische Kriegsschiff beschattete die türkische Miniflotte, deren Explora­tions­mission aus Athener Sicht illegal war. Denn Athen beansprucht dasselbe Seegebiet für die griechische AWZ.

Der Kontakt zwischen den Fregatten der beiden Nato-Staaten endete glimpflich: Die „Kemal Reis“, die der „Limnos“ seitlich vor den Bug gefahren war, wurde durch den Zusammenstoß im Heckbereich beschädigt. Die „Limnos“ blieb heil, was es der Regierung in Athen erlaubte, die Kollision als „Ma­nö­vrier­fehler“ des türkischen Kapitäns herunterzuspielen. Anders der türkische Präsident Er­do­ğan: Er nutzte die Episode für PR-Zwecke und erklärte seinem Volk, die „Kemal Reis“ habe der frechen griechischen Fregatte die richtige Antwort gegeben. Den Blechschaden seiner Fregatte erwähnte er nicht.

Der Vorfall vom 14. August war der Auftakt zu einer Konfrontation, die bis heute andauert und inzwischen immer komplexer geworden ist. Seit Anfang September sind auch französische und italienische Kriegsschiffe vor Ort, und Kampfflugzeuge aus Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten kooperieren mit der griechischen Luftwaffe. Im östlichen Mittelmeer herrscht Alarmstufe Rot.

Gasfelder und Wirtschaftszonen

Dabei war die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung zu Beginn der Krise gering. Am 14. August beschränkten sich die Kontrahenten darauf, die gegnerischen Schiffe zum Verlassen der „eigenen“ AWZ aufzufordern, was von beiden Seiten ignoriert wurde. Dennoch blieb eine militärische Eskala­tion aus. Es erschien völlig absurd, ausgerechnet im August einen Schießkrieg zu beginnen und die wenigen ausländischen Touristen zu vertreiben, die beiden Ländern im Coronasommer verblieben sind.

Zudem herrscht beim griechischen wie beim türkischen Militär eine höllische Angst vor dem Virus. Schon der normale Kasernenbetrieb ist dadurch einschränkt. Deshalb hatten sich der türkische und der griechische Verteidigungsminister am 15. April auf die Absage ihrer jeweiligen Frühjahrsmanöver verständigt, um ihre Soldaten „nicht dem Coronavirus auszusetzen“.

Die hohen Offiziere beider Seiten kennen sich auch persönlich, als professionelle Kollegen auf der Nato-Ebene. Der griechische Admiral a. D. Evangelos Apostolakis, Generalstabschef unter der linken Tsipras-Regierung, sagt über seine türkischen Gegenspieler: „Ich weiß genau, dass auch die keinen militärischen Konflikt wollen, denn der nutzt keiner Seite.“1

Die große Frage ist allerdings, welchen Nutzen sich die Erdoğan-Re­gie­rung von der Krise im östlichen ­Mittelmeer verspricht. Ihr erklärtes Ziel ist es, die türkischen Ansprüche auf eine großräumige ausschließliche Wirtschaftszone durchzusetzen, die auf Kosten der griechischen AWZ-Ansprüche gehen würde. Beide Seiten haben vor allem die unter dem Meeresboden vermuteten Erdöl und Erdgasvorkommen im Auge.

Jedoch weiß man heute weder in Ankara noch in Athen, wie hoch der Streitwert dieser Ressourcen ist. Über den kann man angesichts der politischen und ökonomischen Weltlage nur spekulieren. Sicher ist aber: Angesichts des globalen Trends zu erneuerbaren Energien, die der beschleunigte Klimawandel erzwingt, ist Erdgas aus den Tiefen des östlichen Mittelmeers ein Auslaufmodell. Und auf dem Weltmarkt wird es nie konkurrenzfähig sein, weil die Förder- und Transfer­kosten einfach zu hoch liegen. Selbst der Energie­importeur Türkei muss kalkulieren, ob sich teures Erdgas rechnet, das man billiger aus Russland beziehen kann. Ganz abgesehen von den Gefahren für die Umwelt, die auch die touristisch genutzten Küsten der Region betreffen könnten (siehe Artikel von Paul Hockenos auf Seite 9).

Im Streit um die ostmediterranen Wirtschaftszonen ist die Türkei zweifellos die treibende Kraft. Die Mission der „Oruç Reis“ gehört in den Kontext einer aggressiven Außenpolitik, die zunehmend „neoosmanische“ Züge trägt. Das autoritäre Erdoğan-Regime hat die „friedliche“ Phase dieser neuen Außenpolitik – unter dem Motto „null Pro­bleme mit allen Nachbarn“ (Da­vut­oğlu-­Doktrin) – längst hinter sich gelassen.2

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Heute gibt es kaum einen Nachbarstaat, mit dem die Türkei keine Probleme hat. Das türkische Militär steht auf syrischem Boden, operiert gegen die Kurden im Nordirak und mischt höchst aktiv im libyschen Bürgerkrieg mit (siehe Artikel von Jean Michel Morel auf Seite 6). Die raumgreifende Außenpolitik des Erdoğan-Regimes strebt weit über des Mittelmeer hinaus. Heute unterhält das türkische Militär nicht nur Stützpunkte in Katar (seit 2015) und in Somalia (seit 2018), sondern ist auch am Roten Meer präsent, wo es den sudanesische Inselhafen Sawakin für 99 Jahre gepachtet hat.

Die „neoosmanische“ Militarisierung wäre nicht möglich ohne den rasanten Ausbau der Rüstungsindustrie. Insbesondere bei der Drohnentechnik hat die Türkei längst Weltniveau erreicht, wobei ihr zugutekommt, dass sie diese Waffen auf den Kriegsschauplätzen Syrien und Libyen erproben und weiterentwickeln kann.3

Von Beginn an war Erdoğans neo­osmanische Außenpolitik auch ein Instrument innenpolitischer Machtabsicherung. Diese Funktion hat noch an Bedeutung gewonnen, seit das AKP-Regime durch eine soziale und ökonomische Krise herausgefordert wird, die Erdoğans erklärtes historisches Ziel gefährdet: Zum 100-jährigen Jubiläum der Staatsgründung im Oktober 2023 will der „neue Sultan“ als türkischer Nationalheld und Nachfolger – oder besser Antipode – des ehrwürdigen Gründervaters Kemal Atatürk posieren.

Dieser Ehrgeiz äußert sich auch in dem Beschluss, eine symbolkräftige Entscheidung Atatürks aus dem Jahr 1935 rückgängig zu machen. Am 24. Juli wurde das byzantinische Gesamtkunstwerk der Hagia Sophia in Istanbul aus einem Museum in eine Moschee zurückverwandelt. Mit diesem kulturpolitischen Coup – der in aller Welt und besonders in Griechenland Empörung auslöste – hat Erdoğan allerdings innenpolitisch nicht viel gewonnen. Nach einer Umfrage erklärten 99,7 Prozent der Befragten, die Hagia-Sophia-Entscheidung habe keinen Einfluss auf ihr Wahlverhalten.

Umso wichtiger werden außenpolitische Erfolge, mit denen er auch seinen Bündnispartner, die ultranationalistische MHP, bei der Stange halten kann. Die Partei der „Grauen Wölfe“ ist die einzige zivile Machtreserve für eine AKP, deren Wählerbasis bröckelt. Unter diesen Umständen konnte die MHP ihren Einfluss auf die Außenpolitik Ankaras deutlich verstärken. Der türkische Exiljournalist Yavuz Baydar spricht von einem „Machtkartell aus nationalistischen Offizieren, expansionistischen ‚Grauen Wölfen‘ und Islamisten“, das Erdoğan zwinge, „sein Draufgänger-Image jeden Tag neu unter Beweis zu stellen“.4

Die maritime Dimension der neo­osmanischen Außenpolitik äußert sich in der stolzen These vom „Blauen Vaterland“ (Mavi Vatan). Erdoğan sieht die Türkei als aufstrebende Seemacht mit Präsenz in den drei Meeren, in denen es nationale Interessen durchzusetzen gilt.5 „Die Türkei wird sich die ihr zustehenden Rechte im Mittelmeer, in der Ägäis und im Schwarzen Meer nehmen“, tönte der Präsident am 26. August. „Wir werden nicht aufgeben, was uns gehört. Wir sind entschlossen, für dieses Ziel alles zu tun, was politisch, ökonomisch und militärisch nötig ist.“

Solche Drohungen aus dem Munde Er­do­ğans sind nicht neu, aber sie werden inzwischen durch eine permanente Aufrüstung unterfüttert. Die „nationale Strategie“ der Türkei stützt sich auf die „technologischen Errungenschaften in der Rüstungsindustrie, die ihre Luft-, Land- und Seestreitkräfte gestärkt haben“, erklärte Erdoğan in einer Rede, in der er den Bau von drei Flugzeugträgern ankündigte.

Dazu gehört auch die Anschaffung der Instrumente zur Erkundung der vermuteten Schätze unter dem Meeresboden der türkischen AWZ. Die Türkei besitzt heute eine Flotte von 11 Explorationsschiffen, darunter die „Oruç Reis“, die im August südöstlich der Inselkette Kreta–Karpathos–Rhodos seismische Messungen auf dem Meeresgrund durchführte und dabei 70 Kilometer in die von Griechenland beanspruchte AWZ vorgedrungen ist.

Der Streit um die maritimen griechischen und türkischen Interessensphären zieht sich schon über Jahrzehnte hin. Die spezielle Frage der AWZ-Abgrenzung ist seit 1994 in eine neue Phase getreten. In jenem Jahr trat das UN-Seerechtsübereinkommen in Kraft: die United Nations Con­ven­tion on the Law of the Sea (Unclos), die man als UN-Charta des Seevölkerrechts bezeichnen kann.

Die ausschließliche Wirtschaftszone ist ein erweitertes Meeresgebiet, in dem ein Küstenstaat „souveräne Rechte zum Zweck der Erforschung und Ausbeutung, Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden und nichtlebenden natürlichen Ressourcen“ ausübt, und zwar an der Wasseroberfläche, auf dem Meeresboden wie auch in dessen Untergrund (Unclos, Art. 56). Die begehrtesten Ressourcen sind einerseits die Fischbestände, andererseits mineralische oder fossile Ressourcen im Meeresboden.6

Die AWZ beginnt jenseits des bis zu 12 Seemeilen breiten Küstenmeeres (auch Hoheitsgewässer genannt) und kann sich bis zu 200 Seemeilen (370,4 Kilometer) weit ins offene Meer erstrecken (Art. 55 und 57). Bei gegenüberliegenden oder benachbarten Küstenstaaten wird die Sache komplizierter. Dann müssen sich die konkurrierenden Staaten auf eine AWZ-Grenze einigen (im Normalfall die Mittellinie zwischen beiden Küsten) oder, wenn eine Einigung nicht gelingt, ein Schiedsverfahren beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einleiten. In beiden Fällen muss die Einigung „auf der Grundlage des Völkerrechts“ erfolgen und auf eine „der Billigkeit entsprechende Lösung“ zielen (Art. 74, Abs. 1).

Besonders kompliziert ist die Abgrenzungsfrage im östlichen Mittelmeer. Hier gibt es sowohl benachbarte Küstenstaaten (wie Libyen und Ägypten) als auch gegenüberliegende Staaten (wie die Türkei und Ägypten) und dazu einen Inselstaat (Zypern). Ein Teil der Probleme wurde bereits durch bilaterale AWZ-Abkommen beigelegt. Für große Bereiche des östlichen Mittelmeers gibt es solche Vereinbarungen jedoch nicht.

IpsalaBorderCrossingTurkey.JPG

Das gilt insbesondere für die Zone zwischen dem 28. und dem 32. östlichen Längengrad, in der sich der aktuelle griechisch-türkische Streit abspielt. Hier machen beide Kontrahenten Ansprüche geltend, die bislang rein deklamatorisch sind. Sie begründen keine völkerrechtlichen Besitztitel und sind deshalb eine „Anmaßung“ gegenüber dem Konkurrenten. Wobei es einen qualitativen Unterschied gibt: Die Anmaßung der türkischen Seite ist weitaus unverfrorener, da sie das Seevölkerrecht in mehrfacher Hinsicht eklatant missachtet.

Zum Ersten verletzt die maritime Expedition den Unclos-Artikel 74. Der gebietet in Absatz 3, dass bei konkurrierenden AWZ-Ansprüchen die streitenden Parteien bis zu einer Übereinkunft (durch Vertrag oder Schiedsverfahren) den „Geist der Verständigung und Zusammenarbeit“ zu wahren haben, um eine „endgültige Übereinkunft nicht zu gefährden oder zu verhindern“. Gegen dieses Gebot verstößt die türkische Seite, indem sie explorative Aktivitäten in einer umstrittenen Zone betreibt. Die griechische Seite tut das in der von ihr beanspruchten AWZ (noch) nicht. Dass die griechische Kriegsmarine die türkischen Schiffe „beschattet“, ist durchaus rechtens, erst wenn sie türkische Schiffe behindern oder gar angreifen würde, wäre dies völkerrechtswidrig.

Quelle       :          Le Monde diplomatique          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —         Map in French, showing the population exchanges after the Treaty of Lausanne : derivative work translated since the both sources noted and since Vlasès Agtsidès : The expulsed Greeks from the modern Turkey (Οι εξισλαμισμένοι Έλληνες στη σημερινή Τουρκία) watched on [url= http://www.hri.org/forum/diaspora/turkey/krypto1.html] of the Hellenic Resources Network

2.) von Oben   —    Hinweis zum Parkplatz für Grenzformalitäten    /

he signboard of Pazarkule Bordergate in Edirne.

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Unten      —     Grenzübergang     _        Greece-Turkey border crossing

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Niemand ist ohne Makel

Erstellt von Redaktion am 30. September 2020

Wer vors Bücherregal tritt, findet daran heute nur begrenzt noch Halt

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Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Eine unfertige Betrachtung darüber, was Antirassismus sein kann, woher die allgemeine Unduldsamkeit rührt und was sich daran ändern ließe

Es gibt diesen Moment, wenn man absichtslos in ein älteres Buch blickt und dann etwas findet, was immer da war, aber nicht gefunden wurde. So erging es mir dieser Tage mit zwei Werken von ikonografischem Rang.Bei Primo Levi, „Ist das ein Mensch?“, las ich: „Wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe (…)“.Kurz darauf Albert Camus, „Der Mensch in der Revolte“. Zu jenen, die keinen Begriff von Revolte haben können, schreibt Camus, zähle der „Primitive aus Zentralafrika“.

Zwei großen Humanisten des 20. Jahrhunderts dient die Gestalt eines ihnen unbekannten Wesens aus Afrika als Folie, um Maßstäbe zu entwickeln. Wie geriet ein Völkchen des Regenwalds in die gedankliche Nähe zu Auschwitz? Die Metapher ließe sich bei Primo Levi theoretisch einfach tilgen, ohne dass dies den Inhalt berührte – sie verweist schlicht auf den Umstand, dass Levi, der Überlebende, als italienischer Jude auch ein weißer Europäer war.

Camus hingegen, der in Algerien geborene Franzose, definiert die Revolte gleich so, dass sie ein Merkmal „abendländischen Denkens“ ist, mit Sinn nur in der westlichen Gesellschaft. Er spricht vom Menschen im Allgemeinen, meint aber den Europäer. Ein exkludierender Universalismus, Taschenspielertrick von so vielen in unserem Fundus geachteter Intellektueller.

Wer vors Bücherregal tritt, findet daran heute nur begrenzt noch Halt. Hannah Arendt, die Große, die Kluge: zum Rassismus einiges fragwürdig, mit blind spots gegenüber den Forderungen ihrer schwarzen US-Mitbürger. Und manche Sätze in „Elemente und Ursprünge …“ hätte ich lieber nicht gefunden. Niemand ist ohne Makel.

Um zu sehen, was man vorher nicht sah, bedarf es bereits des antirassistischen Initialfunkens; doch je mehr man dann sieht, desto schwerer fällt die Antwort, was Antirassismus eigentlich sein kann und wohin eine Dekolonisierung des Denkens führen wird. Weil sich Dimensionen auftun, gegenüber denen die Fragen von Brechts lesendem Arbeiter („Wer baute das siebentorige Theben?“) arg bescheiden wirken.

Welche Fragen heute gestellt werden müssen, umreißt Achille Mbembe so: „Wie kommt es zu den Archiven der Menschheit? Wie kommt es, dass wir etwas wissen? Wofür steht Wissen? Woher wissen wir, dass wir es wissen? Woher wissen wir, dass wir es nicht wissen?“ Bei Mbembe ist die Dekolonisierung schon ins Planetarische getreten. Der ­portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos formuliert es so: keine globale so­ziale Gerechtigkeit ohne „kognitive Gerechtigkeit“.

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Die Architektur von Wissen zu dekonstruieren, Kulturgeschichte neu zu schreiben, das sind Ziele an einem sehr fernen Horizont. Aber sie können helfen, die Richtung zu peilen – und immer wieder die Ahnung zu tanken, um was für ein fantastisches großes Unterfangen es sich handelt, während die kleine graue Gegenwart mit Bahnhofsumbenennungen ringt.

Die Entkolonisierung der Weltbetrachtung ist eine im Wortsinn unendliche Aufgabe. Wird sie vielleicht auch deshalb wenig in Angriff genommen, weil sichtbare Erfolge – weg mit dem XY-Wort – hier kaum zu haben sind? So nötig es ist, Beleidigendes zu entfernen und zu unterlassen: Mit wachsender Sensibilität wirkt ja immer mehr anstößig, auch für jene Weißen, zu denen ich mich zähle. Entsteht daraus unsere Nervosität, auch Unduldsamkeit?

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Author Penarc
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Unten       —       Description: „Colored Waiting Room“ sign from segregationist era United States. Medium: Black-and-white en:photograph Location: Greyhound bus station[1]Rome GA, United States Date: September 1943 Author: Esther Bubley Source: Library of Congress Provider: „Images of American Political History“ at the College of New Jersey [2] License: Public domain Misc: Borders cropped with GIMP

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Zerrissenes Frankreich

Erstellt von Redaktion am 27. September 2020

Das gestresste Land

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Von Harriet Wolff

Fünf Jahre nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo und dem Novemberterror: Frankreich steckt in einer tiefen Identitätskrise.

Es ist eine Diskussion, die ernsthaft hitzig immer wieder in Frankreich geführt wird: Wie kleidet man sich für die Schule? Bauchfrei geht gar nicht, sagen Stockkonservative. Noch bizarrer als sonst erscheint diese Klamottendebatte jetzt vor dem verheerenden Hintergrund einer zweiten Coronawelle mit hohen Fallzahlen und regional strikten Beschränkungen, die bei den dortigen Verantwortlichen auf Protest stoßen, weil sie nicht mitentscheiden dürfen. Die neuen Verbote schwächen empfindlich den von Staatspräsident Macron und der Regierung unter dem neuen Premierminister Castex jüngst vollmundig angekündigten Plan „France Relance“ zur Wiederankurbelung der coronageplagten Wirtschaft. Sie sind aber noch nicht vergleichbar mit dem repressiven landesweiten Lockdown im Frühjahr. Ihn will der Staat derzeit unbedingt vermeiden und appelliert deshalb an die Bürger:innenvernunft, es doch bitte (und ordentlich bekleidet) mit dem geliebten Savoir vivre nicht zu übertreiben.

Die unselige Klamottendebatte, sie erscheint wie ein verirrtes Puzzleteil eines französischen Gesellschaftpuzzles. Ein Puzzeln ist es, bei dem eine auf verschiedenen Ebenen gestresste Nation ins Stocken geraten ist. Wie zerrissen also darf die Jeans im Klassenzimmer sein? Bildungsminister Blanquer von der Regierungspartei LREM fordert allen Ernstes eine „tenue républicaine“, was immer Verzopftes das auch sein mag – vielleicht eine bodenlange Trikolore für Elev:innen in den Nationalfarben, möchte man ganz unernst einwerfen. Unter dem Hashtag #lundi14septembre hatten sich Schüler:innen zuletzt vehement dafür eingesetzt, sich nirgendwo kurzen Rock und Co. verbieten zu lassen.

Anstatt aber in einem sich auf dem Papier auf Freiheit berufenden Gemeinwesen unisono Solidarität und Laissez-faire auszurufen, kommen widersprüchliche Signale aus Gesellschaft und Politik. Hier arbeiten sich an überkommenen Konventionen hängende Menschen, meist Männer, letztlich an einer Denkfigur ab, die es in der Realität nie gegeben hat, auch vor 1968 nicht: das gute, alte Frankreich, das Frankreich, in dem Frauen und Mädchen, sich je nach Situation kokett bis „anständig“ zu benehmen wussten, Männer noch „echte“, verführerische Männer waren, und die vielen Einwander:innen, meist aus den ehemaligen französischen Kolonien, brav sich ghettoisieren ließen.

Frankreich aber birgt natürlich nicht erst sozialen Sprengstoff seit dem Auftauchen der Gelbwesten Ende 2018. Jenes Phänomen, wie auch die Aufstände in maroden französischen Vorstädten bereits 2005, zeigen jedoch wie in einem Brennglas Ressourcen- und Verteilungskämpfe. Und: Gewaltexzesse von Protestierenden und der nicht selten rassistisch agierenden Staatsmacht. Diese komplizierte gesellschaftliche Gemengelage hat nichts zu tun mit dem republikanischen Pathos, das Staatspräsident Emmanuel Macron auch im Alltag eifrig bedient. Sie ist geprägt von Frust und Minderwertigkeitsgefühlen auf der einen und Elitismus auf der anderen Seite.

Neue Brüche in der Gesellschaft

Die frühere Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von Charlie Hebdo, Romy Strassenburg, sagte kürzlich prägnant in einem taz-Interview (als der Prozess begann zum islamistisch motivierten Attentat auf die Satirezeitung), dass das französische annus horribilis 2015 mit seinen großen Fragen zu Identität, Religion und Terror ein Stück weit abgelöst worden sei von neuen Fragen, die neue Brüche innerhalb der Gesellschaft aufgezeigt hätten. Öffentlich im Fokus seien nun weniger abgehängte, radikalisierte junge Muslime, sondern mehr eine weiße frustrierte Unterschicht in urbanen Randzonen, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecke. Frankreich, so Strassenburg, „ist von einer sozialen Einheit oder Befriedung wohl noch weiter entfernt als 2015“. Jetzt am Freitag wurden denn auch zwei Journalist:innen bei einem Messerangriff in der Nähe des früheren Büros von Charlie Hebdo verletzt. Antiterroreinheiten ermitteln; es bleibt unruhig – auch beim Thema Islamismus.

Macron hielt Anfang September eine Ansprache im Pariser Panthéon, dort, wo viele Berühmtheiten Frankreichs beerdigt sind. Tenor der Rede: Die Werte der französischen Republik wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Laizität seien „unteilbar“. Und in einem Diskurs Mitte Juni nach der zweiten großen Pariser Antirassismus-Demo, sagte Macron denn auch tatsächlich: „Dieser Kampf ist nicht hinnehmbar, wenn er von Separatisten gekapert wird.“ Gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung müsse man vorgehen, aber bitte nicht so. Wie dann? Das Land hat sichtlich Probleme mit der Akzeptanz seiner staatlichen Organe – und Menschen, die kritisch darüber denken, werden an den Pranger gestellt.

2011-11-02 Incendie à Charlie Hebdo - Patrick Pelloux - 01.jpg

Frankreich driftet an neuralgischen Punkten stark auseinander. Und die monetäre Kluft zwischen Ärmeren und Reichen wächst stetig. Der soziale Wohnungsbau etwa ist unter Macron spürbar weniger geworden. Eine versprochene sogenannte Reichensteuer ist nie gekommen. Ob gute Bildung und gute Förderung gegeben sind, hängt im zentralistisch geführten und in der Machtfülle stark auf den Staatspräsidenten ausgerichteten Hexagon häufig von der „richtigen“ Adresse ab – und dem Abschluss an einer Eliteeinrichtung. Wer sich etwa für Jobs bewirbt, fällt nicht selten qua nichtfranzösisch klingendem Namen und Herkunft aus als desolat geltenden Vorstädten durchs Raster.

System der Ungleichheit

Erst kürzlich hat der machtlose, aus dem konservativen Lager stammende Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Jacques Toubon, daran erinnert, dass das „System Frankreich“ als Ganzes infrage stehen müsse: „ein System, das Ungleichheiten schafft und erhält“. Für Menschen, die nicht französisch aussähen und/oder materiell nicht gut gestellt seien, „hält die Republik nicht ihre Versprechungen“.

Quelle          :       TAZ         >>>>>        weiterlesen

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Oben         —      Incendie des locaux de Charlie Hebdo (62 boulevard Davout, Paris) le mercredi 2 novembre 2011.

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Westeuropäische Angst

Erstellt von Redaktion am 27. September 2020

Der Albtraum, die Gewohnheiten zu verlieren

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Eine Kolumne von Sibylle Berg

Am Ende dieses seltsamen Sommers ist die Sehnsucht groß nach der heilen Welt. Und umso größer die Furcht vor dem Verlust der Gewohnheiten. Doch die Zeit des „Das haben wir immer so gemacht“ ist vorbei.

Die Albträume in der Nacht, unterscheiden sie sich bei allen Milliarden auf der Welt? Oder werden nur ein paar Standard-Horrorträume bereitgestellt, die in die Hirne gesendet werden? Nackt durchs Dorf laufen, im Flugzeug ins Trudeln kommen, die nicht bestandene Prüfung, das Sterben, immer sterben, oder das Haus brennt, der Wald brennt, das Wasser kommt oder die Mutter geht.

Bricht man all die schlechten Träume, die Ängste meinen, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunter, so bleibt die Wahrheit: Nichts fürchten die meisten mehr als den Verlust von Gewohnheiten. Das kleine geschundene Wort: Gewohnheit, das klingt nach schweigenden Ehepaaren an Restauranttischen, nach Vorgärten und Weihnachten. In diesem kleinen Wort steckt das, was das Leben vieler ausmacht. Die Routine, die Tradition, der Alltag. Dinge machen, wie man sie schon immer machte. Das Sonntagsfrühstück mit der Familie, die leisen Gespräche mit der Partnerin oder dem Partner unter der Bettdecke.

Der Tag besteht aus Millionen kleiner Gewohnheiten, sie bilden das Mosaik, aus dem das Sein besteht, und wehe, wenn sie einem genommen werden. Die Welt, die sich gerade rasend schnell verändert, die Unwetter, die Pandemien, das Sichtbarwerden der Ausbeutung, in der sich die meisten Arbeitnehmenden befinden, all das bedroht das Gewohnheitsrecht, das viele zu haben meinen. Ein Leben als irgendwem überlegener Westeuropäer.

Als würde man sich auflösen in der Feindlichkeit des Lebens

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Viele Westeuropäer haben sich an die Abwesenheit eines Krieges so sehr gewöhnt, dass sie es für ihr eigenes Verdienst halten. So wie sie sich an den Wohlstand gewöhnt haben oder an die Angst, die zum Bedrohungsmechanismus des Kapitalismus gehört. Streng dich an, verkaufe deine Lebenszeit, sonst verlierst du den Job, die Wohnung, die Daseinsberechtigung.

Diese für wenige wunderbare Erfindung des Wettbewerbs, aus dem fliegt, wer nicht leistet. Und nur wer leistet, kann sich irgendein Zeug leisten, was dann herumsteht. Und die Angst befeuert, es wieder zu verlieren. Egal, die Angst ist vertraut, die Arbeit wird nicht hinterfragt, so ist es eben. Nichts soll sich verändern, von außen. Vermutlich ist der größte Albtraum der meisten, Gewohnheiten zu verlieren. Als würde man auseinanderfallen, keinen Boden, kein Geländer, keine Sicherheit mehr haben, und sich auflösen in der Feindlichkeit des Lebens.

Quelle        :       Spiegel-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben        —      sieht man in letzter Zeit häufig

Source Berliner Stadtbild –
Author Rolf Dietrich Brecher from Germany
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Unten         —       Sibylle Berg, Frankfurter Buchmesse 2012

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