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Das Haus brennt

Erstellt von Redaktion am 5. August 2023

Die Hitzerekorde und Waldbrände sind erst der Anfang.

Von Bernhard Pötter

In 20Jahren wird dieser Sommer als kühl gelten. Doch die Politik tut noch immer so, als würde ein bisschen mehr Öko helfen. Das Mittelmeer ist zu heiß für die Ferien? Dann fahren wir eben an die Ostsee. Wir gewöhnen uns an die Gefahr, anstatt die Gründe zu beseitigen.

Man stelle sich vor: Hinter den Bränden in der Mittelmeerregion steckt eine klandestine russische Aktion. Und die apokalyptischen Waldbrände in Kanada haben Brandstifter im Auftrag Chinas angefacht. Was wären die Folgen? Man würde erregt über nationale Sicherheit reden und eine radikale Umorientierung in Politik und Diplomatie fordern. Aufgeregte Debatten, mehr Geld für die Bekämpfung des Problems – ja, vielleicht würde eine „Zeitenwende“ ausgerufen. In Deutschland gäbe es angesichts der Bedrohung einen innenpolitischen Burgfrieden und entschlossenes, schnelles Handeln.

Nichts davon geschieht derzeit in der eskalierenden Klimakrise. In der deutschen Politik, im Europaparlament und im UN-Klimaprozess passiert wenig. SPD, FDP und Grüne entschärfen und verzögern das Klimaschutzgesetz. Die FDP feiert sich dafür, das Ende der fossilen Heizungen herauszuschieben und Scheinlösungen wie Wasserstoffheizungen zu propagieren. Der Kanzler mahnt, man dürfe beim Klimaschutz nichts überstürzen, und Oppositionsführer Merz behauptet, es sei ja noch genug Zeit. Währenddessen versuchen seine Unionskollegen im Europaparlament mit dem „Nature Restoration Law“ einen Eckpfeiler des Green Deal zu zerschießen. Und international setzen Öl- und Gasstaaten und ihre Konzerne darauf, die Klimaziele des Pariser Abkommens in Rauch aufgehen zu lassen.

Um die von allen angemahnte 1,5-Grad-Grenze zu halten, müssen wir in sechseinhalb Jahren die globalen Emissionen halbieren. Dafür müssen sie jährlich um sieben Prozent sinken. Bislang sind sie fast nur gewachsen. Wie kann man da davon sprechen, man dürfe nichts überstürzen? Das Haus brennt, aber statt zu löschen, sollen wir erst mal abwarten?

Diese törichte Entspanntheit gelingt uns nur mit einer Fehlleistung: Wir bilden uns ein, das gehe wieder weg. Das Gegenteil ist richtig. Was wir jetzt erleben, ist das neue Normal. Die Extreme von Hitze, Dürren und Wetter sind keine Ausreißer der Statistik, sondern der Anfang einer Entwicklung, die schneller und brutaler passiert als KlimaexpertInnen bisher vermuteten. Der Chef des Umweltbundesamtes mahnt: „Wir sind erst bei 1,1/1,2 Grad globaler Erwärmung. Jeder heiße Sommer, den wir jetzt erleben, wird – von 2030/40 aus betrachtet – ein kühler Sommer gewesen sein.“

Die Weigerung, nun endlich zu handeln, widerlegt auch eine geheime Hoffnung der Klimabewegung. Wenn die Auswirkungen der Klimakrise vor allem in den reichen Ländern direkt sichtbar und spürbar sind, so das Kalkül, dann würde Klimaschutz zum Selbstläufer – schon aus purem Eigeninteresse. Ökoparteien bekämen Zulauf, scharfe Gesetze würden akzeptiert, die Wirtschaft würde Regulierung nachfragen und mit nachhaltigen Produkten Wohlstand schaffen.

Diese Rechnung geht nicht auf. Wer sich die aktuellen Hitzewellen im Mittelmeerraum anschaut, die Waldbrände in Kanada, die New York City mit Smog überziehen, die Überhitzung der Ozeane und die eskalierenden Extremwetter in Indien und China, erkennt: Es gibt kein kollektives Erwachen. Die bisher nur von Experten vorausgesagte Eskalation ist nicht das Warnsignal, das alles ändert. Im Gegenteil: Mit jedem neuen Hitzerekord werden die Bedrohungen für Alte und Kranke „natürlicher“ und als normaler wahrgenommen. Wir ändern unser Denken und Verhalten nicht – wir gewöhnen uns an die Gefahr und suchen nach Angeboten für günstige Klimaanlagen. Am Mittelmeer ist es zu heiß für die Ferien? Dann fahren wir eben an die Ostsee.

Die Unfähigkeit, angemessen auf die Klimakrise zu reagieren, liegt an dem bekannten Dilemma, dass uns hier kein klar identifizierbarer Gegner bedroht, sondern „wir alle“ das Problem schaffen. Etwas tiefer geblickt erkennt man ein weiteres grundlegendes Problem: Die politischen Eliten begreifen die Klimakrise nicht und versagen daher bei ihrer effektiven Bekämpfung.

Die Erdüberhitzung ist anders als die meisten Krisen: Sie ist kumulativ. Das Problem wird immer größer, je länger wir warten. Wir müssen daher sofort handeln. Sie fordert jetzt Maßnahmen, die sich erst in der Zukunft auszahlen. Sie ist global und erfordert Kooperation in einer Weltlage, die derzeit auf Konfrontation setzt. Und vor allem: Sie ist nur mit neuen Strukturen zu lösen, mit disruptiven Entscheidungen. Schrittweise Lösungen, „weitermachen wie bisher, nur ein bisschen grüner“ wären vor 20 Jahren möglich gewesen. Heute nicht mehr. Heute kann es nicht mehr zu viel, sondern nur noch zu wenig Klimaschutz geben.

Die Idee, dass nur noch disruptive Lösungen helfen, kommt nicht von radikalen AktivistInnen, sondern vom Weltklimarat IPCC – einem Gremium, in dem die Regierungen der UN-Staaten gemeinsam mit der Wissenschaft den Stand der Dinge im Klimawandel festhalten.

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Für Deutschland bedeutet dieses Disruptive ernst zu nehmen einen rasanten, durchgreifenden Wandel des Bewusstseins von – nicht so schlimm zu Alarm. Ein erster kleiner Schritt dorthin wäre, dass die aktuelle IPCC- „Zusammenfassung für Entscheidungsträger“ Pflichtlektüre für alle politischen Mandatsträger, Aktionärsvertreter und Abiturklassen wird. Der nächste Schritt ist: Der Bundestag beschließt, dass jedes staatliche Handeln auf der Basis des 1,5-Grad-Pfads geschehen muss und den Klimaschutz nicht bremsen darf. Wer das zu radikal findet, sei daran erinnert, dass behördliches Handeln an das Recht gebunden ist. Demnach darf kein staatliches Handeln gegen Gesetze verstoßen und kann nur auf der Grundlage von Gesetzen geschehen. Analoges müsste für den Klimaschutz bei staatlichem Handeln gelten. Diesen „Klima-Check“ für alle Gesetze hat die Ampel schon in ihrem Koalitionsvertrag fixiert. Das war eine gute Idee, die seitdem sanft vor sich hin schlummert.

Nötig wäre, dass der Kanzler eine „Zeitenwende“ in der Klimapolitik ausruft und 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Klimasubventionen wie Gebäudeisolierung, eine Solarpflicht für alle Dächer und Speicherforschung lockermacht. Weil Klimaschutzpolitik nur gemeinsam geht und jede Partei dafür ver­antwortlich ist, müssten alle drei Regierungsparteien für sie schwierige Kompromisse eingehen. Die FDP akzeptiert Tempolimit und schuldenfinanzierte Klimahilfen, die Grünen den LNG-Ausbau und EU-Hilfen für Atomkraft in der EU, die SPD den Kohleausstieg auch im Osten Deutschlands 2030.

Damit endlich schnell und effizient gehandelt wird, müssen sich Gesellschaft und Politik in Deutschland von ein paar liebgewonnenen Erzählungen rund um Klimapolitik verabschieden. Dazu gehört das von fast allen verbreitete bequeme Versprechen, Klimaschutz werde „nichts kosten“. Das Gegenteil ist der Fall. Der CO2-Preis soll und muss das Verhalten von Verbrauchern steuern und Einnahmen für Klimaschutz generieren. Es gibt kein Menschenrecht auf Kreuzfahrten, Langstreckenflüge und Billigfleisch. Der Staat muss umweltschädliches Verhalten besteuern, nicht subventionieren – und über ein Klimageld diese Einnahmen sozial gerecht zurückverteilen.

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Kniestedt, Antifaschist

Erstellt von Redaktion am 5. August 2023

Friedrich Kniestedt, Antifaschist im Brasilien der 1930er Jahre

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von          :          Tom Goyens

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 480, Sommer 2023, www.graswurzel.net

Friedrich Kniestedt, Antifaschist im Brasilien der 1930er Jahre. – Über die Verheerungen, die der Nationalsozialismus in den entsetzlichen zwölf Jahren seiner Herrschaft in Deutschland und Europa angerichtet hat, ist viel geforscht und geschrieben worden.

Wenig bekannt ist hingegen, dass die Nazis in ihrem Bestreben, ihr Terrorregime über die Welt auszubreiten, Brasilien eine besondere Rolle zugedacht hatten und dort, auf einem fernen Kontinent, ein „neues Deutschland“ errichten wollten. Ihre aggressive und gewalttätige Propaganda im Milieu der Deutschbrasilianer*innen stiess auf den entschlossenen Widerstand einer Gruppe um den deutschstämmigen Anarchisten Friedrich Kniestedt.Am 25. April 1935 gegen acht Uhr abends versammelten sich einige junge Deutschbrasilianer in Hitlerjugenduniform vor einer Buchhandlung in der südbrasilianischen Grossstadt Porto Alegre. Sie wollten die Scheiben einschlagen, aber der Buchhändler Friedrich Kniestedt und seine Nachbarn, darunter drei Deutschbrasilianer, stellten sich ihnen entgegen. Einer der Nachbarn schnappte sich einen der Jugendlichen und brachte ihn zur Polizei. Die anderen Hitlerjungen rannten weg, kamen aber mit dreissig weiteren zurück. In der Zwischenzeit hatten sich jedoch schon fünfzig Personen versammelt, um die Buchhandlung und die darin befindliche antifaschistische Literatur zu verteidigen. Die Auseinandersetzung war damit beendet. Erst später erfuhr Kniestedt, dass die Angriffe von oben geplant worden waren, dass mit weiteren zu rechnen war, und dass sein Name auf einer Todesliste stand. (1)

Von 1933 bis 1938 ging der einzige nennenswerte Widerstand gegen die Nazifizierung im Süden Brasiliens von einem relativ kleinen Kreis antiautoritärer Aktivist*innen in Porto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul, aus. Im Zentrum dieses Kreises stand Friedrich Kniestedt (1873-1947), ein dickhäutiger anarchistischer Redakteur, der seit zwanzig Jahren in Brasilien lebte. Zwar gab es in den 1930er Jahren mehrere brasilianische antifaschistische Gruppen, aber Kniestedt konzentrierte sich auf die grosse deutschbrasilianische Gemeinschaft, denn sie war massiver Nazipropaganda ausgesetzt. (2) Dieser Propaganda setzte Kniestedt seinen humanistischen, kosmopolitischen und antiautoritären Aktivismus und seine Vision für die Zukunft entgegen.

Naziimperialismus in Brasilien

Um diesen spezifisch deutschen antifaschistischen Widerstand in Brasilien zu verstehen, müssen wir uns den Kontext ansehen. Die nationalsozialistische Propaganda in Brasilien war vielgestaltig, gut organisiert und mit reichlich Geld ausgestattet, um sicherzustellen, dass der Nationalsozialismus sehr schnell Fuss fassen würde. Und tatsächlich war Brasilien, wenngleich „nur“ 5% der deutschen Staatsangehörigen in Brasilien Mitglieder von Nazi-Organisationen waren, ausserhalb Deutschlands das Land mit den meisten – nämlich 3.000 – NSDAP-Mitgliedern. (3) Hitler hatte grosse Pläne für Brasilien; er wollte ein neues Deutschland schaffen, um den bestehenden „korrupten Mestizenstaat“ zu ersetzen. (4)

Ausschlaggebend waren die wirtschaftliche Bedeutung Brasiliens und die eine Million deutschstämmiger Brasilianer. Brasilien war Deutschlands wichtigster Lieferant von Wolle, Kaffee und Kautschuk. Die grosse, hauptsächlich im Süden des Landes lebende deutschstämmige Bevölkerungsgruppe in Brasilien versprach eine solide Basis für den Naziimperialismus zu werden. Da die grösste deutsche Einwanderungswelle nach Brasilien erst in den 1920er Jahren stattgefunden hatte, war die Gemeinschaft nicht assimiliert und daher anfällig für Loyalitäts- und Ideologiewechsel.

Im Bundesstaat Rio Grande do Sul lebten in den 1930er Jahren rund 600.000 deutschstämmige Menschen (20 % der Bevölkerung), und in der Hauptstadt Porto Alegre waren 12 % deutschstämmig. (5) Es schadete auch nicht, dass die populistische Regierung von Getúlio Vargas die Aktivitäten der Nazis tolerierte und enge Handelsbeziehungen zu Deutschland unterhielt. Aus diesem Grund investierte die Auslandsabteilung der NSDAP so viel in Brasilien. „Wir werden nicht wie Wilhelm der Eroberer Truppen landen und Brasilien mit der Waffe in der Hand erobern“, sagte Hitler einmal. „Die Waffen, die wir haben, sieht man nicht.“ (6)

Gleichschaltung und Einschüchterung

Eine dieser Waffen war die Politik der Gleichschaltung aller Schulen, Vereine und der Presse innerhalb der deutschbrasilianischen Gemeinschaft. Gleichschaltung bedeutet „auf Linie bringen“, von oben koordinieren und im Namen der nationalen Einheit konsolidieren. Der Begriff stammt aus der Elektrotechnik, wo alle Schalter auf denselben Stromkreis gelegt werden, so dass alle durch das Umlegen eines Hauptschalters aktiviert werden können. Die Instrumente dieser Politik waren beeindruckend: Das deutsche Konsulat in Porto Alegre, das Gelder verteilte (7); die Nazi-Parteizellen mit ihren Jugend- und Frauenorganisationen (8); ein Netz von Gestapo-Agenten, die ihre Befehle direkt aus Berlin erhielten; die Pseudo-Gewerkschaft Arbeitsfront und zahlreiche zivile Informant*innen.

„Ich betrachte mich als Gegner dieses Staates, ich halte es für meine Pflicht, das zu tun, was ich immer getan habe, nämlich die Wahrheit zu sagen und danach zu handeln.“

So genehmigte beispielsweise 1935 eine Konferenz deutscher Protestant*innen den Bau eines neuen Gymnasiums, in dem die Schüler*innen das Horst-Wessel-Lied singen mussten und im Geschichts- und Religionsunterricht antisemitischer Propaganda ausgesetzt waren (9). Zugleich legte die Gestapo in ihrem Hauptquartier in Santa Catarina eine Datenbank mit über 1.000 Personen samt Bildern und Biografien an, die gegen den Nationalsozialismus waren oder deren Loyalität zweifelhaft war (10). Die brasilianischen Behörden wussten so gut wie nichts über diese ausländischen Propagandabemühungen in ihrem Land. Erst nach 1942, als Brasilien sich den Alliierten anschloss, erfuhren die Brasilianer*innen vom Ausmass der Nazi-Propaganda in den 1930er Jahren. (11)

Souveräne Antifaschisten, blamierte Nazis

Die erste dokumentierte Konfrontation zwischen Kniestedt und den örtlichen Nazis ereignete sich im April 1932, als die Nazizelle forderte, den Saal der Sociedade Caixa Beneficente Navegantes (Unterstützungskasse Navegantes), der grössten deutschbrasilianischen Organisation in der Region, nutzen zu dürfen. Diese Einrichtung bestand seit 1909 und zählte etwa dreihundert Mitglieder. (12) Kniestedt, der Schatzmeister, und die anderen Vorstandsmitglieder lehnten den Antrag ab. (13) Dies setzte eine Reihe von Infiltrationsversuchen der Nazis in Gang, um die Kontrolle über diese Gemeinschaft zu erlangen.

Am 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, organisierte Kniestedt im Saal der Unterstützungskasse die wohl erste öffentliche antifaschistische Demonstration in Brasilien. (14) Er lud die örtlichen Nazis zu einer Debatte ein. Das Ergebnis war eine Niederlage für die Braunhemden; die Mitglieder des Vereins lehnten den Nationalsozialismus rundweg ab. Die Nazis blamierten sich, indem sie herumschrien und die Beleidigten spielten, bevor sie schliesslich abzogen. „Kniestedt war der Sieger auf der ganzen Linie“, schrieb ein Berichterstatter, „dank seines souveränen, gemässigten, ruhigen Vortragsstils, der Polemik vermied und Fakten und Dokumente für sich selbst sprechen liess“.(15)

Als Vergeltung gründeten die Nazis ihre eigenen Gruppen, um den Verein für gegenseitige Hilfe an den Rand zu drängen, der sich jedoch nicht einschüchtern liess und mit der Gründung einer Amateurtheatertruppe, einer Sportgruppe und eines Gesangvereins dagegenhielt. (16) Wichtig war auch, interne Streitigkeiten zu vermeiden, die von den Nazis leicht hätten ausgenutzt werden können. Im Oktober 1935 appellierte Kniestedt an die Mitglieder, zusammenzuhalten und das Prinzip der gegenseitigen Hilfe zu bewahren und nicht zuzulassen, dass Saboteure von aussen die Organisation zerstörten. (17)

Die Zeitschriften „Aktion“ und „Alarm“

Zudem beschloss Kniestedt, die Nazis direkt zu bekämpfen. Im April 1933 gründete er die Menschenrechtsliga Porto Alegre als unabhängige internationale Organisation, „um die Menschenrechte durch die Anwendung und Ausübung aller notwendigen Mittel zu verteidigen“ (18). Eine der ersten Aktionen der Liga bestand darin, die Maifeierlichkeiten der Nazis zu unterminieren, indem Flugblätter an deutsche Arbeiter*innen verteilt wurden mit der Aufforderung, nicht an den Maifeiern teilzunehmen. (19) Einige Wochen später gründete Kniestedt die „Aktion“ als Sprachrohr der Liga.

Sie sollte seine stärkste Waffe und die langlebigste antifaschistische Zeitschrift Brasiliens werden. Die erklärte Aufgabe der Zeitung war es, den Faschismus und seine Folgen zu bekämpfen, den Opfern des Faschismus beizustehen, den Lügen des „Dritten Reichs“ entgegenzutreten, jede Art von Unterdrückung zu bekämpfen und Wege zur Befreiung der Menschheit zu diskutieren. In diesem Titanenkampf, der sich in einem kleinen Winkel der Welt abspielte, gelang es Kniestedt und seinem Kreis, eine anarchistische Stimme zu erheben und die Diktaturen von Stalin, Mussolini und Hitler blosszustellen. Auf „Aktion“ folgte später „Alarm“. Beide Zeitschriften sind Zeugnisse antifaschistischen Handelns in einem feindlichen Umfeld.

Die Forschung hat diese Publikationen oft unterschätzt und ist von einer Auflage von einigen hundert Exemplaren ausgegangen. Hingegen berichtet uns ein Historiker, dass bis 1936 insgesamt 9000 Exemplare der „Aktion“ gedruckt wurden, von denen 3000 nach Deutschland geschickt wurden. (20) Die Abonnent*innen waren über die drei südlichsten Bundesstaaten Brasiliens verteilt, und Vertragshändler verkauften die Zeitschrift in Städten wie Rio de Janeiro, São Paulo, Santos und Curitiba. „Aktion“ und „Alarm“ wurden auch an andere radikale Organisationen im Tausch gegen deren Zeitschriften verschickt, unter anderem an die Menschenrechtsliga in Strassburg, die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit in Genf und die Federación Anarquista Ibérica (FAI) in Barcelona. (21)

Kniestedt und seine Mitstreiter*innen nutzten die Liga für Menschenrechte, ihre Zeitschrift„Aktion“ und Kniestedts Position in der Unterstützungskasse, um die nationalsozialistische Propaganda und die Politik der Gleichschaltung zu durchkreuzen, wo immer es möglich war. In Curitiba (Paraná) wurde eine neue Zweigstelle der Liga gegründet, die die Verbreitung antifaschistischer Flugblätter in diesem Bundesstaat intensivierte, und 1935 wurde ein portugiesischsprachiger Zweig gegründet. (22) Da alle deutschen Schulen in Brasilien nationalsozialisiert worden waren, wurde die Liga gebeten, Gelder für den Bau einer freien Schule nach Pestalozzis Grundsätzen zu beschaffen, aber daraus wurde nichts. (23) Wenn man schon die Kinder verloren geben musste, war es jedoch immer noch möglich, mit Hilfe der Literatur die erwachsenen Deutschbrasilianer*innen zu erreichen. 1936 gründete die Liga eine Leihbibliothek und eine Theatergesellschaft.

Kniestedt betrieb schon seit 1925 eine eigene Buchhandlung, die einige Male verwüstet wurde, weil sie wahrscheinlich der einzige Ort war, an dem man deutschsprachige Literatur jenseits der Nazi-Zensur erhalten konnte. (24) In den Jahren 1936/37 scheiterten die Nazis bei ihrem Versuch, den Turnerbund, eine der grössten deutschen Institutionen im Land, zu übernehmen, was zum Teil auf die antifaschistischen Aktivitäten der Liga und der „Aktion“ zurückzuführen war. Auf einer schlecht besuchten Mitgliederversammlung – nur 116 der 1200 Mitglieder waren anwesend – sahen die Nazis die Chance, eine Abstimmung über die Nazifizierung der Gesangsgruppe des Turnerbundes zu erzwingen. Als die Mitglieder davon Wind bekamen, beantragten sie erfolgreich eine neue Mitgliederversammlung. Diese verabschiedete mit 364 zu 254 Stimmen mehrere Anträge, die den Turnerbund in Zukunft vor einer Übernahme durch die Nazis schützen sollten. (25)

Die Wahrheit sagen und danach handeln…

Die Wahrheit über die Verbrechen des Dritten Reiches und anderer Despotien zu sagen, war eine der wirksamsten (und gefährlichsten) Formen des Widerstands. Die „Aktion“ druckte Berichte über Konzentrationslager, in denen Andersdenkende gefangen gehalten wurden, über die Gewalt gegen Juden, über die engen Beziehungen zwischen Hitler und den Vertretern der Grossindustrie, aber auch über die Moskauer Schauprozesse. Im Sommer 1934 organisierte die Liga eine Kampagne für die Freilassung von Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Ludwig Renn und anderen Opfern des Hitler-Terrors. Sie machte die Verbrechen des Nazistaates öffentlich, und sie organisierte Versammlungen für deutsche Flüchtlinge in Porto Alegre. (26) Diese öffentliche Anprangerung machte die Nazis in Südbrasilien nervös. „Wir wissen aus zuverlässigen Quellen“, schrieb Willy Keller, einer von Kniestedts engen Mitarbeitern, „dass am Tag vor dem Erscheinen der ‚Aktion‘ im deutschen Konsulat immer Panikstimmung herrschte“. (27)

Die Nazis drängten die Anzeigenkunden, ihre Unterstützung für die „Aktion“ zurückzuziehen, aber ohne Erfolg. Im Mai 1934 reichten dann zwei Nazizeitungen, der „Urwaldsbote“ aus Blumenau und die „Neue Deutsche Zeitung“ aus Porto Alegre, vor Gericht eine Verleumdungsklage ein, um die „Aktion“ als kommunistisches Organ brandmarken zu dürfen. (28) Einige Mitglieder der Liga wollten mit einer ähnlich schmutzigen Taktik kontern, aber ihre Mitstreiter*innen lehnten das ab. (29) Letztendlich gewann Kniestedt den Prozess, erhielt aber niemals die vom Gericht angeordnete Entschädigung für die ihm entstandenen Kosten. Tatsächlich bestand ein Ziel der Kläger darin, ihn finanziell zu ruinieren. (30)

Ein Jahr später ging der Wunsch der Nazis in Erfüllung: Im November 1936 wurde Kniestedt von der brasilianischen Polizei verhaftet und die „Aktion“ beschlagnahmt. Wegen eines gescheiterten kommunistischen Aufstands in Brasilien hatte Vargas den Ausnahmezustand ausgerufen und liess alle kommunistischen Aktivitäten unterdrücken. Kniestedts Zeitschrift war zwar nicht kommunistisch, unterstützte aber die republikanischen Truppen, die im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco kämpften. (31) Die „Aktion“ musste eingestellt werden, aber keine zwei Monate später gründete Kniestedt die Zeitschrift „Alarm“, um weiter gegen den Totalitarismus anschreiben zu können.

Als im August 1937 der antikommunistische Ausnahmezustand aufgehoben wurde, brachte Kniestedt wieder die „Aktion“ heraus, nur um drei Monate später von der brasilianischen Regierung erneut verboten zu werden. (32) Seine verlegerische Tätigkeit endete im Mai 1938, als Vargas alle politischen Aktivitäten von Ausländer*innen verbot. Im Alter von fünfundsechzig Jahren schloss er sich der Bewegung „Das andere Deutschland“ an, die 1937 von Linkssozialisten wie August Siemsen in Buenos Aires gegründet worden war und zu den einflussreichsten Exilgruppen in Südamerika zählte. (33)

… trotz Gefängnis, Schikanen und Todesdrohungen

Die Bemühungen der Nazis, Kniestedt zum Schweigen zu bringen, zeigen, wie hinderlich er für die Auslandspropaganda der NSDAP war. Der Historiker René Gertz schrieb einmal, dass „dieser ganze Kampf gegen den Nationalsozialismus als effektiv angesehen werden kann, wenn wir die Reaktion der anderen Seite berücksichtigen“ (34). Die anfangs geschilderte Konfrontation vor der Buchhandlung war nur ein Beispiel. Kniestedt wurde routinemässig angegriffen und schikaniert – ob bei Versammlungen oder in der nazifreundlichen Presse, die ihn als Verräter bezeichnete.

Bei den lokalen Behörden wurde er als Kommunistenführer denunziert – in Vargas’ Brasilien immer ein guter Weg, um jemanden verhaften zu lassen. Als ein Boykott seines Buchladens scheiterte, zerstörten jugendliche Nazis die Aushängeschilder und schlugen die Fenster ein. Per Post wurde ihm eine vergiftete Maus geschickt, Stinkbomben wurden geworfen, und zweimal wurde sein Haus nachts mit Gas angegriffen. (35) Er erhielt Morddrohungen. Mehrmals wurde er verhaftet und ins Gefängnis geworfen, was ihm allerdings auch wachsende Bekanntheit bescherte. All diese Schikanen wurden von oben koordiniert. (36)

Ein herber persönlicher Verlust

1934 erfuhr Kniestedt, dass der Aussenminister des nationalsozialistischen Deutschlands ihm und siebenundzwanzig anderen im Ausland lebenden Deutschen die Staatsbürgerschaft entzogen hatte. Er antwortete, er fühle sich durch diese Entscheidung geehrt: „Ich betrachte mich als Gegner dieses Staates, ich halte es für meine Pflicht, das zu tun, was ich immer getan habe, nämlich die Wahrheit zu sagen und danach zu handeln.“ (37) Einer seiner schmerzlichsten Momente war, als Kniestedt erfuhr, dass sein Sohn vor die Wahl gestellt worden war, der Deutschen Arbeitsfront (DAF) beizutreten oder seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Er entschied sich für seinen Arbeitsplatz, und Kniestedt und seine Frau brachen alle Beziehungen zu ihrem Sohn ab. (38)

Vereint im Kampf gegen Unterdrückung und Faschismus

Was bleibt? Unter den Deutschbrasilianer*innen hatte Kniestedt einen beachtlichen Rückhalt und konnte seinen anarchistischen und antifaschistischen Zeitschriften in den 1920er- und 30er-Jahren praktisch durchgängige Unterstützung sichern. „Unserem Freund Friedrich Kniestedt in Porto Alegre ist es gelungen“, schreibt Willy Keller, „einen Kreis von Menschen um sich zu scharen, die durch gegenseitiges Vertrauen zusammengehalten werden. Diese Menschen haben unterschiedliche politische Meinungen, aber das hindert sie nicht, freundschaftlich miteinander umzugehen. Sie sind vereint in ihrem Kampf gegen Unterdrückung, soziales Elend, Krieg und Rassenhass.“ (39)

Nach Meinung eines der bedeutendsten Kenner der deutschbrasilianischen Geschichte „repräsentiert Kniestedt grosse Teile der deutschsprachigen Arbeiterschaft in Südbrasilien […]. Hier war die Solidarität über sprachliche und ethnische Grenzen hinweg wichtiger als die Zersplitterung.“ (40)

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Fussnoten:

(1) „Mein Kampf, oder besser, der Kampf der Nazis gegen meine Person”, Aktion, 1. Mai 1935, S.5-6.

(2) Izabela Kestler. Die Exilliteratur und das Exil der Deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien (Frankfurt a/M: Peter Lang, 1992), 133; Rene E. Gertz, „Operários alemães no Rio Grande do Sul (1920-1937) ou Friedrich Kniestedt também foi um imigrante alemão”, Revista Brasileira de História, São Paulo: ANPUH, Vol. 6, Nr. 11 (1986). Einen Überblick über antifaschistische Politik in Brasilien gibt João Fábio Bertonha, „Anti-fascism in Brazil During the Interwar Period”, in: Anti-Fascism in a Global Perspective: Transnational Network, Exile Communities, and Radical Internationalism. Herausgegeben von Kasper Braskén, Nigel Copsey und David Featherstone (London, NY: Routledge, 2021), 43-57.

(3) Anna Maria Dietrich; M. Garcia, „Juventude Hitlerista à Brasileira”, História Viva Vol. 39 (São Paulo, 2007), 74; Forster, Die deutschsprachige Minderheit.

(4) Zitiert in Dawid Bartelt, „‘Fünfte Kolonne’ ohne Plan. Die Auslandsorganisation der NSDAP in Brasilien 1931 – 1939,” Ibero-amerikanisches Archiv, Neue Folge, Bd. 19, Nr. 1/2 (1993), 1.

(5) Fast 90% aller ethnischen Deutschen in Brasilien waren brasilianische Staatsbürger*innen. Siehe „Reichsdeutsche Zellen und Deutschbrasilianertum”, Aktion, 18. März 1935, p.2. Jede*r sechste Einwohner*in von Rio Grande do Sul war gebürtige*r Deutsche*r. Siehe Nicolas Forster, Die deutschsprachige Minderheit in Brasilien in der Zwischenkriegszeit (München, GRIN Verlag, 2017). https://www.grin.com/document/366369; Michael Mulhall, O Rio Grande do Sul e suas colônias alemãs (Bels, 1974).

(6) Zitiert in Bartelt, „’Fünfte Kolonne’ ohne Plan”, S.1. Siehe auch Jürgen Müller, Nationalsozialismus in Lateinamerika: die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, 1931-1945 (Heinz, 1997).

(7) Rene Gertz, O fascismo no sul do Brasil: germanismo, nazismo, integralismo (Porto Alegre, RS: Mercado Aberto, c1987), 82; Frederik Schulze, Auswanderung als nationalistisches Projekt: ‘Deutschtum’ und Kolonialdiskurse im südlichen Brasilien (1824–1941) (Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2016), 101.

(8) Die Naziparteizelle von Porto Alegre wurde im Dezember 1931 gebildet und zählte 120 Mitglieder.

(9) „Gestapo-Agenten,” Aktion, 18. Nov. 1935, S.6. Als ein deutsches Unternehmen den Bau einer Eisenbahnlinie in Rio Grande do Sul übernahm, zwang es die Mitarbeiter, auch die nicht deutschen, der Arbeitsfront beizutreten. Jeden Morgen wurde vor Arbeitsbeginn ein militärischer Appell abgehalten.

(10) „Gestapo-Agenten,” Aktion, 10. Januar 1936, S.3.

(11) Forster, Die deutschsprachige Minderheit.

(12) „A organização da ‘Sociedade Caixa Beneficente Navegantes Mitteilungsblatt,” A Federação (Porto Alegre), August 4, 1934. Navegantes ist ein deutschbrasilianisch geprägtes Viertel in Porto Alegre.

(13) Kniestedt, Fuchsfeuerwild: Erinnerungen eines anarchistischen Auswanderers nach Rio Grande do Sul, memórias de Friedrich Kniestedt (1873-1947) (Hamburg: Verlag Barrikade, 2013), 170.

(14) Kestler, Die Exilliteratur, 135.

(15) Bericht im katholischen Deutschen Volksblatt, zit. in Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 171.

(16) „Vereinsnachrichten,” Aktion, 20. März 1934, S.4.

(17) „Aufruf,” Aktion, 10. Oktober 1935, S.5.

(18) „Liga für Menschenrechte,” Aktion, 15. Februar 1935, S.4.

(19) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 148; Imgart Grützmann, „NSDAP-Ortsgruppe Porto Alegre, comemorações do 1º de Maio (1933-1937), participantes,” História Unisinos, Vol. 22, Nr. 2 (2018), pp. 274-289. Die Liga organisierte auch einen Vortrag über den Haymarket und die Bedeutung des 1. Mai. Siehe Aktion, 1. und 24. Mai 1935, S.6

(20) Kestler, Die Exilliteratur, 135; „Rück- und Ausblick,” Aktion, 23. Dez. 1935, S.1.

(21) Siehe die „Briefkasten“-Abschnitte in Aktion und Alarm; Brief Kniestedts an Helmut Rüdiger, 19. März 1937, Dossier ‚Bestellungen etc.; Korrespondenz.‘ (Pedidos etc.; correspondencia). Correspondencia internacional de Helmut Rüdiger de la Delegación Permanente de la AIT en Barcelona. Federación Anarquista Ibérica Archives, IISH. Ich danke Dieter Nelles für seinen diesbezüglichen Hinweis.

(22) „Liga für Menschenrechte,” Aktion, 31. Aug. 1934, S.4; „Vereins-Angelegenheiten,” Aktion, 31. Okt. 1935, S.6.

(23) „Liga für Menschenrechte,” Aktion, 15. Dez. 1934, S.4.

(24) Kniestedts Livraria Internacional war Buchhandlung und Leihbücherei zugleich. Ihr Sortiment umfasste u.a. Bücher oppositioneller Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger und Erich Maria Remarque; eine deutsche Übersetzung von Edgar Ansel Mowrerss Germany Puts The Clock (1933); Sibirische Garnison (1927) des rumänischen Schriftstellers Rodion Markovits; eine frühe Schilderung der NS-Lager unter dem Titel Konzentrationslager: Ein Buch der Greuel! Die Opfer klagen an (1935), aber auch anarchistische Literatur von Autoren wie Kropotkin und Tolstoi.

(25) „Vorbeigelungen“, Alarm, 15. Feb. 1937, S.15. Einigen Kommunisten war Kniestedts Antistalinismus ein Dorn im Auge. 1935 machten sie mehrfach gemeinsame Sache mit den Nazis vor Ort, um die Liga zu unterminieren. Siehe „Sieg?” Aktion, 28. Feb. 1935, S.5; „Vom Kriegsschauplatz”, Aktion, 18. Apr. 1935, S.5.

(26) „Liga für Menschenrechte”, Aktion, 18. Juni 1934, S.4. „Flüchtlinge,” Aktion, 31. März 1935, S.6.

(27) Zit. in Kestler, Die Exilliteratur, 136.

(28) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 180; „Processos pro crime de injurias impressas”, O Estado (Florianopolis), 9. Juni 1934, S.4.

(29) „Liga für Menschenrechte”, Aktion, 31. Jan. 1935, S.4.

(30) „Rück- und Ausblick”, Aktion, 23. Dez. 1935, S.1; Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 184.

(31) Fuchsfeuerwild, 176; „Warum?”, Alarm, 15. Feb. 1937, S.12.

(32) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 175.

(33) Das andere Deutschland Bd. 5, Nr. 54 (Sept. 1942), 34. Kniestedt war ein offizieller Vertreter der Bewegung.

(34) Gertz, „Operários alemães,” 81.

(35) „Mein Kampf, oder besser, der Kampf der Nazis gegen meine Person,” Aktion, 1. Mai 1935, S.5-6.

(36) Im Januar 1934 schreibt Kniestedt einen Brief an den deutschen Konsul Walter Mulert und fordert ihn auf, die Belästigungen einzustellen. Siehe Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 177.

(37) Kniestedt, Fuchsfeuerwild, 182; „Volksschädlinge,” Aktion, 30. Nov. 1934, S.1; siehe auch Brooklyn Daily Eagle, 4. Nov. 1934; Jornal do Brazil (Rio de Janeiro), 4. Nov. 1934, S.7.

(38) Das andere Deutschland Bd. 5, Nr. 52 (Juli 1942), S.15.

(39) Keller, „In eigener Sache,” Das andere Deutschland Bd. 70, Nr. 80-1 (April 1944), S.19.

(40) Schulze, „Von verbrasilianisierten Deutschen und deutschen Brasilianern: “Deutschsein” in Rio Grande do Sul, Brasilien, 1870- 1945”, Geschichte und Gesellschaft Bd. 41, 2 (Juni 2015), 223

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Grafikquellen          :

Oben        —        wikimedia commons bilder friedrich kniestedt.

Polizeifoto von Friedrich Kniestedt. Foto: http://www.estelnegre.org/documents/kniestedt/kniestedt.html

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Unten      —      wikimedia commons bilder friedrich kniestedt.

Friedrich Kniestedt und seine Lebensgefährtin Elisa Hedwig in der Internationalen Buchhandlung in Porto Freudig

Foto: http://www.estelnegre.org/documents/kniestedt/kniestedt.html

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Der geschlossene Raum

Erstellt von Redaktion am 5. August 2023

Wir leben in keiner offenen Situation mehr –
Thesen zum Ende des Interregnums

Warum es gerade jetzt einen Neustart der LINKEN braucht

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Mario Candeias

These 1

Wir leben in keiner offenen gesellschaftlichen Situation mehr, die Entwicklungspfade sind umkämpft, viele mögliche Alternativen aber bereits verunmöglicht, Wege sind verschlossen.

These 2

Es bildet sich ein hegemonialer Entwicklungspfad heraus, der unterschiedliche Ausprägungen eines grünen Kapitalismus umfasst. Weshalb hegemonial? Anders als andere gesellschaftlichen Projekte hat er das Potenzial, neue Anlagefelder für das Kapital zu erschließen, welche zugleich eine Bearbeitung der größten und langfristigsten (Menschheits-)Krise, der ökologischen Krise, durch eine grüne Modernisierung ermöglicht und so ein tragfähiges Akkumulationsregime etabliert. Regulativ erhält ein solches Projekt mit einigen mehr oder weniger ausgeprägten sozialen Ausgleichmaßnahmen einen prekären gesellschaftlichen Konsens, nach außen und innen autoritär bewehrt, sozusagen „gepanzert mit Zwang“ (Gramsci).

Je nach (Welt-)Region wird sich dieses Projekt unterschiedlich ausprägen, in China anders als in Deutschland oder den USA, in den Zentren kapitalistischer Macht anders als an den (Semi-)Peripherien. Wir haben es mit Varieties of Green Capitalism – mit unterschiedlichen Ausprägungen eines grünen Kapitalismus zu tun. Am deutlichsten findet sich dieser als ausgeprägtes Akkumulationsregime in China, seit dem sogenannten Green Deal allerdings auch mehr und mehr in der EU.

These 3

Diese Entwicklung wird überlagert von einer neuen Blockkonfrontation, die sich weniger entlang der Linie Demokratie vs. Autoritarismus anordnet, als entlang einer harten Konkurrenz um die globale Führung in der neuen Entwicklungsperiode hin zu einem hochtechnologischen und aufgerüsteten grünen Kapitalismus. Im Wesentlichen sortiert sich das Feld zwischen China und den USA, mit Europa in einer problematischen Zwischenposition zwischen subalternem US/NATO-Partner und eigenständigem Akteur. Die Folge sind eine hochtechnologische Konkurrenz, Handelskriege, eine partielle Deglobalisierung, eine dramatische Aufrüstung, gewaltförmige Konflikte und Kriege an den Rändern der „Green Empires“ bzw. an den tektonischen Berührungspunkten der Blöcke. Zugleich wird dadurch die Klima- und Umweltkrise verschärft, stoffliche, finanzielle und andere gesellschaftliche Ressourcen verschleudert, die für den Umbau dringend nötig wären, es werden nicht zuletzt Menschenleben aufs Spiel gesetzt.

These 4

Dieses hegemoniale Projekt unterschiedlicher Formen eines grünen Kapitalismus wird bereits jetzt herausgefordert von der Konvergenz eines radikalisierten Konservatismus mit der radikalen Rechten und einer aggressiven Verteidigung der fossilistischen Lebensweise, einschließlich harter Kulturkämpfe auf allen Ebenen. Repräsentiert wird diese Allianz durch wechselnde Führungsfiguren wie Trump, Bolsonaro, Duterte, Modi, Melloni, Núñez Feijóo und andere. In Deutschland war dies zuletzt (wieder) an den heftigen Kämpfen um die Heizungswende zu erkennen. Innergesellschaftlich markieren diese nationalistischen, rechts-autoritären Projekte den Gegenspieler zu einem grün-liberalen Projekt der Modernisierung (zumindest in Europa und den USA sowie Lateinamerika). Sie bergen ein großes Destruktionspotenzial. Es mangelt diesen Projekten abgesehen von einer noch extremeren Ausbeutung von Mensch und Natur[1] jedoch an einer produktiven Perspektive: Die Aussichten auf Akkumulation jenseits eines Extreme Fossilism sowie die Möglichkeiten zur Moderation von Sozial- und Klimakrisen jenseits von Zwang sind begrenzt. Eben deshalb erweist sich diese Internationale der Nationalen, auf globaler Ebene nicht als Konkurrent des hegemonialen Projekts, ist vielmehr gezwungen sich jeweils einem regionalen Hegemon unterzuordnen (Russland unter China, Polen/Ungarn oder Italien unter Meloni der EU, GB nach dem Brexit unter den Tories sowohl unter die EU als auch die USA, die lateinamerikanische Rechte unter die USA etc.) – oder sie verbleiben in schwierigen Zwischenpositionen.

These 5

Die verschärfte Polarisierung im Inneren sowie die neue globale Blockkonfrontation in dieser Entwicklungsperiode führen zu einem deutlich höheren Niveau an gesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Gewalt. Zugleich bildet die ökologische Modernisierung zwar das Herz der ökonomischen Transformation und Akkumulation, jedoch erfolgt der Umbau nicht nur mit kapitalistischen, also wachstumsorientierten Formen, sondern auch zu spät. Das 1,5-Grad-Ziel, dazu braucht es keine Glaskugel, ist nicht mehr zu erreichen, schon gar nicht unter den oben genannten Bedingungen einer hochgerüsteten Blockkonfrontation und massiver inner-gesellschaftlicher Widerstände. Die Klimaziele wären selbst dann nicht zu erreichen, wenn wir morgen einen linken Green New Deal implementieren könnten.[2] Die neue Entwicklungsperiode wird also von Gewalt und Katastrophen geprägt sein. Das neue hegemoniale Projekt hat seine Grenzen und Krisen, das heißt jedoch nicht, dass es nicht die nächsten 20 bis 30 Jahre dominieren kann, bis eben das Potenzial ausgeschöpft ist.

These 6

Für viele Länder des globalen Südens, die entweder über wichtige Rohstoffreserven verfügen und/oder von der Klimakrise stark betroffen sein werden, bringen die kommenden Krisen und Katastrophen externe Schocks und innere Zerfallsprozesse mit sich. Die alten kapitalistischen Zentren stellen sich darauf ein: „Die direkte (militärische) Intervention zur Befriedung und zur Herausbildung marktwirtschaftlicher, liberal-demokratischer Staaten ist gescheitert, in Somalia und Bosnien, in Afghanistan, Libyen und im Irak. Ende des »End of History« (Fukuyama). Der Markt schafft es nicht, und eine Besetzung der Märkte mit Bodentruppen steht nicht mehr an. … Doch die Zonen der Unsicherheit müssen nicht unbedingt kontrolliert, können vielmehr eingehegt werden. Es entsteht eine Art »gated capitalism« – auch ohne funktionierende Gemeinwesen in den Zonen der Unsicherheit.“[3] Länder, die nicht zwischen den Blöcken zerrieben werden und im Staatszerfall enden wollen, werden sich früher oder später einem der Blöcke zuordnen.

These 7

Katastrophen (Wetterereignisse wie Überschwemmungen oder Dürren), Probleme der Ernährungssouveränität, ökonomische und soziale Krisen infolge langfristiger Preissteigerungen aufgrund von beschränkten Ressourcen, Abriss und Neuordnung von Lieferketten, Internalisierung ökologischer Kosten in die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter, Kapitalvernichtung bei fossilistischen Industrien etc. werden auch in den kapitalistischen Zentren zu heftigen Transformationskonflikten führen. Zum Beispiel ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir bereits am Beginn einer langsamen Erosion des deutschen Exportmodells stehen, mit allen ökonomischen, sozialen Folgen, auch für die Kräfteverhältnisse und die Zersetzungstendenzen einer Europäischen Union. Noch stärker sind davon die Semiperipherien innerhalb der Blöcke betroffen, etwa der Osten und Süden der EU, oder Mexiko am Rande der USA.

These 8

Viele spüren in diesen Zeiten multipler Krisen und kommender Katastrophen eine Überforderung, die ihre eigene und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit gefährdet. Viele haben das Gefühl, eigentlich muss alles anders werden, die Dringlichkeit ist fast überwältigend, und doch geht kaum etwas voran. Das „Weiter so“ bringt eine verallgemeinerte Unsicherheit – alles zu ändern, ohne recht zu wissen wie, löst ebenfalls Ängste und Unsicherheit aus. Daraus erwächst eine Sehnsucht nach Normalität, die selbst jedoch irreal geworden ist. Die Reaktion ist häufig ein Rückzug ins Private, in ein vereinzeltes Sich-Durchschlagen bis hin zu durch Überforderung bewirkte Burn-Outs und/oder Depressionen. Aus der immer schwieriger werdenden Möglichkeit sich-zu-arrangieren, erwächst aber auch ein Potenzial des Widerstands. Dies kann aber nur gehoben und organisiert werden, wenn es gelingt, eine Verbindung von möglichen, realisierbaren Schritten, Gestaltungswillen und Perspektive des Systemwechsels überzeugend zu verbinden.

These 9

Was bedeutet das für die gesellschaftliche Linke? Sie wird nicht vergehen, aber sie wird für mindestens ein Jahrzehnt oder länger eine defensive Position einnehmen, kaum Gestaltungsraum haben. Grund dafür ist eine innergesellschaftliche Polarisierung zwischen den Trägern einer grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern einer fossilistischen Lebensweise (bei gleichzeitiger Zersplitterung von Zusammenhängen und bizzarer Neuzusammensetzung). Die Polarisierung lässt wenig Raum für Alternativen. Die als Zeitenwende deklarierte globale Aufrüstung und Blockkonfrontation verengen den Raum schon jetzt erheblich. Die Krise der parteipolitischen Linken kann in Deutschland, wie schon in Italien zuvor, zu ihrer praktischen Vernichtung führen. Dies gilt es mit möglichst vielen Kräften zu verhindern (notfalls auch durch klare Profilbildung, die Trennungen in Kauf nimmt). Die gesellschaftliche Linke wird in jedem Fall konfrontiert sein mit drastisch schwindenden Ressourcen, weniger Kräften und der Gefahr der Zersplitterung.

These 10

In der krisenhaften Übergangsphase der letzten eineinhalb Jahrzehnte, die ich mit Antonio Gramsci als Interregnum bezeichne [s. Anmerkung], sind neue gesellschaftliche Konflikt- und Spaltungslinien entstanden, die quer durch alle Parteien gehen und seit 2011 zu einer permanenten Umordnung des Parteiensystems geführt haben. Zentrale Entwicklungen waren die Finanz- und dann die Schuldenkrise, die Bewegung der Geflüchteten 2015, die Pandemie, der Kulturkampf um die liberale gesellschaftliche Modernisierung mit Blick auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Repräsentation sowie das Aufbrechen damit verbundener Macht- und Gewaltverhältnisse, der Druck zur ökologischen Modernisierung – die mit multikultureller, geschlechtergerechter und ökologischer Modernisierung empfundene Entwertung traditioneller Lebensweisen und Identitäten – und zuletzt natürlich die Zeitenwende mit dem Krieg in der Ukraine. Die Konfliktlinien gehen quer durch die Gesellschaft und natürlich auch durch die LINKE. Seit dem Erstarken der radikalen Rechten 2015 ist es der LINKEN an keiner dieser Konfliktlinien gelungen, jeweils einen Pol in der Auseinandersetzung zu besetzen, zum einen wegen der Polarisierung durch rechte Kräfte, zum anderen, weil die Position der Partei nach außen von innen regelmäßig konterkariert wurde. In jedem Fall erweist sich der Versuch einer rein sozial-politischen Vermittlung der Widersprüche als verkürzt.

Ursächlich für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und des Kampfes um Ämter und Positionen verwickelten, was zum Teil erklärt, weshalb viele der Konflikte in den letzten Jahren mit solcher Heftigkeit ausgetragen wurden. Es geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. Dann schlägt die mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zur mächtigen Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben. Der anti-neoliberale Konsens, der die LINKE lange geeint hat, zerfasert von den Rändern in Richtung eines sozial- oder linkskonservativen Projekts auf der einen und in ein (transatlantisch) sozialliberales Projekt auf der anderen – die tragende Mitte dazwischen wird zerrieben. Die damit einhergehende Kultur der permanenten Kritik, des Schlechtredens aus der Partei selbst heraus, wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Sympathisant*innen werden verunsichert und abgestoßen, Mitglieder demotiviert und frustriert (seit der Bundestagswahl sind rund 8 000 Mitglieder aus der Partei ausgetreten). Dies arbeitet den Gegner*innen einer in den Parlamenten verankerten linken und sozialistischen Partei zu. Gegenwärtig gibt es einige, die den Moment gekommen sehen, die LINKE endgültig zu zerstören.

These 11

File:Hallig Hooge 2005.jpg

Picture of de:Hallig HoogeGermany.

Gesellschaftliche Marginalisierung der Linken bei eingeschränkten Mitteln zur Förderung des sozialen Zusammenhalts, zunehmenden Gewaltverhältnissen und einem Leben mit der Katastrophe stellt die Frage nach Überlebensstrategien. In welchen Strukturen organisieren wir uns, wie können effektive Zentren regionaler Stärke, Inseln des Überlebens und der Sorge umeinander konstruiert werden, die Raum schaffen für eine demokratische und solidarische Lebensweise in sozialistischer Perspektiven in Zeiten eines Post-Growth? Es braucht Organisationen, in denen es möglich ist, Veränderung selbst in die Hand zu nehmen, oft im Kleinen, aber mit Blick auf das Ganze. Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Die LINKE arbeitet an Modellprojekten für die Organisierung in sozialen Brennpunkten, an aufsuchende Praxen in den Nachbarschaften. In Initiativen wie solidarity4all zu Zeiten der großen Depression in Griechenland oder der Bewegung der von Zwangsräumung betroffenen (PAH) im Spanien der Schuldenkrise kann „das Selbstbild der Menschen, von dem, was sie erreichen können“, verändert werden, kann „mit ihnen zusammen das Verständnis ihrer eigenen Fähigkeit zur Macht“ entfaltet werden (Wainwright 2012, 122), kann ein neues inklusives WIR entstehen. Denn die Erfahrung des Gemeinsamen verleiht Handlungsfähigkeit und gibt den Glauben an eine machbare Veränderung und die eigene Zukunft zurück. Im besten Falle gesellen sich dazu Enklaven eines rebellischen Regierens in Städten und Räumen, in denen es der Linken gelingt, relative Mehrheiten zu organisieren und gesellschaftliche Bewegungen, Organisierung und institutionelle Politik in ein produktives Verhältnis zu bringen. Dazu gehört auch eine Perspektive offen zu halten, die an einem Ende des Kapitalismus arbeitet, an einer solidarischen Gesellschaft. Dazu gehören ganz selbstverständliche Dinge wie eine kostenfreie Gesundheitsversorgung und Bildung sowie bezahlbares Wohnen für alle; entgeltfreie öffentlichen Dienstleistungen von Bibliotheken bis zum öffentlichen Personennahverkehr; demokratische Mitsprache, die etwas bewegt; selbstbestimmte Arbeit und Autonomie, der ökologische Umbau der Städte, des Verkehrs, der Energieversorgung und Landwirtschaft; viel mehr Zeit füreinander und zum Leben. Hier scheint das Unabgegoltene vergangener Zukünfte auf, von der Französischen Revolution über die Russische Revolution bis hin zu 1968 oder 1989 – die Hoffnung auf einen und Arbeit an einem erneuerten Sozialismus. Denn die Hegemonie der Herrschenden ist nie vollständig und die inneren Widersprüche des Kapitals und des Blocks an der Macht brechen immer wieder auf, können angesichts des Niveaus immer neuen Krisen und Katastrophen zu ungeahnten Brüchen und Öffnungen für eine Alternative führen. Auf diese Möglichkeit gilt es sich stets vorzubereiten.

These 12

Linke Defensive bedeutet entsprechend nicht, dass nicht fortwährend gesellschaftliche Auseinandersetzungen stattfänden. Gesellschaftliche Widersprüche werden auch in einer neuen Periode nicht stillgestellt. Das insgesamt höhere Niveau von Krisen und Katstrophen bildet vielmehr die Grundlage dafür, dass aus kleinen generischen Krisen schnell größere werden können, Kämpfe sich verdichten. So erleben wir trotz einer strukturellen Schwäche und schwindender Organisationsmacht von Gewerkschaften (und Bewegungen) derzeit das Aufkeimen einer neuen Streikbewegung von Frankreich und Spanien über Großbritannien bis zur Bundesrepublik, die sich um Verteidigung der und Arbeitsbedingungen in der Daseinsvorsorge/sozialen Infrastrukturen und Ausgleich von Reallohnverlusten im Zuge von Pandemie und Inflation drehen. Und doch scheitern diese Aufbrüche an den soliden Mauern der Institutionen. Vor allem an den Schnittstellen von sozialer, ökologischer und Friedensfrage können sich nichtsdestotrotz gesellschaftliche Mobilisierungen in Zukunft immer wieder verdichten. Solche Momente können eine wichtige Grundlage für einen Wiederaufbau einer gesellschaftlichen Linken darstellen. Neue Handlungssituationen werden sich einstellen und selbst in der Defensive müssen Vorbereitungen für eine Offensive gelegt werden. Zentral wäre dabei, nicht passiv auf solche zu Momente zu hoffen, sondern selbst mit Partnern herausgehobene gesellschaftlich produktive Konflikte mit klarem Gegnerbezug zu produzieren.[4]

These 13

Eine neue Hegemonie schafft durchaus neue Bedingungen für etwas Neues von links. So führte erst die Verallgemeinerung des Neoliberalismus durch sozialdemokratische Regierungen (bei uns Rot-Grün) dazu, dass oppositionelle gesellschaftliche Gruppen entweder in den Machtblock aufstiegen oder eben draußen blieben. Damit waren viele vorher denkbare Wege und Bündnisse verstellt. Es wuchs der Druck zur Konvergenz auf die übriggebliebenen Teile der gesellschaftlichen Linken, sich neu zur formieren, was letztlich zur Partei Die LINKE führte, sozusagen auf dem Höhepunkt des Neoliberalismus. Ähnliches ist wieder denkbar, diesmal wächst der Druck zur Konvergenz links-sozial-ökologischer, links-gewerkschaftlicher, sozialistischer, feministischer und radikaler Kräfte, die unter der neuen Hegemonie keine Repräsentation oder ausreichend Bündnispartner*innen mehr finden, um wirksam zu sein.

These 14

Da gibt es aber leider keinen Automatismus. Sofern eine mediale Diskursdynamik eingesetzt hat, die in einer Abwärtsspirale mündet und aus dem Inneren der Organisation selbst weiterbefördert wird, gibt es eigentlich nur zwei Wege aus der Krise: a) eine Art disruptive Neugründung einer bestehenden Organisation (wie etwa Labour unter Corbyn mit Momentum) oder durch die Gründung einer neuen Organisation (wie Podemos in Spanien). Über den Umweg von Unidas Podemos, also sozusagen der Kombination beider Wege, gelang es in Spanien auch, die Vereinigte Linke – Izquierda Unida – vorübergehend zu retten. Dies muss aber keineswegs der Fall sein. Die Gründung einer neuen Organisation kann auch zu einer Fragmentierung der Linken (wie in Italien) führen. Bestehende Organisationen sollten also nicht leichtfertig auf Spiel gesetzt werden – was wiederum kein Argument für eine ausbleibende Erneuerung einer bestehenden Organisation sein sollte.

Nach innen braucht es eine programmatische Erneuerung und ein Signal des Aufbruchs auf den Feldern Frieden,[5] sozial-ökologischer Systemwechsel und Infrastruktursozialismus, Arbeit und Ökonomie der Zukunft. Dabei muss auf das im engeren Sinne linkskonservative Spektrum um Sahra Wagenknecht keine Rücksicht mehr genommen werden – nach dem von ihr selbst erklärten Bruch haben wir bereits eine Situation Post-Wagenknecht. Das ermöglicht es, die blockierte Richtungsentscheidung aufzulösen und gesellschaftlichen Widersprüche anders und in verbindender Perspektiven anzugehen. Denn trotz des negativen Trends existiert nach jüngsten Umfragen[6] vom Mai 2023 immer noch ein Wählerpotenzial von ca. 16 Prozent für eine sozial-ökologisch ausgerichtete, kapitalismuskritische und friedenspolitisch neu profilierte linke Partei mit sozialistischer Perspektive. Welche sozialen Gruppen wären es, die wir für eine Stabilisierung über 5 Prozent bräuchten? Ihr höchstes Potenzial hat die LINKE weiter bei Haushalten mit einem niedrigen Einkommen, von denen – anders als häufig suggeriert – die dezidiert sozial-ökologischen Forderungen der Partei am stärksten befürwortet werden.[7] Bekanntermaßen wählen diese Wählergruppen aber besonders selten. Hier braucht es also eine überzeugende Nichtwähler-Strategie.

Das zweitgrößte Wählerreservoir liegt bei SPD und Grünen. Es sind all jene, die bereits jetzt und künftig von SPD und Grünen enttäuscht werden, v.a. links-gewerkschaftliche und linksökologische Wählergruppen. Dazu kommen jene linken sozial-ökologischen, antifaschistischen, antirassistischen oder feministischen Klassenmilieus, die derzeit nicht (mehr) die LINKE wählen, eher zu Bewegungen neigen oder Kleinparteien wählen. Das ist durchaus ein wichtiger Sektor, nicht nur, weil Tierschutzpartei, die Urbane, Klimaliste oder Volt der LINKEN entscheidende 0,5 Prozentpunkte kosten, sondern auch neue Initiativen für Wahlplattformen entstehen können. All das sind Gruppen, die für eine Neugründung der LINKEN zu gewinnen wären.

Ob ein linkskonservatives Projekt gegründet wird, hat die LINKE nicht in der Hand. Wenn es kommt, verliert die Partei sicherlich ein erhebliches Potenzial in diese Richtung. In jedem Fall gilt es möglichst viele Mitglieder und Wähler*innen zu halten. Aus dem links sozialdemokratischen sowie traditionell gewerkschaftlichen Spektrum wollen sich viele für das Überleben der LINKEN einsetzen. Sie sollten offensiv angesprochen, in ein neues Projekt integriert werden, gemeinsam mit den innerparteilichen Mehrheitsfraktionen von „Bewegungslinken“ und „progressiver Linken“ sowie den gesellschaftlichen Gruppen, die sie jeweils repräsentieren. Das Halten von Sympathisant*innen genügt jedoch längst nicht mehr, die Stammwähler*innenschaft ist zu klein geworden. Die LINKE muss ihre Basis erweitern, neue Mitglieder gewinnen und mit ihnen gemeinsam um Wähler*innenstimmen kämpfen. Nur in klarer inhaltlicher wie symbolischer Abgrenzung vom Linkskonservatismus und durch kluge Neuorientierung und Bündnispolitik kann sie wieder eine attraktive Repräsentantin und Partnerin einer breiteren gesellschaftlichen Linken werden. Das gelingt nur durch klare Profilierung als moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei bzw. als klassenorientierte sozialökologische und feministische Partei der Gleichheit und Freiheit und des Friedens mit sozialistischer Perspektive, als LINKEplus.[8]

These 15

Zu bedenken wären bereits jetzt Wege zu einer disruptiven Neugründung der LINKEN aus dem strategischen Zentrum der Partei heraus. Das wäre der umgekehrte Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in UK: Es wird eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen geschaffen, die nicht Teil der Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen. Denn bereits jetzt zeichnet sich ein Feld links von SPD und Grünen ab, welches derzeit keine Repräsentation findet, teilweise auch keine Repräsentation in der typischen Parteiform mehr sucht, deren Wert aber sehr wohl erkennen kann. Dies reicht von #armutsbetroffen und dem Paritäter über Fridays for Future, BUND und linke Gewerkschafter*innen bis hin zu Antifa und Migrant*innen-Selbstorganisierungen und nicht zuletzt kritischen Intellektuellen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Disruptiv meint nicht „zerstörerisch“, sondern einen Aufbruch im Sinne eines erkennbaren und wirkungsvollen Bruchs mit dem „Weiter-so“ hin zu einer neuen, klassenorientiert sozialökologischen, feministischen, antirassistischen LINKEN Friedenspartei mit sozialistischer Perspektive. Der Beginn einer neuen gesellschaftlichen Entwicklungsperiode macht auch die Neugründung der Partei zur Notwendigkeit, sofern sie überleben will. Wie viel Erneuerung/Bruch und wie viel konstruktive Weiterentwicklung/Zusammenhalten brauchen wir? Selbstverständlich braucht es beides, ist jedoch ein schwieriger Balanceakt. Ziemlich sicher wird die Partei Leute verlieren und andere eben nicht gewinnen, selbst wenn sie es gut macht. Umgehen kann sie es nicht, sie muss sich in diesem Widerspruch bewegen. An dem Schritt kommt sie nicht vorbei. Für die LINKE ist sonst die Chance verbaut, den Ring der Isolierung zu durchbrechen.

Es braucht eine Art Doppelbewegung nach innen und nach außen, ein Signal an die „eigenen Leute“, die Aktiven und nicht-mehr Aktiven der Partei, aber auch ein Signal der Partei nach außen, dass nun eine neue Zeit beginnt. Ein Neustart der Partei und der Linken insgesamt, auf der Höhe der gesellschaftlichen Situation eines beginnenden neuen Herrschaftsprojektes konkurrierender Varieties of Green Empires in einer Zeit von Gewalt und Katastrophen.

Anmerkung

[i] Mit dem Begriff des Interregnums bezeichnete Antonio Gramsci offene Übergangsperioden der Krise. In diesen Phasen habe die herrschende Klasse den Konsens verloren und ihre Hegemonie eingebüßt. Die Krise bestehe darin, „dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“ (Gramsci). Ausführlich siehe Candeias, Mario, 2010: Interregnum – Molekulare Verdichtung und organische Krise, in: Alex Demirović u.a. (Hg.), Vielfachkrise, Hamburg, 45–62

Fußnoten/Literatur:

[1] vgl. Candeias, Mario 2019: Aufstieg des globalen Autoritarismus. 19 Thesen zu Ursachen und Bestimmungsmomenten, www.rosalux.de/publikation/id/40834/aufstieg-des-globalen-autoritarismus/, u. Alex Demirovic, 2018: Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie, in: Prokla 190, www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/30

[2] vgl. Zeitschrift LuXemburg, 2022: Unangepasst, H. 2, https://zeitschrift-luxemburg.de/ausgaben/unangepasst/; Candeias, Mario, 2022: Der Übergang. Der verspätete grüne Kapitalismus und eine sozialistische Reproduktionsökonomie, in: Zeitschrift LuXemburg, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/der-uebergang/

[3] Vgl. Candeias, 2014: Weltumordnung. Wie Konturen des Neuen allmählich sichtbar werden, in: Zeitschrift LuXemburg, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/weltumordnung/

[4] Mario Candeias, 2020: Am Konflikt arbeiten, in: LuXemburg, Dezember, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/am-konflikt-arbeiten/

[5] Tatsächlich sind die – in der Kommunikation unklaren – außenpolitischen Positionen der LINKEN der stärkste Grund für Wähler*innen im LINKEN-Potenzial, die Partei nicht zu wählen, vgl. Mario Candeias, 2022: Eine Partei mit Zukunft: DIE LINKE. Repräsentative Umfrage zum Potenzial der LINKEN, www.rosalux.de/pressemeldung/id/46582/eine-partei-mit-zukunft-die-linke-1.

[6] Johanna Bussemer, Krunoslav Stojaković, Dorit Riethmüller, 2023: Europa sozial und ökologisch: Ja! Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, www.rosalux.de/publikation/id/50679/europa-sozial-und-oekologisch-ja

[7] vgl. Mario Candeias, 2022: Eine Partei mit Zukunft: DIE LINKE. Repräsentative Umfrage zum Potenzial der LINKEN, www.rosalux.de/pressemeldung/id/46582/eine-partei-mit-zukunft-die-linke-1.

[8] Vgl. Michael Brie, 2003: Ist die PDS noch zu retten? Analyse und Perspektiven, RLS-Standpunkte Nr. 3, https://www.rosalux.de/publikation/id/2962/ist-die-pds-noch-zu-retten/

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Der Autor:

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung  und Mitbegründer der Zeitschrift www.rosalux.de.

Quelle:https://zeitschrift-luxemburg.de/
Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      —       Children in a Faraday Cage getting zapped by Tesla Coils on the Tesla Stage in the Fiesta Hall at the 2011 San Mateo Maker Faire. These particular Tesla Coils are also musical instruments that emit sounds similar to early synthesizers. The Dual-Resonant Solid State Tesla Coils (DRSSTC) were created and performed upon by ArcAttack!, a pefformance group from Austin, TX.

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von Redaktion am 5. August 2023

Lobesworte aufs Vaterland gegen Arbeitslosigkeit

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Einst fragte mich jemand in Deutschland: Was ist der Unterschied zwischen einem guten Marketing und einer schlechten Propaganda? Die Fragende bat mich, dies an einem Beispiel aus China zu illustrieren. Kaum konnte ich ihr antworten, antwortete ein Kommentar der KP Chinas am 10. Juli 2023, betitelt: „Eine richtige Anschauung auf die Beschäftigungsfrage tut mehr not als je zuvor.“

Die Kernthese des KP-Organs: Im Moment bedrückt die Massenarbeitslosigkeit – bei Menschen zwischen 16 und 24 Jahren liegt diese bei sage und schreibe 21 Prozent – uns alle in unserem Lande. Angesichts dessen tut es not, dass gerade diese jungen Menschen bei der Jobsuche nicht allein daran denken dürfen, Geld zu verdienen, Familie zu unterstützen und beruflich weiterzukommen. Stattdessen muss man sich, bitte, darum bemühen, dorthin zu gehen, wo das Vaterland einen am meisten braucht.

Ein Marketing-Trick, gar ein wohlklingender: Um die Kernthese zu unterstützen, regnen im Parteiorgan schnulzige Lobesworte aufs Vaterland nur so hernieder: Dort, wo das Vaterland dich brauche, würdest du dein Licht ausstrahlen; dort, wo das Vaterland dich brauche, beginne die Ehre schon damit, da zu sein; ein größeres Bild im Leben sei schon immer das A und O für einen jeden, und welches Bild sei größer als das, in dem einer sich wiederfinde, weil er sein Vaterland beherzige? Usw. usw. War dies gutes Marketing – für das Vaterland? Aus dessen Perspektive immerhin „gut gemeint“.

Aus der Sicht der Adressaten, die die Partei anzusprechen beabsichtigt, ist dies sehr schlechte Propaganda. Denn die Adressaten antworteten prompt, in Social Media, inklusive auf behördlich betriebenen Plattformen. „Was ist dies? Die, die den Job innehaben, in klimatisierten Büroräumen Kommentare schreiben, belehren uns, die nicht einmal die Chance haben, täglich unseren knurrenden Magen zu füllen?“ „Wie wäre es, dass ich bei Euch zu Hause Haushälter werde; ich nehme jeden Job gerne an, etwa für dich deinen Aktenkoffer zu tragen, oder, wie wäre es, deinen Stiefel jederzeit zu putzen?“ Oder: „Die Staatsfirmen für Tabak und Alkohol melden jährlich steigende Verluste. Ich melde mich freiwillig, um dort mein Licht auszustrahlen, Jahr um Jahr, Tag um Tag, bis sie schwarze Zahlen schreiben. Ich schwöre, niemals zu meckern, wenn monatlich ein Gehalt bei mir aufs Konto kommt!“

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Ziemlich zynisch wurde es, als eine längst verstummte Diskussion erneut entzündet wurde, die über einen möglichen Krieg gegen Taiwan – eine Beschäftigungschance, immerhin. „Siehe die Wagner-Gruppe in der Ukraine! Sie kämpft fürs russische Vaterland, für viele Rubel sogar. Ist nur ein bisschen gefährlich!“ Oder: „Schicke erst alle Kids von den hohen Funktionären hin. Wenn die alle gestorben sind, ist es immer noch nicht zu spät für uns, in aller Ruhe zu überlegen.“ Kurz und bündig schrieb einer: „Wer auch immer hingeht, ich nicht. Auch nicht meine Kinder! Nicht für Taiwan, auch sonst für nichts.“

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Trilog-Verhandlungen:

Erstellt von Redaktion am 4. August 2023

Bürgerbeauftragte rügt EU-Parlament wegen verspäteter Transparenz

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Wo die Köpfe auf die Tischplatten  fallen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von              :       

Das EU-Parlament hat wichtige Dokumente zu langsam an NGOs herausgegeben. Das sei auf Misswirtschaft zurückzuführen, sagt die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly. Sie empfiehlt künftig proaktive Transparenz über die wichtigen Trilog-Verhandlungen.

Das Europäische Parlament hätte Transparenzanfragen von mehreren Nichtregierungsorganisationen im Jahr 2022 schneller beantworten und wichtige Dokumente früher der Öffentlichkeit zugänglich machen müssen. Zu diesem Schluss kommt die Bürgerbeauftragte der Europäischen Union Emily O’Reilly nach einer Beschwerde der NGOs. Die EU-Ombudsfrau wirft dem EU-Parlament „Misswirtschaft“ vor und fordert es auf, interne und externe Beratungen schnell genug zu vollziehen, damit es gesetzliche Auskunftsfristen einhalten kann.

O’Reillys Untersuchung sei eine „politische Ohrfeige“ für das EU-Parlament, so die Transparenzorganisation LobbyControl. Gemeinsam mit dem Corporate Europe Observatory, FragDenStaat und dem Centre for Research on Multinational Corporations hatte die NGO im Frühjahr 2022 die sogenannten Vier-Spalten-Dokumente aus dem Trilog zum Digital Markets Act angefordert. Mit dieser 2022 verabschiedeten Verordnung will die EU die Macht der großen Digitalkonzerne einschränken. Entsprechend groß war der Lobbyismus-Aufwand, den die Konzerne betrieben haben, um das Gesetz zu verwässern.

Entscheidende Phase der EU-Gesetzgebung

Der Trilog ist eine entscheidende Phase von EU-Gesetzgebungsprozessen. Zunächst legt die Kommission den Gesetzentwurf vor, Rat und Parlament legen eigene Positionen zu einem Thema fest, dann müssen sie im Trilog zu einem Kompromiss finden. Vier-Spalten-Dokumente sind wichtige Instrumente dieser politischen Auseinandersetzung zwischen den drei Institutionen. In den ersten drei Spalten dieser Dokumente sind die Positionen von Kommission, Rat und Parlament festgehalten, in der vierten Spalte der bisherige Kompromiss. Nach jeder Verhandlungsrunde werden die Dokumente aktualisiert.

Den Antrag auf die Dokumente zum Trilog um den Digital Markets Act hatte das Parlament zunächst abgelehnt, dann verzögert bearbeitet und erst nach Abschluss der Verhandlungen final beantwortet. Es gab die Vier-Spalten-Dokumente dann zwar heraus, doch für die Öffentlichkeit war es zu spät, noch Einfluss auf die Verhandlungen zu nehmen.

Die EU-Bürgerbeauftragte kommt in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass die verspätete Herausgabe an internen Fehlern in den Prozessen des Parlaments lag. Es habe zunächst nicht das richtige Dokument identifiziert, weshalb die Beratungen mit den anderen beteiligten Insitutitonen länger gedauert hätten.

Proaktive Veröffentlichung gefordert

„Der Verzögerungstaktik und den Ausreden des EU-Parlaments erteilt Emily O’Reilly eine klare Absage“, so LobbyControl zur Entscheidung. Das sei ein wichtiges Signal für künftige Anfragen: „Verzögerter Zugang ist verweigerter Zugang.“ Nur wenn wichtige Dokumente zeitnah und während laufender Verhandlungen veröffentlicht würden, könnten Bürger:innen die Entscheidungen der EU im Detail nachvollziehen und so ihre demokratischen Rechte wahrnehmen.

Emily O’Reilly empfiehlt dem EU-Parlament, die Trilog-Dokumente künftig proaktiv zu veröffentlichen. Das würde auch den Aufwand verringern, einzelne Anfragen zu beantworten. Dies hatten auch die Nichtregierungsorganisationen in ihrer Beschwerde gefordert.

Eine entsprechende Petition von LobbyControl haben inzwischen mehr als 15.000 Menschen unterzeichnet. Im Herbst wollen sie die Unterschriften an Parlament, Kommission und Rat übergeben. Bis dahin kann man den Appell für mehr mehr Einblick in die Verhandlungen über Gesetze noch mitzeichnen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       The Hemicycle of the European Parliament in Strasbourg during a plenary session in 2014.

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Staats- + Politik-Idealismus

Erstellt von Redaktion am 3. August 2023

Krieg und Frieden in der Zeitenwende

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :        Manfred Henle

Patriotischer Friedens-, Staats- und Politik-Idealismus – Eine neue Flugschrift von Freerk Huisken nimmt die aktuelle deutsche Nationalmoral und ihre Grundlage ins Visier: eine Friedensordnung, die jederzeit mit dem Übergang zum Krieg kalkuliert.

Den Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine haben die USA und der in der NATO versammelte Westen als Anlass genommen, eine Zeitenwende auszurufen. Die vollzieht sich in Gestalt eines Stellvertreter-Krieges gegen Russland auf dem Territorium der Ukraine und mit der ukrainischen Bevölkerung als lebendige Waffe, um die Russische Föderation definitiv als geo- oder weltpolitisch relevante Mitsprache- und Ordnungsmacht auszuschalten, notfalls auch um den Preis einer nuklearen Konfrontation. Eine bedingungslose Zustimmung, ein Mit-Machen, ein Aus- und Durchhalten der in der NATO versammelten Völkerschaften zu dem so eröffneten „Krieg gegen Russland“ (A. Baerbock) bis zum „Sieg“ (O.Scholz u.a.) ist da schon verlangt und die seit Kriegsbeginn gnadenlose Kriegspropaganda hat bislang gnadenlos erfolgreich funktioniert.

Dem „Frieden“ kommt in der Propaganda für den Krieg gegen Russland dabei eine prominente Bedeutung zu. Er ist deshalb in aller Munde. Grund genug für den Autor Freerk Huisken, in seiner neuen „Flugschrift“ dem „Frieden“ Kapitel für Kapitel auf den Grund zu gehen, und zwar Schritt für Schritt: In der Propaganda für den Krieg; in der staatsbürgerlichen Vorstellungswelt; in der Zeitenwende-Friedensbewegung; in den diversen Friedensappellen; und in der Realität des seit 1945 herrschenden, regelbasierten Weltfriedens. Der Titel der Flugschrift: „FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass“ ist somit Programm und liefert entlang der vorgestellten Kapitel-Schritte eine messerscharfe Kritik des „Friedens“ als Rede wie als Idee und als Realität des heutigen Weltzustands.

Das allerdings gleich vorweg: Der begrenzte Rahmen einer Rezension kann nur versuchen, ein paar grosse Linien in einer inhaltlich so dichten Schrift wie der vorliegenden nachzuzeichnen. Den am Thema Interessierten sei deshalb diese Schrift zur eingehenden Lektüre empfohlen.

Friedensmoral und Volksverdummung – das Gute und das Böse

Ihren Ausgang nimmt die vorgelegte Kritik beim gegenwärtigen Geisteszustand der Nation: „Dass eine offensive Kriegsanteilnahme grosser Teile der Deutschen mit darin eingeschlossener antirussischer Parteilichkeit sich quasi über Nacht entwickelt hat, dass die Bürger überdies in geradezu unheimlicher Weise auf deren Ausschliesslichkeit beharren und andere Auffassungen nicht etwa mit dem Verweis auf »unseren« Wert der Meinungsfreiheit als zwar ziemlich abartige, aber gerade noch geduldete Meinung zulassen, sondern sie sofort als ungehörige, deshalb unzulässige, weil das Volk der Ukrainer verratende Einstellung angreifen, das scheint auf den ersten Blick für sich recht unerklärlich zu sein.“ (S. 23) Ist es aber nicht, denn die staatliche und massenmediale Propaganda für den Krieg gegen Russland, inszeniert von den westlichen politischen Entscheidungsträgern über Krieg und Frieden, hat in den 18 Monaten ihrer Rund-um-die-Uhr-Tätigkeit einen durchschlagenden Erfolg erzielt.

Das Geheimnis dieses Erfolgs, so die Kritik, ist zum Einen durch die pur moralische Propaganda in Sachen Krieg und Frieden zu erklären: Demnach sind westliches staatliches Gewaltmonopol, dessen Politik und die dazu gehörenden Herren (auch Herrinnen) über Krieg und Frieden die Inkarnation des Guten und des guten Willens: mit nichts anderem beschäftigt, als um den „Frieden“ in der Welt, den „Wir“, die Guten doch alle wollen, zu ringen, den das absolut Böse, heute in Gestalt Putins, einfach nicht will. Warum? Weil es eben das Böse ist, das genügt. Jede weitere Frage nach dem Grund, warum das Böse den Frieden nicht will, hat sich und ist damit erledigt (siehe die Ausführungen zur parteilichen Haltung der Mehrheit der westlichen Bevölkerungen hinsichtlich des Ukrainekriegs gegen das bekanntlich aggressive Böse aus dem Osten, S. 10-22).

Der eine Teil der Verdummung des Volkes ist damit schon mal gelungen, nämlich mit dem Übergang zur Bereitschaft der Mehrheit der Bevölkerung in eins mit den für Krieg und Frieden politisch allein zuständigen Damen und Herren, den gebrochenen oder immerzu gefährdeten Frieden zu „verteidigen“, wieder herzustellen oder zu erkämpfen – selbstredend mit aller Gewalt und mit allen erdenklichen (Vernichtungs-)Mitteln: „Frieden, der mit Gewalt gesichert wird.“ (S. 9-10). Die politische und massenmediale Rechtfertigung des gerechten Krieges und der gerechten Gewalt gegen das moralisch Hässliche, Verabscheuungswürdige, Schuldige und zu Verurteilende ist konstitutiver Teil der Verdummung des Volkes schon in Friedenszeiten, dies eine der Kernaussagen der ersten Kapitel.

Erloschen ist mit der erfolgreichen moralischen Propaganda für den Krieg zum anderen jede rationale, eine objektive Erklärung suchende Frage nach der seltsamen Natur eines Friedens in der Welt, den jeder vernünftige und wohlmeinende Mensch nur wollen kann und der doch stets gefährdet ist. Stillgelegt ist zugleich die Warum-Frage nach den Interessen, die die eigene Staatsgewalt, die heimische Politik und die heimischen politischen Verantwortungs- und Entscheidungsträger über Krieg und Frieden so verfolgen – gerade dann, wenn sie mit aller Kriegsgewalt um den Frieden ringen. Das verdeutlicht die vorliegende Schrift durchgängig am Beispiel des gegenwärtigen Krieges: Wer da ganz unvoreingenommen und naiv nach einem „Warum“ dieses Krieges fragt, ist moralisch so gut wie erledigt (vgl. S. 12f.).

Und ganz prinzipiell gilt auch und gerade für die demokratisch-pluralistisch geführte moralische Kriegs-Propaganda: „Korrekte Antworten auf diese Warum-Fragen sind deshalb nicht zu erwarten. Man kann also festhalten: Die moralische Befassung mit dem Krieg ist identisch mit einer Weigerung, sich irgendeinen freien Gedanken über politische Anliegen von hochgerüsteten Staaten und ihre Gründe dafür zu machen, warum sie sich im Krieg mit wechselseitiger Zerstörung von Menschenmassen, Rüstungspotenzial, Infrastruktur usw. Niederlagen beibringen wollen.“ (S. 12)

Das ist eine für die politisch Entscheidungsbefugten über Krieg und Frieden sehr funktionale Haltung und Gesinnung bei der Mehrheit der Bevölkerung. So können sie die gewaltsame Wiederherstellung des allerdings äusserst „kriegsträchtigen“ Friedens (vgl. dazu das erhellende Hauptkapitel „Friedensordnung“, S. 92-147) mit der Zeitenwende ungestört in Angriff nehmen.

Zu erklären ist also, warum die moralische Propaganda für den (Ukraine-) Krieg auch im demokratisch geführten Gemeinwesen, im abendländischen, im NATO-vereinigten „Wir“ mit pluralistischer Öffentlichkeit so glänzende Erfolge feiern kann – So wie es beispielsweise auch zu Zeiten des Nationalsozialismus geschah, der seinen Krieg ebenfalls nur führen konnte, weil die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Überzeugung war, nur die gerechte Gewalt des gerechten Krieges sichere den „Frieden“ und damit die „Zukunft“ des deutschen Staates gegen die Saat des Bösen im und aus dem Osten. Warum also der Erfolg der gegenwärtigen Kriegspropaganda? Woher die gleichsam unerschütterliche Überzeugung, der Westen, insbesondere das eigene staatliche Gewaltmonopol und seine politisch Verantwortlichen seien grundsätzlich die Inkarnation des Guten und des guten Willens, nur darum bemüht, den „Frieden“ zu sichern?

Dass es so ist, dass ein „kriegsträchtiger“ Frieden tatsächlich eine ständige Bedrohungslage darstellt, die der eigene Staat hervorbringt, nehmen, so die Kritik der Flugschrift, die demokratischen Propagandisten dabei zum Argument, um den staats-idealistischen, den patriotischen Friedens-Idealismus der Bevölkerung zu bedienen: um sich eben diesen Friedens-Idealismus zu Nutze zu machen. Der wird denn auch in seiner moralischen Haltung und Gesinnung nebst seiner Opferbereitschaft ziemlich kriegswillig und kriegsbereit. Der Friedens-Idealismus hat seinen ersten und letzten Grund im Staats-Idealismus oder Patriotismus der Bevölkerung, ist deshalb der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Kritik des Friedens.

Patriotischer Friedens-, Staats- und Politik-Idealismus

Adressat der gegenwärtigen moralischen Propaganda für den (Ukraine-)Krieg ist das demokratische, das staatsbürgerliche Bewusstsein und Selbstbewusstsein der Bevölkerung. Dieses ist Resultat der praktischen und gedanklichen Leistung, seine augenscheinlich alternativlose Unterwerfung unter die politische Gewalt hinzunehmen, anzuerkennen und sich auf diese Weise in den staatlich eingerichteten und somit vorgefundenen Gegebenheiten einzurichten – und zwar als Grundlagen der eigenen Existenz und des (Über-)Lebens. So verwandelt und idealisiert das staatsbürgerliche (Selbst-)Bewusstsein die heimatliche Gewalt, in die es hineingeboren ist und der es fraglos „angehört“, in ein Mittel seines Daseins und Zurechtkommens.

Diesem aus praktischen Realismus geborenen Ideal folgend sind heimatliche politische Gewalt und demokratische Herrschaft um seinetwillen da und gewähren ihm ja auch sein Dasein, seine ihm zugestandene Freiheit. Idealerweise, dem moralischen Sollen und guten Willen nach, sorgt das heimische Gewaltverhältnis für den „Frieden“ als Grundbedingung des Existierens seines Volks. Huisken: „All das hat jenen Bürgern eingeleuchtet, die sich in der Abhängigkeit von staatlich gesetzten Lebensbedingungen nicht nur eingerichtet, sondern diese Abhängigkeit als ihr per Staatsgewalt geschütztes Lebensmittel ganz praktisch angenommen haben… So ist es ihnen längst zur Gewohnheit geworden, in nationaler Politik, die Deutschland voranbringen soll… letztlich und irgendwie immer auch ein Stück Sicherung eigener Lebensbedingungen zu erblicken… In Kriegszeiten wird diesem vaterländischen Denken deutscher Bürger, man sagt auch Nationalismus dazu, etwas mehr, nämlich der Schulterschluss zwischen Volk und Führung abverlangt. Das Vaterland hat ihnen dann als die Verkörperung einer Schutzmacht für alle Werte, die die Nation ausmachen, zu gelten.“ (S. 24f.)

Als diese „Schutzmacht“ des moralisch idealisierten Friedens, des Friedens als einer pur moralisch gewendeten Abstraktion in der Vorstellung des staatsbürgerlich-patriotischen (Selbst-)Bewusstseins, rufen die gegenwärtigen Friedensbewegten, die Reste der ehemaligen stolzen deutschen Friedensbewegung, ihren heimatlichen politischen Produzenten des allgegenwärtigen „kriegsträchtigen“ Friedens an (vgl. S. 33-53) und werden – im Fall des Falles – über diesen „kurzen Weg vom Pazifisten zum Anhänger der deutschen Kriegspolitik“ (S. 54-58). In diesem Geist der Idealisierung äussern sich die Friedensappelle von links, von rechts und aus der “Mitte der Gesellschaft“, wobei die AfD den antiamerikanisch gewendeten Nationalismus deutscher Souveränität hervorhebt (vgl. S. 59-83).

„Kurzum“, so Huisken: „Was auf den ersten Blick als fast unerklärliche Wende im Denken von Deutschen erscheint, ist auf den zweiten so unerklärlich nicht… Angesichts des aktuellen Schulterschlusses zwischen grossen Teilen des Volkes und der politischen Führung kann es auch kaum verwundern, dass deutsche Bürger massenhaft selbst der Scholzschen »Zeitenwende« mit ihrem 100 Mrd.-Etat für zukünftige Aufrüstung folgen.“ (S. 26f.)

Der kriegsträchtige, der wirkliche Frieden

Von der gnadenlosen Realität, der wirklichen, der von der Pax Americana und der NATO seit 1945 weltweit institutionalisierten und durchgesetzten, regelbasierten Weltwirtschafts- und -friedensordnung, die tagtäglich den äusserst kriegsträchtigen Frieden produziert und reproduziert, weshalb der Weltfrieden als trostlos-unbegriffenes Ideal im staatsbürgerlichen (Selbst-)Bewusstsein figuriert und die in seinem Namen vollbrachten Schlächtereien konstruktiv begleitet, handelt der grundlegende Hauptteil dieser ins Schwarze treffenden Flugschrift. (S. 92-147)

Um es abschliessend mit dem Resümee Huiskens zu sagen: „Dass ‚der Westen‘ die freiheitliche Friedensordnung im Ukrainekrieg verteidigt, ist also keine Lüge, sondern kapitalistische Wahrheit. Die Lüge liegt allein in der moralischen Schönfärbung dieser Friedensordnung zu einem Hort der schönsten Werte. Es geht dem Westen in diesem Krieg um die Wiederherstellung von ‚zivilen Beziehungen‘ im kapitalistischen Verkehr zwischen Staaten, für den die USA ein Russland mit eigenen imperialistischen Ansprüchen auch dann nicht dulden wollen, wenn die vergleichsweise begrenzt sind.

Die als ‚zivil‘ gefeierte Friedensordnung, auf die es dem Westen ankommt, existiert, wie in den letzten Jahrzehnten nur allzu deutlich geworden ist, als Konkurrenz von Staatsgewalten auf dem Weltmarkt, mit Interessen, die gegensätzlicher kaum sein können. Dabei geht es jeder dieser Gewalten gegen die Konkurrenten um dasselbe: Sie wollen fremden Reichtum für sich erwirtschaften, der die ökonomische Grundlage für die Sicherung und den Ausbau der eigenen Staatsmacht, besonders auch seiner Machtmittel darstellt. Von vorneherein ist diese Ordnung kriegs-trächtig…“. (S. 146)

Freerk Huisken, FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass. Flugschrift. VSA, Hamburg 2023. 154 Seiten. ISBN 978-3-96488-193-9.

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Oben        —     Rubensstraße corner of Innsbrucker Platz, Berlin-Schöneberg with bus M85 and S-Bahn circle line S41/S42 viaduct.

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Schlag um Schlag

Erstellt von Redaktion am 3. August 2023

Schlacht um die Bäume im Thüringer Wald

AUS GRUMBACH, SCHLEIZ UND TAUTENBURG HEIKE HOLDINGHAUSEN

Eine Bürgermeisterin in Thüringen will Fällarbeiten in einem Vogelschutzgebiet verhindern. Das Forstamt sagt, sie behindere damit sinnvollen Naturschutz. Aber wer kontrolliert, was das ist?

Wie schafft diese Frau das so schnell über den schlammigen Waldweg, ohne auszurutschen? Zielstrebig umkurvt sie Matsch und Pfützen, springt mal links, mal rechts auf den hohen Wegrand und ist schließlich am Ziel. „Jetzt schau’n Sie sich das an“, ruft sie mit ihrem breiten oberbayerischen Zungenschlag. Sie starrt auf die weite Fläche vor ihr. „Ich könnt heulen.“

Die weite Fläche, deren Anblick Daliah Natascha Bothner so bewegt, war mal ein Fichtenforst. Jetzt bilden Äste und Nadeln ein federndes, kniehohes Gewirr. Behende klettert Bothner, ehrenamtliche Bürgermeisterin von Grumbach, einem Ortsteil von Wurzbach ganz im Süden von Thüringen, darüber hinweg. Die Bürgermeisterin erklimmt einen breiten Baumstumpf und reckt ihren Kopf. Eine kleine, schlanke Frau, die schwarzen Haare elegant zurückgesteckt. So steht sie an einem eher trüben Tag im Juli auf dem Baumstumpf und späht wütend zum Waldrand.

Vor zehn Jahren ist Bothner vom Tegernsee nach Grumbach gekommen. Als Orientierungspunkt die nächstgrößere Stadt zu nennen ist schwierig. Grumbach liegt irgendwo im Grünen zwischen Hof, Jena und Suhl, an der Landesgrenze zu Bayern. Die Gegend ist sanft hügelig, waldreich und beschaulich. Für die Bergkuppe bei Grumbach gilt das allerdings nicht mehr.

Dort, im Blickfeld von Bothner, arbeitet ein Harvester, eine baggergroße Erntemaschine mit langen Greifarmen, die Baumstämme packen, abschneiden und umlegen können, als wären sie Grashalme. Sie schnappen sich eine Fichte, sie wackelt kurz, es staubt, es kracht, dann liegt sie. Brutal sieht das aus. Äste ab, Krone ab, in Sekundenschnelle wird aus dem Baum ein Stamm, der auf einem großen Stapel landet. Eine zweite Erntemaschine greift ihn und transportiert ihn schwankend über das Ast-Nadel-Dickicht zum Waldweg. Dort schichtet sie den Stapel auf einen noch größeren Stapel; in Lkw-Höhe säumt er den Waldweg. Dahinter noch einer und noch einer. „Das war mal ein Wanderweg“, sagt Bothner und bahnt sich hüpfend einen Weg zurück: „Den haben sie total zerstört.“

Seit März verwandeln Erntemaschinen den Fichtenforst auf der Bergkuppe nahe dem Örtchen in eine Reihe von harzig duftenden Holzstapeln. Sie arbeiten im Auftrag der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA), vor Ort vertreten durch ihren zuständigen Bundesforstbetrieb Thüringen-Erzgebirge – der Forst ist ein Staatswald. Er ist zugleich auch ein Vogelschutzgebiet nach europäischem Recht und entsprechend streng geschützt, der Schwarzstorch kommt hier vor.

Die Fällarbeiten in diesem Forst, ist Bothner deshalb überzeugt, sind illegal. Sie ist auch davon überzeugt, dass dort Windkraftanlagen gebaut werden sollen, am Willen der Bürger vorbei. Eine objektive Grundlage für Bothners Windkraft-Befürchtungen gibt es allerdings nicht, doch um Windkraftanlagen soll es hier auch nicht gehen. Seit März, seitdem die Holzfäller unterwegs sind, liegt Bothner nächtelang wach, sie schaltet frühmorgens um drei Uhr ihren Rechner an und googelt nach Möglichkeiten, die Erntemaschinen zu stoppen.

Sie hat sich an die Forstverwaltung gewandt, an Naturschutzverbände, an das Bundesamt für Naturschutz, an die Kriminalpolizei, das Bundesumwelt-, das Bundesjustiz- und das Landwirtschaftsministerium, und auch an die EU-Kommission. Es könne doch nicht sein, sagt sie, dass mitten in der Brutzeit ein streng geschütztes Vogelschutzgebiet abgeholzt wird: „Ich darf in der Zeit nicht mal meine Hecke schneiden, und die räumen hier den ganzen Wald ab?“

Tatsächlich erscheint Bothners Frage nicht abwegig. Weil der Zustand der Natur in Europa sich rapide verschlechtert, schreiben EU-Kommission, Parlament und Rat seit Anfang Juli am „Nature Restauration Law“, dem EU-Renaturierungsgesetz, das Schutzgebiete mit konkreten Vorgaben und Maßnahmen wieder in gute Lebensräume verwandeln soll. Wie kann es also sein, dass in einem Schutzgebiet die Harvester anrücken?

Zuständig für das Vogelschutzgebiet bei Grumbach sind, einige Ebenen unterhalb der EU-Kommission, zunächst mal: Heiko Günther und Veit Müller. Günther, 55, leitet den Fachdienst Umwelt des Landkreises Saale-Orla-Kreis und ist somit unter anderem auch Chef der unteren Naturschutzbehörde. Die muss den gesetzlichen Artenschutz im Landkreis überwachen und durchsetzen. Müller, 32, ist seit Anfang des Jahres stellvertretender Leiter des Forstamtes Schleiz. Günther hat sich im türkisfarbenen Poloshirt hinter den Besprechungstisch seines schmalen Büros im Land­rats­amt Schleiz gequetscht und erklärt geduldig, wie seine Behörde den Artenschutz bei Grumbach sicherstellt. Und dass die Fällmaßnahme den Wald nicht vernichten, sondern schützen soll.

Der zuständige Förster des Bundesforsts Thüringen-Erzgebirge hatte im Frühjahr das Gespräch mit dem Forstamt Schleiz gesucht. Wie an vielen Stellen in der Region hatte der Borkenkäfer die Fichten auch in den bundeseigenen Forsten bei Grumbach befallen. „Normalerweise würde sich eine gesunde Fichte gut gegen den Käfer wehren können“, schreibt die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben in Bonn auf Nachfrage. „Wenn er sich in die Rinde bohrt, sondert der Baum Harz ab und tötet so den Käfer. Nur wenige Exemplare schaffen es dann einzudringen und sich dort zu vermehren.“

Aufgrund der Trockenheit der vergangenen Jahre seien die Fichten jedoch häufig so geschwächt, dass sie nicht mehr ausreichend Harz produzieren könnten, der Borkenkäfer könne die Fichten ungehindert befallen, sich explosionsartig vermehren und so auch gesunde Bäume und ganze Forste vernichten. Deshalb sei es „dringend notwendig, befallene Bäume zu fällen und aus dem Wald zu entfernen, bevor sich die Borkenkäfer fertig entwickelt haben“, so die Bundesanstalt.

Im Fall Grumbach lief die Sache so ab, wie sie üblicherweise abläuft: Der Förster des Bundesforstes wandte sich an die Kollegen vom Forstamt Schleiz. Der Bundesforst fungiert als Überwachungsbehörde und übernimmt hoheitliche Aufgaben. Auf die Frage, ob man sich in Grumbach durch die behördlichen Maßnahmen überwacht fühle, lächelt Müller: „Wir besprechen sie“, sagt er.

Leuchten die Maßnahmen ein – und das sei in Grumbach der Fall gewesen, der Borkenkäfer müsse bekämpft werden, sagt Müller –, dann füllt der Bundesförster ein Formular aus, eine sogenannte Erheblichkeitsprüfung. In diesem Formular wird abgefragt, ob die Maßnahme einen „erheblichen Eingriff“ in das Schutzgebiet bedeutet. Die Einschätzung, ob ein Einschlag in einem Forst einen erheblichen Eingriff darstellt, nimmt also der Förster vor, der den Einschlag plant.

„Ein erheblicher Eingriff wäre etwa, wenn der Horst eines Schwarzstorches betroffen wäre“, sagt Müller. Wenn es Vorkommen von geschützten Tieren gebe, wie etwa Schwarzstorch oder Haselhuhn, dann lege man dort auch ein Augenmerk drauf, „wir gehen ja nicht mit geschlossenen Augen durchs Kreisgebiet“. Das Formular geht an die untere Naturschutzbehörde, dort wird es abgeheftet. Eine Prüfung erfolgt nur bei einem begründeten Verdacht auf eine erhebliche Beeinträchtigung. Ist der Eingriff nicht erheblich, kann die Maßnahme stattfinden. Ist er erheblich, wird weiter geprüft.

Bei der Maßnahme in Grumbach sei das nicht nötig gewesen, sagt Günther. Ein Kahlschlag, wie die Ortsbürgermeisterin kritisiere, werde dort auch gar nicht durchgeführt. Bei „Borkenkäfersanierungsmaßnahmen“ handele es sich aus rechtlicher Sicht auch nie um Rodungen und Kahlschläge, sagt Förster Müller. Der Waldbesitzer sei gar zu Fällarbeiten verpflichtet, weil umliegende Waldflächen gefährdet seien und eine weitere „rasante Verbreitung des Borkenkäfers dem Gemeinwohl der Gesellschaft“ entgegenstehe.

Also hat die untere Naturschutzbehörde die Sache zu den Akten gelegt – bis Bürgermeisterin Both­ner loslegte.

Eine einzelne Mitarbeiterin hat Günther in seiner unteren Naturschutzbehörde, die für den Artenschutz zuständig ist. „Sie macht den gesamten Artenschutz in den Biotopen, aber sie überwacht auch die Exoten, Vogelspinnen, Papageien, Schildkröten und so weiter“, sagt Günther. Die Mitarbeiterin kontrolliert also das Forstamt und stellt sicher, dass es den Artenschutz berücksichtigt? Günther und Müller lachen. „Ich würde nicht von kontrollieren, sondern vielmehr von einem Zusammenspiel sprechen“, sagt Günther. Es müsse ja nicht sein, dass die Verwaltung sich gegenseitig beschäftige, sagt Müller.

Ob die Mitarbeiterin regelmäßig ein Monitoring der Arten in den Schutzgebieten des Kreises durchführe? Günther guckt ungläubig. „Dazu kommt sie doch gar nicht“, sagt er, „das Monitoring macht das Land.“ Wie oft? Die Schutzgebiete würden auf jeden Fall gut gemanagt, sagt er. Und, fügt er hinzu, dass die Gesetzgeber in Berlin und Brüssel sich überlegen müssten, wer das vor Ort alles umsetzen solle, was sie so beschließen. Jede neue Bestimmung über Grenzwerte in Industrieanlagen, neue Vorschriften für Verpackungsabfälle, Gewässer- oder eben Artenschutz – all das müssten sie hier im Kreis überwachen und durchsetzen.

Quelle          :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       Bild von Grumbach

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Schwarze Löcher

Erstellt von Redaktion am 2. August 2023

Es fällt schwer, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden.

Ein Schlagloch von Georg Diez

Es gibt kein richtiges Morgen mehr, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit verlangt. Die Zeit ist nicht wirklich aus den Fugen, sie ist mehr wie der Regen – sie kehrt wieder, in immer neuen Schüben.

Wie finden wir eine neue Sprache für das Politische? Oder, weitergefasst, eine neue Sprache für das, was wir erleben? Wie drücken wir aus, dass wir Teil sind einer sich rapide und massiv verändernden Welt und Wirklichkeit? Weil die alten Worte diese neue Wirklichkeit nicht richtig erfassen.

Die Regentropfen schlagen hart gegen die Scheibe. Ich spüre die Präsenz meines Sohnes im Zimmer. Auch er schaut aus dem Fenster der Wohnung. Auch er sieht diesen Regensturz, den dritten oder vierten heute schon. Sie kommen in Wellen, die schwarzen Wolken schieben sich über die Stadt. Sie entladen sich heftig. Dann klart der Himmel auf, es scheint vorüber, das Blau tritt durch die Wolken. Bis sich von Neuem die Wolken verdichten, das Grau immer dunkler wird und der Regen wiederkehrt, als Menetekel einer Welt im Klimawandel. Ich spüre seine Angst und Verwunderung, oder vielleicht ist es auch das, was er bei mir sieht und nur spiegelt. Wir sprechen darüber, kurz nur, weil wir schon öfter darüber gesprochen haben; weil ich auch nicht weiß, wie sehr ich ihn überhaupt mit in diese Realität und Reflexionen einbeziehen soll. Er weiß es doch sowieso. Dieser verdammte Regen, sagt er, dieser verdammte Klimawandel. Er ist sieben. Er sagt das, was er fühlt, er sagt das, was er um sich sieht, er sagt das, was von ihm erwartet wird. Ich kann ihm nicht wirklich antworten, die Details verlieren sich, das Endspiel ist überwältigend.

Was bleibt, ist die Erfahrung. Wir stehen zusammen in unserer Ratlosigkeit. Wir warten darauf, dass der Regen vorübergeht. Wir sind verbunden in der Wortlosigkeit. Er hat Erwartungen, an mich, an den Vater. Ich will ihm helfen, diese Welt zu verstehen, aber ich muss erkennen, dass das schwerer und schwerer fällt, weil die Kategorien sich so verschoben haben. Die Zeit, zum Beispiel, sie ist nicht wirklich aus den Fugen, wie es Shakespeare schrieb, sie ist mehr wie der Regen, sie kehrt wieder und wieder, in immer neuen Schüben, leicht verändert, die gleiche Zeit, in unterschiedlichen Wellen.

Wie können wir uns in dieser neuen Zeit, der verschobenen Zeit zurechtfinden? Es gibt dieses Gestern, Heute, Morgen nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in der unschuldig erwartungsoffenen Klarheit. Es gibt auch kein Morgen, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit verlangt, weil sie uns festhält und fesselt; und es gibt nur noch das Morgen, das die Gegenwart überragt, als Rätsel, als Drohung, als Frage zumindest, was wird, in einer Entwicklung, die, ja, wie verlaufen wird? Linear, der Anstieg der Temperaturen weltweit? Zyklisch, die Wiederkehr biblisch bekannter Plagen? In Wellen, als Erkennen und Anpassen? Als Teilchen, punktuelle Erfahrung? Niels Bohr hat diesen Widerspruch so benannt, für den „Quanten-Moment“, das Licht als Welle und als Teilchen zugleich. Da ist die Erkenntnis, dass die Physik unserer Welt so ganz anders ist, als wir es in der Schule gelernt haben, als wir es uns seit Jahrhunderten vorgestellt haben: Das ist eine neue Welt, sagt er, gerade sehr eindrucksvoll im Kino zu sehen in dem Film „Oppenheimer“, der seine ganz eigene endzeitliche Aktualität menschlicher Hybris hat. Er sagt es aber auch zu uns: Die Paradoxie ist real, der Widerspruch ist der Schlüssel zum Wesen unserer Zeit.

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Das bedeutet, dass wir die Schwarzen Löcher unserer Gegenwart sehen und anerkennen. Aber was bedeutet es, Schwarze Löcher anzuerkennen, was bedeutet es, das überinformierte Nichtwissen zur Grundlage von Erkenntnis und Entscheidung zu machen? Was bedeutet es für Individuen, in ihrer Psychologie, was bedeutet es für Gesellschaften und die Politik, die dafür zuständig ist, gemeinsame Antworten zu finden?

Wie verändert sich dadurch das Wesen der Politik, die nicht mehr mit dem Versprechen von Lösungen oder Antworten hantiert, sondern den Zweifel in dem Mittelpunkt stellt? Wie kann eine Politik aussehen, die diese Offenheit in sich aufnimmt, verdeutlicht, selbst zum Teil ihres Versprechens macht? Wie kann man Wahlen mit dem Zweifel gewinnen? Und was bedeutet das für Wahlen, die zum Fetisch der Demokratie geworden sind, die ja aber nicht alles sind oder zumindest nur eine historisch kontingente Form der Demokratie?

Was bedeutet es aber für die Sprache selbst, das eigentliche Medium der demokratischen Politik? Wie benennen die Akteure das, was sie tun? Wie benennen aber auch die Bürger*innen, was sie wünschen, fordern, fühlen? Wie lassen sich Emotionen in ein, wenigstens der Theorie nach, rationales Konzept von demokratischer Politik einbauen? Wie ändert sich dieses Konzept dadurch, oder das Konzept von Rationalität? Wie kann, und das ist die Verbindung zum „Quanten-Moment“, die Theorie auf eine Ebene mit der Wirklichkeit gebracht werden, die sich radikal verändert hat?

Quelle        :          TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben      —      The storm rumbles in the distance with the rain on the horizon… The wind is at its peak and spreads its waves on the waves…

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Klimawandel und Politik

Erstellt von Redaktion am 2. August 2023

Mehr Küstenstädte als bisher angenommen werden überflutet

File:Jakarta overstroming 2002.JPG

Jakarta ist regelmässig von Überschwemmungen betroffen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :       Daniela Gschweng /  

Radarmessungen der Küsten seien alt und ungenau, sagen zwei Forscher. Es sind mehr Küstenabschnitte gefährdet.

Prognosen darüber, wie schnell und wie stark der Meeresspiegel ansteigen wird, sind mittlerweile fester Bestandteil von Klima- und Zukunftsszenarien. Nicht ohne Grund – der Grossteil der Menschheit lebt an Küsten. Die Daten, auf denen Vorhersagen basieren, sind jedoch oft alt und ungenau, fanden zwei Forschende heraus. Einige Küstenhöhen müssen sehr wahrscheinlich nach unten korrigiert werden.

Viele Messungen sind so ungenau, dass man sie nicht verwenden könne, schrieben die Datenanalytiker Ronald Vernimmen and Aljosja Hooijer in einer im Januar publizierten Studie.

Das liegt vor allem an der verwendeten Messmethode. Höhenunterschiede an Land wurden früher ausschliesslich mit Radar gemessen. Bei der Messung wird ein Gebiet mit Radarwellen belegt. Anschliessend wird aufgenommen, wie lange die Reflexion auf sich warten lässt.

Viele Prognosen basieren auf ungenauen Radar-Daten von 2000

Dabei kommt es öfter zu Messfehlern. Ein Wäldchen oder einige Gebäude auf dem vermessenen Gebiet ergeben dann eine falsche Höhe. In tropischen Wäldern könne die Messung mehr als 20 Meter abweichen, sagte Vernimmen zum «Hakai Magazine».

Inzwischen ist man zu Lidar-Messungen übergegangen. Diese funktionieren nach dem gleichen Prinzip, arbeiten aber mit Laserstrahlen und sind weit präziser. Viele Studien und Prognosen über den Meeresspiegelanstieg verwenden SRTM-Daten, die das Space Shuttle vor 23 Jahren gesammelt hat (Shuttle Radar Topography Mission, SRTM). Noch genauer wird die Messung, wenn sie von Flugzeugen aus gemacht wird statt per Satellit. Solche Messungen sind aber teuer.

Viermal mehr Land betroffen als bisher angenommen

Die Neuberechnung der Wissenschaftler sagt voraus, dass insgesamt rund 482’000 Quadratkilometer Land untergehen könnten. Das heisst, bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter gegenüber 2020 würde fast viermal so viel Land überflutet wie bisher vorhergesagt.

Betroffen wären vor allem Länder mit grossen, dicht bevölkerten Flussdeltas, wie Bangladesch, Myanmar und Pakistan, oder solche mit flachen Küstenlinien wie die Niederlande. Bis wann genau, ist zwar schwer zu sagen. Es könnte aber schneller gehen als bisher angenommen.

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Zu den vom Meeresspiegelanstieg (mean sea level rise, MSL) besonders betroffenen Gebieten gehören zum Beispiel die Delta-Regionen grosser Flüsse. © Vernimmen, Hooijer

Genaue Prognosen sind komplexe Mathematik

Prognosen über den Meeresspiegelanstieg an einem bestimmten Ort sind eine komplexe Angelegenheit. Unter anderem, weil Küstenlinien unregelmässig sind und sich Wasser nicht gleichmässig über den Globus verteilt (Infosperber berichtete).

Auch das Ufer bewegt sich – im ungünstigen Fall nach unten. In der indonesischen Hauptstadt Jakarta beispielsweise sinkt der Boden ab. Deshalb ist die Stadt vom steigenden Wasserspiegel zusätzlich bedroht. Die Regierung hat bereits begonnen, die Hauptstadt auf die Insel Borneo zu verlegen.

Recht genau berechnen können Forschende, wie stark sich die Ozeane bei steigender Temperatur ausdehnen werden. Wie viel Eis in den kommenden Jahren und Jahrzehnten schmelzen wird, ist schon schwerer abzuschätzen.

Am wichtigsten ist, wie heftig und wie häufig extreme Wetterereignisse wie Stürme und Starkregen werden und wie hoch das Wasser in solchen Extremsituationen steigt. Der Weltklimarat IPCC rechnet bisher mit 60 bis 110 Zentimetern Meeresspiegelanstieg bis Ende des Jahrhunderts (IPCC AR6).

Forschende sprechen von «neuer Zeitachse»

Die Neueinschätzung ist ein Alarmsignal. In den Niederlanden, in Italien, im Senegal und in vielen anderen Ländern wird heute entschieden, wo in den kommenden Jahren Deiche verstärkt, Menschen umgesiedelt oder Bauvorhaben geplant werden. Für die betroffenen Länder und Städte geht es um Zentimeter. Bisher schätzte Indonesien beispielsweise, dass bis 2050 ein Drittel von Jakarta überflutet sein wird. Was, wenn es deutlich mehr ist?

Nach Vernimmens und Hooijers Berechnungen wären rund 132 Millionen Menschen direkt betroffen, wenn der Wasserspiegel um einen Meter steigt. Die beiden niederländischen Forscher haben ihre Daten öffentlich verfügbar gemacht. «In der Hoffnung, dass die betroffenen Regierungen die neue Zeitachse zur Kenntnis nehmen», zitiert das «Hakai Magazine».

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Oben      —      Jakarta ist regelmässig von Überschwemmungen betroffen

Author Hullie at Dutch Wikipedia
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Attribution: Hullie

 

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‚Bundespressekonferenz‘

Erstellt von Redaktion am 2. August 2023

Pressefreiheit und das Monopol der ‚Bundespressekonferenz‘

Berlin – Bundespressekonferenz (Federal Press Agency)

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Wer hätte gedacht, dass die ‚Bundespressekonferenz‘ (BPK) ein Privatverein und eben nicht eine Veranstaltung des Bundes ist? Ein erstaunliches Urteil (Az.: 4 O 29/23) des Berliner Landgerichts brigt durch eine eher lapidare Meldung der Berliner Zeitung an den Tag, dass die BPK verassungswidrig den Zugang von Journalistenmrezensiert und somit eigentlich eine irreführende Bezeichnung ist. Man muss Mitglied des Vereins sein, um an einer Pressekonferenz z.B. des Bundeskanzlers teilnehmen zu können. Die BPK ist also ein Etikettenschwindel, auf den sie auch noch ein Monopol hat.

Jeder normal gebildete Mensch in unserer Republik denkt bei der Bezeichnung BPK an eine öffentliche Veranstalung des Bundes, in der Journalisten zu den vorgetragenen Themen Fragen stellen können. Bis heute weit gefehlt, aber zukünftig hoffentlich vorbei. Erstritten hat sich den Zugang zur BPK ein Journalist eines Internet-Portals, was die zunehmende Bedeutung solcher Portale für die unkontrollierte Meinungsbildung unterstreicht. Ein Privatverein darf selbstverständlich entscheiden, wen er aufnimmt und wen nicht. Nicht aber wenn er öffentliche Aufgaben übernimmt und so die öffentliche Meinungsbildung kontrollieren will. Das verstößt gegen jede demokratische Grundordnung und ist dezidiert verfassungswidrig. In Art.3, (3) GG ist nämlich eindeutig geregelt, dass niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf.

Erstaunlich auch, dass die Bundesregierung und andere öffentlichen Behörden diesem Treiben bisher tatenlos zugeschaut und somit die Herausbildung von sog. Leitmedien gefördert haben. Man wollte und will offenbar keine kritischen Fragen zu den oftmals höchst fragwürdigen Inhalten der vorgetragenen Meinung. Die BPK stellt sich durch das Urteil als Farce heraus. Sie muss ihren irreführenden Namen aufgeben und zu erkennen geben, dass sie mit ihren interessengesteuerten Sponsoren nichts anderes ist als eine private PR-Agentur.

Aber jeder entscheidet für sich selber wo er hineinpasst! The Show must go on. 

Die Bundesregierung muss ihrerseits klarstellen, dass sie ihre Pressekonferenzen in eigener Regie abhält und dass selbstverständlich jeder Journalist freien Zutritt hat. Der Verein BKP ist auch nicht durch seine zur Gründuungdzeit (1949) wichtige Intention entschuldigt, die Regierung zu öffentlichen Aussagen gerdezu zu zwingen. Schon damals war ihm das neue GG bekannt und er hätte sich von Anfang an daran halten müssen. Dass erst heute ein Gericht die Verfassungswidrigkeit der Aktivitäten der BPK in Sachen zugelassener Journalisten feststellt, ist ein Armutszeugnis für unsere Demokratie und ein Beweis für die Doppelmoral und Intrasparenz unserer Regierungen seit 1949.

Oder will das bis heute wirklich keiner bemrkt haben? Unwissenheit schützt aber vor Strafe nicht. Hier geht es nicht um Vereinsrecht, sondern um die freie Meinungsbildung des ganzen Volkes. Wer die verfassungswidrig zu beeinträchtigen sucht, darf keinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Kein Mensch hätte gedacht, dass die ‚Bundespressekonferenz‘ eine Dienstleistung eines privaten Vereins ist und monopolartig die Pressefreiheit verfassungswidrig beschneidet. So etwas gehört ein für alle Mal abgeschafft, wenn unsere Demokratie auch nur einen Funken Glaubwürdigkeit erhalten will.

Urheberrecht
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Oben      —     Berlin – Bundespressekonferenz (Federal Press Agency)

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 2. August 2023

„Krieg und Frieden“
Zu Hause an der Front: Abschied, der schwerfällt

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Aus dem Donbass Roman Huba

Vor Kurzem haben wir in der Ukraine den 500. Tag seit Beginn des russischen Großangriffs „begangen“. Auch ich habe mich auf diesen Moment vorbereitet: Kurz vorher wurde meine Großmutter aus dem Frontgebiet evakuiert und das war für mich eine große Freude. Denn im Februar 2022 hatte sie sich noch geweigert, ihr Haus in Lyman im Gebiet Donezk zu verlassen. Sie blieb dort während der russischen Besetzung und lernte all die damit verbundenen „Freuden“ kennen. Ein Jahr lang hatte sie nicht einmal Strom.

Das muss man sich einmal vorstellen: In der Stadt gab es nichts mehr, keine Apotheke, keine Geschäfte, weder Postamt noch Krankenhaus. Renten wurden nicht ausgezahlt, Panzer fuhren auf den Hof, am Himmel flogen die Kampfflugzeuge und die ganze Nacht über wurde das Haus von Explosionen erschüttert. So lebte meine Großmutter. In solch einer Situation ist man sogar über eingeschränktes Hörvermögen froh. Nur, dass es nicht vor Granatsplittern und Druckwellen schützt. Und auch mit der Befreiung des Gebietes sind nicht alle Probleme gelöst, weil die Front immer noch nur 10 bis 15 Kilometer entfernt ist. Und die Russen immer noch darauf hoffen, eines Tages zurückzukommen.

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Oft habe ich mich gefragt: Hat es sich gelohnt, dass Oma nicht gleich weggefahren ist? Aber diese Gedanken habe ich immer schnell wieder verworfen, denn es würde so klingen, als sei meine Oma selbst schuld an ihren Leiden. Dabei ist der Grund für unser Unglück bekannt: Russlands Angriffskrieg gegen unser Land. „Warum gehen sie von dort, also dem Frontgebiet, nicht weg?“ – wenn diese Frage kommt, ist die Geschichte meiner Großmutter für mich immer ein Argument. Diejenigen, die in Frontnähe und in den besetzten Gebieten leben, sind in der Ukraine häufig mit Vorwürfen konfrontiert. „Wenn sie dort weggegangen wären, hätte es die ukrainische Armee jetzt leichter, die Städte zu verteidigen“, heißt es dann etwa. Dabei ist allen mehr oder weniger klar, wie hart ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände ist, vor allem für über Achtzigjährige. Ohne Geld und Unterstützung durch Angehörige ist es in diesem Alter schwer, alles Bisherige aufzugeben.

Quelle          :           TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Unten     —   Lystopad – Composed by Lystopad. The photos made: File:Square Memory.jpg by Qypchak File:Володимирський кафедральный собор (Луганськ).JPG by Okosmin File:Музей истории Луганска.jpg by Кишко Юрий Николаевич File:Locomotive СО17-1000 (01).JPG by Lystopad File:Отель Украина 2.jpg by Кишко Юрий Николаевич File:Mark V Luhansk.jpg by Qypchak

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Schnaufen und durchtauchen

Erstellt von Redaktion am 1. August 2023

Bei der SPÖ beschleicht einen das Gefühl, dass man dort nicht genau weiß, was man jetzt anstellen soll

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Franz Schandl

Aufregung war gestern, heute herrscht Funkstille. Andreas Babler exponiert sich wenig, besondere Akzente hat er nach seiner überraschenden Wahl zum Bundesparteiobmann der SPÖ bisher nicht gesetzt. Aber auch seine Gegner lassen ihn, von kleineren antikommunistischen Ausritten abgesehen, in Ruhe. Ist das die Ruhe vor dem Sturm? Eher nicht. Wenn ein altes System nicht mehr funktioniert, aber nichts Neues in Sicht ist, dann kommt wohl so was raus. Keine andere Situation hätte Babler an die Spitze gespült. Es war vor allem auch die Orientierungslosigkeit des Parteigranden, die seinen Aufstieg ermöglichte. Dieses Momentum wiederum erkannt zu haben, spricht für Bablers taktisches Geschick.

Zweifellos ist es leichter, solch einen Coup zu setzen als die Zukunft zu gestalten. Dass dieser Streich überhaupt hat glücken können, verwundert nach wie vor. Vor einigen Monaten noch ist Andreas Babler maximal als Juxkandidat für ein höheres Parteiamt gehandelt worden. Innerhalb wie außerhalb der Partei hatte man sich da kräftig verrechnet. Nach dem Fiasko um die Wahl des Vorsitzenden im Frühjahr leckt der Apparat nun die Wunden und wirkt ziemlich weggetreten. Im Zustand der Narkose ist er nur noch ein Schatten vergangener Tage. Durchschnaufen und durchtauschen ist angesagt. Aktuell will man dort nur eines: Fehler vermeiden. Attacken auf die neue Spitze sind daher aus dieser Ecke nicht zu erwarten. Aber das wird sich ändern, sobald die peinlichen Ereignisse vergessen sind und die Funktionäre sich vom Schock erholt haben.

Auch Babler will keine Fehler machen und bedient zur Zeit fast ausschließlich die Defensive. Ihm ist es aber gelungen, der Sozialdemokratie die mentale Wärme zurückzugeben. Seit Bablers erfolgreicher Kandidatur sind über 15.000 Mitglieder der Partei neu oder wieder beigetreten, nur wenige haben sie ob des vermeintlichen Linkskurses verlassen. Viele fühlen sich besser aufgehoben seit es ihn gibt. Ob daraus allerdings schon ein besonderes Maß an Zustimmung und Zugkraft ableitbar ist, darf bezweifelt werden. Die bunte Combo der Babler-Fans ist etwa in den Gremien kaum oder gar nicht vertreten. An diesem Manko wird sich wenig ändern. Ob diese Elemente einen Aufbruch bewerkstelligen können, ist fraglich, sind sie doch auch weitgehend unorganisiert und unerfahren. Die Neuaufstellung wird also schwierig. Durchaus wahrscheinlich ist aber, dass eine geeinte und integre SPÖ dem Aufstieg der FPÖ am ehesten Parole bieten kann. Von Grünen oder Volkspartei ist da wenig zu erwarten. Die Sozialdemokraten werden bei den Nationalratswahlen 2024 ganz auf „Babler oder Kickl?“ setzen. Zum Ärger der ÖVP wird das auch aufgehen.

Als Bürgermeister der Gemeinde mit dem größten Flüchtlingslager in Österreich, hat Babler dort einiges weitergebracht und auch aufgeheizte Stimmungen in den Flüchtlingsfrage entschärfen können. Bundespolitisch versucht er die soziale Karte zu spielen. Immer noch und immer wieder geht es um Arbeitsplätze und Arbeitszeitverkürzung, solide Pensionen und leistbares Wohnen, Bildung und Gesundheit für alle, und natürlich Reichenbesteuerung und Umverteilung.“ Hat Babler eine tragfähige Erzählung oder wärmt er nur alte Geschichten auf? Etwas retro wirken Programm und Schwerpunkte dieser Kreisky-Revival-Band allemal. Atmosphärisch handelt es sich um ein Arbeitertümeln light. In vielen anderen Fragen (Ukraine, Pandemie, Europäische Union, Werte) sind die Positionen der SPÖ hingegen nicht von denen der regierenden schwarz-grünen Koalition oder dem medialen Mainstream zu unterscheiden.

Wozu der gewiefte Babler noch imstande ist, wird sich weisen. Wohin die Reise der SPÖ geht, ebenso. Zu erwarten ist, dass es keine allzu große Tour werden wird, sondern alles im abgesteckten Rahmen sich bewegt. Der moralische Input ist größer als der inhaltliche Output. Die SPÖ bleibt weiterhin angeschlagen, aber sie ist erleichtert. Es ist wieder auszuhalten. Die Laune war schon schlechter.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —      Starkes Team für den SPÖ Parlamentsklub im Nationalrat: Julia Herr, Philip Kucher, Eva-Maria Holzleitner, Andreas Babler (v.l.n.r.)

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Blast from the Past

Erstellt von Redaktion am 1. August 2023

In Großbritannien braut sich ein Bankenskandal zusammen

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Von Karina Urbach

Der österreichische Außenminister Czernin klagte im Ersten Weltkrieg, dass es schwer geworden sei, etwas geheim zu halten. Jedes politische Geheimnis wäre „Hunderten von Personen bekannt, den Hofräten im Ministerium des Äußeren, den Chiffrierern, bei den Botschaftern und Gesandten und dem Personal“.

Manchmal erweist sich eine durchgestochene Nachricht jedoch auch als geschicktes Täuschungsmanöver. Das passierte jüngst dem BBC-Wirtschaftsjournalisten Simon Jack. Jack hatte allen Grund, seine Quelle für zuverlässig zu halten: Ihr Name ist Dame Alison Rose, CEO der Bankengruppe NatWest, 2023 geadelt, Jahresgehalt fünf Millionen Pfund. Rose steckte Jack, warum sie einem berühmten Kunden das Konto gekündigt habe. Der Mann hätte einfach nicht mehr genug Einlagen für sein Privatkonto bei Coutts gehabt (Coutts gehört zur NatWest Gruppe). Bei dem Kunden handelte es sich um den Brexiteer Nigel Farage. Er hatte kurz zuvor seine Kontokündigung als politisch motiviert angeprangert.

Farage ist nicht der beliebteste Mann des Königreichs. Ohne ihn und seine Ukip-Partei hätte es wahrscheinlich keinen Brexit gegeben. Die BBC-Meldung wurde daher begeistert von allen Medien weiterverbreitet. Als Farage-Kritiker wollte man sie einfach glauben.

Es gibt allerdings ein paar Geheimnisse, die man nicht brechen sollte: Das Wahl-, Beicht-, Arzt- und eben auch das Bankgeheimnis. Alison Rose musste gehen. Wie sich mittlerweile herausstellte, hatte sie nicht nur das Bankgeheimnis mit ihrer gezielten Fehlinformation gebrochen. Ein sehr viel größerer Skandal scheint verschleiert zu werden: NatWest schloss – ohne Angabe von Gründen – die Konten von über 8.000 Kunden. Andere Banken sollen sich ähnlich verhalten haben. Lag es am politischen Engagement der Kunden?

Politisch exponierte Personen (PEP) werden von Banken zunehmend als Belastung gesehen. Der Labour-Abgeordnete Lloyd Russell-Moyle sagte, er habe aufgrund seiner politischen Einstellung ständig Probleme mit Banken. Unter anderem habe ihn eine Wohltätigkeitsorganisation gebeten, nicht mehr für sie in Erscheinung zu treten, weil sie sonst Ärger mit ihrer Bank bekämen. Russell-Moyle ist politisch das Gegenteil von Farage. Er hat viele Anti-Brexit-Proteste organisiert und setzt sich für LGBT-Rechte ein. Trotzdem unterstützt er jetzt Farages Kampagne gegen „De-banking“. Ebenso wie die Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller. Auch sie wurde von ihrer Bank einfach „entsorgt“. Sogar die Sunday-Times-Kolumnistin Camilla Long, die 2015 von Nigel Farage wegen angeblich „unwahrer Äußerungen“ angezeigt wurde, stellte sich auf seine Seite.

Kontoschließungen erleben in Großbritannien jedoch nicht nur Politiker. Alexandra Tolstoy organisiert beruflich Pferdereisen. Sie bekam ebenfalls einen NatWest-Abschiedsbrief von Alison Rose (Zitat: „Wir sind nicht verpflichtet, Ihnen die Gründe dafür zu nennen“). Tolstoy hat drei Kinder mit einem russischen Expartner, der keinen Unterhalt zahlt. Wie alle Menschen ist sie darauf angewiesen, ein Bankkonto zu besitzen, auch um ihre Kinder zu ernähren. Die Frage stellt sich – lag die Kündigung des Kontos an Tolstoys „verdächtigem“ Nachnamen oder am russischen Exfreund, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat? Nach dem Rauswurf von NatWest weigerten sich sechs weitere Banken, Tolstoy als Kundin anzunehmen.

Dank des Skandals weiß jetzt jeder im Land, dass man bei seiner Bank ein „data subject access request“ stellen kann (eine Auskunft darüber, welche Daten über einen gespeichert sind). In den nächsten Wochen werden britische Banken in einer Flut solcher Anfragen ersticken.

Quelle          :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Interviews mit Hitzetoten

Erstellt von Redaktion am 31. Juli 2023

Der Tod, der aus der Sonne kam

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Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Ob Radio, TV oder Print-Medien: Der Tod lauert überall. In ziemlicher Nähe zur Erde glüht die Sonne so vor sich hin. An der Oberfläche des Nachbarplaneten herrschen ungefähr 6.000 Grad Celsius, im Inneren überwiegen sogar Temperaturen von 15 Millionen Grad Celsius. Diese permanente Bedrohung schlägt sich primär in den Medien nieder.

Zum Thema wurden uns erfreulicherweise Interviews von SIERA zugesendet, die sie in einem ungenannten Medium entdeckte.

Interviewer: „Frau Braun, wann und warum sind Sie in diesem Monat gestorben?“

Frau Braun: „ Schon Ende Juni hatte ich das Gefühl, daß hier im Land etwas nicht stimmt. Von ungefähr März an bis Ende Juni wurde es immer wärmer – mir wurde immer unheimlicher zumute! Dazu kam, daß Bäume ausschlugen (!), Gräser aus dem Boden schossen(!) , manche Blumen begannen sogar schon zu blühen … es war nicht zum Aushalten!“

Interviewer: „ Aber das gab es doch schon immer!“

Frau Braun: „Aber doch nicht so! Doch noch nie in dieser Weise! Nie war es dermaßen bedrohlich! Zudem hörte ich in der Tagesschau, daß der Klimawandel immer näher kommt – und das konnte ich fühlen! Ich war oft erschöpft, verschwitzt, verängstigt…

Interviewer: „Wann begann das bei Ihnen?“

Frau Braun: „ Ich sagte ja schon … Ende Juni hatte ich dieses komische Gefühl… vielleicht auch schon früher … man achtet ja nicht dauernd auf sowas… ; aber als ich vom Klimawandel hörte, wurde mir alles klar!

Interviewer: „Was wurde Ihnen klar?“

Frau Braun: „Das habe ich doch schon gesagt! Das hier was nicht stimmt, wurde mir klar! Ich bekam furchtbare Angst vorm Juli… Der Juli stand vor mir wie eine drohende Wand! Ich recherchierte, ob in anderen Teilen der Welt auch Juli war; aber dann wurde mir klar, daß ich vor dem weltweiten Klimawandel nicht davonlaufen konnte – auch nicht davonfliegen! Denn mit meinem Flug hätte ich den Klimawandel ja forciert! Also blieb ich hier in der Stadt und hoffte auf ein Wunder! -Als das Thermometer auf 25° kletterte, habe ich mich überwiegend im Keller meiner Nachbarin aufgehalten – ich selbst habe ja leider keinen. Meine leichtsinnige Nachbarin brauchte ihn zu der Zeit nicht.- Als jedoch die Temperaturen gegen 30° anstiegen, drängte sie mich, ihren Keller zu verlassen, weil sie mit ihrer gesamten Familie den Platz brauchte – auch das Eingemachte hatte sie schon ins obere Stockwerk gestellt.

Interviewer: „Das hört sich schlimm an; was haben Sie dann gemacht?“

Frau Braun: „Zum Glück hatte ich ja noch meine Tiefkühltruhe! In der habe ich meine Tage verbracht – in den frühen Morgenstunden habe ich mir Lebensmittel gekauft, kalte natürlich! Also alle Sorten Speiseeis, Tiefkühlerbsen, eigentlich alle Tiefkühlgemüse und -fleischsorten. Ich habe alles so kalt wie möglich gegessen, um meinen Körper nicht zu erhitzen … Gegen Mittag bin ich wieder zurück in meine Tiefkühltruhe!

Interviewer: „Wie haben Sie das nur ausgehalten?“ Ohne soziale Kontakte?“

Frau Braun: „Ich hatte immer mein Handy dabei! Freundinnen von mir haben es so gemacht wie ich; so habe wir dann quasi von Truhe zu Truhe geplaudert- das war tröstlich.

Interviewer: „Ach, Freundinnen von Ihnen haben das genauso gemacht!? Da haben sie alle ja extrem viel Strom verbraucht mit ihren Truhen!“

Frau Braun: „ Ja, das hat uns alle belastet! Wir wußten, daß sich Putin über unseren Stromverbrauch freuen würde! Das hatten wir ja alle in den Nachrichten gehört… Aber unser Lebenswille war stärker als alle politischen Bedenken!

Interviewer: „ Frau Braun, wie ist es nun aber zu Ihrem ( er schaut auf seine Notizen ) frühzeitigen Exidus gekommen – Sie sind erst 61Jahre….?

Frau Braun: „Am 23. Juli fühlte ich mich morgens so elend, sodaß ich mich zu meinem Hausarzt schleppte. Nebenbei möchte ich betonen, daß ich auch nach der Entwarnung sicherheitshalber stets meine FFP2- Maske trug! Mein Arzt stellte bei mir eine extrem starke Unterkühlung fest; ich wurde in Aluminiumfolie gewickelt und in ein Krankenhaus transportiert – gegen meinen Willen! Denn ich wußte, daß es dort viel zu heiß ist; Zimmertemperaturen von teilweise 26°! Darüber regte ich mich entsetzlich auf und verstarb schon auf dem Weg ins Hospital!“

Interviewer: „Unverantwortlich von Ihrem Arzt! Mein Beileid! Was stand auf Ihrem Totenschein?“

Frau Braun: „Ich wundere mich über Ihre Frage! An extremer Hitze gestorben – was sonst?!“

Interviewer wendet sich nun Herrn Töpfer zu.

Interviewer: „ Seht geehrter Herr Töpfer, darf ich auch Sie fragen, wann und warum Sie in diesem Jahr gestorben sind?“

Herr Töpfer: „Darüber gebe ich Ihnen gern Auskunft. Als Karl Lauterbach vor der Hitzewelle in diesem Sommer warnte, hörte ich ihm -wie auch schon bei Corona – intensiv zu. Ich muß dazu bemerken, daß ich diesen Mann auch nach meinem Exidus sehr schätze, denn ohne die Impfungen – Sie müssen wissen, ich bin dreimal geboostert – wäre ich ja schon 2021 gestorben! So hoffte ich also auf die Spritze gegen die Hitze, die es, soviel ich weiß, immer noch nicht gibt! Eine Schande ist das!
Interviewer: „ Aber könnte nicht auch Ihr Gewicht ( Interviewer schaut auf seinen Zettel ), ähm 170 Kilo eine Rolle gespielt haben?

Herr Töpfer: „Nun kommen Sie mir mal nicht komisch, Herr… wie war doch Ihr Name? Bis zu dieser Hitzewelle ab Anfang Juli ging es mir sehr gut! Ich konnte problemlos vor dem Fernseher sitzen, ohne stark zu schwitzen! Trank gemütlich meine Bierchen, fiel gegen 22Uhr ins Bett und stand morgens ausgeruht auf. Anfang Juli dann mit Blick auf das Thermometer und den Informationen aus dem Radio ging mein Blutdruck hoch; denn ich wußte ja schon von Lauterbach, daß Menschen über sechzig in Gefahr sind, wenn das Thermometer über 20° klettert! Wenn ich mich sorge, esse ich – das beruhigt mich. Genauso ist es mit dem Trinken – mehr Bier , mehr Ruhe im Bau! – Ein Nachbar, mit dem ich an dem Tag verabredet war und der einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat, fand mich in der Küche auf dem Boden liegend und alarmierte den Notarzt. Der stellte dann meinen Hitzetod fest.

Interviewer: „Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Töpfer! Daß die Pharma die Hitzespritze noch immer nicht auf den Markt gebracht hat, ist ein großes Versäumnis.“

Interviewer wendet sich nun der dritten Person zu – einem jungen Mann, 36 Jahre.

Interviewer: „Herr Piet Müller oder darf ich Sie einfach Piet nennen? Wann und warum sind Sie so jung verstorben?

Piet: „Alles klar, Mann! Die Hitze hat mir eigentlich nie viel ausgemacht – im Gegenteil. War oft in Spanien und Griechenland, surfen und segeln. Klar, da weht dann auch noch ein Wind. – Als ich von der Hitzewelle in der Tagesschau hörte, lachte ich erst darüber…- aber dann wurde mir im Gespräch mit Freunden klar, daß ich den Klimawandel ernst nehmen sollte! Meine Freunde taten das schon: fuhren kaum noch mit ihren Autos herum , duschten seltener, verreisten weniger … alles easy. Klar, war schon blöd, Mädels mit dem Fahrrad abzuholen – auf Tandem standen die meisten nicht. Also kaufte ich mir ein Super-Elektro-Fahrrad ; das hat relativ viel Speed. Das war dann aber auch mein Pech: ein Lastwagenfahrer übersah mich beim Abbiegen – vermutlich wegen der Hitze – und schon auf der Straße stellte der Notarzt fest: Schon wieder ein Hitzetoter.“

Hitzetod? Meine Windräder sind die Hände – damit rede ich und fächel mir Luft zu.

Interviewer: „Das tut mir sehr leid, Herr Piet! Auch der Lastwagenfahrer hätte die Hitzewelle ernst nehmen müssen und gar nicht losfahren sollen!“

Auf seinem Zettel hat der Interviewer noch den Namen von Frau Jung stehen, an die er sich jetzt wendet.

Interviewer: „Frau Jung, könnten Sie -möglichst kurz, die Zeit rennt uns davon – beschreiben, wann und warum es bei Ihnen zum Exidus kam?“

Frau Jung: „Nun…, am 22.Juli hatten wir ca. 25°, also eine Affenhitze, wie ich sie in meinen fünfundfünzig Jahren noch nie erlebt hatte; aus irgendeinem Grund vergaß ich, an diesem Tag genügend zu trinken; ich hatte trotz der Hitze keinen Durst und entschloß mich, wie immer am Samstag in die Sauna zu gehen. Ich weiß nicht mehr, wieviel Grad dort eingestellt waren; jedenfalls fühlte ich mich zu schlapp, Wasser aufzugießen. Mein Kreislauf ist seit einigen Jahren nicht mehr top – hätte das Rauchen aufgeben sollen -; jedenfalls fand man mich ohnmächtig in der Sauna, bzw. tot. Ich hörte, daß man inzwischen die Sauna „Todeszelle“ nennt – das war mir früher nicht klar.“

Interviewer: „Ich danke für dieses Gespräch! Meines Wissens werden alle Saunen endlich geschlossen!“

Der Interviewer, der selbst auch unter der großen Hitze leidet – immerhin sind es während der Interviews 27° – wendet sich nun an den letzten Hitzetoten.

Interviewer, verschwitzt und etwas stammelnd: „Herr Löhmann, äh, Lehmann … Sie sind 97 Jahre alt geworden – warum nicht 100?“

Herr Lehmann: „ Gut, daß Sie diese Frage stellen! Ja, ich wollte einhundert Jahre schaffen – genauso wie meine liebe Frau, die leider 2021 gestorben ist. Sie war eine Anhängerin von Karl Lauterbach – ich nicht … Sie können sich vorstellen, wie unsere bis dahin harmonische Ehe – wir haben vier Kinder und elf Enkelkinder – ab 2020 verlief …“

Interviewer unterbricht: „ Lieber Herr Lö, ähm, Lehmann, könnten Sie sich bitte etwas kürzer fassen – ich muß gleich in die Redaktion…“

Herr Lehmann: „ Also, kurz gesagt, ich war gegen das Spritzen , meine Frau dafür – sie starb im Herbst 2021. Kurz genug?“

Interviewer, erschöpft: „ Nun zu Ihrer Geschichte , bitte. Wie Sie wissen, sammle ich Geschichten über Hitzetote im Rahmen der diesjährigen Hitzewelle!“

Herr Lehmann: „Hitzewelle, Klimawandel – wenn ich das schon höre! In meinem langen Leben habe ich immer wieder sehr heiße Sommer erlebt … und? Bin ich gestorben? Nein, keiner… ach ja – und auch keinE ist wegen der Hitze gestorben. Wenn man mal vom Getreide absieht, ja, schlechte Ernten gab es ab und zu, trockene Gärten , Flüsse, deren Wasserstand niedrig war…“
Interviewer unterbricht unwirsch: „Aber warum sind dann Sie in diesem Juli gestorben, verdammt noch mal?“

Herr Lehmann: „Weil mich dieser ganze Scheiß dermaßen aufgeregt hat, diese miese Propaganda tagtäglich in den Medien! Ich hatte keine Lust mehr auf weitere drei Jahre! Hundert werden unter diesen Umständen?!

Nicht mit mir! Ich legte mich ins Bett, aß nichts, trank nichts, und nach einer Woche hörte ich meinen Hausarzt sagen „Total dehydriert, wieder ein Hitzetoter!“

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Oben      —      Während einer Dürre verendete Oryxantilopen

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Vor uns der Abgrund

Erstellt von Redaktion am 31. Juli 2023

Der „Rechtsstaat“ in rasender Fahrt vom Autoland in die Klimakatastrophe

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :     Hans Christoph Stoodt

Mitten durch den Frankfurter Westen soll, so hat es die Bundesregierung beschlossen, die Autobahn A5 zehnspurig ausgebaut werden.

Wegen des „überragenden öffentlichen Interesses“ soll die Betonierung grosser weiterer Flächen, auf denen sich jetzt zum Teil noch Wiesen, Wald, Gärten und Wohnungen befinden, zu jenen 145 Teilprojekten des Bundesverkehrswegeplanes gehören, die im Eilverfahren mit reduzierten Naturschutz- und sonstigen Einspruchsmöglichkeiten durchgezogen werden sollen. Eine Machbarkeitsstudie zum zehnspurigen Ausbau der A5 liegt im Bundesverkehrsministerium seit Herbst 2022 vor, wird aber geheim gehalten und noch nicht einmal den Bundestagsabgeordneten der vom Ausbau bedrohten Stadtteile ausgehändigt.

Wenn man sich vor Ort die Konsequenzen eines solchen Vorhabens stellt (Überblick), kommt man sehr schnell an den Punkt, an dem man an der Zurechnungsfähigkeit der Verantwortlichen auf allen Ebenen zweifeln muss.

Das ist keine polemische Behauptung, sondern bitterer Ernst. Ausgehend von den Erfahrungen in einer Frankfurter Bürger*innen-Initiative, die sich mit Mut und Engagement seit etwas über einem Jahr mit der ihr drohenden Gefahr in Gestalt des von oben geplanten Betonmonsters quer durch den Stadtteil beschäftigt – hier einige grundsätzliche Überlegungen.

Sie geben mein Erleben und Überdenken der Situation wieder, für das ich allein verantwortlich bin. Keineswegs sind sie Konsens der Bürger:inneninitiative „Es ist zu laut“ (esistzulaut.org).

Seit langem sind immer wieder juristisch mehr als zweifelhafte Aktivitäten der Exekutive(n) in Deutschland zu beobachten, die von höchster politischer Stelle offenbar nicht nur akzeptiert, sondern massgeblich vorangetrieben werden. Krasse Beispiele dafür sind die bis heute nie völlig aufgeklärten Vorgänge rund um die Verwicklung staatlicher Stellen in den Oktoberfestanschlag 1980, die Morde des NSU, die ebenso wenig aufgeklärten Umstände, unter denen offenbar über Monate die Obama-Administration der USA via NSA und in Kooperation mit deutschen „Diensten“ auch deutsche Regierungskommunikation inklusive des Smartphones der damaligen Kanzlerin abhörte, die Vorgänge rund um die Mordanschläge auf Walther Lübcke und in Hanau sowie andere mehr. Ein laxer Umgang mit Recht im Regierungsamt ist wahrlich keine sensationell neue Erscheinung hierzulande.

Die derzeitige Ampelkoalition in Berlin geht aber derzeit einen Schritt weiter. Sie bricht ein von ihr selber verabschiedetes geltendes Gesetz und dessen Durchsetzung öffentlich und mit Ansage – und zwar nicht irgendein Gesetz, sondern das Klimaschutzgesetz. Sie bricht es, weil sie behauptet, es sei nicht einhaltbar, was offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht. Sie bricht es mit der Lüge, „die Menschen“ wollten es halt so, wie gern am Beispiel der obsessiven Bedeutung des Autofahrens (samt seiner klimapolitischen Konsequenzen) gezeigt werden soll: „Man steigt ein und fährt los – das bieten Bus, Bahn und Flugzeug in dieser Form nicht. Millionen Menschen wollen an diesem individuellen Freiheitsversprechen festhalten“, so Christian Lindner in einem bekenntnisartigen Artikel über die letzte IAA, die in Frankfurt stattfand.

Dass dieser Vorgang unter einem „Klimakanzler“ und mit den GRÜNEN in der Regierungskoalition stattfindet, zeigt den realen Status der Klimafrage für Regierungspolitik in Deutschland. Es ist billige Ablenkung, dass in der öffentlichen Wahrnehmung bis weit in die gesellschaftliche Linke hinein Verkehrsminister Wissing von der rechtsliberalen Splitterpartei FDP daran vor allem schuld sein soll. Das ist natürlich Unsinn. Die gesamte Ampel-Koalition hat bei einer Klausurtagung ihres Koalitionsausschusses Ende März 2023 in Meseberg verabredet, ihr eigenes und geltendes Klimaschutzgesetz zu sabotieren.

Damit begeht die gesamte Regierungskoalition mit Ankündigung einen Rechtsbruch – denn das Klimaschutzgesetz ist nach wie vor in Kraft.

Sie begeht zudem einen Verfassungsbruch – denn das aktuell geltende Klimaschutzgesetz wurde erst kurze Zeit vor seiner nun vereinbarten Aushöhlung aufgrund einer saftigen Rüge des Bundesverfassungsgerichts so formuliert, wie es nun offenbar als „Belastung“ empfunden wird – die Belastung besteht in der Rücksichtnahme auf die Möglichkeit nachfolgender Generationen, im Rahmen der Grundrechte der Verfassung leben zu können.

Sie begeht schliesslich einen Völkerrechtsbruch – denn ohne die drastische Reduzierung von Treibhausgasemissionen gerade auch im Verkehrsbereich wird die Grenze von 1,5 – maximal 2 Grad Celsius Erderwärmung bis 2100, verglichen mit dem Durchschnitt des vorindustriellen Zeitalters, nicht einzuhalten sein. Dieselbe Trias von Rechts-, Verfassungs- und Völkerrechtsbruch wurde bereits 2021 in Bezug auf den derzeit geltenden Bundesverkehrswegeplan festgestellt (Bündnis „Wald statt Asphalt“, hier auch Links zu Rechtsgutachten zur Frage der Verfassungsmässigkeit des Bundesverkehrswegeplans).

Zur Erinnerung: das derzeit weiterhin geltende Klimaschutzgesetz ist in seiner aktuellen Fassung das Ergebnis einer Ohrfeige, die das Bundesverfassungsgericht im April 2021 den Verfasserinnen und Verfassern des Vorgängergesetzes verpasst hatte:

„Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen … in ihren Freiheitsrechten verletzt. Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Dass Treibhausgasemissionen gemindert werden müssen, folgt auch aus dem Grundgesetz. Das verfassungsrechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur dem sogenannten „Paris-Ziel“ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern. Zu dem danach gebotenen rechtzeitigen Übergang zu Klimaneutralität reichen die gesetzlichen Massgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfads der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2031 nicht aus“.

Das auf diese Weise für zum Teil verfassungswidrig erklärte Gesetz war erst im Dezember 2019 von Kabinett und Bundestag verabschiedet worden. Nun musste es umgebaut werden. Erst im August 2021 wurden abrechenbare Sektorziele für Teilbereiche der treibhausgasverursachenden gesellschaftlichen Bereiche veröffentlicht: Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft / Sonstiges.

Für alle diese Teilbereiche waren Verfahren festgeschrieben worden, mittels deren die Umsetzung der Klimaziele überwacht werden und bei deren Grenzüberschreitung Sanktionen greifen sollten.

Ziel war es demzufolge, die im Pariser Klima-Abkommen von der Bundesrepublik völkerrechtlich verbindlich unterschriebenen Klimaschutz-Ziele im Rahmen des Pariser Klimaabkommens und der UNO-Strategie gegen die Klimakatastrophe auch nachvollziehbar umzusetzen: „Die Emissionen sollen bis 2030 um mind. 65 % und bis 2040 um mind. 88 % gesenkt werden (gegenüber 1990). Zudem gelten in einzelnen Sektoren bis 2030 zulässige Jahresemissionsmengen. Die deutsche Klimapolitik ist eingebettet in Klimaschutzprozesse der Europäischen Union sowie der UNO.“ (ebenda)

Der Bereich Verkehr (und auch der Bereich der Bauwirtschaft) verfehlte seine Sektorziele aber erheblich – sowohl 2021 als auch 2022. Zudem legte Wissing nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, entsprechende Berichte und Massnahmenplanungen zur Frage vor, wie im Bereich Verkehr künftig die CO2-Minderungsziele eingehalten werden könnte.

Dieses gesetzeswidrige Verhalten deckte und deckt offenbar „Klimakanzler“ Scholz. Es wurde einfach weitergebaut, weiterabgeholzt, weiterbetoniert und weitergefahren wie bisher – ein besonders abstossendes und gewalttätiges Beispiel war der Ausbau der A49 mitten durch ein Natur- und Trinkwasserschutzgebiet im Dannenröder Forst. Es fand nicht nur mit den GRÜNEN in der Bundesregierung, sondern auch in der mitverantwortlichen hessischen Landesregierung statt. Selbst ein so minimaler, europaweit ansonsten überall akzeptierter Schritt wie die Vereinbarung eines Tempolimits auf Autobahnen gilt in Deutschland amtlich als undurchsetzbar „ideologisch“ und „freiheitsfeindlich“, obwohl Umfragen immer wieder die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen Schritts dokumentieren.

Im März 2023 beschloss dann die Regierungskoalition ganz offiziell, sich nicht mehr an ihr eigenes Gesetz halten zu wollen: da es den Verkehrsminister ja sowieso nicht schere, könne man auch die unter anderem ihn betreffenden und alle anderen Sektorziele eigentlich gleich ganz abschaffen. Nach der Sitzung des Koalitionsausschusses in Meseberg blieb es wie so oft Klimaschutz-Minister Robert Habeck, vorbehalten, diesen U-Turn nachgerade lyrisch zu „begründen“: „In der grossen Koalition und auch in der Ampel-Regierung hat der Verkehrssektor nicht geliefert und es hat niemanden interessiert.

Es gab das Klimaschutzgesetz und es gab die politische Realität.“ Mit dem neuen Gesetz müsse die Zielverfehlung besonders durch die verfehlenden Ressorts aufgeholt werden, stellte er klar. Es sei zwar juristisch nicht mehr scharf, aber es gebe eine politische Verantwortung.“ Nichts anderes als schlechte politische Lyrik ist das insofern, als man mit gleicher Berechtigung auch genau das Gegenteil sagen könnte: bislang gab es immerhin rechtlich verbindliche Sektorziele. Nach deren Abschaffung, zu der auch Habeck loyal stehe, seien die Verantwortlichen in den einzelnen Sektoren nur mehr politisch solche – was auch immer das heisst. Derzeit: nichts.

Mit anderen Worten: nach Abschaffung der Sektorziele des Klimaschutzgesetzes ist genau der Zustand wieder hergestellt, den es bereits einmal gab, und den Habeck selber als den der zwei nebeneinander existierenden Realitäten von Klimaschutz und politischer Realität gekennzeichnet hatte.

Man muss nicht lange rätseln, wessen Interessen und Imperativen Verkehrsministerium und Bundesregierung mit ihrem Vorgehen sich unterwerfen: „Wirtschaft und Wohlstand“ würden schweren Schaden erleiden, wenn zB. ein als kritischer Gegenentwurf zu den Machenschaften der Ampelkoalition gemeinter Vorschlagskatalog zu klimagerechterer Verkehrspolitik von Fridays for Future umgesetzt würde, meinte Verkehrsminister Wissing.

Das geltende Klimaschutzgesetz ist bis zu seiner Novellierung im Sinn der Meseberger Beschlüsse in Kraft – was wahrscheinlich bis Herbst 2023 dauern wird. Es sieht auch weiterhin vor, dass die für die einzelnen, gekennzeichneten Sektoren verabschiedeten Reduktionsziele klimaschädlicher Emissionen nicht überschritten werden dürfen und was erfolgt, wenn ein solches Ziel nicht eingehalten wird.

Das Gegenteil davon wird in der Praxis nicht nur einfach getan, sondern auch noch politisch gerechtfertigt – vom Klimakanzler und von Habeck, von Lindner und von Wissing unisono: „Ich hätte das jetzt nicht gebraucht, diese Gesetzesänderung, aber sie ist verabredet worden und da sind wir natürlich vertragstreu – und ich auch“ erklärte Habeck nach vollbrachter Tat von Meseberg. Vertragstreue ist wichtiger als Rechtstreue, ein „Ehrenwort“ gilt mehr als Recht und Verfassung – das kennt man ja bereits aus früheren Zeiten der Republik.

So verständlich der hin und wieder zur Schau getragene Ärger über die ostentative Verachtung für eine klima- und sozialgerechtere Verkehrspolitik besonders der FDP-Vertreter im Ampelkabinett sind – niemand zwingt die beiden anderen und grösseren Parteien, sich dieses Verhalten länger bieten zu lassen. Niemand hindert sie, die Regierungskoalition aufzukündigen.

Sie tun es nicht und werden es auch in Zukunft nicht tun.

Die Frage ist ihnen also, wie soll man das anders verstehen, einfach nicht wichtig genug. Der kurzfristige Machterhalt ist ihnen wichtiger, als das, was mittel- und langfristig aus ihrer Politik mit eiserner Konsequenz folgt: eine weitere Eskalation der Klimaprobleme – die allerdings möglicherweise sehr viel schneller und umfassender Zusammenbrüchen der menschlichen Zivilisation führen wird, als gedacht: „Laut den besten Daten, die wir momentan haben, wird in den kommenden zehn Jahre das langfristige Schicksal unserer industriellen Zivilisation entschieden“.

Wir haben eine Bundesregierung, die die Zeichen der schnell verrinnenden Zeit nicht erkennt oder nicht erkennen will – man kann sich darüber streiten, welche der beiden Möglichkeiten schlimmer wäre – und wenn im vorangegangenen Zitat vom „Schicksal unserer industriellen Zivilisation“ geredet wird, so ist das natürlich ungenau ausgedrückt. Gemeint ist: das Schicksal der massgeblich global vom Kapitalismus bestimmten Art des gesellschaftlichen Lebens; unklar ist, was hier „unser“ heissen soll und das Wort „Schicksal“ hat den Klang unvorhersehbarer Kontingenz, was völlig falsch ist – siehe oben. Wir reden hier über die Ergebnisse absichtlichen Handelns oder auch Nichthandelns bis hin zum aktiven und öffentlich angekündigten Rechtsbruch.

Die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Politik allein in Deutschland sind nicht absehbar, sie werden aber, so viel weiss man schon jetzt, in die Hunderte Milliarden gehen. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Aber in einem Land, dessen Regierung ohne mit der Wimper zu zucken eine knappe halbe Milliarde für das bewusst rechtswidrige Verhalten eines ehemaligen Bundesverkehrsministers auf den Tisch zu legen bereit ist, ist es vermutlich auch egal, wie viele Milliarden an Schäden durch absichtliches Tun und Lassen aufgrund der Verkehrspolitik seines Nachfolgers im selben Amt verursacht werden.

Natürlich wäre es grundsätzlich möglich, auf diesem Planeten so zu wirtschaften und zu leben, dass dessen natürliche Grenzen respektiert werden und gleichzeitig allen Menschen – und nicht nur privilegierten Minderheiten – ein Leben in Würde möglich wäre. Eckpunkte, innerhalb deren sich ein solches Leben aller bewegen müsste, um aus naturwissenschaftlicher Sicht global zukunfts- und verallgemeinerungsfähig zu sein, beschreibt aktuell die Studie „Safe and just Earth system boundaries“ des Forscher:innenkreises um Johan Rockstroem. Einzig ein Modell gesellschaftlichen Lebens, das, anders als der globale Kapitalismus, wenigstens potentiell in der Lage wäre, die natürlichen planetarischen Grenzen allen Lebens zu schützen, wäre mit Art. 1(1) des Grundgesetzes in Übereinstimmung zu bringen (ganz zu schweigen von den viel weiter gehenden Forderungen der jüdisch-christlichen Selbstverpflichtung zur Nächsten-, Fernsten- und Feindesliebe).

Wer sich an die schlicht vernünftigen Vorgaben wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung innerhalb der einzuhaltenden planetaren Grenzen nicht halten möchte und auf perverse Weise die eigene „Freiheit“ in einem wodurch auch immer fantasierten Recht zu höherem Ressourcenverbrauch sieht, als es der übrigen Menschheit zusteht oder im Rahmen der planetaren Grenzen verantwortbar ist, ist im strikten Sinn des Wortes ein antisoziales und amoralisches Wesen, das dem Rest der Welt wissentlich schaden will. Ein solches Verhalten sollte justiziabel und strafbar sein.

Wie aber eine Form des Wirtschaftens und gesellschaftlichen Lebens durchsetzbar sein soll, die nicht den Partikularinteressen privilegierter Reicher, sondern dem Leben Aller dient, das ist die Frage, die innerhalb einer immer kürzer werdenden Zeit über Gelingen oder Misslingen des offenen Experiments der menschlichen Geschichte, wie wenigstens wir sie kennen, entscheidet.

Eine Betrachtung von „Wirtschaft und Wohlstand“ aus diesem einzig verantwortbaren Blickwinkel ist der Regierung schon deshalb fremd, weil es ihr offensichtlich mehr um das Privateigentum von Produktionsmittelbesitzern geht als um die Gesellschaft insgesamt, nicht um citoyens sondern um bourgeois.

Die Klimapolitik der Ampelkoalition vertritt nicht das Interesse der Gesellschaft, sondern das einer winzigen, partikularen Minderheit, das gerne „Weiter so!“ machen möchte, weil sie ahnt: jeder Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend anders, sozial und klimagerecht, zu organisieren wird sie für immer ihre mörderischen Privilegien kosten, die nicht etwa in der individuellen „Gier“ individueller Menschen (so sehr es die auch gibt), sondern in der objektiven Struktur der Bewegungsgesetze des Kapitals ihre Wurzel haben. Sinn und Aufgabe der historischen Epoche, in der wir uns befinden, besteht darin, dieses Problem grundsätzlich, das Übel an der Wurzel packend, also radikal zu lösen.

Im Unterschied zu dieser Aufgabe muss es der Gegenseite darum gehen, möglichst wenig an substantieller Änderung des status quo zuzulassen, also die anstehenden Aufgaben gesellschaftlichen Lebens eben nicht zu lösen. Zumindest, solange es irgendwie geht. Danach sollen dann wahrscheinlich andere zuständig sein. Von Wissing, Scholz, Merz, Söder, Habeck, Baerbock, Weidel und Höcke und wie sie alle heissen wird man dann vermutlich nichts mehr hören. Für den Rest der Menschheit gilt: „Die derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen eindeutig für beispiellose, dringende und ehrgeizige Klimaschutzmassnahmen, um die Risiken von Kipppunkten im Klimasystem zu begrenzen“.

Ob eine solche klimapolitische Wende im Rahmen der (fast) überall auf der Welt herrschenden Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion möglich und umsetzbar ist, scheint sehr fraglich.

Die aktuelle Bundesregierung jedenfalls tut alles, um den Beweis anzutreten, dass den ihr angehörigen Parteien und Politiker:innen die hiesige Verantwortung für die globale klimapolitische Entwicklung nicht so viel wert ist, als dass man dafür die Regierungsmacht riskieren wollte. Lieber beugt und bricht man das geltende Recht, die Verfassung und das Völkerrecht nicht an irgendeinem, sondern an dem für den Fortbestand der natürlichen Grundlagen menschlicher Zivilisation entscheidenden Punkt. Um „weiter so“ machen zu können.

Sollte dieses infame Verhalten der Regierung nicht durch die hiesige Rechtsprechung gestoppt werden, sollten die bislang doch nun wirklich absolut brav-systemkonform und gewaltfrei bleibenden Aktivitäten der Klimagerechtigkeitsbewegung wie Fridays For Future, Aufstand Last Generation, Extinction Rebellion, Ende Gelände usw. tendenziell auch noch zum Verstummen gebracht oder ins „terroristische“ Abseits manövriert werden – welche Mittel und Wege blieben dann noch, um das Schlimmste zu verhindern?

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —         Wegweisung für die Ausfahrt Karlsruhe-Nord in der Baustelle

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Unten     —       Bundesautobahn 5 (Europastraße 452) östlich des Farnkfurter Flughafens, in Höhe der Anschlussstelle Zeppelinheim (23)

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 31. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Spanien-Wahl, Barbie. Deutschland diskutiert über die Brandmauer, Musk zerstört Twitter. Und Geld wiegt in den Fällen Özil und Kanye West schwerer als Moral und ein Hauch Selbstherrlichkeit.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Feuer an Bord.

Was wird besser in dieser?

PR gegen E-Autos.

CDU-Chef Friedrich Merz klettert über die Brandmauer und sagt, auf kommunaler Ebene komme man um eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht herum. Hat es denn jemals eine Brandmauer gegeben?

„Wenn der AfD-Landrat den CDU-Bürgermeister anruft, geht der ans Telefon. Wenn der CDU-Bürgermeister was will, organisiert er eine Mehrheit ohne AfD.“ Wie man diese simple Bastelanleitung so verstolpern kann wie Merz, gemahnt an die staksige Unbeholfenheit, mit der Bundespräsident Horst Köhler sich interviewförmig abschaffte. Merz’ für einen 67-Jährigen erfrischende Präpotenz ist selbstgefährdend. Im Unterdeck der Demokratie, wo es um Straßenbeleuchtung, Zebrastreifen und Schulwegsicherheit geht, verwischen die Grenzen. Wenn die AfD merkt, dass es regnet, sollte die CDU nicht Sonnenschein behaupten. Einfach schneller merken, wenn’s regnet.

Der große Sieg der Rechten bei den Parlamentswahlen in Spanien ist ausgeblieben. Wurde ein zweites Italien gerade noch abgewendet?

In Spanien gibt es bereits Regionalregierungen aus der Konservativen und der Rechtspopulistischen Partei, hier also PP und VOX. Wo in Deutschland die CDU noch tollpatscht, wusste Spanien Bescheid. Hinzu kommen die schwer vergleichbaren Unabhängigkeitsbestrebungen der Basken und Katalanen. Die sind regional-nationalistisch und eben drum befeindet mit den nationalen Nationalisten. Verwirrend genug.

Aus Twitter wird X. Wie unattraktiv kann die Plattform noch werden?

Musk ist jetzt ein halber Schtonk. Charly Chaplins „großer Diktator“ führte zwei X im Schilde, so Hakenkreuz wie zugleich Autogramm eines Analphabeten. Ein Hauch von Selbstherrlichkeit, die Welt nach Gusto umbenennen zu können. Das weist den Weg zur endlichen Selbstzerstörung. In Musks Aktionen wird zunehmend der Wunsch nach religiöser Jüngerschaft ruchbar. Das sind dann deutlich weniger Leute als arglose Nutzer eines Microblogging-Dienstes, der mit seinen maximal 240 Zeichen auch schon eine kleine Vorauswahl unter den Freunden unterkomplexen Denkens trifft.

„Barbie“ oder „Oppenheimer“?

Ein trauriger Moment im Springer-Konzern, der 1952 die „Bild-Lilly“ erfand und 1964 an den Mattel-Konzern verkaufte. Daraus wurde eben „Barbie“, und so war es ein nachhaltiger Schlag gegen den Kinderverderber-Standort Deutschland. Einen Film über diese Historie würde ich gern sehen. Bis dahin: Oppenheimer.

Ex-Nationalspieler Mesut Özil zeigt sich auf Instagram mit einem Graue-Wölfe-Tattoo. Sogleich entfacht er eine Debatte über türkischen Faschismus. Können wir Özil dankbar sein?

Özils erster Club Rot-Weiss Essen kassierte längs seiner Karriere rund 700.000 Euro „Ausbildungsvergütungen“ bei jedem bezahlten Transfer des Spielers. Diese Woche feiert sich ein Mitarbeiter der Stadt Essen bei „Facebook“ mit einem Foto, auf dem zu sehen ist, wie er ein Özil-Foto im Nachwuchszentrum des Vereins moralisch tief erschüttert abhängt. Da hat keiner etwas falsch gemacht, und am Ende kommt dabei heraus: Wäre man Özil, fühlte man sich bestätigt.

Nach der Trennung von Kan­ye West verkauft Adidas seine „Yeezys“ besser als erwartet. Ist moralischer Konsum eine Utopie?

Klassisch gliedert sich Produktwerbung in die Kategorien „bewährt“ oder „neu“. Inzwischen grassiert als Metakategorie „scheißegal, aber die Haltung stimmt“. Man soll den Plunder kaufen, weil zum Beispiel Adidas mit einem streetcrediblen Rapper Kippe macht. Dann soll man sie kaufen, weil sie den als Antisemiten rausschmeißen. Dann, weil sie von jedem verkauften Antisemitenschuh ein Almosen für gute Zwecke abzweigen. Das ist sehr verwirrend und lenkt davon ab, dass Geld, im Gegensatz zu Plastikschuhen, nicht stinkt. Aus Sicht von Adidas.

Die Frauen gewinnen ihr erstes WM-Spiel gegen Marokko mit 6:0. Wird der Erfolg anhalten?

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Brustimplantate :

Erstellt von Redaktion am 30. Juli 2023

 Eine Geschichte vom Versagen der Behörden

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Red. /   

Über die Gesundheitsschäden sei viel zu wenig bekannt, sagen zwei Wissenschaftler. Behörden hätten nicht oder zu spät reagiert.

Red. – Carl Heneghan ist Professor für evidenzbasierte Medizin an der englischen Universität Oxford und leitet dort das Zentrum für EBM. Tom Jefferson ist ein britischer Epidemiologe, der ebenfalls an der Universität Oxford lehrt und durch seine kritischen Analysen zum Grippemittel Tamiflu und zur Wirksamkeit von Grippeimpfungen sehr bekannt wurde. Beide wollen demnächst ein Buch veröffentlichen, das Gesundheitsschäden thematisiert, die von Medizinprodukten verursacht werden. Vorab publizierten sie in ihrem Blog «Trust the Evidence» auf «Substack» einen Auszug. Infosperber fasst das Wichtigste chronologisch zusammen.

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«Die Geschichte der Brustimplantate ist lang und traurig. Sie handelt von mangelnder Evidenz, kriminellen Machenschaften, nachlässigen Behörden und der Unfähigkeit, die Lehren daraus zu ziehen», stellen Heneghan und Jefferson fest und rekapitulieren diese Geschichte:

«In den 1890er Jahren wurde Paraffin injiziert, um die Brüste zu vergrössern. Aber das Paraffin lief aus, und das Verfahren wurde aufgegeben. In den 1920er und 1930er Jahren versuchten Chirurgen, Fett zu übertragen – ebenfalls keine gute Idee. In den 1950er Jahren wurden Knorpel, Holz und sogar Glaskugeln verwendet – die Nebenwirkungen waren katastrophal. 1962 liess sich Timmie Jean Lindsey, in Houston, Texas, als erste Frau weltweit die Brüste mit Silikonimplantaten vergrössern. Silikon ist eine Mischung aus verschiedenen Komponenten. Seine Eigenschaften variieren, je nach Belastung ist es mal mehr, mal weniger zäh oder starr. […] In den 1980er Jahren kamen Bedenken auf, dass Brustimplantate aus Silikon das Risiko für Krebs, Bindegewebserkrankungen und verschiedene Autoimmunerkrankungen erhöhen könnten. […] Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mehr als zwei Millionen US-Amerikanerinnen diese Implantate erhalten.»

1988 erhöhte die US-Arzneimittelbehörde (FDA) die Anforderungen an Silikonimplantate. Sie galten nun als Medizinprodukte der höchsten Risikoklasse. Das führte dazu, dass die Hersteller Studien vorlegen mussten, die bewiesen, dass ihre Brustimplantate sicher sind. Doch es gab ein Schlupfloch: «Im Widerspruch dazu blieben die Implantate weiterhin über das weniger strenge 510(k)-Verfahren zugelassen. Dieses Verfahren erlaubt kurz gesagt eine Äquivalenz: Wenn ein Produkt einem bereits auf dem Markt befindlichen sicheren Produkt ähnelt, darf es ebenfalls als sicher gelten. Damit sind klinische Studien nicht mehr nötig. Der Fokus liegt auf biologischen Labortests der Implantate.»

«Dreissig Jahre nach der Zulassung gibt es noch immer viele unbeantwortete Fragen»

Die Hersteller hätten bis 1991 die erforderlichen Nachweise erbringen müssen. Obwohl die Nachweise fehlten, «empfahl die FDA nach erneuter Beratung einstimmig, die Implantate bis zum Vorliegen weiterer Ergebnisse auf dem Markt zu lassen.» Heneghan und Jefferson zitieren den früheren FDA-Leiter David Kessler:

«‹Dreissig Jahre nach der Zulassung gibt es noch immer viele unbeantwortete Fragen zur Sicherheit von Silikonbrustimplantaten›», sagte Kessler. Es mangele an Daten zur Haltbarkeit der Implantate, zur Häufigkeit von Rissen und zu den Chemikalien, die in den Körper gelangen. Damit gab die FDA indirekt zu, zum Zeitpunkt der Zulassung wenig bis nichts über Brustimplantate gewusst zu haben.»

Im Dezember 1991 gewann eine Frau mit einer Bindegewebserkrankung in Kalifornien einen Gerichtsprozess gegen den Implantat-Hersteller Dow Corning. «Wie aus den Unterlagen hervorging, hatte der Hersteller Dow Corning gewusst, dass seine Implantate undicht waren, aber nichts unternommen, um die Sicherheit zu gewährleisten», berichten Heneghan und Jefferson. In Frankreich, Grossbritannien und den USA hätten die Behörden das Risiko, das von Silikonimplantaten ausging, unterschiedlich eingestuft, das Spektrum reichte von Verboten wie in den USA bis zu Genehmigungen.

Erster Fall von Lymphdrüsenkrebs

1997 berichtete ein US-Arzt erstmals von einer Patientin mit einer bestimmten Form von Lymphdrüsenkrebs, dem sogenannten «anaplastischen T-Zell-Lymphom», in unmittelbarer Nähe ihres Brustimplantats.

2006 wurden Implantate mit Silikongel in den USA wieder zugelassen: «Damit war das 14-jährige Zulassungsverbot beendet. Die Folge war ein dramatischer Anstieg der Brustvergrösserungen, die sich 2006 zur häufigsten Schönheitsoperation entwickelten. Der Anteil der Silikonimplantate an allen Implantaten stieg von 35 Prozent im Jahr 2007 auf mehr als 75 Prozent 2014. Für die Zulassung verlangte die FDA nun Daten aus mindestens drei Jahren für Silikonimplantate […] Frauen, die ein Implantat erhalten hatten, sollten zehn Jahre lang im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie begleitet werden.»

Alle paar Jahre, so riet die FDA, sollten die Frauen untersucht werden. Doch weil die Krankenversicherungen das nicht bezahlten, hätten diese Untersuchungen nicht stattgefunden.

Dann kam es zum Skandal mit dem «PIP-Implantat». «PIP» ist die Abkürzung für das Unternehmen «Poly Implant Prothese», das 1991 von einem ehemaligen Metzger und einem plastischen Chirurgen gegründet wurde. Über zwei Millionen Silikonimplantate habe PIP in den Jahren danach produziert. Im Mai 2000 inspizierte die FDA die Produktionsanlage in La Seyne Sur Mer in Frankreich, stellte viele Mängel fest und warnte vor dem Produkt. Der Verlust der Einnahmen aus den USA habe dazu geführt, dass das Unternehmen auf ein nicht zugelassenes, fast 90 Prozent preiswerteres Industriesilikon auswich und so enorm Kosten sparte. Auch bei der Aussenhülle der Implantate sei gespart worden. Die Folge: Die «PIP»-Implantate platzten «mehr als doppelt so oft wie im Branchendurchschnitt», berichten Heneghan und Jefferson. Die französische Behörde legte 30’000 Frauen in Frankreich nahe, ihre Implantate entfernen zu lassen. «PIP» wurde dicht gemacht, der Firmenchef zu vier Jahren Haft und einer Geldbusse von 75’000 Euro verurteilt.

Heneghan und Jefferson zufolge hatte «PIP» über 300’000 Silikonimplantate in 65 Länder verkauft. «Wie viele Personen sie eingesetzt bekamen, wird man wohl nie erfahren.»

Unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von Rissen

In Frankreich habe es geheissen, die Rissquote betrage fünf Prozent. In Grossbritannien sprach die Aufsichtsbehörde von nur einem Prozent – und Medien berichteten von bis zu acht Prozent Rissen, so Heneghan und Jefferson.

Es gehe aber nicht nur um Risse, sondern auch um sogenannte «Gel-Blutungen», bei denen Silikon-Mikroteilchen durch die Implantathülle hindurch in den Körper gelangen: «Bei Autopsien fand man Silikon in Blutgefässen, verschiedenen Geweben und Gehirnproben.» Erst 2010 seien die «PIP»-Implantate vom Markt genommen worden. In der Schweiz bekamen rund 280 Frauen ein «PIP»-Implantat, Swissmedic berichtete 2011 von einer Nebenwirkungsrate von «unter ein Prozent».

Wichtige Tests fehlten

Noch im gleichen Jahr 2011 warnten die Aufsichtsbehördem Grossbritanniens und der USA, nachdem mehrere Fälle von anaplastischen Lymphomen (ALCL) im Zusammenhang mit Brustimplantaten bekannt geworden waren – jener Krebserkrankung, von der ein US-Arzt schon 1997 berichtet hatte.

2016 gab die niederländische Aufsichtsbehörde für das Gesundheits- und Jugendwesen eine Studie zu Silikon-Brustimplantaten in Auftrag, «die Mängel bei den von den Herstellern durchgeführten Labortests feststellte. Die Studie bewertete zehn technische Dossiers der Hersteller. Zwar waren in allen Fällen mechanische Tests durchgeführt worden. Auch in Biokompatibilitäts- und Zytotoxizitätstests waren keine Probleme festgestellt worden – eine gute Nachricht also. Aber Tests zu Reizung, Sensibilisierung und Implantationstests fehlten – alles Anforderungen für die Zulassung», schreiben die beiden Autoren.

Seit 2016 erachte die WHO Brustimplantate mit strukturierter respektive texturierter Oberfläche als möglichen Auslöser für die Lymphome vom Typ ALCL.

Ebenfalls im Jahr 2016 führte Grossbritannien ein nationales Register für Brust- und kosmetische Implantate ein – versprochen worden war es 23 Jahre vorher.

Zusammenhang mit rheumatischen Erkrankungen

2018 zeigte eine israelische Studie «einen Zusammenhang zwischen silikonhaltigen Implantaten und Autoimmun- und rheumatischen Erkrankungen. 24’651 Frauen mit und 98’604 Frauen ohne Brustimplantate waren verglichen worden. Unter Berücksichtigung von Alter, sozioökonomischem Status, Rauchen und Brustkrebsvorgeschichte hatten die Frauen mit Implantaten ein um 45 Prozent höheres Risiko, an mindestens einer Autoimmun- oder rheumatischen Erkrankung zu erkranken […] Zudem fand sich in einer systematischen Analyse von 32 Studien ein möglicher Zusammenhang von Silikonimplantaten zu rheumatoider Arthritis und dem Sjögren-Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die besonders Tränen- und Speicheldrüsen angreift.», berichten Heneghan und Jefferson.

2019 riet die FDA, Brustimplantate mit einem Warnhinweis zu möglichen Risiken und Komplikationen zu versehen, zu denen Operationen und ein seltener, manchmal tödlicher Krebs gehören könnten. Im gleichen Jahr «meldete die Amerikanische Gesellschaft der plastischen Chirurgen 779 Fälle und 33 Todesfälle» durch die Lymphdrüsenkrebserkrankung ALCL.» Seit 1997 nehme diese seltene Erkrankung zu, so Heneghan und Jefferson.

Im Juli 2020 sei der Firma Allergan in Europa die Sicherheitslizenz für ihre texturierten Implantate entzogen worden. «Die französische Aufsichtsbehörde hatte eine Warnung ausgesprochen und die CE-Sicherheitskennzeichnung verweigert. Die amerikanische FDA hingegen liess einige der Implantate auf dem Markt – nicht die erste Unstimmigkeit zwischen den Behörden», wie die beiden Autoren bemerken. Betroffen vom BIA-ALCL – dem Brustimplantat-assoziierten anaplastischen grosszelligen Lymphom – sind aber nicht allein Trägerinnen eines Allergan-Implantats, sondern auch Frauen mit Implantaten von anderen Firmen.

Bis April 2023 erhielten weltweit 1363 Patientinnen in 48 Ländern die Diagnose BIA-ALCL, 59 starben daran. Diese Zahlen berichtete das «British Medical Journal» jüngst.

Die Erkrankungen traten im Durchschnitt acht bis zehn Jahre nach dem Einsetzen eines Implantats mit texturierter Oberfläche auf. Es gab aber auch Fälle, bei denen es erst 44 Jahre später zu dieser Krebserkrankung kam, oder bei denen sich das BIA-ALCL entwickelte, obwohl das Implantat schon entfernt worden war.

«Da es etwa zehn Jahre dauert, bis sich die Probleme zeigen, werden wir 2026 vielleicht die Schäden erkennen und für mehr Sicherheit sorgen. Aber grosse Hoffnungen machen wir uns da nicht», bilanzieren Heneghan und Jefferson mit Blick auf das britische Implantatregister und weisen noch auf Folgendes hin: «Bis 2030 wird der weltweite Markt für kosmetische Implantate voraussichtlich die Marke von 20 Milliarden Dollar überschreiten – der Anteil der Brustimplantate an diesem Markt wird wahrscheinlich drei Milliarden Dollar betragen.»

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Übersetzung aus dem Englischen: Antje Brunnabend, www.deepl.com

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Alleingang in Brüssel:

Erstellt von Redaktion am 30. Juli 2023

EU-Kommission prüft Zugriff auf Biometriedaten durch US-Polizei

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

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US-Behörden wollen Fingerabdrücke und Gesichtsbilder in insgesamt 40 Staaten abfragen, die meisten davon in Europa. Mit einem Kniff setzt sich die EU-Kommission an die Spitze der Gespräche über das Vorhaben.

Insgesamt 40 Länder nehmen derzeit am Visa Waiver Program“ (VWP) der US-Regierung teil. Washington garantiert damit, dass die Bürger:innen der betreffenden Staaten zu geschäftlichen oder touristischen Zwecken für maximal drei Monate ohne Visum einreisen dürfen. Die Regelung gilt gegenseitig, auch US-Staatsangehörige können die 40 Länder visafrei besuchen. Unter den Teilnehmenden des VWP befinden sich fast alle Schengen-Staaten.

Nun verlangt die US-Regierung, dass die am VWP teilnehmenden Staaten im Rahmen einer „Enhanced Border Security Partnership“ (EBSP) Zugang zu ihren polizeilichen Biometrie-Datenbanken gewähren. US-Grenz- und Polizeibehörden sollen dafür Fingerabdrücke und Gesichtsbilder in Informationssystemen in den Schengen-Staaten abfragen dürfen. Ein solcher Direktzugriff aus dem Ausland ist selbst unter befreundeten Geheimdiensten unüblich.

Es ist nicht die erste derartige Forderung an die VWP-Staaten. Im Jahr 2006 hat die US-Regierung bereits vorgeschrieben, dass nur Länder, die biometrische Reisepässe ausgeben, an dem Programm teilnehmen dürfen. 2008 führten US-Behörden das verpflichtende ESTA-System zur Voranmeldung des Grenzübertrittes ein. Ein Jahrzehnt später mussten alle VWP-Staaten „Preventing and Combating Serious Crime“ (PCSC) für ihre Kriminalpolizeien unterschreiben.

Kontroversen um geforderte „Partnerschaft“

In der EU sorgt die geforderte „Partnerschaft“ für die Herausgabe von Biometriedaten seit über einem Jahr für Kontroversen. Im Februar 2022 hat die US-Regierung einige VWP-Staaten erstmals über die Pläne informiert, darunter auch Deutschland. Demnach soll es sich um bilaterale Abkommen mit den einzelnen Regierungen handeln. Weigern sich diese, ihre Datenbanken zu öffnen, droht ihnen ab 2027 der Rauswurf aus dem US-Programm für visafreies Reisen.

Die EU-Visapolitik gehört seit dem 1997 geschlossenen Vertrag von Amsterdam zum sogenannten Schengen-Besitzstand. Entsprechende Abkommen mit anderen Regierungen müssen deshalb für alle Schengen-Staaten gleichermaßen gelten. Über die Umsetzung und Befolgung der Visafreiheit wacht die EU-Kommission, die deshalb auch Vertragsverletzungsverfahren einleiten kann. Eigentlich müsste Brüssel gegen die US-Regierung vorgehen: Denn Bürger:innen aus Bulgarien, Rumänien und Zypern wird die Teilnahme am visafreien Reisen in die USA weiterhin verwehrt, die drei Staaten werden also benachteiligt.

Anstatt die US-Regierung deshalb zu maßregeln und das daran gekoppelte EBSP auf Eis zu legen, treibt die Kommission dieses noch voran. Brüssel verfolge dazu einen „pragmatischen Ansatz“, indem die geforderte „Grenzpartnerschaft“ als „von Fragen im Zusammenhang mit der Visapolitik getrennt“ behandelt wird. Dies geht aus einem Dokument hervor, das die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch veröffentlicht hat.

Wackliges rechtliches Fundament

Seit September 2022 diskutieren Angehörige der Kommission „technische Details“ in einer dafür eingerichteten Arbeitsgruppe, darunter auch zu „rechtlichen und politischen Implikationen“. Die von der Kommission eigens für diese Gespräche konstruierte Abkopplung des EBSP vom VWP steht auf einem wackligen rechtlichen Fundament. So sieht es auch der Juristische Dienst des Rates, der hierzu von der Kommission Klarheit verlangt, um anschließend ein Rechtsgutachten dazu verfassen zu können.

Tatsächlich könnte die Kommission offiziell mit der US-Regierung über das EBSP verhandeln – allerdings müsste sie hierzu erst vom Rat aufgefordert werden. Laut den EU-Verträgen kann die Kommission einen Vorschlag für einen solchen Ratsbeschluss vorlegen. Für das EBSP gibt es ein solches Mandat aber nicht und ist derzeit auch nicht geplant.

Nun bereitet die Kommission eine Machbarkeitsstudie vor, „um die Durchführbarkeit eines Informationsaustauschs zwischen der EU und den USA im Hinblick auf ein verbessertes Grenzmanagement zu bewerten“. So steht es in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Europaabgeordneten Cornelia Ernst. Die Studie soll unter anderem untersuchen, welche Datenschutzregelungen für die US-Behörden gelten würden, darunter etwa die Datenschutz-Grundverordnung und die EU-Polizeirichtlinie.

Bundesregierung zweifelt

Die schwedische Ratspräsidentschaft hatte zu der geplanten Machbarkeitsstudie einen Fragenkatalog an die Mitgliedstaaten versendet, der von mindestens acht Regierungen beantwortet wurde. Auch die Antworten auf dieses Papier spiegeln einen Dissens wider, wie eine Informationsfreiheitsanfrage ergab. So sind einige Schengen-Staaten über die Koordinierung durch die Kommission erfreut. Andere stellen die in Brüssel konstruierte „Abkopplung“ des EBSP von der EU-US-Visapolitik infrage.

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Zu den Zweifelnden gehört neben der französischen auch die deutsche Regierung. In der Stellungnahme zu den Fragen des schwedischen Ratsvorsitzes fordert die deutsche Delegation Auskunft zum „pragmatischen Ansatz“ der Kommission. Die Bundesregierung will wissen, ob die „Abkopplung“ der Gespräche zum EBSP vom VWP von der US-Regierung gewollt war oder ob die Kommission diese vorantreibt.

Fraglich ist auch, inwiefern die „Partnerschaft“ im EBSP auf vollständiger Gegenseitigkeit beruht, wie sie auch beim VWP üblich ist. Die Bundespolizei – die in Deutschland für die Grenzsicherung zuständig ist – dürfte demzufolge spätestens ab 2027 Zugang zu allen polizeilich gesammelten Fingerabdrücken und Gesichtsbildern von US-Bürger:innen erhalten.

Erweiterung des EU-US-Datentauschs droht

Als Zweck des Datenaustauschs im EBSP wird die „Grenzsicherheit“ angegeben. Jedoch könnten die geplanten bilateralen Abkommen mit den 40 VWP-Staaten weit darüber hinausgehen. Denn die zuständige Behörde auf US-Seite wäre das Heimatschutzministerium, das die Biometriedaten etwa für die Prüfung von Asylanträgen nutzen will.

Erstmals zeigt das bei Statewatch veröffentlichte Dokument, dass das EBSP im Rahmen der bestehenden PCSC-Abkommen umgesetzt werden könnte. Dann dürfte der Zugriff auf Fingerabdrücke und Gesichtsbilder von EU-Angehörigen auch erfolgen, um schwere Kriminalität zu bekämpfen und zu verhüten.

An einem Datentausch unter Kriminalpolizeien arbeitet auch Europol. Zusammen mit dem US-Heimatschutzministerium will die EU-Polizeiagentur die Weitergabe von Daten zu Einreiseverweigerungen in einem Pilotprojekt erproben. Dies soll Personen betreffen, die unter Terrorismusverdacht stehen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —      Ein FBI-SWAT-Team

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 30. Juli 2023

Abschied von der taz: – Pass auf dich auf, altes Haus!

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Kolumne von Fatma Aydemir

Vor elf Jahren fing unsere Kolumnistin bei der taz an. Nun verlässt sie die Zeitung – und merkt, wie sehr sie diese geprägt hat.

Es gibt immer diesen befremdlichen Moment bei meinen Lesungen, wenn eine sehr freundliche, grauhaarige Frau mit buntem Halstuch das Mikrofon ergreift, um mich zu fragen: „Gab es jemanden in Ihrem Leben, der sie besonders gefördert hat?“ An sich eine harmlose Frage, vielleicht etwas zu persönlich, aber sie ließe sich durch eine geschickte Antwort ins Poetologische verschieben: die Bücher von Toni Morrison, die Filme von Pedro Almodóvar, die Lieder von Ahmet Kaya haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Eine Klugscheißer-Antwort, eine Nicht-Antwort eigentlich, die Fragende würde sich aber nicht trauen nachzuhaken und stattdessen lächelnd, insgeheim enttäuscht, nicken.

Was die Fragende vermutlich hören wollte: Meine Klassenlehrerin aus der Siebten ermutigte mich, Geschichten zu schreiben! Unsere Nachbarin Gisela hat mich immer zur Bibliothek gefahren! Die Mutter meiner Freundin Lisa gab mir Hermann Hesse zu lesen! In dieser Vorstellung taucht plötzlich irgendeine Deutsche bei mir auf und rettet mich aus der bildungsfernen Unterschicht in die Welt des Schreibens. Ich weiß, es ist unfair der Fragenden pauschal ein solches Interesse zu unterstellen, aber erfahrungsgemäß erwartet das Publikum dann doch immer, dass man auch mal vom guten Deutschen erzählt.

Trotzdem: Die Frage geht mir auf den Zeiger. Vielleicht weil sie offenlegt, wie unwahrscheinlich es ist, dass ausgerechnet ich nun auf dieser Bühne sitze und ich eigentlich die ganze Zeit über versuche, ebendiese Gedanken wegzuschieben.

Das Schlimmste aber: Ich habe keine Antwort auf diese Frage, denn ich hatte wirklich nie eine Gisela. Natürlich hatte ich Freund_innen, die mir zur Seite standen, ich hatte eine Familie, die sich mir nie querstellte, ich hatte hin und wieder eine Lehrerin, die meine Gedanken nicht grundsätzlich falsch fand. Es gab aber tatsächlich sehr lange keinen Ort, an dem ich das Gefühl hatte, mein Blick auf die Welt habe irgendeine Relevanz für andere. Dann kam ich zur taz. Bewusst wird mir dieser Wendepunkt natürlich erst jetzt, wo ich gehe.

Streiten und schweigen

Ich kam zu dieser Zeitung vor elf Jahren als Praktikantin und verstand sofort, dass ich hier mehr lernen würde als an jeder Journalistenschule. Ich habe nie ein Volontariat absolviert, mir hat nie jemand erklärt, wie man Tickermeldungen schreibt oder was eine gute Reportage ausmacht. Aber ich weiß, wie man streitet. Ich kenne die Argumente, die ewigen Fallstricke, die Dilemmas der deutschen Linken. Ich weiß, was sie triggert. Ich habe gelernt, an welchem Punkt sich Streit nicht mehr lohnt und wann ich unbedingt einen Standpunkt beziehen muss, weil mein Schweigen einem Einverständnis gleichkäme. Denn wenn die taz eines besonders gut kann, dann ist das: die eigenen Leute auf die Palme zu bringen.

Über die Jahre stand viel rassistischer und auch queerfeindlicher Müll in dieser Zeitung. Aber die noch lauteren Gegenstimmen ließen nie lange auf sich warten, und ich bin stolz darauf, wenigstens einen Teil dazu beigetragen zu haben. Auch wenn eine Diskursverschiebung in den letzten Jahren dazu geführt hat, dass emanzipatorische Kämpfe nunmehr als antiintellektuelle „Political Correctness“ abgetan werden, bin ich froh, dass die taz diesem Mainstream-Argument nur in Teilen erlegen ist und nicht als Ganzes. An schlechten Tagen nämlich ist die taz eine Zeit ohne Budget, an den besten Tagen, ein linkes Krawallblatt, das sich selbst nicht zu ernst nimmt.

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Ganz schön dünne Luft

Erstellt von Redaktion am 29. Juli 2023

Auch Flugreisen werden Teil des EU-Emissionshandels.

Steht nicht für jede-n Politiker-in eine Maschine zur Verfügung, um aller Welt das dumme einschleimde Grinsen zu zeigen ? 

Von Tim Kemmerling

Doch ausgerechnet die besonders klimaschädlichen Langstreckenflüge sind davon ausgenommen. Wie konnten sich die großen Airlines damit durchsetzen? Am Vorabend der Abstimmung im EU-Parlament gab es ein „closed-door dinner event“ der Lobby-Organisation Aviation For Europe mit Abgeordneten.

Michael O’Leary, der Chef von Ryanair, bekommt nicht oft die Möglichkeit, sich als Klassenkämpfer und Klimaschützer zu inszenieren. Im Dezember 2022 nutzte er sie und veröffentlichte sein Statement auf der firmeneigenen Website: „Ein weiteres Mal lässt Ursula von der Leyen Europas Bürger und die Umwelt im Stich“. Damit hatte er nicht unbedingt Unrecht. Kurz zuvor hatte die EU-Kommission die neuen Luftfahrt-Klimaschutzregeln verabschiedet, auf die sich EU-Rat und -Parlament schon einige Monate zuvor geeinigt hatten. Diese betreffen vor allem den Emissionshandel. Doch die neuen Regeln gelten nur für Flüge innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), also den Ländern der EU plus Liechtenstein, Norwegen und Island, sowie für Flüge aus dem EWR in die Schweiz und nach Großbritannien. Was auch O’Learys plötzliches Umweltbewusstsein erklärt, denn das ist im Wesentlichen der Markt, auf dem Ryan­air agiert. Alle anderen Flüge von den in der EU ansässigen Airlines sind hingegen von den Regeln ausgenommen. Das betrifft also sämtliche Interkontinentalflüge und damit eben auch alle Langstreckenflüge, die je nach Definiton ab einer Distanz von 3.000 Kilometern beginnen.

Doppelt schädlich für das Klima

Die seien jedoch deutlich schädlicher für die Umwelt als Kurzstreckenflüge, sagt Thomas Peter, emeritierter Professor der ETH Zürich und einer der weltweit führenden Experten zur Physik der Atmosphäre. Nicht nur wegen des Kohlenstoffdioxids, sondern auch wegen der am Himmel entstehenden Kondensstreifen. „Wie eine Plane“, sagt Peter, wirken diese in den höheren Schichten der Atmosphäre. Sie verhindern, dass Wärmestrahlung die Atmosphäre verlassen kann. Laut Peter sind diese sogenannten Non-CO2-Effekte des Flugverkehrs sogar noch schädlicher für die Atmosphäre als der CO2-Ausstoß selbst. Langstreckenflüge sollten deshalb „erheblich teurer werden, anstatt sie billiger zu machen“, sagt Peter. Dass ausgerechnet sie von den neuen Klimaschutzregeln ausgenommen sind, kann er nicht nachvollziehen: „Da wird die Rechnung gemacht, ohne auf zukünftige Generationen Rücksicht zu nehmen.“

Um die Tragweite des Ausklammerns von Interkontinental- und Langstreckenflügen zu begreifen, lohnt sich ein Blick auf eine Statistik der Europäischen Organisation zur Sicherung der Luftfahrt, der 41 europäische Staaten angehören. Von deren Flughäfen waren im Jahr 2020 nur 6,2 Prozent der Abflüge Flüge mit mehr als 4.000 Kilometern Distanz – doch diese waren für 51,9 Prozent der Emissionen verantwortlich. Weitere 19,2 Prozent der Flüge hatten eine Distanz von 1.500 bis 4.000 Kilometern, was in Europa in den allermeisten Fällen bedeutet, dass man den Kontinent verlässt. Auf sie entfielen weitere 23,2 Prozent des Kerosinverbrauchs. Auch wenn die Zahlen nicht mit dem EWR-Raum deckungsgleich sind, wird klar: Ein bedeutender Anteil des Kerosinverbrauchs bleibt vorerst ausgenommen vom EU-Emissionshandel-System (EHS), dessen verstärkte Version im kommenden Jahr in Kraft tritt. Airlines dürfen dann schrittweise weniger und ab 2026 gar kein CO2 mehr gratis emittieren. Die Fluggesellschaften müssen stattdessen Rechte für den CO2-Ausstoß ersteigern. Die EU will so den Ausstoß von Treibhausgasen auch im Flugverkehr verringern, denn die Menge an Emissionsrechten ist begrenzt, und so steigt auf Dauer der Preis dieser Rechte. Den Fluggesellschaften soll das Anreiz sein, in CO2-ärmere Technologien zu investieren, weil sie so Geld sparen können. Und die Kunden sollen weniger fliegen, weil die Tickets teurer werden. Das ist die Idee.

Das EHS bringe „unser Ziel, die verkehrsbedingten Emissionen bis 2050 um 90 Prozent zu senken, in greifbare Nähe“, behauptet entsprechend Tschechiens Umweltminister Marian Jurečka. Der Emissionshandel sei das „Herzstück der Klimapolitik“, sagte kürzlich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Der CO2-Ausstoß muss einen Preis haben. Die Natur kann ihn nicht mehr zahlen.“

Und doch hat die EU Langstreckenflüge und Privatjets von der neuen EU-Klimaschutzauflage ausgenommen. Für die Umwelt-NGO Robin Wood ist das „eine Folge der Lobbyarbeit der Industrie“. Denn die habe für die Ausnahmen gesorgt – allen voran die Lufthansa und der von ihr dominierte Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL).

Kurz nachdem die EU im Juni 2021 ihr ambitioniertes Klimaschutzpaket „Fit for 55“ vorlegte, erklärte der BDL, die Vorschläge für den Emissionshandel gehörten „zurückgewiesen“, jene für die Beimischung sauberer, klimafreundlicher Kraftstoffe müssten „vermieden“ werden. Ansonsten drohe „Wettbewerbsverzerrung“: Airlines von außerhalb der EU könnten die Langstreckenflüge billiger anbieten, der CO2-Ausstoß werde nicht reduziert, sondern nur verschoben. Ein Jahr später hatten die Airlines sich mit dieser Linie durchgesetzt.

Während sich Fluggesellschaften wie die Lufthansa öffentlichkeitswirksam zur Klimaneutralität verpflichtet haben, lobbyieren sie also auf politischer Ebene gegen Maßnahmen wie den Emissionshandel. Dafür schicken sie Dachverbände wie den BDL oder die International Air Transport Association (IATA) vor. Bewaffnet mit Positionspapieren, voll mit ökonomischen Argumenten warnen die Verbände die EU-Kommission und das Parlament vor Wettbewerbsverzerrung und Marktungleichgewichten. Es ist eine klassisch liberale Argumentation, wenn es um Klimaschutz durch Marktregulierung geht. Um progressiver zu klingen, ist dann die Rede von einer bloßen Verschiebung der Emissionen – genannt „Carbon Leakage“. Wer so argumentiert, kommt als Klimaschützer daher – und bläst weiter nach Kräften CO2 in die Luft.

Die Lösung der Luftverkehrsindustrie für den CO2-Ausstoß auf Langstreckenflügen lautet indes: CORSIA. Das steht für Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation und ist ein CO2-Kompensationssystem, das von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO aufgezogen wurde. Demnach sollen Fluggesellschaften ab 2024 freiwillig ihren CO2-Ausstoß auf maximal 85 Prozent des Basisjahres 2019 begrenzen.

Selbstverpflichtung oder Greenwashing?

CORSIA verlangt von den Airlines, den Ausstoß an Treibhausgas zu reduzieren – oder diesen auszugleichen, indem sie Klimaschutzprojekte finanzieren. Verpflichtend wird es erst ab 2027. Dass sich Firmen von ihren Emissionen freikaufen können, sehen jedoch nicht nur Klimaschützer kritisch. Selbst der Chef von United Airlines, Scott Kirby, bezeichnete das System als „Greenwashing“ – Etikettenschwindel.

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CORSIA ist zu schwach, um Fliegen klimaneutral zu machen. Es gibt kein CO2-Limit vor, ist nicht verpflichtend, große Luftverkehrsmärkte wie Russland, China und Brasilien sind nicht dabei. So werden laut einer Studie von T&E, dem europäischen Dachverband von NGOs, die sich für nachhaltigen Verkehr einsetzen, nur rund 35 Prozent der weltweiten, durch Luftverkehr entstehenden Emissionen durch das CORSIA-System abgedeckt werden.

Eine EU-eigene Studie von 2022 kommt zu dem Schluss, dass CORSIA „die direkten Klimaauswirkungen des Luftverkehrs nicht wesentlich verändern wird“. Es gebe „keine ausreichenden Anreize“ für die Airlines, „ihre Emissionen wesentlich zu reduzieren.“ Die EU hielt die Studie monatelang zurück – und ignorierte sie am Ende.

Denn für die Luftverkehrswirtschaft hat die europäische Politik ein offenes Ohr. Eine Studie der Londoner NGO InfluenceMap ergab, dass EU-Politiker*innen bis zum Entscheidungszeitraum des EU-Parlaments über das EHS im Juni 2022 43-mal Ve­tre­te­r*in­nen der Luftfahrtindustrie empfingen. Umweltverbände hingegen genießen so einen einfachen Zugang zur Politik nicht.

Und die Lobbyisten leisteten in Brüssel ganze Arbeit. So kam es am 6. Juni 2022 zu einem „closed-door dinner event“ mit EU-Parlamentariern und der Lobbyorganisation Aviation For Europe, die in Brüssel sitzt und der auch Lufthansa und KLM angehören. Direkt am nächsten Tag stand im EU-Parlament die Abstimmung zum Emissionshandelssystem für die Luftfahrt an, bei dem eine Ausweitung der Klimaschutzmaßnahmen keine Mehrheit fand.

Quelle       :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       A C-130 spraying Mosquitoes at Grand Forks AFB, ND. Conspiracy theorists use photos like this to support the idea that the government is secretly poisoning the populace with chemicals being sprayed from aircraft.

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USA – BALKAN-TEAM

Erstellt von Redaktion am 29. Juli 2023

BIDENS BALKAN-TEAM

Von Nornert Mappes-Niediek

US-Diplomaten wird seit dem Ukrainekrieg Appeasement gegenüber Serbien vorgeworfen, um Aleksandar Vučić ins westliche Lager zu ziehen. Tatsächlich mischen sich die USA in der Region wieder mehr ein, weil alte Konflikte erneut zu eskalieren drohen.

Von „Appeasement“ dürfe man nicht sprechen, so Gabriel Escobar. Der Balkan-Beauftragte des US State Department hat das geschichtsschwere Wort in den letzten Monaten so oft hören müssen, dass er es bei einem Pressegespräch am 6. Juni in Prishtina schließlich selbst in den Mund nahm.

Genützt hat das Dementi nicht. Denn auch danach gingen die Vorwürfe weiter: Um eine möglichst breite Front gegen Russland aufzustellen, umschmeichelten die USA den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, damit er nicht ins Putin-Lager schwenkt, stützten ihm zuliebe die Serben im Kosovo sowie „ethnonationalistische“ Positionen in Bosnien. Absender dieser Vorwürfe sind liberale Denkfabriken etwa die US-amerikanische Jamestown Foundation oder die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung. Bei den traditionellen Verbündeten der USA in der Region, Albanern und Bosniaken, hat sich der Appeasement-Verdacht schon zur Gewissheit verdichtet. Der Regierungschef Kosovos, Albin Kurti, übt offen Kritik an der Schutzmacht und sieht „im demokratischen Westen eine beschwichtigende Haltung“1 .

Die US-Diplomaten bieten dagegen eine ganz andere Lesart ihrer Politik: „Der Balkan hat für uns Priorität“, sagte der Koordinator der US-Diplomatie in der Region, Derek Chollet, im Mai vor dem Senatsausschuss in Washington. Tatsächlich mischen sich die USA nicht erst seit dem Ukrainekrieg, sondern schon seit dem Amtsantritt Joe Bidens Anfang 2021 auf dem Balkan wieder ein – mit erheblichem Aufwand und eigener Agenda.

Ziel sei, so Chollet vor den Senatoren, die beiden letzten verbliebenen Brandherde in der Region ein für alle Mal auszutreten: Kosovo und Bosnien. Aufgestellt dafür ist ein hochkarätiges Team von Balkanveteranen: Chollet war Redenschreiber von Richard Hol­brooke, dem Architekten des Bosnien-Friedensvertrags von Dayton 1995, und hat später selbst ein Buch über das Abkommen verfasst.

Sanktionen gegen Kosovo

Gabriel Escobar hat schon vier Mis­sio­nen in der Region hinter sich. In Belgrad sitzt Christopher Hill, ein Urgestein des State Department und Teilnehmer an den großen Konferenzen in Dayton und auf Schloss Rambouillet 1999 (zu Kosovo). Auch die Botschafter in Sarajevo und Prishtina, Michael Murphy und Jeff Hovenier, kennen den Balkan genau. Außenminister Anthony Blinken schließlich, ihrer aller Chef, schrieb 1999 die Kosovo-Reden von Präsident Bill Clinton.

Die Ereignisse der letzten Monate scheinen den Appeasement-Vorwurf zu bestätigen. Nachdem Kosovos Premier Kurti am Freitag vor Pfingsten seine Spezialpolizei in den serbisch besiedelten Norden des Landes geschickt hatte, war es zu den schwersten Krawallen seit Jahren gekommen. Soldaten der Friedenstruppe Kfor, die das Schlimmste verhindern wollten, waren mit Steinen und Molotowcocktails beworfen worden. Dreißig von ihnen wurden teils schwer verletzt, ein Ita­lie­ner musste in eine Spezialklinik nach Skopje geflogen werden.

Die Angreifer waren Serben. Druck aber übten die Amerikaner danach nicht auf Belgrad aus, sondern auf Prish­tina. Kurti solle seine Polizeitruppe abziehen und den Serben Autonomie gewähren, so die Forderung. Die Europäische Union, die die Leitlinien der westlichen Balkanpolitik in den letzten Jahren allein hatte ziehen müssen und dabei keine Erfolge verbuchen konnte, zog erleichtert mit.

Ein erstes Sanktionspaket gegen die Regierung Kosovos fiel noch milde aus. Aber mögliche weitere Schritte täten wirklich weh: etwa die Blockade von Fonds oder die Aussetzung der Visumfreiheit für Reisen in den ­Schengenraum, nach jahrelangem Hinhalten endlich für Anfang 2024 vereinbart.

Neu ist nicht die Haltung der USA, sondern ihre Zielstrebigkeit. „Wir stehen an der Seite der Kosovaren“, bekräftigte Escobar. „Das heißt aber nicht: an der Seite eines Einzelnen, der unseren Instinkt zur Zusammenarbeit nicht teilt“ – mit anderen Worten: nicht an der Seite von Kurti. Mit der Weltmacht verbindet den Premier Kosovos eine konfliktreiche Geschichte. Kurti war noch keine 24 Jahre alt, als er nach Kräften die Friedensbemühungen des Westens hintertrieb, die damals vom heutigen Belgrad-Botschafter Hill angeführt wurden.

Mit seiner „Bewegung Selbstbestimmung“ verband Kurti einen glaubwürdigen Kampf gegen Korruption mit nationalen Parolen und Härte gegen den Westen. Damit vertrat er genau die entgegengesetzte Linie des mächtigen US-Schützlings Hashim Thaçi, dem ersten Premier Kosovos nach der Unabhängigkeit, der sich gegen westliche Forderungen ebenso nachgiebig zeigte wie gegen Ansprüche von korrupten Parteifreunden.

Als Kurti es 2020 gegen amerikanischen Druck an die Regierungsspitze geschafft hatte, intrigierte der Sonderbeauftragte Donald Trumps, Richard Grenell, so intensiv gegen ihn, dass er schon nach sechs Wochen stürzte. Nach einem überwältigenden Wahlsieg war er ein Jahr später wieder im Amt.

Mehr als Trump, der in der Re­gion ohne Ziel agierte, braucht Biden im Amt des Kosovo-Premiers einen, dem er vertrauen kann. Mit der Entsendung seiner Spezialpolizei in den Norden aber hat Kurti die Amerikaner regelrecht provoziert.

Seit dem Ende des Kriegs vor 24 Jahren versuchen EU und USA, das Gebiet mit seinen rund 50 000 Einwohnern friedlich ins Kosovo zu integrieren. Fortschritte gab es dabei immer nur, solange die Zugehörigkeit zu dem ungeliebten Staat für die Serben dort nicht sicht- und nicht spürbar war. So etwa ist die Polizei im Norden formal Teil der Kosovo-Ordnungsmacht, steht de facto aber unter serbischem Kommando.

Wer in Orten wie Zvečan oder Le­po­savić lebt, kann sich wie ein Serbe in Serbien fühlen. Das Eindringen einer bewaffneten albanischen Truppe in das Gebiet, wie der Premier es verfügt hatte, musste den Einwohnern wie eine Invasion aus Feindesland vorkommen. Eine öffentliche Warnung von Botschafter Jeffrey Hovenier hatte Kurti in den Wind geschlagen. Die Amerikaner und die Kfor-Truppe wurden erst eine halbe Stunde vor dem Zugriff informiert.

Schon die Vorgeschichte der Juni-Krawalle begann, im März, mit einer Kraftprobe Kurtis gegen die USA. Eigentlich hatte er sich in einem Treffen mit Belgrads Präsidenten Vučić darauf geeinigt, den Serben im Kosovo den seit zehn Jahren versprochenen, aber nie realisierten „Gemeindeverbund“ zuzugestehen. Dann aber hatte Kurti, als Vučić nicht förmlich unterschreiben und gegen die Absprache auch dem Beitritt Kosovos zum Europarat nicht zustimmen wollte, von seiner Zusage wieder Abstand genommen.

Als die Serben daraufhin ankündigten, die Kommunalwahl Ende April zu boykottieren, ließ Kurti entgegen amerikanischen Rat trotzdem wählen. Der Erfolg war, dass in den vier Gemeinden mit über 90-prozentiger serbischer Mehrheit nur drei Albaner und ein Bosniake zum Zuge kamen. Der Pre­mier zog die harte Linie durch und ließ die Bürgermeister mit der Polizei in die Rathäuser bringen. Eine klare Botschaft: Wir handeln aus eigenem Recht!

Ohne physische Gewalt, dafür aber mit umso wilderer Rhetorik wird der Streit um die US-Politik in Bosnien-Herzegowina ausgetragen. Angriffsziel ist kein Amerikaner, sondern ein Deutscher: Christian Schmidt, Ex-Landwirtschaftsminister in Berlin und seit zwei Jahren Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft.

Durchgesetzt haben den CSU-Politiker im Mai 2021 die USA. Mit skurrilen Auftritten in schlechtem Englisch, Zornesausbrüchen vor Journalisten und handwerklichen Fehlern gibt er eine dankbare Zielscheibe ab. Aber US-Botschafter Murphy lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Schmidts Interventionen eng mit den Amerikanern abgestimmt sind.

Auch in Bosnien tragen die USA eine Letztverantwortung – und nehmen sie jetzt wieder wahr. Nach dem Krieg der Jahre 1992 bis 1995 verpassten sie dem Land eine Verfassung, die künftige ethnische Konflikte ausschließen sollte: Bei demokratischen Wahlen sollten die Vertreter der drei verfeindeten Volksgruppen, Bosniaken, Serben, Kroa­ten, möglichst nie gegeneinander antreten müssen.

Heraus kam eine perfekte Durchquotierung des gemeinsamen Staats. Besondere „Völkerkammern“, zu gleichen Teilen zusammengesetzt aus Vertretern der drei Volksgruppen, sollten sicherstellen, dass nie zwei „Nationen“ über die dritte entschieden. An der Spitze des Staats steht bis heute ein Trio aus einem bosniakischen, einem serbischen, einem kroatischen Präsidenten.

Streit um die Völkerkammern

Das Muster sorgte für Frieden, kollidiert aber mit den Prinzipien einer liberalen Demokratie. Der Streitwert ist kein geringerer als der Charakter des Landes: Besteht Bosnien aus drei Völkern? Oder aus 3,3 Millionen Indivi­duen?

Wer sich keiner der drei Nationen zurechnen will oder seine nationale Zugehörigkeit nicht wichtig nimmt, fällt in dem Quotensystem durch den Rost. Erst Entscheidungen des Euro­päi­schen Menschenrechtsgerichtshofs bewirkten, dass in den Völkerkammern inzwischen auch „Sonstige“ vertreten sind. Ein Urteil gegen die ethnische Exklusivität der drei Präsidenten dagegen wurde bis heute nicht umgesetzt.

Die Kunst des Hohen Repräsentanten ist es traditionell, zwischen den beiden Prinzipien, dem ethnisch-kollektiven und staatsbürgerlich-liberalen, einen Ausgleich zu finden. Schmidt ist seit 1995 der achte im Amt; mit schöner Regelmäßigkeit folgt ein „Interventionist“, der ausgiebig von seinen Kompetenzen Gebrauch macht, auf einen „Passivisten“, der auf die Selbst­regulierung des Systems hofft.

Schmidt begann nach mehr als zwölf Jahren mit dem passiven Österreicher Valentin Inzko sogleich mit einer Intervention. Die Reaktionen fielen heftig aus. Schmidt handele im Interesse der kroatischen Volksgruppe, der kleinsten der drei, wird ihm aus der größten, der bosniakischen, vorge­worfen.

Tatsächlich hatte Schmidt einen Missstand beheben wollen. Weil in der „Föderation“, dem Landesteil, den sich Bosniaken und Kroaten teilen, mehr als dreimal so viele Bosniaken leben wie Kroaten, kann sich die bosniakische Mehrheit nicht nur aussuchen, wen sie als bosniakischen, sondern auch, wen sie als kroatischen Delegierten in die Völkerkammer schickt.

Deshalb verfügte Schmidt, dass Kantone, in denen fast keine Kroaten leben, keine Kroaten für die Kammer nominieren dürfen. Ein Aufschrei war die Folge: Schmidt leiste dem „Ethnonationalismus“ Vorschub. Schließlich sei es legitim, wenn Bürger als Individuen entschieden, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Weil Schmidt für die Berechnung der Quote fälschlich die Volkszählung von 2013 herangezogen hatte und nicht die von 1991, musste er sein Vorhaben aufgeben. Stattdessen erhöhte er nun die Zahl der Delegierten für die Kammer – mit dem Ergebnis, dass unter den dort vertretenen Kroaten diejenigen aus kroatischen Mehrheitsgebieten wieder in der Mehrheit sind.

Quelle        :     LE MONDE diplomatique        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —         Topographic map of Balkan (german description).

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Die Wasserstoff-Strategie

Erstellt von Redaktion am 29. Juli 2023

Wasserstoff-Strategie erhärtet Klüngel-Verdacht im Wissing-Ministerium

hydrogen bomb

Seien es nun Atom oder Wasserstoff – gab es nicht immer die Bomben als Vorläufer?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Lorenz Gösta Beutin

Zur Vorstellung der Wasserstoff-Strategie der Bundesregierung und dem Compliance-Verdacht im Verkehrsministerium erklärt der stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE .

»Die Wasserstoff-Strategie der Bundesregierung ist Betrug am Klimaschutz. Eine Vetternwirtschaft in einem Bundesministerium wäre erneut verheerend für das Vertrauensverhältnis zwischen der Bevölkerung und dieser Regierung.

Es bedarf einer schonungslosen Aufklärung, ob Vetternwirtschaft bei der Vergabe von Mitteln aus dem nationalen Wasserstoffprogramm eine entscheidende Rolle spielte. Alarm schlagen aktuelle Berichte über die Verantwortung Wissings für das Verfehlen der deutschen Klimaziele. Die dort betriebene Politik gegen die Verkehrswende ist verheerend. Mit Billigung des Bundeskanzlers werden die Verpflichtungen aus dem Klimaschutzgesetz bewusst ignoriert. Die vollständige Ablehnung kurzfristig wirkungsvoller Maßnahmen wie eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen oder die schrittweise Abschaffung fossiler Subventionen deutet darauf hin, dass der dringend notwendige Klimaschutz bewusst ausgebremst wird.

Wissings Positionen zur Verfeinerung von Wasserstoff und synthetischen Kraftstoffen, auch in PKWs, verstärken den Verdacht, dass Lobbykontakte in seinem Ministerium ganze Arbeit geleistet haben. Die Wasserstoff-Strategie entpuppt sich als reine Scheinlösung, die zugunsten der fossilen Industrie bevorzugt wird. Sie hat mit echtem Klimaschutz, wie es von der Bundesregierung verkauft wird, wenig zu tun.

Die Produktion von Wasserstoff beansprucht Landfläche, Energie und Ressourcen in enormem Maße. Daher sollte die direkte Elektrifizierung vorrangig betrachtet werden, wo immer möglich. Denn gerade die sozial-ökologische Transformation der chemischen und Stahlindustrie wird große Mengen an Wasserstoff erfordern.

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Damit Wasserstoff nicht zum neuen globalen Öl wird, als Quelle für Konflikte, Kriege, Korruption und neo-koloniale Ausbeutung, muss er mit erneuerbaren Energien hergestellt werden. Zudem ist eine sparsame Verwendung unerlässlich und sie darf der Dekarbonisierung und wirtschaftlichen Entwicklung in den Staaten des globalen Südens nicht entgegenstehen.«

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      — hydrogen bomb

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Unten      —     The BADGER explosion on April 18, 1953, as part of Operation Upshot-Knothole, at the Nevada Test Site.

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Kolumne-Fernsicht-Uganda

Erstellt von Redaktion am 29. Juli 2023

Präsident Ruto, der nackte Kaiser mit den zwei Gesichtern

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Von Joachim Buwembo

Kenias Präsident William Ruto ist noch kein Jahr im Amt, aber er hat schon zwei Gesichter, ein lokales und ein internationales.

Der internationale Ruto ist ein progressiver Panafrikanist, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dass die Grenzen zwischen Afrikas 54 Ländern fallen, damit alle Afrikaner zusammen eine große glückliche Familie bilden. Rutos starkes geeintes Afrika kennt keine Handelsgrenzen oder Visa, nutzt eine gemeinsame Währung und setzt alle seine Ressourcen zugunsten all seiner 1,5 Milliarden Menschen ein.

Dieser Ruto, auch in Berlin respektvoll empfangen, zeigt sich auf der Weltbühne bei jeder Gelegenheit, zuletzt beim Entwicklungsgipfel in Paris, wo er Emmanuel Macron kurzerhand mit den Chefs von Weltbank und IWF in einen Topf warf und die Auflösung des internationalen Finanzsystems zugunsten irgendeiner gerechteren Alternative vorschlug. Dann trat er vor dem Eiffelturm beim Ökokonzert „Power of our Planet“ vor Tausenden als Rockstar auf, der der globalen Finanzwelt den Kampf ansagt, und lud schließlich die ganze Welt zum afrikanischen Klimagipfel in Nairobi im September ein.

Zum Glück für Rutos PR-Abteilung werden die meisten Delegierten beim Klimagipfel keine Zeit haben, um mit Akteuren aus Kenias Nachbarländern zu sprechen. Die nämlich haben zumeist eine etwas andere Sicht. Die ökonomische Integration Ostafrikas, die oft als Vorbild für Afrika gesehen wird, hat stark gelitten. Die Ruto-Regierung hat Handelshemmnisse errichtet und geltende Protokolle gebrochen.

So können Ugandas Milchbauer ihre Milch nicht mehr über die Grenze nach Kenia bringen und haben in den letzten Monaten umgerechnet mehrere hundert Millionen Euro verloren. Man spekuliert, dass Ruto sich damit an seinem Vorgänger Uhuru Kenyatta rächen will, der ihn bei den Wahlen 2022 nicht unterstützte und selbst wirtschaftliche Interessen in der Vermarktung von Milch aus Uganda hält. Wird die zunehmende Feindseligkeit zwischen Kenyatta und Ruto tatsächlich auf dem Rücken von Ugandas Bauern ausgetragen? Dann würde der lokale Ruto als rachsüchtiger, kleinkarierter Präsident dastehen, der Handelsbeziehungen opfert, um alte Rechnungen zu begleichen. Leider ist dies derzeit die gängigste Erklärung für Kenias Vorgehen gegen Uganda.

Nicht nur Uganda beschwert sich. Andere Mitglieder der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC) sind verärgert darüber, dass Kenia ein EPA-Freihandelsabkommen mit der EU gebilligt hat, das die EAC als Ganzes zurückwies.

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Das Geld teilt die Welt

Erstellt von Redaktion am 28. Juli 2023

US-Milliarden verhelfen Israel in Richtung Gottesstaat

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Verraten und Verkauft von der ISA ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Regierung hebelt die Justiz aus – Siedlungspolitik verhindert Zweistaatenlösung. Zaghaft regt sich jetzt Widerstand gegen US-Hilfe.

«Ist es tatsächlich im Interesse der USA, Israel jedes Jahr die enorme Summe von 3,8 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern zu zahlen?» Das fragt «New York-Times»-Kolumnist Nicholas Kristof in einem Leitartikel vom 25. Juli.

Das Thema sei in den USA bisher weitgehend tabu. Es gehe ihm auch nicht um ein abruptes Ende der US-Hilfe, sondern um ein «langsames Auslaufenlassen». Denn Israels Sicherheit dürfe keinesfalls gefährdet werden, schreibt Kristof.

Seine Argumente:

  • «Wir sollten Premierminister Benjamin Netanyahu härter anfassen, weil er jede Aussicht auf eine Zweistaatenlösung zerstört, und weil er – in den Worten des früheren Premierministers Ehud Barak – ‹entschlossen ist, Israel zu einer korrupten und rassistischen Diktatur zu degradieren, welche die Gesellschaft zersetzen wird›.»
  • «Heute ist Israel pro Kopf reicher als Japan und einige europäische Länder.»
  • «Es besteht keine Gefahr mehr, dass Nachbarn in Israel einmarschieren […] Israel exportierte letztes Jahr fast ein Viertel aller Waffen in arabische Staaten.»

In einem offenen Brief an Präsident Joe Biden meint am 26. Juli Thomas L. Friedmann, ein anderer «New York Times»-Kolumnist, mit der Entmachtung des Obersten Gerichts wolle Netanyahu ein Hindernis wegräumen für die vollständige Annexion des Westjordanlandes: «Ein solcher Schritt kann Jordanien destabilisieren, weil noch mehr Palästinenser dorthin auswandern oder flüchten werden. Jordanien ist aber für die USA der wichtigste Pufferstaat der Region.»

Mit den Forderung nicht allein

Nicholas Kristof zitiert den früheren israelischen Justizminister Yossi Beilin: «Israel solle auf die US-Hilfe verzichten.»

Der frühere US-Botschafter in Israel, Daniel Kurtzer, habe erklärt:

«Israels Wirtschaft ist stark genug. Sie hat keine Hilfe mehr nötig. […] Die Hilfe verschafft den USA keinen Einfluss auf die Art und Weise, wie Israel Gewalt anwendet. Weil wir Israels Politik, die wir ablehnen, stillschweigend zusehen, werden wir als ‹Ermöglicher› der israelischen Besatzung angesehen […] Die US-Hilfe erlaubt es Israel, mehr Geld für politische Massnahmen auszugeben, die wir ablehnen, wie beispielsweise für Siedlungen.»

Auch Martin Indyk, der zweimal US-Botschafter in Israel war, habe sich für neue Sicherheitsabkommen ausgesprochen. Es sei an der Zeit, über die Beendigung der Hilfe zu diskutieren.

Zu einflussreicher militärisch-industrieller Komplex

Doch diese Stimmen werden sich in absehbarer Zeit kaum durchsetzen. Denn die grossen Profiteure der US-Hilfe sind die amerikanischen Rüstungskonzerne. Laut Kristof handelt es sich bei den 3,8 Milliarden Dollar «fast nur um Militärhilfe mit der Auflage, damit ausschliesslich amerikanische Waffen zu kaufen».

Es handle sich also um Hintertür-Subventionen an die US-Rüstungsindustrie. Aus diesem Grund sei Israel zuversichtlich, dass die Hilfe weiterlaufe. Tatsächlich verfügt der militärisch-industrielle Komplex im US-Kongress über einen grossen Einfluss. Vor zwei Jahren unterschrieben 325 der 425 Mitglieder des Repräsentantenhauses eine Erklärung, in der sie sich gegen eine Reduktion der US-Militärhilfe an Israel aussprachen.

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Oben      —      Bill ClintonJitzchak Rabin und Jassir Arafat im Weißen Haus am 13. September 1993

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Der USA Kapitalismus

Erstellt von Redaktion am 28. Juli 2023

Ist der ‚demokratische Kapitalismus‘ der USA wirklich wichtiger als eine respektvolle Völkerverständigung?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In den USA scheint das Volk und die Regierung das Denken den Denkfabriken zu überlassen. Selbst denken macht nur Kopfschmerzen. Die Denkfabrik American Compass ist sehr aufschlussreich für die Gedankenwelt der Mehrheit der Amerikaner z.B. in Sachen China. Das wirtschaftliche De-Risking (Risikominimierung) ist nicht genug, man muss den harten Bruch mit China angehen.

‚America First‘ ist immer und überall das Leitmotiv. Völlig abgehoben und wirklichkeitsfremd wird von dieser Denkfabrik eine amerikanische Traumwelt voller Widersprüche verherrlicht. Ein Fanal ist der US-‚demokratische Kapitalismus‘, den es weltweit zu stärken und durchzusetzen gilt und der ein Merkmal für die unvereinbare Politik von China und den USA sein soll. Der ‚Rost Belt‘ quer durch die USA als Folge geiler Profitgier im US-Kapitalismus und die damit einhergehende Verelendung sind da wohl in Vergessenheit geraten, ebenso wie die Behebung der Armut in China in nur 40 Jahren.

Welcher Kapitalismus ist da wohl demokratisch? Und der Sturm vor allem der US-Industrie auf den chinesischen Markt hat nichts mit demokratischen Werten zu tun, sondern nur mit den geilen Preisen, die man durch die billige Produktion auf chinesischen Werkbänken erzielen konnt und natürlich nicht an die US-Bevölkerung weitergegeben hat. Dass damit zwangsläufig ein Technologietrasfer stattfand, hat man überhaupt nicht bedacht. Hauptsache billig und gut.

Aber die Chinesen machten es vielfach noch besser, denn dem guten Beispiel zu folgen, gilt in China als Tugend. Alles Jammern über Verletzungen des geistigen Eigentums in und durch China ist schlicht dumm, denn China hat sich zeitgleich mit seiner Öffnung dem internationalen ‚Patent Cooperation Treaty’ (Vertrag für die Zusammenarbeit im Patentwesen) angeschlossen und handelt seitdem streng nach diesen weltweit geltenden Regeln.

In ihrem ‚demokratischen Kapitalismus‘ blind für die Entwicklungen in der Welt und insbesondere ihrer Werkbank China, wollen die USA jetzt und schreckhaft aufgeweckt China isolieren und dessen Entwicklung abwürgen. Da haben sie ihre Rechnung aber offensichtlich ohne den Wirt gemacht, denn viele Völker schätzen die kooperative Einstellung Chinas bei der Völkerverständigung mehr als die ‚regelbasierte Ordnung‘ nach US-Diktat. Nein, zunehmed will die Welt nicht am US-Wesen genesen, sondern sich vielmehr von den US-Zwängen des Kapitalismus und Militärs lösen. Dass das die USA beängstigt, ist offensichtlich.

Aber panta rhei, alles fließt und vergeht. So auch der Hegemon USA. Die Problrme auf der Welt heute können nur durch respektvolle und koordinierte Zusammenarbeit gelöst werden und eben nicht durch Dummheit und Stolz amerikanischer Denkfabriken. Jahrzehnte lang war China gut als Werkbank für den ‚demokratischen Kapitalismus‘ der USA. Heute hat China einen Spitzenplatz in der Welt und ist zum Rivalen und Feind Nr.1 der USA mutiert.

Welch simple Weltsicht, an die wir uns keinesfalls anschließen dürfen. Was jahrelang gut lief und nur durch Pandemie und Krieg gestört wurde, soll man den sich stets ändernden Umständen angepasst zum Wohl aller Menschen weiterentwickeln. Da aber sind die USA mit ihrem ‚demokratischen Kapitalismus‘ nun wirklich kein Vorbild. ‚America First‘ oder immer nur die eigenen Interessen durchboxen ist out, obsolet. Respektvolle Völkerverständigung ist angesagt.

Urheberrecht
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Oben      —     Theater District, New York, NY, USA

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 28. Juli 2023

Wenn  -ProSieben Sat.1-   Stoiber in die Schlacht schickt

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Es gibt ja immer wieder Sachen, die für eineN neu sind. Zum Beispiel, dass ProSiebenSat.1 (P7S1) einen Beirat hat. Vorsitzender ist niemand Geringeres als Bayerns Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU). Der Beirat soll die Privatfernsehgruppe bei ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen beraten.

Ob dazu auch gehört, warum P7S1 gerade mal wieder 400 Stellen abbaut? Oder Sat.1 inhaltlich und quotentechnisch in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist? Dabei war das mal der innovativste Privatsender, dem wir unter anderem mit „Talk im Turm“ den später von den Öffentlich-Rechtlichen geklauten TV-Talk verdanken. Doch heute liegt Sat.1 marktanteilmäßig hinter Vox, und inhaltlich sieht’s ganz arm aus.

Dazu hört man von Ede Stoi­ber aber nichts. Dafür hat sich der Beirat gerade mit einem „Weckruf“ an die Medienpolitik gemeldet. Denn er sieht das „duale System“, in dem sich Private und Öffentlich-Rechtliche in friedlicher Koexistenz beschimpfen, „in ernster Gefahr“. Denn „unsere Gesellschaft und ihr bröckelnder Zusammenhalt erfordern mehr denn je einen qualitativ hochwertigen Journalismus, der in unruhigen Zeiten Orientierung gibt“. Damit meint der Beirat aber keineswegs, dass sich die Beitragskommission KEF bei der Neuberechnung der Kohle für ARD und ZDF ab 2025 nicht so zimperlich anstellen soll. Im Gegenteil, die stehen voll fies mit den privaten Sendern „in vielen Bereichen in einem ungleichen Wettbewerb“, geht es in dem Brandbrief weiter. „In diesem Kontext muss auch diskutiert werden, wo und wie sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk öffnen kann.“

Wer hat den denn von seinen Bahnsteig entführt, wo er so lange auf einen Zug gewartet hat?

Nachtigall, ick hör dir trapsen, ließe sich rufen, wenn Sat.1 noch in Berlin säße und nicht zum lieblosen Anhängsel des Münchner TV-Konzerns geworden wäre. Denn das Aufbohren der Grenzen zwischen privat und öffentlich-rechtlich ist das große Mantra von P7S1-Vorstandschef Bert Habets. Bei jeder Gelegenheit fordert der, dass ARD und ZDF samt Mediathek ins P7S1-Streaming-Angebot Joyn gehören. So will Habets die Welt und vor allem seinen Laden retten. ARD wie ZDF winken allerdings stets höflich ab. Wäre ja auch dumm, denn damit wäre das duale System nicht nur „ernsthaft gefährdet“, sondern keines mehr.

Quelle         :       TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Ein Sommermärchen

Erstellt von Redaktion am 27. Juli 2023

Alles arbeitet ja in dieser Gesellschaft gegen die Familien.

Ein Schlagloch von Mathias Greffrath

Konservative gibt es in allen Parteien. Das Problem ist: Es gibt keine konservative Partei. Wie so eine handeln müsste, zeigt folgender Dialog.

Guten Tag. Ich möchte in die CDU eintreten.“ Der überarbeitete Kreisvorsitzende von Paderborn schaute auf. An der Tür stand eine sehr junge Frau. „Warum denn in unsere Partei?“, fragte er etwas geistesabwesend. „Weil ich glaube, dass das Land einen wirklichen Konservatismus braucht. Einen modernen.“ Der Kreisvorsitzende legte die Post beiseite und blickte auf. „Und was bitte ist für Sie „konservativ“? Die junge Frau trat näher: „Na ja, Herkunft, Heimat, Nation, Staat, Familie, kurz: das europäische Erbe mit seinem christlichen Wertefundament, woran unser Abgeordneter Carsten Linnemann grade erinnert hat.“

Klingt ein wenig nach Abiaufsatz, dachte der Kreisvorsitzende, aber ihre Stimme hat etwas Energisches. „Und was wäre denn dieses Erbe für Sie?“

Sie nickte kurz zu der Fahne in der Ecke des Büros. „Na, Nation zum Beispiel. Dass wir vernetzt sind als Produktionsgemeinschaft, und deshalb füreinander einstehen. Deshalb hat Bismarck ja wohl die Sozialversicherung erfunden. Und der Bildungsbürger Walther Rathenau wollte deshalb Umverteilung, und Abschaffung des Erbrechts, weil alle berechtigt sind am nationalen Wohlstand. Konservative können keine eigentumslose Unterschicht dulden. Stattdessen treten sie dafür ein, anspruchsvolle Arbeit umzuverteilen, damit die arbeitende Mitte breiter wird. Zum Beispiel mit der 25-Stunden-Woche. Dann könnte es auch wieder so etwas wie ein Familienleben geben.“

Die junge Frau hat Talent, fand der Kreisvorsitzende, aber ob sie durchhalten kann? „Und“, fragte er, „glauben Sie, dass wir mit Umverteilung und weniger Arbeit unseren materiellen Wohlstand halten können?“

Gleich kam die schnelle Rückhand: „In der christlichen Tradition kommt das Wort materieller Wohlstand eigentlich nicht vor, wohl aber der Auftrag, die Erde zu hüten und zu bewahren. Darüber müssen wir heute wohl nicht reden, draußen sind 37 Grad. Und zweitens geht es im Christentum um den Wert und die Würde jedes Einzelnen. Das hat uns Freiheit gebracht, aber der radikale Individualismus eben auch ein Wirtschaftssystem, dessen Dynamik zu heiß geworden ist und haltende Institutionen wie die Familie geschwächt hat …

Der Kreisvorsitzende unterbrach sie: „Darf ich Sie darauf hinweisen, wir sind hier in einem Büro einer Oppositionspartei und nicht in einem historischen Seminar …“

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Selbst der dümmste Wirt braucht keine Fäuste, sondern eine Hand um ein Glas halten zu können.

„Eben“, sie blickte ihn freundlich an, „eben deshalb bin ich ja hier, weil die Aufgabe einer konservativen Opposition nicht so einfach ist, angesichts der Freidemokratisierung der SPD und der Kaperung konservativer Wörter durch die Antidemokraten. Da kriegt man nur Tritt, wenn man radikal konservativ ist.“

„Und was wäre radikal konservativ?“

Sie blickte kurz auf die Fotos an der Wand. „Also nehmen wir mal die Familie, da bin ich nämlich manchmal auch etwas ratlos. Alles arbeitet ja in dieser Gesellschaft gegen die Familie. Und das schmerzt, weil wir alle Bullerbü noch im Kopf haben. Heute sollen Mutter und Vater voll arbeiten, und das bis 72. Da bleibt nicht viel Zeit für die Kinder. Umso mehr brauchen wir eine Schule, die das leistet, was Eltern nicht mehr leisten können, selbst mit der 25-Stunden-Woche. Nicht nur die sprichwörtlichen Neuköllner Kinder sind ja sprachlich und kognitiv unterernährt, von ganz normalen bürgerlichen Tugenden will ich gar nicht reden.“

„Da haben Sie einen Punkt“, versuchte der Kreisvorsitzende in die Offensive zu kommen. „Deshalb ist ja unser neuer Generalsekretär gerade nicht nur für Schnellgerichte gegen Schwimmbad-Rowdys aufgestanden, sondern auch für ein allgemeines Dienstpflichtjahr …“

„Aber das alles ist doch viel zu klein gedacht“, fiel sie ihm ins Wort. „Dieser Harte-Hand-Populismus ist natürlich verständlich: der Mann muss sich ja bekannt machen, aber jeder weiß doch, dass das Rhetorik ist. Und die Dienstpflicht klingt mir viel zu sehr nach Lückenfüllerei für Staatsversagen. Auf jeden Fall nicht nach Zukunft. Und dann dieser kindliche Kampf gegen Wokeness und die ARD in der CDU, das können Sie Springer überlassen. Glauben Sie ernsthaft, damit kann man die AfD überbieten? Die Grünen zum Hauptfeind zu erklären, bringt auch nichts, wenn die Wirtschaft auf Klimaschutz setzt. Dieser Kleinkram verdeckt doch nur, dass auch die CDU sich nicht an die wirklich großen Aufgaben traut.“

„Welche großen Aufgaben meinen Sie denn?“, seufzte der Kreisvorsitzende, „inzwischen ist doch jeder für Klimaschutz und mehr Bildung.“

Quelle           :       TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       Beim Campingplatz Eucaliptus in E 43870 Amposta

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Digitale-Dienste-Gesetz:

Erstellt von Redaktion am 27. Juli 2023

Kein Vehikel für Plattform-Verbote

Nun sage Niemand – was sich in Israel abspielt, wäre Hier nicht möglch ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von               :       

Das Digitale-Dienste-Gesetz bringt für Anbieter von sozialen Netzwerken mehr Pflichten bei der Inhaltemoderation. Halten sie sich nicht an die Regeln, gibt es Konsequenzen. Doch nachdem EU-Digitalkommissar Thierry Breton von Verboten sprach, sind Grundrechtsorganisationen alarmiert.

Im Herbst 2022 schränkte das iranische Regime nach Demonstrationen den Zugang zu Instagram und WhatsApp ein. In Guinea waren im Mai 2023 nach Protesten gegen die Militär-Junta mehrere Messenger und soziale Medien nicht mehr erreichbar. Dass Kommunikationsdienste, soziale Netzwerke oder gleich das ganze Internet plötzlich weg sind, das passiert immer wieder in autoritären Staaten.

Eher ungewöhnlich ist hingegen, dass in der EU Regierungschefs und hohe EU-Beamte laut über Netzsperren als Möglichkeit bei sozialen Unruhen nachdenken. Mehrere Grundrechtsorganisationen sind darüber beunruhigt und verlangen in einem offenen Brief Klarstellung.

Unruhen in Frankreich

Wie es dazu kam: Nach Unruhen in Frankreich redete Präsident Emmanuel Macron im Juli davon, notfalls Zugang zu Internetplattformen abzuschneiden. Nachdem ein Polizist einen Jugendlichen erschossen hatte, kam es zu Protesten, die teilweise gewaltsam verliefen. Macron warf Plattformen wie TikTok und Snapchat vor, dazu beizutragen.

Die Äußerungen des französischen Präsidenten zogen viel Kritik auf sich, die Regierung ruderte zurück. Aus dem französischen Digitalministerium hieß es, es sei zwar eine technische Möglichkeit, Plattformen zu blockieren. In Betracht gezogen habe man das aber nicht.

Ruhig um diesen umstrittenen Vorstoß ist es aber dennoch nicht geworden, auch weil EU-Digitalkommissar Thierry Breton aufsprang und in einem Interview erklärte, das neue Digitale-Dienste-Gesetz der EU würde Verbote im Gebiet der EU ermöglichen. Man könnte neben Geldstrafen auch den Betrieb von Plattformen wie Twitter und Facebook in der EU untersagen, wenn sie rechtswidrige Inhalte bei sozialen Unruhen nicht schnell genug entfernen.

Keine Lösung für vermeintliche Krisen

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind über Bretons Äußerungen empört. In ihrem gemeinsamen Brief wenden sie sich an den Digitalkommissar. Sie erinnern daran, dass willkürliche Netzsperren und Internet-Shutdowns Grundrechte verletzen. Das „sollte auf keinen Fall als Lösung für ein Ereignis oder eine vermeintliche Krise in einem Mitgliedstaat oder in der gesamten EU angesehen werden“, schreibt unter anderem die Grundrechte-Dachorganisation EDRi gemeinsam mit 65 weiteren Gruppen.

Sie verlangen von Breton klarzustellen, dass das Digitale-Dienste-Gesetz keine solchen Sperren ermöglicht. Zwar verlangt das Gesetz von Plattformen, Inhalte zu prüfen, und sieht Sanktionen vor, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen. Für besonders große Anbieter gelten nochmals strengere Regeln. Besondere Maßnahmen wie der „Krisenreaktionsmechanismus“ sind jedoch auf drei Monate begrenzt, erfordern eine Grundrechteabwägung und können auch nicht einfach so von Regierungen verhängt werden.

Halten sich Anbieter nicht an die Regeln im Digitale-Dienste-Gesetz, sind zunächst Bußgelder vorgesehen. Manche Details müssen die EU-Mitgliedstaaten noch auf nationaler Ebene regeln. EDRi und Co. bitten die EU-Kommission, sicherzustellen, dass sie dabei nicht übers Ziel hinausschießen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       Demonstration against judicial reforms (Tel Aviv, 25 March 2023)

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Die Krankenhausreform

Erstellt von Redaktion am 27. Juli 2023

Zweiter Akt – Im Gesundheitswesen wird alles besser.

Rhön-Klinikum AG

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura  – Hauptsache – wie gehabt –, es ist kostengünstig!

Nach der Vorstellung des Reformvorhabens durch den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) haben sich Bund und Länder nun auf die Grundsätze der Krankenhausreform geeinigt. Eine Einigung war deshalb notwendig, weil der Bund durch seine Gesetzgebung die laufende Finanzierung der Krankenhäuser regelt, während die Länder für die Krankenhausplanung und die Investitionen zuständig sind.

Begleitet wird die neue Reform – die eine schier endlose Reihe früherer Eingriffe fortsetzt (siehe dazu etwa „Lauterbachs ‚Revolution‘“, Junge Welt, 28.12.2022) – durch Legenden, die von den Politikern in die Welt gesetzt wurden und von den Medien meist kritiklos nachgeplappert werden.

Die Einigung

Nach mehreren Sitzungen haben sich die Bundesländer und das Bundesgesundheitsministerium auf folgende Zielsetzung verständigt:

„Mit der Krankenhausreform werden drei zentrale Ziele verfolgt: Gewährleistung von Versorgungssicherheit (Daseinsvorsorge), Sicherung und Steigerung der Behandlungsqualität sowie Entbürokratisierung.“ (Eckpunktepapier – Krankenhausreform, www.bundesgesundheitsministerium.de, 10.7.2023)

Bekundet wird mit diesen Zielen, dass es weiterhin eine flächendeckende Krankenhausversorgung geben soll. Dabei ist mit der Reform bereits klargestellt, dass dies nicht mehr in der bisherigen Form stattfinden wird. Dass alle Parteien weiter an einer Krankenhausversorgung interessiert sind, ist dabei nicht überraschend; die Bürger werden ja in ihren verschiedenen Funktionen gebraucht, vor allem für das Funktionieren des Staates und für die Produktion des wirtschaftlichen Reichtums, um den es ihm geht. Und das erfordert einen permanenten Aufwand.

Schließlich sind die Bürger durch ihren Einsatz für das Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Belastungen von Umwelt und Natur einer ständigen Gesundheitsschädigung ausgesetzt. Die schlägt sich in den verschiedenen Leiden nieder, die interessanter Weise mit dem Etikett „Zivilisationskrankheiten“ versehen werden, also in Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs, Gelenk- und Rückenleiden, Asthma und Allergien usw. (vgl. dazu S. Cechura, „Unsere Gesellschaft macht krank – Die Leiden der Zivilisation und das Geschäft mit der Gesundheit“, Tectum Verlag, 2018).

Angesichts dieser Lage wird ein entsprechendes Reparatursystem benötigt, in dem das Krankenhaus einen wesentlichen Bestandteil darstellt. Und wenn jetzt eine Steigerung der Behandlungsqualität angestrebt wird, zeigt sich darin eine parteiübergreifende Unzufriedenheit in doppelter Hinsicht: Zum einen bedarf es besserer Behandlungsmethoden, weil die neuen Volkskrankheiten nicht heilbar sind und es darum geht, die stattfindenden Schädigungen aushaltbar zu machen oder einzugrenzen.

Zum andern bezieht sich die Unzufriedenheit mit der Qualität aber vor allem auf die ständig steigenden Kosten, die eine Folge der jetzigen Krankenhausorganisation sind. Denn aus wirtschaftlichen Gründen werden Behandlungen auch dann durchgeführt, wenn sie medizinisch gesehen gar nicht zwingend sind.

Die Kritik richtet sich aber nicht darauf, dass die Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen kalkulieren und deshalb versuchen (müssen), aus den Behandlungen einen Gewinn zu erzielen. Das ist politisch gewollt und genau so eingerichtet. Die Kritik an den Kosten gibt es deshalb, weil sich die Gesundheitswirtschaft überwiegend aus Beiträgen der (gesetzlichen) Krankenversicherung finanziert.

Und diese Beiträge sind bekanntlich Bestandteil der Lohnkosten, sie werden als Arbeitgeber- wie als Arbeitnehmeranteil bei den Kosten des „Faktor Arbeit“ verbucht. Weil sie so die Gewinnkalkulation der gesamten Wirtschaft belasten, sind sie immer zu senken. Festgemacht wird diese Kritik an den Fallpauschalen.

Fallpauschalen und Vorhaltepauschalen

Die Fallpauschalen wurden durch die rot-grüne Regierung unter Mitwirkung des damaligen gesundheitspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, Karl Lauterbach, eingeführt, um die Liegezeiten in den Krankenhäusern zu verringern, die Krankenhauskosten zu reduzieren und die Kliniken zu zwingen, sich zusammenzuschließen oder aufzugeben.

So gesehen ist die damalige Intention der Gesundheitspolitiker voll aufgegangen. Viele Kliniken sind verschwunden, die Liegezeiten sind verkürzt, die Kosten vor allem beim Personal wurden so drastisch gesenkt, dass ein Personalnotstand eingetreten ist, der jetzt als Personalmangel beklagt wird.

Ökonomische Konzentration schreitet fort. Katholische wir evangelische Krankenhäuser haben sich z.B. zu Klinikketten zusammengeschlossen und unterscheiden sich in nichts von privaten. Zufriedenheit hat sich damit bei den Gesundheitspolitikern nicht eingestellt, sie bemängeln immer noch ein Zuviel an Krankenhäusern und an Kosten für die Gesundheit der Bürger. Schuld daran sollen jetzt die Fallpauschalen sein, die sich angeblich beseitigt gehören:

„Wir lösen das System der Fallpauschalen ab, durch ein System der Vorhaltepauschalen.“ (www.bundesgesundheitsministerium.de, Meldung „Krankenhausreform“)

Die Fallpauschalen verschwinden aber in dem Eckpunkte-Papier keineswegs, sie werden nur verändert. Insofern verbreiten viele Medien eine Legende, wenn von deren Ende die Rede ist. Aus den bisherigen Fallpauschalen werden die Kosten für bestimmte Behandlungen herausgerechnet und als „Vorhaltepauschalen“ den Krankenhäusern überwiesen.

Diese neuen Pauschalen werden an Leistungsgruppen für bestimmte Krankheiten geknüpft, für deren Behandlung die Krankenhäuser Vorleistungen erbringen müssen, und zwar in personeller Hinsicht wie bei der Geräteausstattung. Die Krankenhäuser müssen sich daher für die Zulassung zu diesen Leistungsgruppen im Rahmen der Krankenhausplanung der Länder bewerben und erhalten erst bei Aufnahme in den Krankenhausplan die entsprechenden Pauschalen.

Geknüpft ist das Ganze an die Bedingung, dass das Krankenhaus auch eine entsprechende Anzahl von Patienten mit dem Krankheitsbild, für das die Leistungsgruppe geschaffen wurde, medizinisch versorgt. Die Vorhaltepauschalen decken aber nur einen Teil der Kosten ab, die in den Krankenhäusern für die Behandlung dieser Patienten anfallen; und neben den Vorhaltepauschalen gibt es weiterhin die um die Vorhaltekosten reduzierten Fallpauschalen. Womit deutlich wird, worin die zweite Legende besteht:

Nicht die Ökonomie, sondern die Patienten müssen wieder im Mittelpunkt stehen“ (Karl Lauterbach)

Behauptet wird, mit der Krankenhausreform stünde wieder der Mensch im Mittelpunkt, weil den Krankenhäusern der ökonomische Druck durch die Änderung des Finanzierungssystems genommen werde. Eine seltsame Auskunft! Dass es bei einem Krankenhaus immer um die Patienten geht und deren Behandlung, müsste doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Dabei kommt es natürlich sehr darauf an, wie sich die Behandlung gestaltet. Und das ist weitgehend von deren Finanzierung abhängig. Der ökonomische Druck soll ja weiterhin seine Wirkung zeigen, schließlich müssen die Kliniken beweisen, dass sie über eine entsprechende Ausstattung verfügen, um für eine Leistungsgruppe in den Krankenhausplan aufgenommen zu werden; und die Kosten rechnen sich erst bei einer entsprechenden Fallzahl. So erwarten Fachleute bereits eine erhebliche Zahl an Klinikschließungen:

„Die Klinikbranche befürwortet grundsätzlich die Ziele der Krankenhausreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Im Zuge dessen dürfte rund ein Fünftel der Kliniken geschlossen werden, sagte der Chef der Krankenhausgesellschaft, Gaß.“ (https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/klinikschliessungen-100.html, 19.6.2023)

Dass weniger Kliniken für eine bessere Krankenhausversorgung stehen, ist eine weitere Legende. Durch die Einführung von Leistungsgruppen für bestimmte Krankheiten, deren Behandlung von den Krankenhäusern in Zukunft die Einhaltung von Qualitätskriterien hinsichtlich personeller und sachlicher Ausstattung verlangt, versprechen die Gesundheitspolitiker den Bürgern eine bessere Behandlung. Und die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung hat in ihrer „Fünften Stellungnahme“ auch gleich hochgerechnet, wie viele Lebensjahre durch diese Spezialisierung gewonnen werden könnten.

Ziel der Einführung der verschiedenen Leistungsgruppen ist es, dass es weniger und spezialisierte Krankenhäuser gibt, die dann eine Vielzahl von Patienten behandeln. Dass eine Behandlung durch einen Spezialisten von Vorteil sein kann, ist sicherlich unumstritten. Um sich an einen Spezialisten zu wenden, braucht es aber zunächst einmal eine Diagnose und einen Arzt, der weiß, wo dieser Spezialist zu finden ist.

Wenn also die Regierungskommissare ausrechnen, welch einen Vorteil die Patienten in Zukunft haben würden, wenn sie alle gleich beim Spezialisten landeten, dann blenden sie genau die entscheidende Frage aus: Wie kommt es, dass die einen passgenau ihren Spezialisten finden, während die anderen im Allgemeinkrankenhaus behandelt werden.

Hinzu kommt, dass die Qualität eines Krankenhauses in der Diskussion um die Qualität der Behandlung an der Anzahl der behandelten Fälle festgemacht wird. Dabei muss nicht jeder Arzt im Krankenhaus gleich gut sein, und eine Behandlung wie am Fließband – im Krankenhaus ist die Rede von „Behandlungspfaden“ – trägt auch nicht unbedingt zur Steigerung der Behandlungsqualität bei.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass viele Patienten, vor allem ältere, nicht einfach an einer Krankheit leiden, sondern an mehreren, was sich auf die Behandlung auswirkt. Nicht umsonst gibt es bereits eine Diskussion in den Krankenhäusern über den Umgang mit Behandlungsfehlern.

Wenn es dann heißt:

„Es gilt, auch vor dem Hintergrund der Entwicklung der medizinischen und pflegerischen Fachkräftesituation in Deutschland eine qualitativ hochwertige, flächendeckende und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung sicherzustellen“ (Eckpunktepapier),

dann gehen die Politiker offensichtlich davon aus, dass es auch in Zukunft einen Mangel an medizinischem und pflegerischem Personal geben wir! Deswegen sind sie daran interessiert, das vorhandene umso stärker auszulasten. Das wird sicherlich die Attraktivität dieser Berufe steigern und auch die Qualität der Pflege verbessern!!

Der Streit

Wie stark die Spezialisierung der Häuser vorangetrieben werden soll, darüber herrscht zwischen Bund und Ländern und auch zwischen den Ländern keine Einigkeit. Die Kriterien für die Entwicklung von Leistungsgruppen wurden im Eckpunktepapier vereinbart, aber die Zahl noch nicht festgelegt. Der Vorschlag der Regierungskommission beinhaltete 128 Leistungsgruppen, der Krankenhausplan von Nordrhein-Westfalen 64, also genau die Hälfte.

Je weiter die Spezialisierung vorangetrieben wird, desto größer muss nach Ansicht der Gesundheitspolitiker der Einzugsbereich sein, damit die Klinik auf ihre Kosten kommt. Denn ihr Aufwand wird nur teilweise über die Vorhaltepauschalen abgedeckt. Alles andere muss über die verbleibenden Fallpauschalen erwirtschaftet werden.

Für die Patienten bedeutet dies weitere Wege zu der entsprechenden Klinik. In dicht besiedelten Bundesländern ist der Einzugsbereich kleiner, in ländlichen Gebieten größer, entsprechend positionieren sich die Bundesländer.

Weitgehende Einigkeit herrscht zwischen den Parteien über die Einstufung der Krankenhäuser, auch wenn dies offiziell dementiert wird. So tauchen die „Level I-Krankenhäuser“ aus dem Regierungsentwurf nun als „Sektorübergreifende Versorger (Level Ii-Krankenhäuser)“ auf. Sektorübergreifend sind diese Einrichtungen deshalb, weil dort ambulante und stationäre Leistungen erbracht werden sollen.

Angestrebt werden mehr ambulante Behandlungen und Operationen. Aber auch diese erfordern oft Pflege, die sich meist kostengünstig durch die Familien erbringen lässt. Da das Familienleben durch die doppelte Berufstätigkeit der Partner stark beansprucht wird, braucht es dann eben auch Kurzzeitpflegeeinrichtungen, die nicht unbedingt einen Arzt haben müssen. Die ärztliche Betreuung kann durch niedergelassene Ärzte erfolgen. Es sind keine Krankenhäuser im eigentlichen Sinne, sondern eher Pflegeeinrichtungen.

Die im Regierungsentwurf aufgeführten „Level II-Krankenhäuser“ sind im Prinzip alle Krankenhäuser außer den Universitätskliniken, die die Qualitätskriterien für Leistungsgruppen erfüllen müssen. Auf einen weiteren Grundsatz haben sich die Parteien im Eckpunktepapier ebenfalls geeinigt: „Grundsätzlich keine Erhöhung des Erlösvolumens.“ Sprich: Das Ganze soll nicht mehr kosten als bisher mit den Fallpauschalen.

Dies betrifft die Kosten, die durch die Krankenversicherung abzudecken sind, erfasst aber nicht alle Kosten. Denn die Reform erfordert auch zusätzliche Investitionen, so dass wieder die Länder gefordert sind. Womit die Einigkeit ein Ende hat. Die Länder fordern dafür eine Beteiligung des Bundes, was dieser weitgehend ablehnt. Damit ist weiterer Streit programmiert – natürlich alles im Dienste der Bürger! Die Sicherstellung eines funktionierenden Volkskörpers ist eben eine Dauerbaustelle, wenn es heißt: Hauptsache kostengünstig!

Zuerst erschienen im Overton-Magazin

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Kolumne – In Rente

Erstellt von Redaktion am 27. Juli 2023

Wenn Arbeit nie endet

VON BARBARA DRIBBUSCH

Die einen sind gesund und jobben aus Spaß. Anderen müssen trotz schlechter Gesundheit arbeiten, weil die Rente nicht reicht. Ein unfaires System.

Es ist nicht mehr so wie früher, als man abgemeiert war mit kurz vor 70. Neuerdings werden wir Alten wiederentdeckt, angebettelt, angefleht. Gabriele zum Beispiel, 68, Ex-Lehrerin an einer Sekundarschule, hat den Bittbrief neulich im Briefkasten gefunden. Die Behörde fragte an: Ob sie nicht, bitte, bitte, wenigstens ein paar Stunden wieder zurückkommen wolle in den Unterricht? Freie Wahl der Schule! Es herrsche akuter Lehrkräftemangel.

„Bloß nicht“, sagt Gabriele, „nichts Pädagogisches mehr! Da grille ich lieber Sandwiches.“ Im Bistro einer Bekannten hilft Gabriele in der Woche ein paar Stunden aus, kennt sich jetzt aus mit laktosefreien Milchsorten und neuerdings auch ein bisschen mit Kneipenbuchhaltung.

Stefan, pensionierter Englischlehrer, 70, gibt wieder Unterricht. An einem Gymnasium, sechs Schulstunden in der Woche. Das ist ein Tausender im Monat obendrauf auf seine Beamtenpension. „Super“, schwärmt Stefan, „seitdem ich arbeite, habe ich das Gefühl, mein Kurzzeitgedächtnis hat sich wieder verbessert“.

Arbeiten wollen, können oder müssen

So gut läuft es nicht für jeden. Das Leben ist nicht fair und im Alter wird es noch ein bisschen unfairer. Abgesehen von den Faktoren Erbschaft, Vermögen und Co hängt das finanzielle Glück oder Unglück an den Komponenten Rente, Nebenjob und Gesundheit. Arbeiten wollen, können oder müssen? Das ist die Frage.

Super ist die Kombi aus guter Rente oder Pension plus freiwilligem anregendem Zusatzjob plus stabiler Gesundheit: Hauptgewinn. Wer dann Mitte oder Ende 70 mit dem Arbeiten ganz aufhört, steht immer noch finanziell gut da, weil die Altersversorgung ausreicht. Weniger toll ist das „Modell Zeitbombe“: Kleine Rente plus nicht mehr freiwilliger Teilzeitjob plus angeknackste Gesundheit. Was passiert, wenn es nicht mehr geht mit dem Jobben jenseits der 75?

Werner zum Beispiel, 69, Diabetes, kaputte Bandscheiben, studiert, früher mal Semiprofi­musiker und gescheiterter Kneipier, hat nur 200 Euro an gesetzlicher Rente und seine kleine Mietwohnung in Berlin-Moabit. Er arbeitet über eine Zeitarbeitsfirma im Wachdienst in Kultureinrichtungen, Teilzeit. Wir sprachen darüber, ob man besser auf Sohlen aus „Memory Foam“ oder „Masai-Barfuß-Technologie“ vier Stunden lang auf Steinböden durchhalten kann.

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben      —       Mann an der Führleine

Wikipedia – Author Leemclaughlin
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Das sind im übrigen Schauspieler welche sich dort präsentieren.

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Hass, Hetze, Gewalt:

Erstellt von Redaktion am 26. Juli 2023

Mexiko als Vorposten der Abschottung

Von Kathrin Zeiske

Ciudad Juárez, Mexiko, 27. März 2023: Auf dem Video der Überwachungskamera des Abschiebegefängnisses schlagen Flammen aus der Zelle. Drei uniformierte Männer verlassen zügig, aber ruhig, den Vorraum. Keiner von ihnen macht Anstalten, die Sammelzelle aufzuschließen. Kurze Zeit später ist die Rauchentwicklung so heftig, dass sie die Sicht der Kamera versperrt. Die Feuerwehr wird nicht zu Hilfe gerufen, sondern entdeckt den Brand zufällig. Die Einsatzkräfte brechen die Zellentür auf und bergen 39 Tote und 29 Schwerverletzte aus dem überbelegten, fensterlosen Raum. Ein Überlebender erliegt ein paar Tage später seiner Rauchvergiftung im Krankenhaus. Die betroffenen Geflüchteten aus Guatemala, El Salvador, Venezuela, Honduras, Kolumbien und Ecuador waren am selben Tag bei Razzien auf den Straßen der Grenzmetropole zu Texas aufgegriffen worden. Die festgenommenen Frauen wurden angesichts der Brandentwicklung aus ihrer Zelle befreit, die Männer nicht. Vermutlich haben sie selbst das Feuer entfacht, um gegen ihre Haft zu protestieren. Sie hatten weder Wasser noch Essen bekommen und sollten abgeschoben werden, obwohl viele von ihnen über eine Aufenthaltsgenehmigung verfügten.

Massaker an Personen in Haft oder unter haftähnlichen Bedingungen, bei denen Zuständige nicht die Tür öffnen und den Tod Dutzender Menschen durch Verbrennen und Ersticken bewusst in Kauf nehmen, sind in der mesoamerikanischen Region eine traurige Konstante, wie die Gefängnisbrände in Honduras in den Jahren 2004 und 2012 und der Brand in einem staatlichen Mädchenheim in Guatemala vor fünf Jahren zeigen. Im Transitland Mexiko prangern Nichtregierungsorganisationen wie auch die staatliche Menschenrechtskommission seit Jahrzehnten die Bedingungen in den Abschiebegefängnissen an. Vor zwei Jahren erreichten sie dadurch immerhin, dass Minderjährige nicht mehr eingesperrt werden dürfen. Trotzdem haben sich in Mexiko während der Pandemie in Abschiebegefängnissen mehrfach Brände unter Umständen ereignet, die denen in Ciudad Juárez gleichen. In der Stadt Tapachula im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas kam dabei bereits eine Person ums Leben. Und exakt die gleiche Szenerie wie am 27. März im Abschiebegefängnis in Ciudad Juárez hatte sich bereits vier Jahre zuvor am selben Ort abgespielt. Damals allerdings war die Zelle sofort aufgeschlossen worden. Dass es bei dem jüngsten Brand anders verlief, zeigt, wie sehr sich die Situation der Migrant:innen in Mexiko in den letzten Jahren verschärft hat. Und das wiederum ist maßgeblich auch auf die Entwicklungen der US-Migrationspolitik zurückzuführen.

Denn in dieser Zeit kam es auf Seiten der USA zu einer faktischen Aushebelung des Rechts auf Asyl: Mit Beginn der Pandemie im März 2020 setzte Ex-Präsident Donald Trump das gesundheitspolitische Dekret Title 42 in Kraft. Von der US-Border-Patrol aufgegriffene Geflüchtete aus Lateinamerika konnten damit direkt nach Mexiko zurückgeschoben werden, ohne zuvor die Möglichkeit zu erhalten, um Asyl zu bitten[1] – ein Präzedenzfall seit der Verankerung des Asylrechts in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen im Jahr 1948. Damit verschärfte sich die Abhängigkeit der migrierenden Menschen von den mächtigen mexikanischen Drogenkartellen, die mittlerweile sämtliche Schleusertätigkeiten in der Region in Richtung USA als teilweise lukrativere Einnahmequelle als der Drogenhandel selbst übernommen haben, und zusätzlich wird die Migration durch Gerüchte über Gesetzesänderungen in den USA noch befeuert.

Das stellte die Menschen, die sich während der Pandemie vor allem in Mittelamerika mit einem Einbruch der Arbeitsmärkte, einer verstärkten Militarisierung und Repression sowie zunehmendem autoritären Gebaren ihrer Regierungen etwa in El Salvador und Nicaragua[2] konfrontiert sahen, vor enorme Herausforderungen. Die Mehrheit dieser Bevölkerungen arbeitet im informellen Sektor und verdient am Tag, was sie zum Leben braucht. Hunger und eine fortschreitende Verarmung sorgten für einen Exodus in Richtung Norden, ohne Aussicht auf Asyl im Zielland USA.

Zugleich sahen sich viele Menschen in Mexiko selbst im Zuge der Pandemie mit Machtverschiebungen innerhalb der mexikanischen Kartelllandschaft konfrontiert. Vor allem aus Michoacán zogen Tausende Binnenflüchtlinge angesichts von Zwangsrekrutierungen und Gewalt an die mexikanische Grenze. Deren Rückschiebung war besonders dramatisch, da sie die an der Grenze operierenden Kartelle und deren Vernetzung gen Süden fürchten mussten. Auch die vor Gewalt, fehlender Gesundheitsversorgung und aufgrund von Armut aus Haiti fliehenden Menschen saßen durch den Title 42 in den mexikanischen Grenzstädten fest, die in diesen Jahren als die gefährlichsten Städte der Welt galten.

Während die mexikanische Regierung die Rückschiebungen aus den USA unter dem Title 42 hinnahm, gab es für die Grenzstädte keine entsprechende finanzielle und logistische Unterstützung, um diese Herausforderung zu meistern. In Ciudad Juárez verhinderte in dieser Zeit nur ein Netzwerk aus katholischen und evangelikalen Herbergen und ein erfolgreicher Dialog mit Unternehmern und allen drei Regierungsebenen eine humanitäre Krise. Aus der Zivilgesellschaft kamen auch die Initiative zur Schaffung einer Erstanlaufstelle („Catedral”) und einer Quarantänestation („Hotel Filtro”) für an der Grenze ankommende Geflüchtete und aus den USA Zurückgeschobene, um mit einem Gesundheitszertifikat in einer der hermetisch abgeriegelten Herbergen aufgenommen zu werden. Immer mehr Menschen fanden sich so in den letzten Jahren völlig mittellos und ohne Unterstützung in der Grenzmetropole Juárez ein und hofften auf eine kurzfristige Änderung der Gesetzeslage. Denn der seit 2021 regierende US-Präsident Joe Biden versuchte mehrfach, den von seinem Vorgänger Trump eingesetzten Title 42 zurückzunehmen. Doch er wurde das gesamte Jahr 2022 über durch die Urteile von den Republikanern wohlgesinnten Bundesrichtern gestoppt.

Digitale Zitterpartie: Asylverfahren via Smartphone

Erst im April bestätigte Biden schließlich das Ende des Title 42 für den 11. Mai dieses Jahres; zugleich kündigte er aber auch die vollständige Digitalisierung des Asylverfahrens an, eine umfangreiche Wiederaufnahme von Abschiebungen und eine Bestrafung der illegalen Einreise. Entgegen seinem Wahlkampfversprechen führt er damit die Abschottungspolitik seines Vorgängers Trump de facto fort. Mit der Entscheidung begann ein Run auf die Grenzstädte; alle, die sich auf Reisen durch den Kontinent gen Norden befanden, versuchten, vor diesem Datum an die Grenze zu gelangen. Entsprechend stieg die Zahl der in Herbergen, Ruinen sowie in einem Zeltlager vor dem Abschiebegefängnis lebenden Menschen in Ciudad Juárez sprunghaft von geschätzten 12 000 auf mindestens 35 000 Personen an.

Die Stimmung unter den Geflüchteten wandelte sich vom Warten auf das Ende des Title 42 in Panik vor dem, was danach kommen konnte. So lieferten sich bis zum letzten Tag Tausende der US-Border-Patrol aus, die die Menschen nach langen Wartezeiten in der Wüstensonne tatsächlich einließen. Die Betroffenen hofften, unter Ausnahmeregelungen zu fallen und im Zweifelsfall jeweils nur nach Mexiko anstatt bis in ihr Herkunftsland ausgewiesen zu werden, was all ihre Strapazen, Risiken, Verluste und Investitionen in Schlepper auf einen Schlag zunichte gemacht hätte.

Seit dem 11. Mai gilt nun für die Migrant:innen der Title 8, sprich: Wer es nicht schafft, vor Antritt seiner Reise über eine mobile App namens CBP One einen Asylantrag zu stellen, wird aus den USA sofort wieder in sein Herkunftsland abgeschoben – ohne Prüfung des Rechts auf Asyl. Lediglich Geflüchtete aus Kuba, Venezuela und Nicaragua werden wie gehabt nach Mexiko zurückgeschoben, da die USA zu diesen Ländern weiterhin keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Das Gleiche gilt für Haiti, das die USA als Failed State definieren. Täglich können nun etwa 3000 Menschen entlang der Grenze ein erstes Interview führen. Wer aber nicht mit der App einreist, sondern illegal die Grenze übertritt und sich dann ausliefert oder aufgegriffen wird, ist für ein Asylverfahren fortan disqualifiziert.

Die App CBP One hatte die Biden-Regierung indes bereits im Januar – offenbar in einer Testphase – gestartet und damit viele zumeist mittellose Migrant:innen einer extrem prekären Situation ausgeliefert. Ein geladenes Smartphone, seine Bedienung mit gekauften mobilen Daten und das Verständnis der spanischen Sprache in Wort und Schrift wurden damit zur Voraussetzung für einen Asylantrag und die einzige Chance, auf legalem Weg in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Doch in den ersten Monaten des Jahres war die App zumeist völlig überlastet und nur wenige Minuten am Tag nicht blockiert. Hinzu kam, dass die Seiten der App fehlerhaft ins Spanische übersetzt und viele Formulierungen uneindeutig waren. Für viele Migrant:innen begann eine digitale Zitterpartie mit wenig Aussicht auf Erfolg. Überall in Ciudad Juárez sah man nun Geflüchtete, die sich mit ihrem Mobiltelefon an Internet-Hotspots oder Ladestationen aufhielten. Für alle, die auf die App hofften, war es unmöglich, eine Arbeit im informellen Sektor zu suchen, da sie den ganzen Tag online sein mussten.

Speziell für Geflüchtete aus Venezuela, die sich angesichts von Armut und Chancenlosigkeit in ihrem Heimatland auf die gefährliche Reise durch die Landenge des Darién zwischen Kolumbien und Panamá an die Südgrenze der USA aufgemacht hatten und die sich seit Ende vergangenen Jahres vermehrt in der Stadt sammelten, war dies besonders schwer. Als relativ neue Migrationsbewegung konnte diese Gruppe im Vergleich zu mittelamerikanischen oder kubanischen Migrant:innen zum einen nicht auf die finanzielle Unterstützung von in den USA etablierten Familienangehörigen zählen. Zum anderen nahm die augenscheinlich klassizistische Ablehnung in der Bevölkerung von Menschen aus Venezuela, die an den Verkehrskreuzungen der mehrspurigen Boulevards Windschutzscheiben putzten und Geld erbaten, deren Haut auf den Fußmärschen durch den Darién, von Zugfahrten durch Mexiko und durch das Campen am Grenzfluss verbrannt, deren Körper vom Hunger ausgemergelt und die Kleidung auf der Reise abgenutzt worden war, in den ersten Monaten des Jahres immer weiter zu. Und das obwohl sich die 1,5 Millionen Einwohner:innen zählende Industriemetropole durch den ständigen Zuzug von Menschen zur Arbeit in den Weltmarktfabriken an der US-Grenze gebildet hatte und man eigentlich Hilfsbereitschaft erwarten müsste. Doch während die mehrheitlich selbst migrantischen Familien ab 2019 die mittelamerikanischen und karibischen Communities ohne große Vorbehalte aufgenommen hatten, wuchs nun auf einmal die rassistische Ablehnung der Menschen aus Venezuela. Ihre Abhängigkeit von der App CBP One wurde gegen sie ausgelegt; sie hätten keine Lust zu arbeiten, säßen die ganze Zeit nur am Handy und gingen dann betteln, hieß es vielerorts.

Quelle        :         Blätter-online             >>>>>           weiterlesen

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Oben        —       A Mexican family enjoys the beach at Border Field State Park on the US side. It is very easy to slip through the fence at will due to the last sections having been poorly constructed.

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Das Böse im Menschen

Erstellt von Redaktion am 26. Juli 2023

Ukraine: Umstrittene Lieferung von Streubomben

File:US Air Force (USAF) SENIOR AIRMAN (SRA) Eric Ziegler, 18th Munitions Squadron (MUNS), Kadena Air Base (AB), Japan and SRA David Senter, 412th Maintenance Squadron (MXS), Edwards Air - DPLA - f4b3cd9cef4646e6b9791e03e00890e0.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :      Klaus Hecker

Zunächst: Unsere Streubomben z.B. sind gut, richtig und vor allem notwendig. Die böse Streubombe ist gar nicht so böse – jedenfalls nicht immer.

Die Ächtungsresolution von über 100 Staaten, auch Deutschland, gegenüber Streubomben, ächtet ausdrücklich Streubomben und genauso ausdrücklich ächtet sie offenbar nicht „unsere Streubomben“. Und darauf kommt es schliesslich an. So wird das jedenfalls von der Politik kommuniziert, angesichts geplanter amerikanischer Lieferungen von Streubomben an die Ukraine.

Mal die Unlogik logisch verfolgt. In der Wertehierarchie kommt zuerst „uns“ und dann die „Streubombe“. Da wir fraglos die Guten sind, steht sie uns den Guten genauso fraglos auch zu. Und umgekehrt. Den Anderen, das sind die Bösen, natürlich nicht. Eine Waffe fürchterlichen Wirkungsgrades auch und besonders mit Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung scheint unterschiedlich betrachtet werden zu dürfen

Nochmal grundsätzlich: Grundsätzlich ist alles, was wir machen gut, weil wir die Guten sind. Auch das Böse ist nicht mehr böse, sondern gut, wenn wir es machen. Bei den Bösen hingegen beweist das Böse, wie z.B. bei den Streubomben, dass die Bösen unterwegs sind und auch böse handeln, was wiederum ja beweist, dass sie abgrundtief böse sind.

Ob man jetzt Bundespräsident Steinmeier oder Ex-General Domröse herbeizitiert, sie alle arbeiten sich derzeit an obiger Ableitung ab. Zielvorgabe: Die Legitimation der Streubombe.

Offensichtlich gibt es da noch Abschleifungen in der bürgerlichen Öffentlichkeit, die bei solchen besonderen Schrecknissen, wie es die Streubomben sind, immer noch nicht kapiert haben, dass wir die fraglosen Guten sind und uns deshalb auch keine Grenzen gesetzt sind – wie den Bösen. Diese Logik gab es im Prinzip ja auch schon immer.

Allerdings hat die Partei der Grünen genau dieses zu ihrer Identität und zum Kerngeschäft gemacht: Wenn wir dabei sind, ist alles gut, auch das, was vorher als nicht gut betrachtet wurde. Insofern sind sie, was die verschärfte Ausbeutung im Innern aber vor allem nach aussen angeht, die Makler und Lobbyisten des deutschen weltweiten Kapitalismus. Desgleichen auch des wiederaufstrebenden deutschen militärischen Engagements in der Welt.

Putin hat die europäische Friedensordnung zerstört, die früher so schön existierte.

Das war allerdings zuerst nicht Putin, sondern die Deutschen mit ihrem Balkankrieg. Aber das kürzt sich raus. Wir haben die Friedensordnung ja nicht zerstört, sondern gerettet, so die grüne Logik.

Feministische Aussenpolitik heisst übersetzt: Die Hardcore-Variante deutscher Aussenpolitik gegenüber Russland und China – unwidersprechlich, weil feministisch.

Und nun eben die Streubombe: Wir können die Amerikaner doch jetzt nicht alleine lassen. Ausserdem droht ein Munitionsengpass, Streubomben aber sind vorhanden. Die Unsrigen streuen auch gar nicht so wie die Russischen. Schliesslich muss Putin aufgehalten werden, egal wie, der versklavt sonst die ganze Welt – so der Tenor der Experten wie Steinmeier, General Domröse und andere.

Das gilt auch und trotz folgender Eigenschaften dieser Bomben:

„Streumunition steht insbesondere durch den hohen Anteil nicht zur Wirkung gelangter explosiver Submunitionen (mitunter 10 bis 30 Prozent) in der Kritik. Diese nicht umgesetzten Kampfmittel gefährden nach einem Konflikt insbesondere die Zivilbevölkerung und wirken wie Landminen.“ (1)

„In der Ukraine bestehe „eine besondere Konstellation“, da „die Ukraine eine solche Munition zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung einsetzt“, erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. (2)

Jetzt schützt angeblich auch noch die Streubombe die eigene Bevölkerung. Das Gegenteil ist bekanntermassen der Fall und war seinerzeit der Anlass für die Ächtungsresolution. Hier kann man sehen, wie die ukrainische Bevölkerung unter Zustimmung des deutschen Regierungssprechers droht, verheizt zu werden.

Zusammengefasst: Es gibt keinen höheren Richter. Derjenige, der die Massstäbe in die Welt setzt, erklärt sich zugleich zum Herren über die Massstäbe. Und das zählt. Der Herr ist der Herr und nicht der Diener oder Untergebene der aufgesetzten Massstäbe. Diese dienen allein und nur ihm. Und wie immer, wer sind die Leidtragenden. Die Bevölkerung – auch die eigene:

„Nicht explodierte Sprengkörper aus Streubomben, die die USA vor Jahrzehnten in Vietnam, Laos und Kambodscha und später im Irakkrieg eingesetzt hatten, fordern nach wie vor jährlich Hunderte Todes- und Verstümmelungsopfer unter der Zivilbevölkerung der betroffenen Länder. Humanitäre Hilfsorganisationen rechnen mit bis zu weiteren 50 Jahren bis zur vollständigen Räumung dieser Munition.“ (3)

Fussnoten:

Wikipedia, Streumunition

Streubombenlieferungen an die Ukraine. Zu viel Verständnis in Berlin. TAZ online, 9.7.2023

3 ebd.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —    Von Biden freigegeben: Streumunition, hier vom Typ CBU-87, verladen von US-Militärs auf der Edwards Air Force Base in Kalifornien 2003. Foto: Eric Ziegler (PD)

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 26. Juli 2023

In Berlin hat das Sommerloch Zähne

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Durch die Woche mit Nina Apin

In der Hauptstadt trägt man immer etwas dicker auf: Aus Freibadschlägereien wird eine nationale Debatte und aus einer Wildsau schnell eine Raubkatze.

Warum wir in Berlin immer so übertreiben müssten, fragte mich eine Freundin aus Süddeutschland per Mail. Sie schickte ein augenrollendes Emoji hinterher, dazu einen Artikel über die Gewalt in Berliner Freibädern mit dem sehr dick aufgetragenen Titel: „Der Sozialstaat wird am Sprungturm verteidigt!“ Sie hat recht.

In Berlin gibt es nicht einfach halbstarke Idioten, die sich an der Rutsche schlagen, andere Badende belästigen und Bademeister angreifen (wobei ich jetzt nicht sagen will, dass diese Gewalt kein Problem darstellt) – nein, es gibt „die Freibaddebatte“. Genau wie es ein paar Monate zuvor „die Silvesterdebatte“ gab. Und weil es schließlich um die Hauptstadt geht, die für den Rest der Republik eine prima Projektionsfläche bietet, diskutiert das ganze Land munter mit. Toxische Männlichkeit! Inte­gra­tions­probleme! Warum gibt es so was nicht in Hamburg beziehungsweise „in meiner Kindheit“?

Flugs bildeten sich dieselben Reiz-Reaktions-Muster wie immer: Erst hauen Politiker schlecht durchdachte Law-and-Order-Vorschläge raus. Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte eine Aburteilung von Tätern noch am selben Tag. Auch am Wochenende! Der Deutsche Richterbund konterte ebenso vorhersehbar: sehr witzig – und mit welchem Personal? SPD und Grüne warfen dem Konservativen überraschenderweise Populismus vor.

Mich macht das alles müde. Das Geraune über Berlins „massive“ Integrationsprobleme. Die erstaunlich autoritären Vorschläge auch aus linken Kreisen, wonach man etwa alle männlichen Wesen ab 13 aus den Freibädern aussperren sollte. Oder die Idee, mit genügend So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen am Beckenrand würden die Probleme verschwinden. Noch müder machen die wenigen Zahlen zur Debatte: Der Berliner Senat antwortete auf eine besorge Parlamentarische Anfrage der AfD, dass es im Vor-Corona-Jahr 2019 in den rund zwei Dutzend Berliner Freibädern 71 registrierte Gewaltdelikte gab, 2022 waren es 57. Ein Rückgang also? Zzz.

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Pardon, ich bin kurz eingenickt. Einer amtsärztlichen Empfehlung folgend, habe ich zur Entspannung ein kleines Hitze-Nickerchen gemacht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund empfiehlt das auch während der Arbeitszeit. Dazu ein kühles Getränk und „gelockerte Kleiderordnung“ – Freibadgefühl während der Arbeit sozusagen. Herrlich! Füße in der Wasserschüssel, Wassermelönchen in Griffweite, die Mittagspause großzügig verlängert …

Wuchernde Siesta-Fantasien

Natürlich ist der Verband der Familienunternehmer gegen so viel Schlendrian. Wir sind ja hier nicht in Mexiko, sondern im Mutterland der eifrigen Produk­tivitäts­impe­rative: Vorsprung durch Technik! Freude am Fahren! Auf diese Steine können Sie bauen! Offenbar hat man in der deutschen Wirtschaft Angst, das Image des effizienten Standorts zu schädigen. Die Vorsitzende des Familienunternehmerverbands, Marie-Christine Ostermann, bremste die in der Sommerhitze wuchernden Siesta-Fantasien jedenfalls ganz humorlos mit dem Appell aus, im Sommer doch einfach früher mit dem Arbeiten zu beginnen: „Früher Vogel fängt den kühlsten Wurm“, riet die im Lebensmittelgroßhandel tätige Westfälin auf Spiegel Online.

Quelle          :         TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Schweden und die NATO

Erstellt von Redaktion am 25. Juli 2023

Ist Schwedens Demokratie der NATO zum Opfer gefallen?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von         :       Amalia van Gent /   

Der türkische Präsident Erdoğan knüpft Schwedens NATO-Beitritt an zahlreiche Forderungen. Schweden muss sie befolgen.

Yavuz Baydar, einer der renommiertesten türkischen Journalisten, wundert sich über die Resultate des NATO-Gipfels im litauischen Vilnius: «Bis vor einem Jahrzehnt setzten europäische Demokratien wie Schweden Massstäbe, die der Türkei halfen, sich zu einer liberalen Gesellschaft zu entwickeln», schreibt er in seinem Portal Turkish Free Press. Jetzt sei aber das genaue Gegenteil der Fall: «Nach einem albtraumhaften Jahrzehnt (in der Türkei) hat die NATO als Gesprächspartner einen knallharten Autokraten und ein krisengeschütteltes Land, das als unzuverlässiger Verbündeter agiert. Und nun ist es die Türkei von Erdoğan, die einer der ältesten Demokratien der Welt (wie Schweden) ihre Bedingungen aufzwingt und diktiert – und diese beugt und verbeugt sich. Dies ist zweifellos die grosse Ironie der Geschichte».

Wie konnte es nur so weit kommen?, fragen sich mit Yavuz Baydar nicht nur die linken und liberalen Türken. Was wurde beim NATO-Gipfel in Vilnius genau vereinbart?

Die westliche Auslegung

Schenkt man den Erklärungen des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg Glauben, so konnte Mitte Juli in Vilnius eine drohende Katastrophe buchstäblich im allerletzten Moment abgewendet werden, auch dank dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der plötzlich eine radikale Wende seiner Politik vollzogen und Schweden das langersehnte Ja zum NATO-Beitritt erteilt habe.

Ein ganzes Jahr lang spielte der Machthaber in Ankara mit Stockholms Hoffnungen ein demütigendes Katz-und-Maus-Spiel: Im Laufe von monatelangen bilateralen Verhandlungen beschuldigte er Schweden unablässig, allzu «lasch mit Terrorismus» umzugehen und forderte die Umsetzung strengerer Terrorgesetze für Schweden. Stockholm lenkte ein – wenn auch zähneknirschend. Dann verlangte er die Auslieferung erst von 7, dann von 103 vermeintlichen «Terroristen», was die Gerichtshöfe des skandinavischen Staates meist als verfassungswidrig zurückwiesen. Kurz vor seinem Eintreffen in Vilnius verknüpfte Erdoğan schliesslich sein Ja zum NATO-Beitritt Schwedens mit einer EU-Perspektive für sein Land. Und weil diese letzte Forderung sich als so absurd unerfüllbar anhörte, sahen Presse und Diplomatie bereits das verhängnisvolle Scheitern des Vilnius-Gipfels voraus.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich erleichtert. Ihm sei es gelungen, faktisch «5 Minuten vor 12» bei einem Dreiertreffen zwischen dem türkischen Präsidenten, dem schwedischen Regierungschef Kristersson und ihm als Vermittler Erdoğan umzustimmen, sagte er freudig der Presse. Erdoğan wolle das Beitrittsprotokoll Schwedens so bald wie möglich dem türkischen Parlament zur Ratifizierung vorlegen. Im Artikel 4 eines mit 25 Seiten umfassenden, erstaunlich langen «Summit Communiqués» steht: «Wir freuen uns darauf, Schweden als vollwertiges Mitglied des Bündnisses willkommen zu heissen und begrüssen in diesem Zusammenhang die erzielte Vereinbarung des Dreiertreffens.»

Handelt es sich um ein Geschenk für Jens Stoltenberg persönlich? Der oberste Chef des westlichen Militärbündnisses rühmt sich schliesslich seit langem, ein «guter Freund» des türkischen Präsidenten zu sein. Oder wurde Erdoğan zu einem Rückzieher gezwungen, weil Vilnius diesem «unberechenbaren Partner» keine andere Wahl liess, wie das Fazit fast der gesamten westlichen Presse und Diplomatie lautete?

Die türkische Auslegung

Wenige Tage nach Vilnius spricht allerdings vieles gegen den vom Westen herbeigewünschten «Schwenk» Erdoğans. Kaum zurück in Ankara, machte der türkische Präsident öffentlich kund, was ihm in Vilnius von besonderer Bedeutung war: Demnach sollten Mitgliedstaaten der NATO fortan ihre Einschränkungen für den Waffenhandel mit der Türkei aufheben. Schweden müsste ferner in Bezug auf die Terrorismusbekämpfung «im Rahmen eines neuen NATO-Sonderkoordinators» viel enger mit Ankara zusammenarbeiten. Schliesslich sollte die EU ihre Zollunion mit der Türkei aktualisieren und eine Visa-Liberalisierung für türkische Bürger ermöglichen.

Vieles spricht nun dafür, dass die NATO den Vorgaben Erdoğans Folge leistet. Gleich nach Vilnius hat Kanada als erster Bündnispartner Verhandlungen mit Ankara angekündigt, um «die Exportkontrollen für Waffenverkäufe an die Türkei wieder aufzuheben». Kanada hatte 2020 den Verkauf sensibler, kanadischer Linsen für die türkische Drohne Bayraktar eingestellt. Damit protestierte es gegen den massiven Einsatz der Bayraktar- Drohnen im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Diese Drohnen hatten gerade die einzige Geburtsklinik der von Armeniern besiedelten Region Bergkarabach sowie den Gemüsemarkt im Zentrum der Hauptstadt Stepanakert getroffen.

Erdogans «Diplomatie und Führungsstärke»

Vom tiefen Wunsch nach einem NATO-Beitritt getrieben, hatte Schweden bereits am NATO-Gipfel von Madrid vor einem Jahr akzeptiert, ein 2018 gegen die Türkei verhängtes Waffenembargo wieder aufzuheben. 2018 fühlten sich westliche Staaten wie Schweden noch zum Schutz der kurdischen Minderheit im Nordsyrien verpflichtet. Seit 2015 kämpften die jungen, bewaffneten Männer und Frauen der kurdischen Peshmerga (YPG) auf Seiten der USA und anderer europäischer Staaten gegen die Dschihadisten des IS, während ihr politischer Arm (PYD) in der tief patriarchalischen Gesellschaft Nordsyriens Reformen, wie demokratische Institutionen, Frauenquoten und eine Gleichstellung für ethnische Minderheiten anstrebte. 2018 marschierten türkische Truppen zum ersten Mal völkerrechtswidrig in die von Kurden kontrollierte Provinz Afrin im Nordwesten Syriens ein und trieben rund 300’000 Menschen in die Flucht. Stockholm hatte 2018 mit seinem Waffenembargo auf diesen offensichtlichen Völkerrechtsbruch der Türkei reagiert.

«Wie sich die Dinge geändert haben», stellt Yavuz Baydar in seinem Bericht fest. Schweden hebt sein Embargo auf, obwohl türkische Truppen mittlerweile grosse Teile ihres Nachbarlandes besetzt halten. Der amerikanische Präsident Joe Biden sichert nach einem langen Gespräch mit Erdoğan in Vilnius zu, den im US-Kongress noch heftig umstrittenen Verkauf von F-16-Kampfbombern an die Türkei zu beschleunigen, und bedankt sich bei seinem türkischen Gesprächspartner für seine «Diplomatie, seinen Mut und seine Führungsstärke». Dabei hat derselbe Biden noch vor kurzem ein Treffen mit dem «Autokraten Erdoğan» nach Möglichkeit gemieden.

Der Teufel steckt im Detail

Der Teufel steckt im Detail, kommentiert der amerikanische Menschenrechtsexperte Michael Rubin das trilaterale Abkommen in Vilnius. Laut Rubin hat die Türkei Schweden eine lange To-do-Liste vorgelegt, der Stockholm nun gemäss einem genauen Fahrplan folgen müsse. Dazu gehört auch, die syrischen Kurden (YPG/PYD) und die Anhänger der islamistischen «Fethullah Gülen Bewegung» (FETÖ) fortan in Schweden als «terroristische Organisationen» einzustufen und zu verfolgen. «Auf Stoltenbergs Drängen hin ist (der schwedische Premier) Kristersson nun bereit, die schwedische Demokratie über den Haufen zu werfen. Er verwandelt Schweden von einem Zufluchtsort für Dissidenten in ein Jagdrevier», so Rubin.

Das 25 Seiten lange «Summit Communiqué» von Vilnius fängt mit dem Satz an: «Wir, die Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses, die wir durch gemeinsame Werte wie individuelle Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbunden sind…». In den Ohren der syrischen Kurden, die im Kampf gegen die Dschihadisten über 30`000 Tote beklagen und sich plötzlich als «terroristisch» eingestuft sehen, hört sich die Phrase allerdings wie ein Hohn an. Gleich nach dem NATO-Gipfel in Vilnius meldete die politische Führung der syrischen Kurden, Schweden habe jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen.

Als Hohn oder zumindest als besonders selektive Wahrnehmung von Menschenrechten empfinden auch die Anhänger der FETÖ-Bewegung diesen Anspruch des NATO-Gipfels. Zur Erinnerung: Ab 2002 teilten Erdoğan und Fethullah Gülen über ein Jahrzehnt als enge Alliierte die Macht über die Bewegung des politischen Islams in der Türkei. Doch 2013 kam es zum Bruch, und die Bewegung spaltete sich in zwei Flügel, die sich gegenseitig unerbittlich bekämpften. Spätestens nach dem unaufgeklärten Putschversuch 2016 nahm die Verfolgung der FETÖ-Anhänger in der Türkei die Züge einer Hexenjagd an: Erdoğan prangerte Fethullah Gülen als Urheber des Putsches an und liess Abertausende Offiziere, Richter, höhere und niedrigere Staatsbeamten, Lehrer und Unternehmer festnehmen und deren Besitz beschlagnahmen. Wer fliehen konnte, ging ins Exil. Schweden, das als eine der ältesten Demokratien galt, war Kurden und türkischen Dissidenten aller Couleurs dabei bevorzugter Zufluchtsort.

Noch nicht unter Fach und Dach

Der Beitritt Schwedens ist noch nicht unter Dach und Fach, solange das türkische Parlament die Beitrittsgesetze nicht ratifiziert hat. Erdoğan hat zwar angedeutet, den schwedischen Antrag dem türkischen Parlament nach Ende der Sommerpause im Oktober vorzulegen. Das bedeutet theoretisch, dass der türkische Präsident genug Zeit hätte, um seinem Manier getreu den Einsatz nochmals zu erhöhen.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Russia’s war on Ukraine was aimed at dismantling the post-war European security architecture that has underpinned Transatlantic peace and security. Putin expected his war would divide NATO, but his actions have done the opposite. 🔹 NATO is stronger and more united than ever. 🔹 There are now more U.S. forces in Europe and more forces under NATO command. 🔹 Finland has joined the Alliance, and we look forward to welcoming Sweden as our 32nd Ally. At the #NATOSummit, we took steps to leave no doubt that we will uphold our commitment to defend every inch of NATO territory. #WeAreNATO

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Trotz Millionenbudget:

Erstellt von Redaktion am 25. Juli 2023

EU-Rat scheitert an sicheren Videokonferenzen

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Ist Politik der Ort an dem  leere Köpfe besser schweigen ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von              :         

Nach Ausbruch der Coronapandemie beschlossen die EU-Staaten, ein Videokonferenzsystem für Top-Secret-Treffen anzuschaffen. Doch auch ein Jahr nach dem geplanten Start lässt das System weiter auf sich warten. Zu den Gründen schweigt der Rat.

Es stecken bereits mehrere Jahre Arbeit und ein Millionenbudget drin – und dennoch scheitert der Rat der EU-Staaten bislang an dem Versuch, ein sicheres System für Videokonferenzen einzurichten. Das neue System sollte für Besprechungen dienen, deren Inhalte den Sicherheitsstufen „Secret“ und „Top Secret“ unterliegen. Doch das System ist weiterhin nicht einsatzfähig. Das geht aus einem Dokument hervor, das der Rat infolge einer Informationsfreiheitsanfrage von netzpolitik.org unter teilweisen Schwärzungen veröffentlichte.

Die Einrichtung eines sicheren Videokonferenzsystems beschlossen die EU-Staaten im September 2020, nur wenige Monate, nachdem die Coronapandemie ausgebrochen war. Ein vertraulicher EU-Bericht hatte damals „dringende Verbesserungen“ bei der Kommunikationsinfrastruktur gefordert.

In der ersten Pandemiewelle waren physische Treffen zumeist nicht möglich. Die EU-Diplomaten griffen daraufhin vielfach auf kommerzielle Anbieter wie Zoom oder WhatsApp zurück. Diese waren mitunter nur ungenügend abgesichert. Besonders peinlich war ein Vorfall im Winter 2020, als ein niederländischer Journalist uneingeladen in ein Treffen der EU-Verteidigungsminister platzte.

Für Besprechungen auf der höchsten Sicherheitsstufe reiche die vorhandene Infrastruktur des Rates nicht aus, hieß es in einem Schreiben des Rates an die Mitgliedstaaten vom Januar 2021. Zwar könne EU-Ratspräsident Charles Michel mit US-Präsident Joe Biden Videotelefonate auf dem Sicherheitslevel „Secret“ führen. Mit den eigenen Staats- und Regierungschefs in Europa sei dies jedoch nicht möglich.

Der Rat gab daraufhin grünes Licht für ein Budget von 2,4 Millionen Euro, um ein sicheres Videokonferenzsystem einzurichten. Weitere 400.000 Euro im Jahr sollte der laufende Betrieb kosten.

Inbetriebnahme war vor einem Jahr geplant

Die Planung sah eine Einrichtungsphase von 18 Monaten vor; der Start sollte im Sommer 2022 sein, ist bislang aber nicht erfolgt. Ob es überhaupt noch dazu kommt, ist aktuell unklar. Auch eine von uns befragte EU-Beamtin, die sich nicht namentlich zitieren lassen wollte, kann keine Angaben dazu machen, wann das System einsatzfähig sein wird: „Der Zeitplan für das Projekt hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die derzeit in den Vorbereitungsgremien des Rates erörtert werden.“

Offiziell will sich der Rat nicht zu dem System äußern. Unsere Fragen lässt die Presseabteilung unbeantwortet. Wir wollten unter anderem wissen, wie viel das Projekt bislang tatsächlich gekostet hat, welche Firmen beauftragt wurden und woran es bei der Umsetzung hakt.

Aufschluss darüber geben könnte die vollständige Version des eingangs erwähnten Dokuments. Darin heißt es unter dem Punkt „Planungsupdate und Budget“, das Sekretariat des Rates bemühe sich um „das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Mitgliedstaaten der EU“ – also die ordnungsgemäße Verwendung von Steuergeld. Warum das Projekt bislang nicht klappt und ob es dabei eventuell zu Planungsfehlern kam, geht aus der geschwärzten Fassung nicht hervor. Die ungeschwärzte Fassung hält der Rat unter Verschluss – und beruft sich dabei auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —     TANDBERG T3 Telepresence high definition conference room; c. 2008.

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KOLUMNE STARKE GEFÜHLE

Erstellt von Redaktion am 25. Juli 2023

Sie müssen die Drecksarbeit machen

KOLUMNE VON  – CHRISTIAN JAKOB

Die EU und Tunesien haben sich auf eine „strategische Partnerschaft“ geeinigt. Mit europäischem Geld werden flüchtende Menschen in die Wüste geschickt.

Mehr als tausend Menschen wurden in den vergangenen Tagen von Tunesien in der Wüste abgesetzt – ohne Wasser und Versorgung, bei über 40 Grad Hitze. So berichten es NGOs aus der Region. Dies geschah just in jener Zeit, in der sich die Europäische Union und das nordafrikanische Land auf eine „strategische Partnerschaft“ bei der Migrationskontrolle geeinigt haben: Die EU zahlt, Tunesien hält die Flüchtlinge auf. Und weil das Land sie selbst auch nicht will, kommen sie eben in die Wüste.

Das Sterben dort unterscheidet sich aus europäischen Sicht von jenem im Mittelmeer vor allem dadurch, dass es hierzulande kaum bemerkt wird. Während eine Vielzahl NGOs und die UN die Vorgänge im Meer heute fast lückenlos dokumentieren, ist die unzugängliche Wüste, oft ohnehin Sperrgebiet, ein Niemandsland der Wahrnehmung. Was dort geschieht, ist – buchstäblich – die Drecksarbeit der europäischen Flüchtlingsabwehr.

Sie wird befeuert von der Angst vor der hierzulande erstarkenden Rechten. So aber materialisiert sich ihr Programm, schon bevor sie die Macht übernimmt: Was bei uns als Bruch zivilisatorischer Mindeststandards gilt, wird südlich des Mittelmeers vollzogen, um uns die Unerwünschten vom Hals zu halten.

Manchen reicht das nicht. Immer noch einen Schritt weiter, auf dass bloß keiner denkt, uns geht es noch nicht hart genug zu – nach diesem Motto verfährt dieser Tage die Union. „Aus dem Individualrecht auf Asyl muss eine Institutsgarantie werden“ – das forderte diese Woche der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Thorsten Frei. Eine Antragstellung auf europäischem Boden soll nicht länger möglich sein, der Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten gehörten „umfassend ausgeschlossen“.

Die Tore würden geschlossen bleiben

Frei begründete seinen Vorschlag damit, dass das derzeitige Asylrecht „nicht die Schwächsten“ schütze, sondern eine „zutiefst inhumane Auswahl“ treffe. Wer zu alt, zu schwach, zu arm oder zu krank ist, sei „chancenlos“: Er oder sie könne sich nicht auf den Weg durch die Wüsten Afrikas und über das Mittelmeer machen.

Das stimmt. Nur liegt es vor allem daran, dass die EU – und mit ihr die Bundesregierung – in den vergangenen Jahren alles dafür getan hat, dass es dort heute so gefährlich für Flüchtende ist.

Frei jedenfalls will an die Stelle des individuellen Asylrechts ein jährliches europäisches Kontingent von „300.000 oder 400.000“ Menschen auflegen. Mit dem sollen Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland aufgenommen und in der EU verteilt werden könnten. Seine Begründung dafür klingt rational, gar human. Das Argument ist seit Jahren immer wieder bemüht worden, um zu rechtfertigen, warum es den individuellen Rechtsanspruch nicht mehr geben soll. In etwas abgewandelter Form, mit Betonung auf den Gedanken nationaler Souveränität, ist dies auch in Osteuropa zu hören: Wir bestimmen, wen wir reinlassen. Also bestimmen wir auch, wem wir Schutz gewähren wollen.

Quelle      :          TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Demonstration against judicial reforms (Tel Aviv, 25 March 2023)

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Schuld ohne Sühne ?

Erstellt von Redaktion am 24. Juli 2023

Autoritäre Irrwege in der Friedensbewegung

Auch ihre Anführer und Aufwiegler gehören vor ein Gericht !

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :      Christoph Hammer

Wenn Kriegsgegner wie Kriegsbefürworter argumentieren. Die Logik kriegerischer Auseinandersetzungen scheint derart um sich zu greifen, dass selbst beträchtliche Teile der Friedensbewegung von ihr ergriffen sind.

Nicht nur fördern sie damit letztendlich, was sie eigentlich beseitigen wollen, sondern darüber hinaus reden sie damit einer autoritären Innenpolitik das Wort.Einerseits bin ich zwar froh darüber, dass es zumindest irgendeine Opposition in Österreich [1] gegen die zunehmende Militarisierung gibt, aber andererseits bin ich weniger froh darüber, mit welchen autoritären und letztendlich bellizistischen Argumenten in Aufrufen, Reden, Artikeln und Petitionen die Kritik an dieser Militarisierung formuliert wird. [2]

Einmal abgesehen von einem idealistischen Pazifismus sind in der Friedensbewegung nämlich vor allem geopolitische und souveränistische Argumentationen vorherrschend. Beide argumentieren damit, dass ein Krieg das Ergebnis einer ungerechten Ordnung über den Staaten sei, und treten dafür ein, dass sich der eigene Staat entweder gar nicht oder als Vermittler in einem Krieg beteiligen solle. (Positionen, dass der eigene Staat im Krieg die Seite wechseln sollte, wären zwar auch möglich, würden aber wohl zu weitestgehender Isolierung führen.) Daneben sind noch häufig völkerrechtliche Argumentationen zu finden, welche eine moralistische Form des Souveränismus darstellen, indem sie Ursache und Wirkung umkehren.

Dass geopolitische, souveränistische und völkerrechtliche Argumentationen genauso auch dafür benutzt werden können, Kriegshandlungen von Staaten zu legitimieren, sollte vielleicht schon zu Misstrauen gegenüber derartigen Argumentationen führen. Im Folgenden soll gezeigt werden, warum diese Ideologien letztendlich das reproduzieren, was sie vorgeben zu bekämpfen, und was vielleicht ein Ausweg aus den beschriebenen Problemen sein könnte.

Noch eine Anmerkung: Für alle, die glauben, es könne unter Umständen doch emanzipatorisch sein, die Kriegspolitik eines Staates zu unterstützen (ob durch die Forderung nach Sanktionen oder Waffenlieferungen, ob durch die persönliche Unterstützung einer Armee), gilt das im Folgenden Gesagte umso mehr.

Externalisierung als Herrschaftsinstrument

Zuerst einmal soll der innenpolitische Effekt von Souveränismus und Geopolitik betrachtet werden: Denn statt Innenpolitik als Folge von Aussenpolitik zu erklären, wie es Machthaber nicht nur kriegführender Staaten besonders gerne tun, soll einmal der umgekehrte Blick vorgenommen werden, gerade auf jede Ideologien, auf den ersten Blick als rein aussenpolitische Angelegenheiten wirken mögen.

Souveränismus und Geopolitik zeichnen sich nämlich dadurch aus, die Hauptursache gesellschaftlicher Probleme ausserhalb dieser Gesellschaft zu suchen. Und da die Hauptursache aussen gesehen wird, wird auch der Hauptfeind im Äusseren verortet, gegen den es dann auch gilt, im Inneren zusammenhalten und etwaige Klassenkämpfe im Inneren zurückzustellen. Aber es muss gar nicht einmal bei diesem Versuch der inneren Herrschaftsstabilierung bleiben: Denn je weiter aussen ein Feind ist, desto weniger befindet er sich in der eigenen Verfügungsgewalt, und so ist es naheliegend, einmal die ‚Äusseren im Inneren‘ quer zu Klasseninteressen als absolute Feinde zu bekämpfen und ihre Interessen nicht einfach nur für andersgeartet, sondern für illegitim zu erklären.

Derartige Vorstellungen finden sich nicht nur auf Seiten von Regierungen, die damit versuchen, Oppositionelle zu delegitimieren, sondern auch auf Seiten der Opposition, wenn zum Beispiel die Regierung als von ausländischen Mächten gesteuert beschrieben wird. Unabhängig davon, inwiefern das jetzt im Einzelfall stimmen mag oder nicht, stellt sich die Frage, was das für einen Mehrwert bringen soll beziehungsweise wem das einen Mehrwert bringt: Denn einerseits wird hier das Paradigma von Innen und Aussen eingeübt, welches sich auch gut für den Klassenkampf von oben eignet, und andererseits liefert es sogar der Regierung eine Möglichkeit, sich aus der Verantwortung zu nehmen, indem sie ihr eigenes Handeln zum Ergebnis äusserer Zwänge einer nicht greifbaren Macht erklärt, sehr ähnlich zur bekannten Argumentation, man wolle eigentlich keinen Krieg und dieser sei nur vom Feind aufgezwungen.

Einmal abgesehen davon, dass es für die Wirkung von Unterdrückung keinen Unterschied macht, ob eine Regierung ihr Volk aus aussenpolitischer Motivation unterdrückt oder nicht, stellt eine derartige Argumentation die Frage in den Mittelpunkt, wer über andere herrschen sollte, und setzt damit die Prämisse voraus, dass jemand über andere herrschen sollte.

Ähnlichkeit und Widersprüche von Geopolitik und Souveränismus

Sowohl Souveränismus als auch Geopolitik sind zu einem gewissen Mass zentralistisch, der Unterschied besteht vor allem in der Anzahl der als relevant erachteten Zentren. Und so föderalistisch organisiert ein Staat oder ein Grossraum auch sein mag, letztendlich liegt das entscheidende Interesse in den als zentral erachteten Gebieten, während die Peripherie diesen Gebieten untergeordnet wird.

Insofern kann Geopolitik auch als eine Form von Souveränismus angesehen werden, deren Subjekte nicht einzelne Völker sind, sondern real existierende oder angestrebte Grossreiche beziehungsweise deren zentrale Staaten. Dies zeigt auch, dass Geopolitik und nationaler Souveränismus in konkreten Fällen zwar in Einklang sein mögen, letztendlich aber durch ihre unterschiedlichen Vorstellungen relevanter Subjekte im Widerspruch zueinander stehen.

Insbesondere bei Geopolitik kommt noch dazu, welche Position da überhaupt eingenommen wird, nämlich die eines Strategen, der vielleicht sogar ganze Staatenverbünde steuert. Bei der überwiegenden Mehrzahl an geopolitisch argumentierenden Menschen entspricht das einer Vorstellung, die mit deren Wirklichkeit nun wenig bis nichts zu tun hat, einmal abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob derartige Positionen überhaupt wünschenswert sind. Die Unmöglichkeit eines abstrakten Souveränismus

Einzelne Staaten stehen natürlicherweise nicht in einem harmonischen Verhältnis, sondern in Konkurrenz zueinander, denn jeder Anspruch an Souveränität wird dadurch in Frage gestellt, dass es konkurrierende Ansprüche auf Souveränität gibt.

Es mag zwar sein, dass sich ein Staat mit all seinen benachbarten Staaten einig über den eigenen Grenzverlauf ist, aber grundsätzlich stellt die Existenz anderer Staaten einmal eine Bedrohung für das eigene Staatsgebiet dar. [3] Jeder Frieden zwischen Staaten ist in Wirklichkeit nur ein Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit, bis einer oder mehrere dieser Staaten zum Schluss kommen, dass das eigene Staats- oder Einflussgebiet doch vielleicht grösser sein sollte als bisher vereinbart. Deswegen kann es durchaus rationales Handeln sein, wenn sich ein Staat von einem anderen Staat in seiner Sicherheit derart bedroht sieht, dass er dieses Problem präventiv im fremden Staatsgebiet zu lösen versucht.

Abstrakter Souveränismus ist die eingebildete Ausgangslage der Staaten, die bisher noch nie existiert hat und auch nie existieren wird. In der Praxis bedeutet Souveränismus also, Partei ergreifen zu müssen für den einen oder anderen Anspruch auf Souveränität.

Das Chaos der ‚internationalen Ordnung‘

Dazu kommt noch, dass es gar nicht einmal klar ist, wem überhaupt zuerkannt wird, Subjekt in einer souveränistischen Ordnung sein zu dürfen. Abgesehen vom mehr oder weniger konsensual anerkannten Zerfall eines souveränen Subjekts in mehrere neue kommt es nämlich regelmässig zu bedeutenden, häufig mit Krieg verbundenen Streitigkeiten darüber, wer überhaupt souveränes Subjekt ist beziehungsweise über welches Gebiet: So gibt es (die Beispiele sind nur eine Auswahl) uneindeutige Grenzverläufe (Kaschmir), einseitige Abspaltungen von souveränen Subjekten (Kosovo, Abchasien, Südossetien), einseitige Übertritte vom einen ins andere souveräne Subjekt (Krim), Alternativregierungen für das gleiche Territorium, die real nur über einen Teil davon regieren (Nord- und Südkorea), Exilregierungen (Tibet, Westsahara) oder Regierungen, die gar nicht einmal klar in diese Kategorien passen (Republik China/Taiwan, Palästina und/oder Israel).

Es ist also ersichtlich: Die internationale Realität ist eine Unordnung, entstanden genau aus dem Versuch, eine internationale Ordnung herzustellen bei gleichzeitiger Uneinigkeit, wie diese internationale Ordnung auszusehen habe. Und warum soll es jemals abgeschlossen sein, dass neue Gruppen auf die Idee kommen, sich zum souveränen Subjekt in dieser Ordnung zu erklären?

Eine Aufspaltung eines souveränen Subjekts in mehrere neue führt auch dazu, neue Grenzen zu erschaffen auf Kosten all jener, die nicht auf die eine oder andere Seite der Grenze passen. Und selbst wenn es einen völligen und ewigen Konsens gäbe, wer ein souveränes Subjekt sei, selbst wenn es keine Grenzstreitigkeiten zwischen diesen Subjekten gäbe, selbst dann wäre die scheinbare Möglichkeit eines allgemeinen Souveränismus noch immer eine Parteinahme: Sie würde zwar nicht Partei ergreifen innerhalb der souveränistischen Ordnung, aber dafür umso mehr gegen jene, die ausserhalb dieser Ordnung stehen.

Was ist überhaupt Souveränität?

Neben der Frage, wer überhaupt als souveränes Subjekt anerkannt wird, besteht darüberhinaus das Problem, inwiefern ein Subjekt dann tatsächlich souverän ist, denn ein zwar allgemein als souverän anerkanntes Land kann in der Praxis ähnlich souverän sein wie ein zwar mit allen bürgerlichen Freiheiten ausgestatteter, aber mittelloser Mensch im Kapitalismus frei ist.

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Ein derartiges Problem ist den Staaten bekannt, weswegen sie versuchen, auch wirtschaftlich ihre Souveränität zu verteidigen. Da sich aber zumeist nicht alle benötigten Güter im eigenen Land befinden, müssen die Staaten dann aber abwägen, gegen wen sie überhaupt zuerst einmal ihre wirtschaftliche Souveränität verteidigen wollen. Sofern der Konsum aber nicht verändert wird, führt dies dazu, gleichzeitig die Souveränität weniger gegen jene verteidigen zu können, von denen sich ein Staat nun abhängiger gemacht hat.

Diese Entscheidung ist ein politischer Akt, und alle dafür herangezogenen Kriterien sind ebenfalls die Folge eines politischen Aktes. Es gibt eben keine eindeutige Bestimmung, welche Handlung jetzt die allgemeine Souveränität erhöht und welche sie verringert. Besonders auffällig ist dies nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch bei Bündnissen. Nehmen wir als Beispiel die Osterweiterung der NATO: Ist sie nun ein Akt der Verlusts der nationalen Souveränität, indem ein Staat sich verstärkt dem Einfluss der USA und Westeuropas aussetzt, oder ist sie ganz im Gegenteil eine Möglichkeit für kleinere Staaten, sich endlich einmal aus dem Griff Moskaus zu befreien?

Souveränität ist eben auch die Souveränität, Aussenbeziehungen nach dem (wie auch immer bestimmten) Willen des Regimes zu gestalten, ob dieser jetzt in einem Anschluss an Militärbündnisse besteht oder in einer weitestgehenden aussenpolitischen Neutralität. Eindeutig behaupten zu wollen, was nun ein Mehr oder ein Weniger an Souveränität bedeute, führt nicht nur dazu, dass partikulare Interessen als allgemeines Interesse verkauft werden, sondern verwechselt auch Ursache und Wirkung, denn prinzipiell steht es jedem Regime frei, nach eigenem Willen zu handeln, wie es möchte. Innere und äussere Konsequenzen gibt es so oder so.

Die Widersprüche des Befreiungsnationalismus

Neben der Fiktion, es gäbe in der Praxis einen klaren Unterschied zwischen Vergrösserung und Verringerung von Souveränität, ist es ebenfalls eine Fiktion, dass es eine klare Trennung zwischen einem ‚Nationalismus der Unterdrücker‘ und einem ‚Nationalismus der Unterdrückten‘ gäbe.

Als Beispiel mag hier der (teilweise bis heute andauernde) Konflikt im Kosovo dienen. Denn was war hier nun Befreiungsnationalismus, was war hier nun Unterdrückungsnationalismus? Waren ‚ethnische Säuberungen‘ gegen Kosovo-Albaner etwa ein Element des antiimperialistischen Kampfes? Waren ‚ethnische Säuberungen‘ gegen Serben etwa ein gerechtfertigter Akt der Gegenwehr einer marginalisierten Gruppe?

Die schon erwähnte Unmöglichkeit, in der Praxis für ein abstraktes Prinzip der Souveränität statt für eine konkrete Konfliktpartei eintreten zu können, zeigt sich hier besonders deutlich. Und die Frage nach Befreiungs- und Unterdrückungsnationalismus ist zentral für eine Position, die einen positiven Bezug auf Nationalismus mit einem emanzipatorischen Anspruch verbinden will: Denn welcher Nationalismus hat nun Anrecht auf ein konkretes Stück Land? Beide gleichzeitig können es nicht haben.

Dem Argument, der bevorzugte Nationalismus sei in seiner Substanz ein Befreihungsnationalismus, und alle Unterdrückung sei nur Akzidenz, kann einfach mit der umgekehrten Behauptung entgegnet werden. Alle weitere Argumentation müsste dann mit Argumenten geführt werden, die zum Beispiel auf einer behaupteten Hierarchie nationaler Gruppen beruhen oder auf geopolitischen Sympathien, was in beiden Fällen aber nichts mehr mit einem ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ zu tun hat, wodurch sich die Frage stellt, was die positive Bezugnahme auf das Nationale dann überhaupt soll.

Zu sagen, die ‚guten‘ Dinge seien Befreiungsnationalismus, die ‚schlechten‘ Dinge seien Unterdrückungsnationalismus, und man könne beides auseinanderhalten, führt genau am Wesen des Nationalismus vorbei, dessen Eigenschaft es ist, mit Leichtigkeit Befreiung und Unterdrückung zusammenzuführen: Denn der Kampf gegen den Imperialismus von NATO, EU und deren Mitgliedsstaaten wäre genauso möglich ohne serbischen Nationalismus, und der Kampf gegen serbischen Chauvinismus wäre genauso möglich ohne kosovo-albanischen Nationalismus, und womöglich wäre beides sogar besser möglich. Eine Position der Teilung eines konkreten Nationalismus in befreiende und unterdrückende Aspekte kommt einer radikalen Ablehnung dieses Nationalismus gleich.

Doch auch, wenn eine ethnische oder anderweitig kulturelle Dimension der ‚nationalen Befreiung‘ nicht gegeben ist (eine Frage ist hier noch, inwiefern das überhaupt möglich ist), schafft sie, wie schon anfangs in diesem Kapitel besprochen, zumindest ein klassenneutrales Paradigma einer ‚nationalen Einheit‘, in welchem es ermöglicht wird, jede politisch unliebsame Person der Kollaboration mit ‚feindlichen‘ Staaten zu bezichtigen, um den aus Herrschaftsinteresse gefährlichen Kampf zwischen Unten und Oben in einen zwischen Innen und Aussen überzuführen.

Die Frage nach der Kriegsschuld

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Eine Kriegsschul tragen alle verantwortlichenm Politiker-innen der beteiligten Staaten !

Ich will nicht sagen, dass eine Ergründung der Kriegsursachen schon einer Rechtfertigung des Krieges gleichkäme, wie manchmal behauptet wird. Nichtsdestoweniger ist es aber schon so, dass Kriegsparteien ihr Handeln zumeist dadurch begründen, indem sie der verfeindeten Kriegspartei die Schuld zuschreiben. Und dies weist schon auf das Problem hin: Die Frage nach Ursachen kann allenfalls zur Verhinderung zukünftiger Kriege dienen, aber bei einem gegenwärtigen Krieg dient sie ausschliesslich dessen Weiterführung statt dessen Beendigung.

Hier scheinen sich einige der Illusion hinzugeben, sie wären Richter über die Staaten, deren Interessen und Handlungen sie für legitim beziehungsweise illegitim erklären. Und einmal abgesehen davon, dass es eine Illusion ist: Warum ist es überhaupt wünschenswert, in einer derart autoritären Weise über die ganzen Menschen zu entscheiden, die im Gebiet dieser Staaten leben? Denn gerade die Berufung auf Wahrheit, über die es nicht ohne Grund heisst, dass sie das erste Opfer des Krieges sei, eignet sich bestens dazu, Partikularinteressen den Schein des Absoluten zu geben.

Auswege aus dem Kriegssystem

Was wären aber jetzt die Handlungsmöglichkeiten, um aus diesen Problemen herauszukommen und nicht wieder das zu fördern, was man eigentlich versucht zu beseitigen?

Eine erste Antwort könnte darin liegen, alle Staaten, ob jetzt nur von sich selbst oder von der ‚internationalen Gemeinschaft‘ anerkannt, als souveräne Staaten zu behandeln, damit sie keine Ausrede für ihr Handeln haben. Dies heisst, dass ein Staat nun auch nicht mehr seine Innenpolitik mit Aussenpolitik begründen kann. Ganz im Gegenteil sollte immer überlegt werden, was für einen innenpolitischen Nutzen ein Staat mit seiner Aussenpolitik verfolgt. Dies heisst auch, sich nicht nur gegen direkte oder indirekte Kriegsbeteiligung, sondern gegen jegliche Militarisierung von Staaten zu wenden, ob jetzt durch die Anschaffung von Kriegsmaterial oder durch militärische Kooperation mit anderen Staaten, da ein Staat immer auch die Möglichkeit hat, seine militärische Ausrüstung gegen das eigene Volk zu verwenden.

Ein weiterer Schluss könnte sein, nicht für eine andere Weltordnung einzutreten, sondern gegen jede Weltordnung, gegen das Ordnen der Welt an sich: Denn jede Weltordnung ist zuerst einmal eine Idee, und jeder Einsatz für eine konkrete Weltordnung ist ein autoritärer, zentralistischer Versuch, die gesamte Welt den eigenen Interessen unterzuordnen. Gegen jede Weltordnung zu sein, heisst allerdings nicht, den Stillstand gegenüber der Umordnung zu bevorzugen, sondern vielleicht sogar zuallererst gegen jede Verteidigung der gegenwärtigen Weltordnung einzutreten, welche ebenfalls nur als Modell existiert, das der Wirklichkeit ständig durch unablässige Gewalt auferlegt werden muss.

Statt sich der notwendig zentralistischen Fantasie einer Weltordnung hinzugeben (ob jetzt globalistisch, multipolar, nationalistisch oder wie auch immer), sollte versucht werden, alle Organisation dezentral vom Kleinen zum Grossen zu gestalten, damit es auch keine Möglichkeit mehr gibt, angebliche ‚Äusseren im Inneren‘ zu identifizieren. Eine derartige Organisationsform hilft auch dabei, kulturelle Interessenskonflikte möglichst gering zu halten, welche sich wegen ihres Verlaufs quer zu Klassengegensätzen besonders zur Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen eignen.

Aus dem Gesagten folgt auch, weder einen Staat dabei zu unterstützen, ‚sein‘ Staats- oder Einflussgebiet gegen Ansprüche anderer Staaten zu verteidigen, noch einen Staat dabei zu unterstützen, ‚sein‘ Staats- oder Einflussgebiet zu vergrössern. Ob es sich um den ‚eigenen‘ oder einen fremden Staat handelt, ist dabei unerheblich. Sich jeglicher Weltordnung zu verweigern bedeutet, sich der Parteinahme zu verweigern in der Konkurrenz der Staaten, denn jede Parteinahme innerhalb dieses Systems ist eine Parteinahme für dieses System. Schon die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg (und vielleicht noch Präventivkrieg) ergibt nur innerhalb dieses Systems einen Sinn und dient politisch allein der Legitimation von Staatsgewalt. Kritik alleine an ‚Angriffskriegen‘ ist das Gegenteil einer Kritik an Krieg. Die Parteinahme gegen das Staatensystem an sich ist aber kein Widerspruch dazu, sich vorrangig einmal gegen jenen Staat zu stellen, der gerade den eigenen Aufenthaltsort besetzt, alleine da dessen Staatsgewalt konkret angreifbar ist.

Die Parteinahme sollte stattdessen jenen gelten, die sich, ob bewusst oder nicht, diesem System verweigern, insbesondere allen Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und sonstigen Menschen, die nicht bereit sind, für den einen oder anderen Staat ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Lassen wir die Regierungen ihre Konflikte untereinander haben. Aber lassen wir es nicht zu, dass sie ihre Konflikte auf unsere Kosten austragen.

Fuusnoten:

[1] Und natürlich in anderen Ländern, aber da kenne ich die Lage nicht gut genug.

[2] Auch mich selbst nehme ich dabei nicht aus: Ich bin erst vor einem Jahr vom Anhänger des Souveränismus zum Gegner desselben geworden, bedingt durch eine Reflexion über den Ukraine-Krieg. Dieser Text ist auch ein Ergebnis meiner zunehmenden Entfremdung von manchen Teilen der Friedensbewegung.

[3] Vgl. auch Hermann Lueer: „Krieg dem Kriege!“, 14.04.2022, https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/ukraine-krieg-dem-kriege-6979.html [21.07.2023]

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Oben        —       A building in Berlin with the slogan, „Soldaten sind Mörder“

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USA Kinder ohne Namen

Erstellt von Redaktion am 24. Juli 2023

Die Opfer US-amerikanischer imperialer Arroganz

Three Big Soldiers

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Ohne dem Kind einen ehrlichen Namen zu geben, verteidigen die USA ihre Maxime lieber unter der flexiblen Bezeichnung einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ unter Führung der USA, blinden Auges für die effektiven Belege, dass sich die Welt endlich und aus guten Gründen seit einiger Zeit multipolar entwickelt.

Dabei gehen die USA über Leichen, wie seit Hiroshima und in allen Kriegen danach eindrucksvoll vorgeführt. Erstaunlich nur, dass wir bisher mehrheitlich auf diese US-Politik hereingefallen sind bzw. ihre wahren Motive nicht erkannt haben, so wie das heute noch der treue Olaf und die bis hinter die Ohren grüne Annalena tun. Nun bringt aber die Ukraine-Krise zur Überrschung der einen und Bestätigung einiger anderer mehr Hintergründe für die Politik der USA an den Tag. So wird z.B. immer offenkundiger, dass es den USA vorrangig nicht um das Wohl der Ukraine und der Menschen dort geht, sondern viel mehr um die Aktivierung der NATO und so der Stärkung ihrer Vormachtstellung in der Welt. Ein Blick zurück ohne Zorn mag das Verständnis erleichtern.

Als die NATO 1949 auf die Initiative der USA gegründet wurde, gab es einen relative unorganisierten Westen, der einem überaus starken Russland unter Stalin gegenüberstand. Da schien es den eher schwächeren Europäern von Belgien bis Portugal nach der Erfahrung des 2. Weltkriegs tunlich, sich unter den von den USA angebotenen Schutzschirm zu begeben, ohne über die wahren Motive der USA nachzudenken.

Jetzt konnten sie sich erst einmal auf den Wiederaufbau nach dem verheerenden Krieg konzentrieren. Aus heutiger Sicht muss man aber feststellen, dass die NATO noch nie und auch nicht im Ukraine-Krieg ein Verteidigungsbündnis, sondern ein Hebel der USA zur Durchsetzung ihrer hegemonialen Ambitionen war und ist, oder ein Puffer zwischen sich und Russland in Europa, mit zudem noch Vorbildcharakter für andere Regionen in der Welt. Denn was hat ein deutsches NATO-Kriegsschiff vor der Küste Chinas zu suchen?!

Berlin and Israel walls

In dem Gefühl der militärischen Absicherung hat sich dann unmerklich eine Unterwürfigkeit auch in Sachen Handels- und Währungspolitik eingeschlichen mit der Folge, dass die USA bis vor kurzem nach eigenem Gutdünken schalten und walten konnten. Erschreckend ist, dass die USA ausser Eigennutz und Krieg keine Strategie haben, die Welt weiterzubringen. Mit Streubomben aus NATO-Geschützen schafft man nur todbringende Eskalation eines Konfliktes, den die USA tumb aus dem Hintergrund führen, natürlich ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen.

Theatralisch werden die Banner der Demokratie, Menschenrechte und der je nach Fall gestaltbaren regelbasierten Ordnung geschwungen, während nichts davon im eigenen Land gelingt oder auch nur ehrlich versucht wird. Damit verstoßen die USA peinlich gegen die Goldene Regel, wonach man anderen nicht zumuten soll, was man an sich selbst nicht erfahren will. Aber das ist ja Konfuzius aus China, und China ist doch jetzt der erklärte Feind Nr.1 der USA und Vorwand für die USA und ihre naiven Vasallen, gegen jede Vernunft eine NATO auch in Fernost zu planen! Die Opfer dieser US-amerikanischen imperialen Arroganz sind wir alle. Wann endlich wachen wir auf und wehren uns?!

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Grafikquellen      :

Oben      —   Three Big Soldiers

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 24. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Europawahl, Getreideabkommen und Pflege. Das falsches Gebrüll einer Löwin. Die Aktivistin Carola Rackete will den Job wechseln und in die Politik. In Berlin kommt die Einsicht: Die Suche nach einer Löwin war vergeblich.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Spanien auf der Wetterkarte glutrot.

Und was wird besser in dieser?

Wenigstens da.

Eine vermeintliche Löwin bricht in der Nacht zum Donnerstag aus und hält die Welt in Atem. Die Polizei rückt aus, um sie zu suchen. Der erste Klimaflüchtling?

Das wäre gut gebrüllt, Löwe. Das allergene Ambrosiakraut und die chinesische Wollhandkrabbe sind schon da, dafür macht sich die heimische Buche hinter die Fichte. Die EU-Liste der „unerwünschten Spezies“ führt bereits 88 Tiere und Pflanzen, und das, bevor die AfD noch mal drübergeschaut hat. Für diesmal war’s nur die invasive Art des Mikro-Poppschutzes, elf Senderlogos sprangen dem Kleinmachnower Bürgermeister ins Gesicht. Nachdem die Medien gehaust hatten, hatten wir die Wildsau, bleibt sein bis in weite Ferne leuchtender Merksatz stehen: „Wir haben viel zu spät das Video gemeinsam ausgewertet.“ The Lion sleeps tonight.

Carola Rackete, bekannt geworden als Kapitänin und Flüchtlingshelferin, kandidiert bei der Europawahl 2024 für die Linke. Eine Neuorientierung für die Partei?

Der Doppelwumms! Racketes Kandidatur ist die nette Art, Wagenknecht und den ihren ein herzliches „Dann geh doch nach drüben“ nachzurufen. Zur anderen Seite, nachdem die Ampelgrünen die EU-Asylreform abgenickt haben, geben die Linken nun ehedem grünen Idealen Asyl. Neben Rackete steht der Sozialmediziner Gerhardt Trabert, und wenn die Welt von oben nach unten gerechter werden könnte, wäre das auf einmal eine ziemlich geile Partei. Vielleicht ist es ein Start-up im marode gewordenen Mutterkonzern, die Idee hatte Christian Lindner schon mal – nicht zu Ende gedacht. Vielleicht folgen zivilgesellschaftliche Bewegungen den beiden Signalfiguren. Den Rest holt irgendwann der Klabautermann.

Der Kreml stoppt das Getreideabkommen mit der Ukraine. Ist Russland bald für eine internationale Nahrungsmittelkrise verantwortlich?

Man kann sich noch mal auf der Hirnrinde zergehen lassen, wie die deutsche Außenministerin circa monatlich bekannt gibt, mit dem Russen gebe es nichts zu verhandeln. Während circa monatlich mit dem Russen verhandelt wird. Die Getreide- und Gefangenenaustausch-Abkommen, die statt ihrer Menschenrechtsaktivist Erdoğan makelte, bargen Hoffnung. Sowohl was die Nahrungsmittelnot angeht, wie auch die Not im Krieg, ist das russische Njet ein morbider Erfolg der Siegfrieden-Jünger. Auf beiden Seiten.

Laut einer Umfrage sind die meisten Deutschen dafür, an Kinder gerichtete Werbung für ungesundes Essen einzuschränken. Auch die Bundesregierung möchte das einschränken. Eigentlich logisch, doch Rechte regen sich auf. Warum?

Jedes deutsche Kind sieht im Schnitt täglich 15 Werbespots für Ungesundes. Talk-Auftritte von Alice Weidel nicht mitgerechnet. Die AfD vertritt einen Sack voller Verbote: Zuwanderung, Gendersprache, Rundfunkgebühren, schlechtes Wetter. Unterm Strich sind Rechte gegen Verbote, die sie nicht selbst fordern.

Pflegeplätze werden immer teurer. Können wir es uns leisten, alt zu werden?

Die Pflegeversicherung scheiterte 1995 fast am Unwillen der Arbeitgeber. Schließlich wurde ein Feiertag geopfert. Das reicht nur, um die eigentlichen Pflegekosten abzudecken. Unterbringung und Ernährung zahlen die zu Pflegenden allein. Die große Lösung wäre also eine Vollversicherung, die das Gesamtrisiko abdeckt. Die Lobby der Arbeitgeber wird sich sofort schwer pflegebedürftig und strebendkrank hinlegen. Na ja, die können das bezahlen.

Wäre am Sonntag Bundestagswahl gewesen, hätten nur 13 Prozent der Befragten die Grünen gewählt. Andererseits geben 74 Prozent der Deutschen an, um Wasserknappheit besorgt zu sein. Überrascht Sie der Widerspruch?

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Gewalt im Schwimmbad

Erstellt von Redaktion am 23. Juli 2023

Krasse Welle durch die Republik

Von Sabina Zollner und Plutonia Plarre

In Berliner Freibädern gibt es immer wieder Randale – und sofort diskutiert halb Deutschland über Jugendgewalt. Eine Reportage vom Beckenrand.

Samstag, 8.52 Uhr, 22 Grad: „Ausweis bitte“, fordert ein breitschultriger, korpulenter Security am Eingang des Berliner Prinzenbads, ein schneller Blick, das war’s. Vor dem Eingang des besucherstärksten Schwimmbad Berlins warten Frühschwimmer:innen, Hipster und junge Familien in einer etwa 30 Meter langen Schlange auf eine Abkühlung. Es sollen heute 35 Grad werden, Wartezeit schon jetzt knapp 20 Minuten.

Drinnen herrscht morgendliche Freibadidylle. Am Kiosk sitzt ein Pärchen im Schatten der roten Sonnenschirme, Weißbrot mit Rührei vor ihnen auf dem Teller. Das türkisblaue Wasser des Sportbeckens glitzert in der Sonne, während Menschen ordentlich ihre Bahnen ziehen. Im danebenliegenden Kinder- und Nichtschwimmerbecken ist noch wenig los. Und auch im Terrassenbecken mit abgesperrtem Sprungbereich sind lediglich ein paar Mor­gen­schwim­me­r:in­nen zu sehen.

Hat man die Medienberichte der vergangenen Woche verfolgt, könnte man meinen, in Berliner Schwimmbädern herrschen anarchistische Zustände. Von einer “Welle der Gewalt“ war dort die Rede, weshalb sich viele Familien nicht mehr ins Freibad trauten. Wiederholt hatte es in diesem Sommer in dem nur drei Kilometer vom Kreuzberger Prinzenbad entfernten Columbiabad in Berlin-Neukölln gewaltsame Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit dem Badpersonal und Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gegeben.

In der vergangenen Woche wurde das Bad geräumt und blieb anschließend wegen Krankmeldungen des Personals erst mal geschlossen. Und das genau zu Ferienbeginn im strukturschwachen und multikulturellen Bezirk Neukölln, wo sich viele Familien keine Urlaubsreise leisten können. Als dann noch ein Brandbrief der Belegschaft, bereits Mitte Juni an die kommunalen Berliner Bäderbetriebe (BBB) geschickt, die Öffentlichkeit erreichte, war der Skandal perfekt. Sogar die Bundespolitik stieg in die Diskussion darüber ein, wie man in den Berliner Freibädern durchgreifen soll.

In dem Brandbrief ist von einem „untragbaren Ausmaß der Umstände“ die Rede. Mitarbeitern, Frauen, Minderheiten, besonders trans und queeren Menschen werde immer häufiger Gewalt angedroht. Verbale Attacken, Pöbeleien und Spucken seien üblich. Meist seien es Jugendliche, die sich von Bademeistern nichts sagen ließen, die „als Mob“ aufträten. Seit Samstag gelten deshalb in allen Berliner Freibädern neue Sicherheitsmaßnahmen. Be­su­che­r:in­nen müssen ihren Ausweis am Eingang zeigen, es gibt mehr Securities und einen Einlassstopp, wenn es zu voll wird. An sogenannten Konfliktbädern wie dem Prinzen- und Columbiabad sind mobile Wachen der Polizei stationiert.

Mit etwas Abstand betrachtet nach der überhitzt geführten Debatte: Wie sinnvoll sind diese Maßnahmen?

Schlägerei unter Jungs mit Migrationshintergrund? Steilvorlage für einen sommerlichen Kulturkampf

11.33 Uhr, 27 Grad: Das Planschbecken füllt sich langsam, am Beckenrand stellen einige Frauen mit Kopftuch ihre Gartenstühle auf. Ein paar Meter weiter sitzen zwei Frauen im Schatten. Die beiden Mütter wollen ihren Namen nicht nennen, in der Sorge, dass sie nur „Quatsch“ erzählen. „Schreib einfach: eine türkische und eine arabische Mutter“, sagen sie. Von ihrem Platz blickt man direkt auf das Nichtschwimmerbecken mit sprudelnden Wasserpilzen, in dem die Kinder der beiden planschen. Die beiden Mütter sind heute extra früh gekommen, nachmittags wird es ihnen zu voll im Bad.

Was sagen sie zu der Situation in den Freibädern? „Das wird schon schlimmer dargestellt, als es ist“, sagt eine der Mütter, die im Sommer regelmäßig ins Prinzenbad kommt und in der Nähe wohnt. „Und die Medien schlachten das schon aus, weil es um Jungs mit Migrationshintergrund geht“, ergänzt sie. Ihre Freundin kontert: „Ja, aber ich mache mir manchmal schon auch Sorgen um die Sicherheit meiner Tochter hier.“

Woher die Gewalt kommt? Pubertät, kommt die Antwort schnell. Da beleidige der eine die Mutter oder Schwester des anderen, der fühle sich angegriffen in seinem „männlichen“ Stolz und prompt eskaliere es. „Aber man darf nicht vergessen, das sind Kinder, man weiß nie, was bei denen zu Hause los ist“, sagt die Kreuzberger Mutter.

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Die Nutzergruppen im Kreuzberger Prinzenbad sind ähnlich wie die im Neuköllner Columbia­bad, dem am zweitstärksten frequentierten Freibad in Berlin. Aber das Bad ist anders aufgebaut. Dort gibt es ein Becken mit einem zehn Meter hohen Sprungturm sowie einer 83 Meter langen Rutsche – die längste in Berlins Freibädern. Damit zieht das Columbiabad Jugendliche und junge Männer magisch an.

Auf dem Sprungturm können sie ihre Kräfte messen und auch die Rutsche hat die nötige Länge für Spinnereien. Das ist wohl mit der Hauptgrund, warum das Columbiabad deutlich öfter als das Prinzenbad in die Schlagzeilen gerät. Jugendgangs blockieren die Rutsche, lassen sich nichts sagen, wenn das Personal einschreitet, werden körperlich übergriffig. Es kommt zum Polizeieinsatz – und, wenn alle Stricke reißen, zur Räumung des Bades. Seit dem 22. Juni sind deshalb Rutsche und Sprungturm gesperrt. Die Maßnahme konnte die Randale im Juli jedoch nicht verhindern. Die Sinn-Frage dieser Maßnahme steht also im Raum.

Mit der Schließung des Columbiabads vergangene Woche begann dann eine Mediendebatte. Eine Schlägerei unter Jugendlichen mit Migra­tionshintergrund? Eine Steilvorlage für konservative Medien und Po­li­ti­ke­r:in­nen, um einen sommerlichen Kulturkampf anzuzetteln.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte die konsequente Bestrafung von Gewalttätern noch am Tattag, mittels Schnellverfahren. Und die AfD wusste sofort: „Wer seine Grenze nicht schützen mag, muss später Freibäder schließen.“

Am Freitag packte der frisch gekürte Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) die Gelegenheit beim Schopfe, um sich als Mann der Tat zu inszenieren, und verkündete vor Ort die neuen Maßnahmen. Der innenpolitische Sprecher der Linken, Niklas Schrader, warf Wegner daraufhin „billigen Aktivismus“ vor. Wenn eine kleine Minderheit in den Bädern aus der Rolle falle, „warum sollen dann alle bestraft werden?“, sagte er.

12.30 Uhr, 30 Grad: „Ausweiskontrolle? So ein Scheiß, der hat nicht mal richtig auf meinen geguckt“, sagt ein junger Mann auf der Liegewiese. Er ist mit seinen Freunden hier, sie kicken gerade mit einem Fußball hin und her, drehen gemütlich einen Joint, während im Hintergrund Stromae mit „Let’s dance“ aus den Boxen dröhnt. In der Entfernung sind mehrere Security-Mitarbeiter:innen zu sehen, die im Doppelpack das Freibad ablaufen. Die Journalistin wird anfangs eher skeptisch empfangen. Einer fragt: „Für welche Zeitung schreibst du?“ Als sie „taz“ hören, wirkt die Gruppe etwas offener. „Ihr schreibt nicht so scheiße über Ausländer,“ sagt einer der Jungs.

Ein Mädchen im Prinzenbad„Mein Cousin hat letzte Woche Hausverbot bekommen und ist jetzt wieder da“

Ob sie über die Situation in den Freibädern reden wollen? Ja, eigentlich schon, aber lass uns erst noch rauchen. Dann kommt ein anderer Freund aus der Entfernung angerannt und redet auf Türkisch auf die Gruppe ein, er will die Gruppe davon abhalten, mit der Journalistin zu reden. Einer ist dann doch bereit zu sprechen, will aber auch anonym bleiben.

Der 22-Jährige ist regelmäßig im Prinzenbad, sagt er. Columbiabad? Eher nicht, da gebe es immer Stress. „Das ist so ein Sehen und Gesehenwerden dort“, sagt er. Und warum es da immer so eskaliert? „Manche Leute lassen sich einfach schneller provozieren als andere, die reagieren dann über.“ Was hält er von der ganzen Mediendebatte rund um die Herkunft der Jugendlichen? „Hat mich nicht überrascht, die Medien sind schon länger in ihrem Klischeefilm, die machen ja auch Geld damit“, sagt er.

Das Freibad ist ein Ort, an dem man sich gegenseitig aushalten muss. Hier kommen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, Milieus und sozialen Schichten zusammen. Dass es hier zu Konflikten kommt, ist naheliegend. Menschen werden mit steigenden Temperaturen aggressiver, Hitze ist anstrengend. Deshalb ist das Freibad ein Ort, der nur mit Regeln funktioniert. Werden diese gebrochen, kann ein Hausverbot erteilt werden oder im schlimmsten Fall eine Strafanzeige.

Wirft man einen Blick auf die Zahlen für Berlin, sieht man jedoch, dass die Gewalt in Freibädern abnimmt. Insgesamt gab es 2022 laut Berliner Polizeistatistik 77.859 Gewaltdelikte – davon 57 in Freibädern. 2019, dem Sommer vor der Coronapandemie, waren es noch 71 Freibad-Vorfälle.

Die Ausweiskontrolle soll nun unter anderem ermöglichen, dass die Hausverbote besser durchgesetzt werden können. Laut der Bäderbetriebe werden Hausverbote bisher nur kontrolliert, wenn die Person nochmals auffällig wird. Erst dann wird eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch erstattet. Wie es in den Bädern ohne Datenabgleichgerät gelingen soll, mit Hausverbot belegte Gewalttäter schon am Eingang herauszufischen, ist völlig offen.

Die Ausweise händisch mit einer Liste abzugleichen wäre realitätsfremd. „Das könnte man auch nicht allen zumuten, dass die Ausweise am Eingang kontrolliert werden“, sagt Soziologe Albert Scherr, der zu sozialer Arbeit und Jugend forscht. Denn es gehe auch darum, über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nachzudenken. Was macht das mit dem Ort Freibad, wenn jeder am Eingang seinen Ausweis zeigen muss, überall Securities herumlaufen und eine Polizeiwache vor der Tür steht? Wirkt das überhaupt deeskalierend? Und fühlen sich Leute dadurch sicherer?

14 Uhr, 33 Grad, im Sprungbereich des Prinzenbads: „Junge, mach mal Arschbombe“, ruft einer seinem Freund entgegen. Dieser sprintet auf das Becken zu, und platsch, landet er im Wasser. Ein anderer taucht am Beckenrand auf, spuckt ins Gitter. Etwas abseits eine Gruppe von Teenagerinnen, alle ungefähr zwischen 12 und 15 Jahren alt. „Es gibt hier immer Stress. Mein Cousin hat letzte Woche Hausverbot bekommen und ist jetzt wieder da“, sagt eine. Was sie von den vielen Securities halten? „Die helfen eh nicht.“ Warum? „Die Jungs hören nicht auf sie – und können ja eh wieder ins Bad, auch wenn sie sich prügeln.“ Was die Streite auslöst? „Wenn jemand die Schwester oder die Mutter beleidigt, dies, das, dann rasten die aus.“ Die Kreuzberger, sagt ein Mädchen, seien „einfach stressgeil“. Die Gruppe verabschiedet sich. Im Sprungbereich wird es immer voller.

Es ist lange her, aber auch das Prinzenbad galt früher als Krawallbad. Massenschlägereien habe es Ende der 80er-Jahre „ständig“ gegeben, erzählte Bademeister Simon K. der taz einmal 2003 in einem Interview. In seiner ersten Saison habe er gleich ein Messer in den Rücken bekommen. „Zeitweise haben wir mit 25 Zivilpolizisten Dienst gemacht“. Befriedet habe man das Bad durch „massenhafte Anzeigen und Hausverbote“.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>>         weiterlesen

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Oben      —     A large wave towering astern of the NOAA Ship DELAWARE II. Atlantic Ocean, New England Seamount Chain. 2005.

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Für sich selbst sorgen

Erstellt von Redaktion am 23. Juli 2023

Für sich sorgen – eine Aufgabe oder eine Schimäre?

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Die fünf Sinne
Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Ilse Bindseil

Ich möchte einen Gedanken überprüfen, der mir, so wie er mir durch den Kopf schoss, überaus schlüssig erschien. Eine solche Überprüfung ist schon deshalb nötig, weil Einfall, Idee oder Erleuchtung Schlüssigkeit als Formmoment haben – schlüssig sind sie per Natur −, so dass man ihren Inhalt womöglich überschätzt.

Ich möchte daher prüfen, ob der Gedanke sich entfalten lässt oder ob er so punktförmig ist wie der Moment, in dem er mir durch den Kopf schoss, im Kontinuum der Zeit. Der Gedanke: Das Unglückselige, Fatale und Verhängnisvolle unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation, vor allen anderen Komplikationen, sei dem Widerspruch geschuldet zwischen dem unmittelbaren Dasein der Menschen als Individuen und den überaus mittelbaren Bedingungen ihrer Existenzsicherung.

Dieser Widerspruch verkehrt die Sorge für sich selbst in das Gegenteil eines umfassenden versorgt Seins mit der praktischen Konsequenz, dass die Individuen, wenn sie nicht mehr versorgt werden, zugrunde gehen, und der logischen Implikation, dass versorgt werden und leben sowie nicht versorgt werden und tot sein zusammenfallen; beides eine ängstigende, eine bizarre Vorstellung, fehlt doch alles, was mit dem Menschen als Subjekt assoziiert wird.

Unsicherheit als Lebensgefühl

Für sich sorgen können – eine Formel, die kaum noch ohne das beschwörende „selbst“ benutzt wird − ist als praktische Funktion und als Reflex der eigenen Konstitution gedacht. Die praktische Funktion wäre die Möglichkeit, den Gürtel enger zu schnallen und sich zu arrangieren, wenn die gesellschaftliche Versorgung zusammenbricht, sich im Garten zu versorgen, wenn es kein Gemüse mehr zu kaufen gibt, oder mit der Hand zu schreiben, wenn der PC nicht funktioniert, den Herd zu schüren, wenn Gas und Strom abgeschaltet sind, etwas einzutauschen, wenn fürs Bezahlen der Geldverkehr fehlt, sich auf sein Verhandlungsgeschick, notfalls auf seine Körperkräfte zu besinnen, wenn die Rechtsprechung nicht mehr existiert. Die Souveränität ist eine Frage der formalen Selbstschätzung: Die Einzelnen müssen ein Bewusstsein von sich haben, sie müssen eine Person oder ein Individuum sein. Können sie ungeachtet ihrer formalen Souveränität nicht für sich sorgen, sind auf Versorgung vielmehr angewiesen, stellt sich als Lebensgefühl eine Unsicherheit ein, die passive Erwartungen, Sicherheitsbedürfnisse und Versorgungsansprüche, steigert, die ihrerseits nur noch stärker in die Abspaltung führen der tätigen Wesen von sich selbst.

Der gesamtgesellschaftliche Befund einer umfassenden Versorgung hat etwas bedrückend Widersprüchliches, da sie einerseits als Fortschritt, Befreiung von lästiger Unmittelbarkeit, Gewinn zusätzlicher Entfaltungsmöglichkeit, andererseits als Enteignung und Verunsicherung empfunden wird. Auch wenn Fortschritt sich Schritt um Schritt, gewissermaßen von Erfindung zu Erfindung zu entwickeln scheint, ist er doch nicht in einem Kontinuum angesiedelt, dergestalt dass das Individuum im Notfall auf das ältere Modell zurückgreifen und das Leben auf einem niedrigeren Niveau, aber in vergleichbarer Vollständigkeit fortsetzen kann.

Was als Stufe in der persönlichen Entwicklung empfunden werden mag, entpuppt sich, auf die gesellschaftliche übertragen, vielmehr als Sprung. Ihm ist nicht die graduelle Verringerung oder Verminderung korreliert, sondern der Absturz: Wer nicht gepflegt wird, geht zugrunde, wer nicht ernährt wird, verhungert. Wenn das im Fortschritt Etablierte versagt, stellt sich heraus, dass der Zustand, der ihm vorherging, den es abgelöst, den es hinter sich gelassen hat, in Gänze nicht mehr existiert, fehlen doch die Voraussetzungen. Aus dem Stoffwechselwesen, das auf ingeniöse Weise seinen Stoff wechselt, wird ein recht eigentlich „gestoffwechseltes“ Wesen, dem zur Selbstversorgung nicht nur die materiellen, auch die geistigen Voraussetzungen abhandengekommen sind. Es sieht so aus, als wären sie in den Fortschritt, die sich selbst entwickelnde Entwicklung, hinübergewandert und im Wechsel von Aufschwung und Absturz recht eigentlich bei sich.

Überflüssige Erzeugnisse oder überflüssige Arbeitskräfte

Die Aufgabe und Fähigkeit der Person, sich in jenem engen Zirkel zu erhalten, der als Gegenstand der Erhaltung das Sich und als Ziel die pure Fortsetzung des Lebens hat, scheint mit dem Fortschritt tatsächlich unvereinbar, und das gilt auf der ganzen Welt und in den gegensätzlichsten gesellschaftlichen Formationen. Ob in den sprichwörtlich ärmsten Ländern Afrikas, wo die Menschen in solcher Armut gehalten werden, dass sie nur durch Gaben der Weltgemeinschaft überleben können, oder in den reichen Zentren Europas, wo an die Stelle der einfachen Selbsterhaltung eine hochkomplexe Versorgung getreten ist, deren mögliche Störung von kaum einem der Versorgten behoben werden kann; oder im fernen China, wo in einer sonderbaren Verdrehung die physische Versorgung der Menschen von der politischen Partei erwartet und, umgekehrt, das politische Überleben der Partei an das physische Wohlergehen der Menschen geheftet wird: Überall klaffen das formal zugestandene Recht auf Selbstbestimmung und die tatsächliche Möglichkeit zur Selbstorganisation in verstörender Weise auseinander. Speziell in den hoch entwickelten Ländern des reichen Nordens springen Utopien vom Einzelnen als Einzelkämpfer in die Lücke. Wenn etwas als Einzelnes existiert, müsse es sich als Einzelnes erhalten, dokumentieren sie, seine Einzelheit müsse sich abspiegeln können. Die inhaltlichen Elemente ihres Daseins gewinnen sie aus der Perspektive der Verteidigung.

Über die politischen, die psychologischen und moralischen Folgen des Verschwindens der einfachen Reproduktion als natürlichem Modell der Selbsterhaltung kann nachgedacht, über die ökonomische Bewegung, die es motiviert und befördert, braucht nicht groß gestritten zu werden. Eine These lautet, dass nicht länger Produktion, sondern Konsumtion der entscheidende Faktor ist, auch nicht Not, sondern Überfluss, der hat sein Maß im „ungebremsten Steigen des Produktivkraftniveaus“ (Emmerich Nyikos, panem et circenses), nicht in den ehemals so genannten Bedürfnissen der Menschen. Ob angesichts der „totalen Automatisierung und Robotisierung der Produktion“, die „die Lohnarbeit als Basis der Revenue breitester Schichten […] wegfallen lässt“ (ebd.), die Freistellung der Arbeiter oder die faktische Überproduktion das größere Problem ist, ob man also, wie Nyikos formuliert, die „überflüssigen ‚Hände‘ über die Runden bringen“ oder die Freistellung der Arbeitenden mit der Koppelung an eine forcierte Konsumtion begründen sollte, wäre eine scholastische Frage.

Je nachdem, ob die Sorge mehr der Überflüssigkeit der Arbeitskraft oder dem Überfluss an Erzeugnissen gilt, wird die eine oder die andere Begründung angeführt werden, und ist die Trennung einmal vollzogen, ist das Verhältnis ohnehin nicht mehr ins Gleichgewicht zu kriegen. Um ihrer Aufgabe, die Überschüsse zu verbrauchen, gerecht werden zu können, müssen Massen sowohl freigestellt als auch an der Selbstversorgung gehindert werden. Das Individuum gerät darüber ins Wanken. Es möchte sich auf seine Kräfte besinnen und kann nicht. In die entfremdete Konsumtion wird es so gepresst wie anno dazumal in die entfremdende Produktion. So wie es im Schema der industriellen Fertigung zum Produzenten wurde, so wird es im Schema der Verteilung zum Empfänger, der sich erhalten will, wobei die Maschinerie ihren eigenen Hunger entwickelt. Inbegriff eines produktiven versorgt Seins, ist sie dem Kreis der Empfänger nicht nur zugeordnet, sondern genießt eine Vorzugsstellung vor denen, die nichts leisten, nur leben wollen. Ihr wird als erste zugeteilt, „und das ist gut so“, denn wer das zu Verteilende bereits bei der Verteilung verbraucht, braucht am Ende nichts mehr zu verteilen.

Das verinnerlichte Gefängnis der Souveränität

Die elegante These vom Abstieg des emanzipierten Arbeiters zum entmündigten Konsumenten beinhaltet nicht nur den Schluss auf seine existentielle Entfremdung, sie lässt ebenso den gegenteiligen auf eine vom Widerspruch befreite Gesellschaftlichkeit zu, die ihr eigenes Telos und ihre eigenen Spielregeln hat. In der Tat, pfiffig muss man sein, will man von dem, was verteilt wird, noch etwas abkriegen, nicht zu denen gehören, die am Ende verhungern, während andere leben. Aber der darwinistisch verteidigte Platz an der Mutterbrust ist von hoffnungsloser Immanenz. Er stiftet kein Modell, über das sich nachdenken lässt, schreibt die Entwicklung lediglich fort und entleert sie zusätzlich von Sinn. Gegen den gesellschaftlichen Antagonismus, der mit einer Vielfalt dramatischer Befunde belohnt, aber den Widerspruch, der er selbst ist, nicht in den Blick zu kriegen erlaubt, wäre dagegen die Einheit des geistigen Vermögens zu halten. Ob als personaler Verstand oder abstrakter gesellschaftlicher Mechanismus, als philosophische Reflexion, Geist in der Flasche oder bare Münze auf die Hand, es ist ein und dasselbe und muss nur als solches wahrgenommen werden.

Das erfordert Übung, es erfordert Umzentrierung, vom emphatischen bei sich Sein des Subjekts hin zu seinem Sein als Gesellschaft. Solche Umzentrierung geschieht im Kopf, sie arbeitet an den Vorstellungen. Dabei gilt es, den in allen seinen Erscheinungen wirksamen Irrtum aufzulösen, der dem Individuum als seine Verwirklichung zugeschriebene Fortschritt habe es – und sei von ihm – hervorgebracht, er sei, kurz gesagt, Ursprung, Modus und Ziel jener erweiterten Form von Reproduktion, die im technischen Fortschritt als Emanzipation und Freiheit erfahren wird, leider auch als Entfremdung, wachsende Entmündigung und daraus resultierende Bedrohung. Um aus der Doppeldeutigkeit herauszukommen, reicht es nicht, den Irrtum zu durchschauen, er muss abgetragen, das verinnerlichte Gefängnis der Souveränität muss verlassen werden, die Gewissheit, zu kurz zu kommen und betrogen worden zu sein, muss sich in nichts auflösen. Dass an der Grenze, wo Freiheit winkte, Konsumzwang wartete, ist bloß ein Irrtum wie viele andere, keine Tragödie. Schuf die Industriegesellschaft im ersten Schritt entrechtete Arbeitskräfte, die „Sklaven der Fabrik“, während sie im zweiten bloß noch geschmeichelte Ansprechpartner formte, um im dritten, zynisch vermittelnden Schritt bei den entmündigten „Berechtigten“ zu enden, die das ihnen Zugedachte verdrossen in Empfang nehmen, so sollte die Steigerung als ein Darstellungsprinzip durchschaut und durch ein anderes Prinzip ersetzt werden. Das Subjekt in Kategorien des Verlusts und der Entfremdung zu fassen, ist in seiner Schonungslosigkeit zwar bestechend, erzeugt aber als Doppelbild eine Eigentlichkeit, die der Kritik enthoben ist. Eine Darstellung, die sich am Wittgensteinschen „wie es ist“ orientiert, hat ein solches Doppelbild nicht nötig.

Die Gesellschaft, besorgt um ihr Bestehen, ahnungslos, was sie ist

Über Selbsterhaltung nachzudenken könnte in diesem Kontext sogar von Nutzen sein, kann sie doch als ein gesellschaftliches Modell im Miniaturformat gelesen werden. Nicht zufällig besticht der humanistische, der goethesche Traum von der individuellen Selbstverwirklichung, durch sein hartnäckiges Bemühen um Realismus. Gefasst als Kreativität gegenüber der Mechanik der Gesellschaft, verstellt er aber, dass es nicht um Perfektibilität, sondern um die basics geht. Diese sind nicht leicht zu fassen. Sie ergeben sich nicht von selbst. „Nachhaltigkeit“, zum Beispiel, drückt die Schwierigkeit treffend aus. Zugleich scharf und verschwommen, altbacken und modern, ist der Begriff – oder soll man sagen das Wort? − wie aus einem anderen Zusammenhang hineingesprengt, recht eigentlich ein „Zwiebelfisch“ im Diskurs. Ursprünglich ein Synonym bloß für anhaltende Wirkung − gleichgültig gegenüber der Frage, ob der Boden nachhaltig verbessert oder das Immunsystem nachhaltig geschädigt wird −, wird Nachhaltigkeit zum Inbegriff einer Gesellschaft, die sich um ihr Bestehen sorgt, aber keine Ahnung hat, was sie ist.

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Wie ist unter diesen Prämissen der fatale Eindruck zu gewichten, zwar um die Bedingungen der Selbsterhaltung gebracht, aber nicht aus der Selbstverantwortung entlassen zu sein? Ist die Verantwortung realistisch oder apodiktisch? Ist sie der existentielle Grund für „das Unbehagen in der Kultur“, das Freud diagnostizierte? Oder etwa, wiederum mit Freud, bloß ein „begleitendes Gefühl“, das sich nicht zuletzt aus der Beschönigung früherer Lebensverhältnisse speist, die sich nicht durch geringeres Risiko, allenfalls durch eine geringere Sicherheitserwartung auszeichneten? Spiegelt sich in der Verklammerung von Subjekt und Fortschritt gar eine Anmaßung, die für den Abgrund zwischen Optimismus und Ohnmacht verantwortlich wäre, der zu einem Gefühl ständiger Bedrohung führt, dem Gefühl, dass „der Schuss nach hinten losging“, da der dem Subjekt zugedachte Fortschritt sein Maß nicht am Subjekt hat, dieser auf das Subjekt auch keine Rücksicht nehmen muss? Den Eindruck des „Unglückseligen, Fatalen und Verhängnisvollen“ (s. o.) zu bestätigen, genügt es jedenfalls nicht festzustellen, dass man, „am Arsch“ ist, ein Urteil, dessen Ungeschöntes die Halluzination der Souveränität lediglich bekräftigen könnte. Das alte Bedürfnis, sich der Gesellschaft gegenüber zu positionieren, behauptet sich darin; die eher passiven, auf den Zusammenhang fokussierten Konnotationen des Erkennens bleiben ausgeschaltet, jene, die in der Lage wären, die Einheit des Gegensätzlichen wahrzunehmen.

Die Vorstellung vom Subjekt überdenken

Dabei muss das Schema nicht erfunden werden, steckt Abhängigkeit, wie es lyrisch heißt, doch in allem. „Klein“ oder „alt“ sein, das organische Modell des Lebens ist ohne Abhängigkeit nicht zu denken. Desintegriert, wird sie zur besonderen Aufgabe, gesellschaftlich zum Projekt. Zum Schibboleth der postmodernen Gesellschaft aufgerüstet, ist sie ein Fake wie alles, was die Gesellschaft auf das Subjekt hin konstruiert. Hilflosigkeit, ein Produkt nicht zuletzt der gedanklichen Bearbeitung, zeugt von Zuspitzung und Abspaltung.

Im Bild der Menschen im fernen Afrika, die sich um die wie aus dem Nichts aufgetauchten Getreidesäcke scharen, scheint auf, was Freud im Auge hatte, als er das „Weg-Da“-Spiel analysierte. Die Pointe besteht in der Gleichheit der antagonistischen Alternativen: Auch wenn die Lieferung stattfindet, könnte sie ebenso gut ausbleiben. Nicht anders ist es mit dem Strom, der in den entwickelten Ländern aus der Steckdose kommt. Im Gegenteil, je automatisierter die Versorgung, desto plausibler die Vorstellung, dass sie jederzeit unterbrochen werden kann. Durchtrennte Kabelbündel dokumentieren die Hinfälligkeit ausgerechnet jenes Unterschieds, der der sprichwörtliche Unterschied ums Ganze ist.

Im „Weg-Da“-Spiel des Kindes, das das Verschwinden der Mutter nachstellt, wird der von allen Bezügen getrennte Vorgang zum Rätsel. So kann er endlos nachgespielt werden. Erwachsen wäre es, der Rätselbildung entgegenzuwirken. Wenn kontingente Verhältnisse über Sein und Nichtsein eben jenes Subjekts entscheiden, das über Sein und Nichtsein der Verhältnisse entscheiden müsste, dann bietet es sich an, die Vorstellung vom Subjekt zu überdenken. Will es nicht bloß ein durch Empörung oder Bedauern geadelter Teil der Verhältnisse sein, bleibt ihm nur, sich entschlossen in die gesellschaftliche Beschaffenheit, aus der es herausragen möchte, hinein- und zurückzudenken. Die Verkleinerung der eigenen Position wird mit der Erweiterung des Blickwinkels belohnt werden.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —   Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken

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Krieg – Früher wie Heute

Erstellt von Redaktion am 23. Juli 2023

Kalte Kriegspolitik – früher und heute

NEPP der Rechtsfüßler – EU – Political Assembly

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Wilma Ruth Albrecht

Nancy Faeser aus der internationalen Anwaltsindustrie (Clifford Chance mit einem 2019/20 ausgewiesenen Umsatz von 1,8 Milliarden GBP/Pfund), seit Ende 2019 erste SPD-Bundesministerin für Inneres & Heimat der Berliner Ampelkoalition, legte am 15. Februar 2023 im Kabinett ihren Entwurf eines „Gesetzes zur Beschleunigung der Disziplinarverfahren in der Bundesverwaltung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ zur Beschlussfassung vor.

Mit diesem Gesetz sollen angeblich extreme (gemeint rechtsextreme) „Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem öffentlichen Dienst“ entlassen werden können. Der Obmann der Grünen im Innenausschuss des Bundestags, Marcel Emmerich, forderte eine Nachschärfung des Bundesgesetzes, nämlich eine Fristenausweitung auf schon vergangene Dienstverstöße. Der vom Kabinett verabschiedete Faeser-Gesetzentwurf orientiert sich an einer vorangegangenen Regelung des Bundeslands Baden-Württemberg, das Disziplinarmaßnahmen mittels eines Verwaltungsaktes anordnete. Dies wurde später ausdrücklich vom Bundesverfassungsgericht gebilligt.

Damit knüpft Faeser an den sogenannten Radikalenerlass (Extremistenbeschluss) vom 28. Januar 1972 der SPD/FDP-Bundesregierung unter Willy Brandt sowie den Adenauererlass vom 19. September 1950 der Koalition von CDU/CSU, FDP, DP an. Hintergrund dieser Erlasse war es, die Kräfte, die sich gegen eine einseitige bundesrepublikanische Westorientierung (vor allem im Sinne von USA und NATO) engagierten sowie für eine Öffnung gegenüber der damaligen UdSSR eintraten, öffentlich zu diskriminieren und lebensunterhaltlich zu schädigen. Zielten diese Erlasse in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren vorwiegend auf vermeintlich im linken Spektrum verortete Kräfte, so heute auf solche im angeblich rechten Spektrum.

Diese Zuordnung war früher falsch und ist auch heute nicht richtig. Das wird deutlich, wenn man sich die Aufsätze Diether Possers (1922 bis 2010) in seinem Sammelband „Anwalt im Kalten Krieg“ von 1991 anschaut, den ich neulich wieder in die Hand nahm und diesmal gründlich las.

Diether Posser war promovierter Jurist, Sozius in der Anwaltskanzlei des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann in Essen, Mitglied der 1952 gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), nach deren Selbstauflösung 1957 SPD-Mitglied, 1968-1988 in Nordrhein-Westfalen Minister für Bundesangelegenheiten, danach dort Justiz- und Finanzminister, stellvertretender Ministerpräsident und 1970-1986 im Parteivorstand der SPD. Er erinnert an den „Kalten Krieg“ mit seinen politisch-justiziellen Verfolgungen von Pazifisten, Kriegsgegnern, Verständigungspolitikern zwischen Ost und West, Gewerkschaftern, Kommunisten und anderen in der BRD und auch von Menschen, die in der DDR als Spione verdächtigt oder überführt wurden. Angesprochen wird auch die politische Vereinnahmung der Justiz, ihrer Institutionen und Rechtsgrundsätze. Posser berichtet über Fälle, in denen er als Anwalt selbst tätig wurde.

Einleitend werden vom Autor „Kriegsende und Kalter Krieg“ skizziert. Posser war Kriegsteilnehmer, kam kurz in russische Gefangenschaft, bis er den Amerikanern überstellt wurde und bis 1947 in französischer Gefangenschaft war. Nach Freilassung und abgeschlossenem Jurastudium unterstützte er Gustav Heinemann (CDU), der im Oktober 1950 als Bundesinnenminister aus der Adenauer-Regierung austrat und 1951 eine Anwaltskanzlei in Essen gründete.

Heinemann war, bevor er in die Regierung eintrat, Vorstandsmitglied und Leiter der Hauptverwaltung der Rheinischen Stahlwerke (heute Rheinstahl AG), Oberbürgermeister von Essen, NRW-Landtagsabgeordneter und Präses der gesamtdeutschen Synode der Evangelischen Kirche. Er schied am 10. Oktober 1950 aus der Bundesregierung aus, nachdem Bundeskanzler Adenauer in der Kabinettssitzung am 31. August 1950 mitgeteilt hatte, dass er dem US-Hochkommissar McCloy zugesagt habe, ein Kontingent von 150.000 Mann für eine europäische Verteidigungsarmee bereitzustellen. Dadurch würde – nach Heinemanns Einschätzung – eine friedliche Wiedervereinigung zunichte gemacht. Er gründete mit anderen die Gesamtdeutsche Volkspartei (GDV), die sich gegen die Aufrüstung in Ost- und Westdeutschland, für Verständigung zwischen Christen, Sozialisten, Kommunisten, für Volksabstimmungen und für nationale deutsche Einheit aussprach. Damit wandte sich die GVP gegen Adenauers militanten Antikommunismus und Antisowjetismus, der mit bewussten Verleumdungen und Lügen vor dem Parlament und in der Öffentlichkeit vorgetragen wurde.

Zurück zu Posser: Der glaubte in der Zurückweisung der sowjetischen diplomatischen Initiativen, insbesondere der sogenannten Stalinnoten zur Wiedervereinigung von 1952 durch Adenauer, einen großen politischen Fehler zu erkennen. Im Hauptteil des Buches werden spektakuläre politische Gerichtsfälle vorgestellt:  Angeklagt waren beispielhaft die katholischen Pazifistin, Frauenrechtlerin und Hochschullehrerin Klara Maria Fassbinder (1890-1974), der Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftsfunktionär Viktor Agartz (1897-1964), das CDU-Mitglied und der Verständigungspolitiker Wilhelm Elfes (1884-1969), die KPD-Mitglieder und Abgeordneten Karl Schabrod (1900-1981) und Heinz Renner (1892-1964) und der Widerstandskämpfer, Journalist und IG-Metallfunktionär Heinz Brandt (1909-1986). Dargestellt werden auch einige politische Prozesse gegen Organisatoren des „Programms der nationalen Wiedervereinigung Deutschlands“ oder des „Hauptausschusses für Volksbefragung“, später gegen „Remilitarisierung und für einen Friedensvertrag“ 1951/52 und gegen die Freie Deutsche Jugend (FDJ-Vereinsverbot 1952) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1951-1956. Posser verweist auf problematische Gerichtsentscheidungen und umstrittenes Justizpersonal im Zusammenhang mit den politischen Prozessen in der BRD und geht dabei auch auf das ehrengerichtliche Verfahren 1955 gegen sich selbst ein.

Sein Vermächtnis prägt auch noch heute die Politik

All diese Verfahren waren nur möglich, weil die Adenauer-Regierung sich auf ehemalige Nazi-Funktionäre stützen konnte: auf Staatsanwälte, Bundesrichter, Regierungsbeamte, Rechtswissenschaftler wie Paulheinz Baldus (1906-1971), Friedrich Wilhelm Geier (1903-1965), Theodor Maunz (1901-1993) und viele andere. Und manche wirkten sogar noch in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Berufsverbotepolitik.

Dabei kam es zu nachhaltigen juristischen Spitzfindigkeiten gegen politisch Andersdenkende und Gegner: Schon bei Klara Maria Fassbinder wurde 1953 das Disziplinarrecht missbraucht, um sie als Professorin der Pädagogischen Akademie Bonn zu entlassen; Wilhelm Elfes wurde über das Passgesetz durch Verweigerung eines Reisepasses gezwungen, seine internationalen Friedens- und Verständigungsaktivitäten einzuschränken; und wie selbstverständlich wurde auch der politische Gegner bezichtigt, unrechtmäßige Geldzahlungen eingenommen zu haben wie im Fall des KPD-Bundestagsabgeordneten Heinz Renner, der angeblich zu Unrecht Entschädigungszahlungen als politisch Verfolgter des Nationalsozialismus erhalten haben soll.

Im Sinne zeitgeschichtlich-rückblendender Erinnerung mag die (erneute) Lektüre des Aufsatzbandes von Diether Posser nützlich sein. Gewiss gilt grundsätzlich: Geschichte wiederholt sich nicht. Auch wenn sich viele der von den jeweils Mächtigen benutzten Methoden und Mittel von Unterdrückung und Repression gegen aktive Dissenter nicht ändern. So wurde im April 2021 in allen Staatsschutzbehörden der „Phänomenbereich“: „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet, um „Verunglimpfung und Verächtlichmachung“ von staatlichen Institutionen und Repräsentanten zu erfassen. Damit werden höchst problematische Begrifflichkeiten übernommen, die das Bundesverfassungsgericht 1952 beim Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) ausprägte. Auf dieser Grundlage können und werden nun Kritiker bestimmter politischer Maßnahmen der Regierung vom Staatsschutz überwacht werden.

Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951-1968, Bertelsmann, München 1991, 474 Seiten.

Dr. Wilma Ruth Albrecht, Sprach- und Sozialwissenschaftlerin, belletristische und sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen, lebt in Bad Münstereifel.

Urheberrecht
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Oben      —    EPP Political Assembly, 04-05 May, Munich

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von Redaktion am 23. Juli 2023

Wo das Geld steckt – Sparpläne der Bundesregierung

Kolumne von Ulrike Herrmann

Die neuen Sparpläne der Bundesregierung sorgen für Ärger. Dabei wäre es doch so einfach, an Geld zu kommen, wie ein Blick in den Bundeshaushalt zeigt.

Der geplante Bundeshaushalt sorgt für hitzige Diskussionen. Stichworte sind: gestrichenes Elterngeld für Paare mit einem Jahreseinkommen von über 150.000 Euro, deutlich weniger Mittel fürs Bafög oder eingefrorene Zuschüsse für Krankenkassen, obwohl das Gesundheitswesen mehr Geld benötigt. Da wären innovative Ideen willkommen, wie der Staat neue Geldquellen auftun könnte.

Dass Kerosin von der Energiesteuer befreit ist, kostet den Staat 8,3 Milliarden Euro.

Um hoffnungsfrohe Erwartungen gleich zu zerstören: Neues ist nicht zu erwarten; die Debatte dreht sich seit Jahren im Kreis. Jeder denkbare Steuervorschlag wurde schon vielfach ventiliert – ohne dass sich Nennenswertes geändert hätte. Trotzdem sind manche Ideen so gut, dass eine Wiederholung nicht schadet.

Erster Vorschlag: Die Erbschaftssteuer wird endlich gerecht ausgestaltet – und belastet auch Firmenerben. Sie müssen nämlich gar keine Erbschaftssteuer zahlen, wenn sie es schlau anstellen, selbst wenn sie ein Milliardenvermögen übernehmen. Das verstößt gegen das Grundgesetz, wie das Bundesverfassungsgericht längst festgestellt hat. Profitieren würden die Länder, die notorisch klamm sind, denn sie kassieren die Erbschaftssteuer komplett.

Allerdings nutzen selbst die Machtworte des Verfassungsgerichts bisher nichts, weil die Familienunternehmen geschickte Lobbyarbeit betreiben und den Eindruck erzeugen, ihr Betrieb würde sofort in den Konkurs rutschen, wenn sie Erbschaftssteuer abführen müssten. Das ist nachweislich falsch. Früher mussten Firmenerben nämlich Steuern zahlen, aber Pleiten gab es dadurch nicht.

Zweiter Vorschlag: Die umweltschädlichen Subventionen werden abgeschafft. Das Umweltbundesamt hat eine lange Liste vorgelegt und unter anderem errechnet, dass es allein 8,2 Milliarden Euro im Jahr kostet, Diesel nicht so hoch zu besteuern wie Benzin. Die Entfernungspauschale schlägt mit weiteren 6 Milliarden Euro zu Buche, das Dienstwagenprivileg führt zu Mindereinnahmen von 3,1 Milliarden Euro, und die Befreiung des Kerosins von der Energiesteuer kostet 8,3 Milliarden Euro. Diese Zahlen stammen von 2018, neuere gibt es nicht.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Theoretisch ließe sich so also viel Geld mobilisieren. Aber man stelle sich einmal vor, die Entfernungspauschale würde entfallen. Die Wut in den Vororten wäre grenzenlos, was keine Partei riskieren möchte. Zudem scheitern alle diese Vorschläge daran, dass es direkte oder indirekte Steuererhöhungen wären. Die hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag aber ausgeschlossen, wie FDP-Finanzminister Lindner bei jeder Gelegenheit betont.

Bleibt ein dritter Vorschlag, der sich sofort umsetzen ließe und für Mehreinnahmen sorgen würde: Die Regierung hebt den Mindestlohn deutlich an. Wenn die Niedriglöhner endlich mehr verdienten, würden sie auch mehr Steuern zahlen. Zugleich würden sie mehr Beiträge in die Renten- und Krankenkassen abführen, sodass die staatlichen Zuschüsse dort abnehmen könnten.

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Krieg: Ukraine-Russland

Erstellt von Redaktion am 22. Juli 2023

Dilemma mit Streuwirkung

Von Elvira Rosert ind Frank Sauer

Die Lieferung der verpönten, aber legalen Streumunition wurde notwendig, weil die internationale Koalition die Ukraine nicht ausreichend mit anderen Waffen versorgt hat.

Die Streumunition aus den USA ist nun in der Ukraine angekommen. Zuvor hatte die Ankündigung dieser Lieferung nicht nur in Deutschland für Kontroversen gesorgt. Das Völkerrecht bemühten dabei sowohl diejenigen, die die Lieferung kritisierten, als auch diejenigen, die sie begrüßten. Doch der Verweis aufs Völkerrecht allein greift zu kurz.

Bei Streumunition handelt es sich um Behälter, die mit Dutzenden, teils Hunderten explosiven Submunitionen gefüllt sind, die sich nach dem Abwurf in der Fläche verteilen. Während eine einzelne konventionelle Artilleriegranate in unmittelbarer Nähe feindlicher Truppen landen muss, um sie zu verletzen oder zu töten, hat die entsprechende Streumunition durch die Vielzahl der freigesetzten „Bomblets“ eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, dem Gegner zu schaden. Die großflächige Zerstörungskapazität macht Streumunition militärisch so wirksam – und für die Ukrai­ne nützlich.

Diese Flächenwirkung hat allerdings zum Verbot von Streumunition durch einen internationalen Vertrag geführt, der 2010 in Kraft trat. Humanitäre Organisationen und die damals 107 Unterzeichnerstaaten waren der Auffassung, dass die Waffen gegen das humanitärvölkerrechtliche Gebot verstoßen, zwischen Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden. Denn erstens sind Streubomben schon während ihres Einsatzes potenziell gefährlich für die Zivilbevölkerung, weil sie nicht punktgenau nur gegen militärische Ziele gerichtet werden können. Zweitens explodiert nicht jede Submunition, so dass Blindgänger verbleiben, die noch Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte später Menschen verstümmeln und töten.

Doch der Vertrag bindet, wie andere interna­tio­nale Verträge auch, nur diejenigen Staaten, die ihm beigetreten sind. Eine Ausnahme bildet das Völkergewohnheitsrecht, zu dem die Streubombenkonvention aber nicht zählt. Weder die USA noch die Ukraine haben den Streumunitionsverbotsvertrag unterschrieben; die USA können deshalb legal Streumunition liefern, die Ukraine sie legal empfangen und auch einsetzen, sofern sie es gemäß den Regeln des humanitären Völkerrechts tut und alles unternimmt, um Zivilisten möglichst zu schützen. Die Rechtslage ist klar.

Allerdings sind Verbotsnormen, sozialwissenschaftlich verstanden als kollektive Verhaltenserwartungen, nicht notwendigerweise kongruent mit dem kodifizierten Recht. Normen entfalten eine soziale Verbindlichkeit, die die rechtliche in manchen Fällen übertrifft.

Genau daher rührt die Empörung im vorliegenden Fall: Die völkerrechtliche Norm gilt nur begrenzt, doch das Stigma, das Streubomben inzwischen umgibt, ist stärker. Der Verbotsvertrag verstärkt dieses natürlich, indem er es in positives Recht gießt, doch entstanden ist das Stigma bereits Jahrzehnte zuvor, als Einsätze von Streumunition immer wieder für öffentliche Kritik sorgten, was humanitäre Organisationen zusammen mit gleichgesinnten Staaten zu einer globalen Äch­tungs­kam­pagne veranlasste.

Insbesondere in demokratischen Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Japan, die die Streumunitionskonvention ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt haben, überrascht nicht, dass das Verbot in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert ist. Wenn politische Führungsfiguren der Vertragsstaaten wie die deutsche Außenministerin Anna­lena Baer­bock oder die spanische Verteidigungsministerin Margarita Robles die Lieferung und die geplante Nutzung von Streumunition kritisieren, dann folgen sie damit nicht nur ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung, sich zu bemühen, den Einsatz abzuwenden – sie bedienen vor allem auch die öffentliche Erwartung, dass gerade die Vertragsstaaten die Norm auch unter widrigen Umständen hochhalten.

Aber auch, dass US-Präsident Joe Biden die Entscheidung lange aufgeschoben hatte und sie nun als „sehr schwierig“ bezeichnete, belegt die Wirkmächtigkeit der sozialen Norm: Ohne sich rechtlich gebunden zu haben, erkennen die USA dennoch die internationale Erwartung und das humanitäre Problem demonstrativ an. Dass also im Weißen Haus die absehbare öffentliche Kritik an der „amerikanischen Doppelmoral“ und Bedenken der Allianzpartner in die Entscheidung einbezogen wurden, zeigt, dass die Biden-Administration willens und in der Lage ist, über simplen Rechtspositivismus hinauszudenken. Kurzum: Das Weiße Haus hätte die ganze Zeit schon liefern dürfenwollte es aber nicht, weil den Verantwortlichen das dadurch heraufbeschworene politische Dilemma klar vor Augen stand.

Ein Dilemma stellt sich aber zuallererst für die Ukrai­ne. Die Lieferung wurde nur notwendig, weil die internationale Koalition, die die Ukraine bei der Verteidigung unterstützt, sie nicht ausreichend mit anderen Waffen versorgt hat. Diese hätte die Ukraine gebraucht, um die zahlenmäßigen Nachteile bei Artilleriesystemen und -munition auszugleichen und die humanitären sowie reputativen Risiken durch den Einsatz von Streubomben gar nicht erst eingehen zu müssen. Sie hat Streumunition, geliefert von der Türkei, im Übrigen bereits eingesetzt. Kyjiw hat also das Für und Wider längst abgewogen und entschieden, dass der Schaden durch einige zusätzliche Blindgänger auf dem eigenen Territorium durch den militärischen Gewinn aufgewogen wird – „einige zusätzliche“, weil die Ukraine längst mit russischen Minen und Blindgängern übersät ist, inklusive der Städte, auf die Russland schon seit Monaten Streumunition abfeuert. Umso zynischer erscheint vor diesem Hintergrund die aktuelle „Drohung“ Russlands, in Reaktion auf die Lieferung seinerseits Streumunition einzusetzen.

Ein Dilemma stellt sich auch für Deutschland, wo die Debatte in den letzten zwei Wochen besonders intensiv war. Die Sorge ob möglicher negativer Auswirkungen auf das Streumunitionsverbot, das Völkerrecht oder sogar die regelbasierte Weltordnung insgesamt ist groß. Aber die Rechtsnorm gilt nun einmal nicht universell, und abgesehen von den USA und der Ukraine haben auch eine ganze Reihe von EU- und Nato-Partnern wie Polen, Rumänien, Estland, Lettland oder Finnland den Vertrag nicht unterzeichnet. Zudem kann man nur jede und jeden ermutigen, die Sache einmal aus der Sicht der Ukraine zu betrachten, die ums Überleben kämpft, die rechtlich nicht verpflichtet ist, auf Streumunition zu verzichten, die diese Entscheidung getroffen hat und die Konsequenzen zu tragen bereit ist. Nachdem Berlin sich in den letzten Monaten für die Lieferung aller anderen Waffen samt ausreichender Munition ausführlichste Debatten gegönnt hat, wäre es wohlfeil, der Ukrai­ne vom friedlichen Deutschland aus jetzt in den Arm zu fallen. Das ist freilich auch der Bundesregierung sehr wohl bewusst – und erklärt, warum der politische Protest, den Deutschland gemäß seiner Vertragsverpflichtungen einlegen musste, eher verhalten und selektiv ausfiel.

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben           —     Ein USAF-B1-Bomber wirft 30 CBU (Clusterbomben) ab.

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Messenger-Apps:

Erstellt von Redaktion am 22. Juli 2023

Bauanleitung für plattformübergreifende Chats

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :       

Große Tech-Konzerne wie Meta und Google haben gemeinsam einen offenen Standard für Messenger-Verschlüsselung erarbeitet. Er könnte künftig den Nachrichtenaustausch zwischen verschiedenen Apps ermöglichen. Wichtige Fragen sind aber noch ungeklärt.

Ein neuer Standard könnte revolutionäre Änderungen für Messenger-Apps bringen. Er ermöglicht verschlüsselte Gruppenchats mit tausenden Teilnehmenden und erlaubt mehr Sicherheit auch bei kompromittierten Mitgliedern. Mehr noch: Als offizieller Standard hat Messaging Layer Security (MLS) gute Chancen, eines Tages die Grundlage für den Austausch verschlüsselter Nachrichten zwischen Nutzer:innen unterschiedlicher Apps zu bilden.

Diese Woche hat die Standardisierungsorganisation IETF das Protokoll in seiner endgültigen Fassung veröffentlicht. Gut fünf Jahre lang arbeiteten Expert:innen aus Unternehmen wie Cisco und Meta mit Forscher:innen aus Oxford oder dem französischen INRIA-Institut daran. Beteiligt waren auch Mitarbeiter:innen von Mozilla, Google, Amazon und Apple.

Das neue Protokoll ist „wirklich eine Gruppenleistung der akademischen Gemeinschaft und der Industrie“, sagt Raphael Robert von der Berliner Softwarefirma Phoenix R&D, der ebenfalls daran mitgearbeitet hat. Dass Konzerne, die einander sonst erbitterte Konkurrenz liefern, zusammengearbeitet haben, spricht aus seiner Sicht für den neuen Standard.

Bauanleitung für Chats über Plattformgrenzen hinweg

Von der IETF abgesegnete Protokolle sind die Grundlage des Internets. Das TCP/IP-Protokoll sorgt etwa dafür, dass Computer unabhängig vom Hersteller oder Betriebssystem Datenpakete über Netzwerke miteinander austauschen können. Ähnlich ermöglicht das HTTP-Protokoll unter anderem das Laden von Websites oder IMAP den Zugriff auf E-Mails. Doch für moderne Messenger-Dienste wie WhatsApp, iMessage oder Signal fehlte bislang ein vergleichbarer offener Standard.

Für Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messenger wie WhatsApp, iMessage oder Signal gilt das Prinzip: Nachrichten werden vor dem Versenden verschlüsselt und erst nach dem Empfang entschlüsselt. Das stellt sicher, dass selbst der Betreiber einer App keinen Zugriff auf den Nachrichteninhalt hat. Das neue MLS-Protokoll ist quasi eine Bauanleitung dafür, wie diese Verschlüsselung für viele Nutzer:innen und über Plattformgrenzen hinweg funktionieren kann.

Warum Konzerne wie Google und Meta, sonst erbitterte Konkurrenz, dafür zusammenarbeiten? Bislang nutzen Messenger wie WhatsApp und Skype für ihre Ende-zu-Ende-Verschlüsselung das Signal-Protokoll, dass von Gründern der Messenger-Apps Signal entwickelt wurde. Dieses gilt als „Stand der Dinge“ in der Branche, allerdings sei es kein offener Standard, sagt Raphael Robert.

Der Entwickler sieht klare technische Vorteile von MLS, welches das Signal-Protokoll ablösen soll. Denn im Gegensatz zum Signal-Protokoll bewältige MLS große Gruppenchats kryptografisch viel effizienter, damit spare das Protokoll Rechenleistung und Bandbreite. Was bisher technisch schwierig war, werde dadurch möglich, heißt es von den Entwickler:innen: Verschlüsselte Gruppenchats für tausende, vielleicht sogar zehntausende Teilnehmer:innen.

Bei WhatsApp sind Gruppen bislang auf 1.024 Teilnehmende beschränkt, bei Telegram sind Gruppenchats nicht Ende-zu-Ende-verschlüssselt. Mit dem neuen Protokoll hätten die Konzerne innerhalb der IETF etwas geschaffen, was vermutlich „in der Reife keine Firma alleine hätte erarbeiten können“, sagt Raphael Robert.

Wie die Firmen das MLS-Protokoll nun in ihre eigenen Produkte einbauen, ist noch offen. Vor allem Meta lässt sich bislang nicht in die Karten schauen. Einzelne Anbieter haben allerdings bereits gehandelt, Cisco hat etwa eine Entwurfsversion von MLS bereits in seine Meetingsoftware Webex integriert. Auch Google, das in der Vergangenheit immer wieder mit eigenen Messengerprojekten gescheitert ist, könnte mit MLS einen neuen Anlauf unternehmen.

Puzzlestück für die Messenger-Öffnung

Das MLS-Protokoll ist unterdessen ein wichtiges Puzzlestück für Bestrebungen der Europäischen Union, große Messengeranbieter zur Öffnung ihres Dienste zu zwingen. Das hat die EU im Digitale-Märkte-Gesetz festgeschrieben. Wer einen der großen Messenger nutzt, soll künftig auch Nachrichten von einem anderen Messenger empfangen können.

Im Visier der EU ist dabei insbesondere WhatsApp: Die App des Meta-Konzerns ist weltweit auf rund zwei Milliarden Geräten installiert – viele Menschen kommen im Alltag bislang nicht an ihr vorbei. Indem die EU den freien Nachrichtenaustausch zwischen verschiedenen Apps erzwingt, will sie den Wettbewerb stimulieren und kleineren Anbietern helfen.

Einige dieser Anbieter wie Signal und Threema warnen allerdings, der Nachrichtenaustausch über Plattformgrenzen sei ein Sicherheitsrisiko, ein Konzern wie Meta könnte dadurch außerdem Zugang zu noch mehr Nutzer:innendaten erhalten. Die technische Methode, wie die Interoperabilität zwischen Messengern umgesetzt wird, hat womöglich große Auswirkungen auf Datenschutz und IT-Sicherheit.

Während etwa Signal seinen Nutzer:innen verspricht, möglichst wenige Daten zu sammeln und diese sobald als möglich zu löschen, sammelt WhatsApp die Metadaten seiner Nutzer:innen. Das bietet ein mögliches Einfallstor für Überwachung durch US-Geheimdienste. Auch gibt es seit längerem Befürchtungen, dass Meta die Metadaten von WhatsApp-Nutzer:innen für Werbezwecke nutzen könnte.

Das MLS-Protokoll lässt es denjenigen, die es in ihre Messenger implementieren, grundsätzlich offen, ob und wie viele Metadaten sie speichern wollen, erklärt Raphael Robert. Eine weitere IETF-Arbeitsgruppe, an der Robert ebenfalls mitarbeitet, soll nun offene Fragen zu Interoperabilität wie den Umgang mit Metadaten klären. Ziel sei es, einen Standard mit den „stärksten nutzbaren Sicherheits- und Privatsphäreeigenschaften zu erreichen“. Ob das gelingt und dann auch bei WhatsApp und anderen großen Apps zum Einsatz kommt, ist allerdings noch offen.

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Oben           —         Flic Flac 2010

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Katastrophe mit Ansage

Erstellt von Redaktion am 22. Juli 2023

Vernachlässigte Grundschulen

So wie die Alten sungen – so zwitschern auch die Jungen

Von Anja Bensinger-Stolze

Jedes vierte Kind in Deutschland kann am Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen – Tendenz steigend. Und: Die sozialen Unterschiede bei der Lesekompetenz sind seit 20 Jahren unverändert. Das sind die zentralen und skandalösen Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2021).[1] Bereits bei der IGLU-Erhebung vor fünf Jahren war der Anteil der Kinder, die nicht ausreichend lesen können, mit 19 Prozent viel zu hoch. Die aktuellen Zahlen lassen jedoch alle Alarmglocken schrillen: Lesekompetenz ist die wichtigste Grundlage für eine erfolgreiche Schullaufbahn der Kinder sowie für deren spätere Berufs-, Lebens- und Teilhabechancen. Deutschland steuert auf ein gigantisches gesellschaftliches Problem zu, wenn ein Viertel der jungen Menschen nicht mehr Fuß fassen kann.

Die Schulleistungsstudie IGLU untersucht die Lesekompetenz von Schüler:innen der vierten Jahrgangsstufe. Im Fokus stehen dabei nicht die individuellen Leistungen der einzelnen Schüler:innen, sondern die Frage, wie leistungsfähig die jeweiligen Bildungssysteme im internationalen Vergleich sind. Die nun vorliegenden Ergebnisse beruhen auf der IGLU-Studie 2021, Deutschland nahm zum fünften Mal daran teil. Somit können Veränderungen der Leseleistung von Schüler:innen über einen Zeitraum von 20 Jahren beschrieben werden. Dabei zeigt sich, dass sich hierzulande der Anteil der leseschwachen Kinder signifikant vergrößert und der Anteil der leistungsstarken abgenommen hat.

Weitere zentrale Befunde der Untersuchung sind, dass die dabei wirkmächtigen sozialen und migrationsbedingten Disparitäten in Deutschland seit 2001 nicht reduziert werden konnten. In 20 Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland praktisch nichts verändert. So sind die Leseleistungsvorsprünge von Schüler:innen aus sozial privilegierten Familien gegenüber jenen aus weniger privilegierten Familien sehr stark ausgeprägt. Erschreckend ist überdies der (erneute) Befund, dass Kinder von an- und ungelernten Arbeiter:innen deutlich höhere Leistungen erbringen müssen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.

Ebenso sind die Leseleistungsvorsprünge derjenigen Schüler:innen, die zu Hause in der Regel Deutsch sprechen, stark ausgeprägt – und zwar stärker als in den OECD-Staaten mit Blick auf die jeweilige Landessprache. Die hiesigen Leseleistungsunterschiede zwischen den Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund lassen sich eindeutig mit der Sprache und dem sozialen Status der Familie erklären. Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind – nachdem sie sich in den letzten Jahren zugunsten der Jungen leicht verbessert hatten –, wieder auf das Niveau von 2001 gefallen.

Die verheerenden IGLU-Ergebnisse werden durch weitere Studien bestätigt. Auch im IQB-Bildungstrend 2021 vom vergangenen Oktober[2] wurde deutlich, dass fast 20 Prozent der Kinder am Ende der vierten Jahrgangsstufe den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen. Die IQB-Studie wurde bereits dreimal (2011, 2016 und 2021) durchgeführt, sodass ein Vergleich über zehn Jahre gezogen werden kann. Dabei zeigen sich in allen Testbereichen signifikant negative Trends. Ob beim Lesen oder Zuhören, bei Orthografie oder Mathematik: Der Anteil von Kindern, die den Mindeststandard verfehlen, hat sich erhöht.

Ebenso besorgniserregend ist die im März 2023 erschienene bildungsstatistische Analyse von Klaus Klemm „Jugendliche ohne Hauptschulabschluss“.[3] In den vergangenen zehn Jahren hat sich deren Quote kaum verändert: von 6,1 Prozent 2011 auf 6,2 Prozent im Jahr 2021. Sprich: Jedes Jahr verlassen über 47 000 Jugendliche ohne Abschluss die Schule. Diese Quote halbieren zu wollen, war das schon 2008 auf dem Bildungsgipfel der damaligen Kanzlerin Angela Merkel erklärte Ziel von Bund und Ländern. Doch auch von diesem entfernt sich das deutsche Schulwesen weiterhin.

Klemms Analyse zeigt zudem, dass ein Großteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss aus Förderschulen kommt. Diese Schulen sehen häufig gar keinen Schulabschluss vor, und es gibt noch immer viel zu viele von ihnen.[4] Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir das Bildungssystem inklusiver gestalten, um nicht weiterhin so viele Bildungsverlierer:innen aus den Schulen zu entlassen.

Alle drei hier zitierten Studien und Analysen umfassen mindestens zehn Jahre – das spricht gegen das derzeit häufig von den politischen Verantwortlichen ins Feld geführte Argument, die aktuellen Missstände seien auf die Coronakrise zurückzuführen. Die Pandemie hat die Lage zwar verschärft, aber die Ursachen für die Misere an den Grundschulen liegen tiefer.

Dramatisch unterfinanziert, zu wenig Personal

Das gesamte Bildungssystem in der Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten dramatisch unterfinanziert. In allen Bildungsbereichen, insbesondere in Kindertagesstätten und Schulen, herrscht ein riesiger Personalmangel. Darüber hinaus hat die Politik gerade die Grundschulen in den vergangenen Jahren vernachlässigt. Sie wog sich dabei in trügerischer Sicherheit. Denn die Grundschulkinder erzielten bis in die 2010er Jahre hinein durchaus gute Ergebnisse, während der PISA-Schock 2001 eher die Missstände in der Sekundarstufe I in den Fokus rückte: Die 15jährigen hatten bei der internationalen Schulstudie deutlich schlechter abgeschnitten als erwartet. Grundschullehrkräfte wurden indessen weiterhin schlechter bezahlt als Lehrer:innen an anderen Schularten. Und auch an der Ausstattung und Sanierung der Schulen wurde gespart. Ein Numerus clausus für das Grundschullehramt an vielen Hochschulen verknappte zusätzlich das Angebot an Anwärter:innen für den Beruf. Die Folge: Immer weniger junge Menschen wollten an dieser Schulart unterrichten, seit Jahren können weit über tausend Leitungsstellen an Grundschulen nicht besetzt werden. An keiner anderen Schulart ist der Lehrkräftemangel so dramatisch wie an den Grundschulen. Doch für einen qualitativ hochwertigen Leseunterricht, der nicht nur die basalen Leseleistungen unterstützt, sondern auch Lesestrategien beinhaltet, bedarf es einer guten Unterrichts- und Schulentwicklung und dafür deutlich mehr Zeit für die Kinder und gut ausgebildete Pädagog:innen.

Quelle         :           Blätter-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —       séance au parlement allemand

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Kolumne FERNSICHT Israel

Erstellt von Redaktion am 22. Juli 2023

Fromme Fundamentalisten vereint im Hass

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Von Hagan Dagan

Die USA initiierten jüngst eine scharfe Verurteilung der Anti-LGBT-Gesetze in Ungarn, der sich über 30 Länder anschlossen, darunter die Bundesrepublik. Das einzige europäische Land, das die Kritik verweigerte, war Polen. Auch Israel unterzeichnete die Stellungnahme nicht, obschon das Weiße Haus Jerusalem ausdrücklich dazu aufgefordert hatte. Grund für die israelische Haltung dürften die engen Beziehung zwischen Jerusalem und Budapest sein.

In den vergangenen Jahren sind sich Benjamin Netanjahu und Viktor Orbán noch näher gekommen. Rechte Politiker aus dem Umfeld Netanjahus reisen regelmäßig nach Budapest und preisen die weltanschaulichen Übereinstimmungen der Rechten Israels und Ungarns. Umgekehrt machen sich die Ungarn innerhalb der EU für Israel stark, wenn es um eine Verurteilung der israelischen Politik geht. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.

Über Jahrzehnte war Israel ein konservatives Land, allerdings nicht im religiösen, sondern im sozialistischen Sinne. Die Jugendbewegung, der ich im Kibbuz angehörte, nannte sich „Hashomer Hatzair“, zu Deutsch: „der junge Wächter“, der, wie wir auswendig lernen mussten: „nicht trinkt, nicht raucht und sexuelle Reinheit bewahrt“. In den 90er Jahren wurde die Gesellschaft offener, entspannter und befreiter, vor allem in der Tel Aviver „Blase“. Außerhalb der Stadtgrenzen fand bisweilen genau das Gegenteil statt. Dort nahm der Einfluss der konservativen und fundamentalistischen Gruppen nur noch zu. Diese Gruppen standen auch unter dem Einfluss der Rechts-Religiösen in den USA, und so kam es, dass ein Teil der israelischen Rechts-Religiösen weniger vom „heiligen Land“ und dem unteilbaren Großisrael sprach, als von Geschlechtertrennung und der Wahrung der Jungfräulichkeit. Im Laufe der Jahre wurde die Auseinandersetzung mit dem Thema LGBT, allen voran schwule Männer, zu einer regelrechten Obsession. Ultraorthodoxe propagierten Kon­ver­sions­the­ra­pien und beschimpften Homo­sexuel­le als schmutzige, wilde Tiere, die sich wider die Natur verhielten. Infolge der letzten Parlamentswahlen zogen Vertreter dieser Gruppen in die Regierung Netanjahus ein. Dort sind sie Herren über umfangreiche Budgets, die es ihnen ermöglichen, ihre verstörenden, abscheulichen Vorstellungen in das israelische Bildungssystem einfließen zu lassen.

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So entsteht eine dichotome, brisante Situation. Während in Tel Aviv riesige Pride-Partys stattfinden, die gesamte Stadt und die Knesset in Jerusalem die Regenbogenfahne hisst, steht ein großer Teil der israelischen Gesellschaft der Queer-Community durch und durch feindselig gegenüber. In manchen Gegenden riskieren offen homosexuell lebende Menschen Übergriffe. Ein Abgeordneter verkündete jüngst in der Knesset, dass Queers „gefährlicher als der IS“ seien. Die Pride-Paraden finden zwar fast im ganzen Land statt, aber außer in Tel Aviv müssen sie polizeilich vor eventuellen Angriffen geschützt werden. In Jerusalem hat vor wenigen Jahren ein religiöser Fanatiker ein junges Mädchen im Verlauf der Pride-Parade erstochen. Die Lage im arabischen Sektor ist noch schlechter. Dort wurde vor Kurzem eine junge lesbische Frau von Familienangehörigen getötet.

Quelle          :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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300 Jahre Adam Smith

Erstellt von Redaktion am 21. Juli 2023

Ausbeutung macht arm

KOLUMNE FINANZKASINO  von  Ulrike Herrmann

Adam Smith war einer der wichtigsten Ökonomen und Moralphilosoph. Er wusste: Reich wird man nur, wenn auch die anderen reich sind.

Was waren die herausragenden Leistungen von Adam Smith? Das ist umstritten. Der schottische Aufklärer wurde vor 300 Jahren geboren, und aus diesem Anlass schrieb der Ökonom Konstantin Peveling kürzlich in der taz, dass Smith zwar ein sehr wichtiger Moralphilosoph gewesen sei, aber „nicht Gründer der Volkswirtschaftslehre“. Was für ein Irrtum. Smith war einer der kreativsten Ökonomen aller Zeiten, und sein Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 ist noch heute hochaktuell.

Übrigens war es früher gängig, dass die Ökonomie von Fachfremden vorangetrieben wurde, denn die Volkswirtschaftslehre hat sich erst sehr spät als Fach etabliert. Karl Marx war bekanntlich auch Philosoph, und der wichtigste Ökonom des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, hat zunächst als Mathematiker begonnen.

Doch zurück zu Smith: Er wollte erklären, wie es zu Wohlstand und Wachstum kommt. Bis dahin hatten die Fürsten naiv angenommen, dass man nur Gold- und Silbermünzen anhäufen müsse, um reich zu sein. Smith hingegen zeigte, dass die Edelmetalle nicht zählen, sondern dass die Arbeit entscheidend ist.

Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass es ohne Arbeit keinen Wohlstand geben kann. Aber hinter dieser Einsicht verbirgt sich eine theo­retische Revolution, die die Ökonomie für immer verändert hat. Gold und Silber sind Vermögenswerte, im Wirtschaftsdeutsch auch „Bestandsgrößen“ genannt. Man hat Goldmünzen – oder man hat sie eben nicht. Indem Smith jedoch die Arbeit in den Mittelpunkt rückte, lenkte er den Blick auf das Einkommen, also eine „Strömungsgröße“. Reichtum wurde neu definiert: Es ist kein Besitz, den man in Tresoren lagern kann, sondern wird erst durch den Produktionsprozess erschaffen.

Smith entdeckte die zentrale Rolle der Kapitalisten

Aber wer erwirtschaftet dieses Einkommen? Wieder gelang es Smith, die Ökonomie völlig neu zu ordnen, indem er drei zentrale Gruppen ausmachte – die Landbesitzer, die Arbeiter und die Unternehmer.

So erstaunlich es heute erscheinen mag: Frühere Theoretiker hatten die Bedeutung der Kapitalisten völlig übersehen. Typisch waren etwa die französischen Physiokraten, die nach Wirtschaftszweigen und nicht nach sozialer Rolle unterschieden hatten. Bei den Physiokraten war die Landwirtschaft eine Klasse, in der dann sowohl Landbesitzer wie Landarbeiter versammelt waren – während sich in einer anderen Klasse die Manufakturbesitzer, Handwerker und Fabrikarbeiter wiederfanden.

Erst Smith bündelte die Kapitalisten in einer Klasse – und die Arbeiter in einer anderen. Bei ihm spielte es keine Rolle mehr, ob die Tagelöhner auf dem Land oder in der Fabrik schufteten, denn sie waren alle abhängig beschäftigt. Zugleich zeichneten sich Unternehmer branchenunabhängig dadurch aus, dass sie in die Produktion investierten, um Gewinne zu machen. Uns erscheint diese Erkenntnis trivial, aber es war eine theoretische Revolution, den Kapitalisten als eine zentrale Figur im Kapitalismus zu erkennen.

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Aber wer wird Kapitalist und wer Arbeiter? Wer wird reich und wer muss schuften? Wieder war Smith seiner Zeit weit voraus, denn er sagte eindeutig: Mit der Begabung des Einzelnen hat es überhaupt nichts zu tun, ob er Tagelöhner oder Philosoph wird. Smith glaubte nicht an Intelligenzunterschiede zwischen Arm und Reich, sondern hielt es für eine soziale Zufälligkeit, wer das Glück hat, in die höheren Ränge hineingeboren zu werden. Die neoliberale Rhetorik von den „Leistungsträgern“ hätte er als naiv abgetan.

Die Angst vor der Globalisierung ist nicht neu

Smith wollte die Tagelöhner daher besser stellen: Er forderte höhere Löhne und hätte Gewerkschaften begrüßt. Auch sollten die Kinder von Tagelöhnern zumindest Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Erneut war Smith revolutionärer, als es heute erscheint: Die allgemeine Schulpflicht wurde in England erst 1871 eingeführt.

Schon zu Smith’ Zeiten gab es Diskussionen, die überaus vertraut anmuten. Großbritannien war damals die führende Industrienation, und die Engländer machten sich Sorgen, dass die anderen europäischen Länder genauso reich werden könnten, wenn man ihre Waren unbeschränkt importierte. Die Angst vor der Globalisierung ist also nicht neu – nur dass man sich damals vor Frankreich fürchtete, während jetzt vor allem Chinas Aufstieg gemischte Gefühle auslöst.

Smith versuchte seine Mitbürger zu beruhigen, indem er auf ein Phänomen hinwies, das bis heute zu beobachten ist: Reiche Länder handeln vor allem mit anderen reichen Ländern, denn nur wo Wohlstand herrscht, kann Nachfrage nach auswärtigen Produkten entstehen.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben      —     St. Giles Adam Smith, Edingburgh

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Unten       —       MAISCHBERGER am 6. März 2019 in Köln. Produziert vom WDR. Thema der Sendung: „Attacke auf die Reichen: Beschimpfen, besteuern, enteignen?“ Foto: Ulrike Herrmann, Journalistin

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HITLER-LAUTERBACH-BAUER

Erstellt von Redaktion am 21. Juli 2023

Gericht will Grundgesetz außer Kraft setzen

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Dem Künstler und Professor Rudolph Bauer flatterte jüngst ein Strafbefehl des Amtsgerichtes Stuttgart ins Haus. Er soll den Gesundheitsminister Lauterbach beleidigt haben.

Und dieser Beleidigung wegen soll Rudolph Bauer eine Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zahlen. „Der Tagessatz wird auf 100,00 EUR festgesetzt. Die Geldstrafe beträgt somit insgesamt 3.000,00 EUR“.

Gericht beleidigt Impf-Skeptiker

Woher kann das Gericht wissen, dass Bauer den Gesundheitsminister beleidigt haben soll? Bauer hatte dem inhaftierten Demokraten Michael Ballweg zwei Bildbände aus seiner Kunstproduktion ins Gefängnis geschickt. Die Bände, so behauptete das Gericht, hätten „Feindbilder aus dem Coronaleugner-/Impfgegner-Milieu“ enthalten. Das Gericht bediente sich in seinem Strafbefehl des Hetzwortes „Coronaleugner“, obwohl weder Bauer noch die Mitglieder der Demokratiebewegung ein Virus leugnen. Auch besteht das Demokratie-Milieu kaum aus Impfgegnern. Nicht wenige der aktiven Demokraten haben sich gegen Masern oder Pocken impfen lassen. Das Gericht beleidigt also jede Menge ihm unbekannter Menschen. Diese notorischen Lügen sind offenkundig am Jargon erkennbar, politisch motiviert. Eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen die Stuttgarter Rechtsbeuger wäre also fällig.

Gericht gegen Grundgesetz

Aber die Stuttgarter Rechtsbrecher haben sich einer weiteren Rechtsverletzung schuldig gemacht: Sie haben, ohne dazu befugt zu sein, die Post des Häftlings Ballweg gelesen. Dann haben sie in ihrer amtlich bezahlten Zeit, statt echten Verbrechen nachzugehen, die Bildbände des Künstlers Rudolph Bauer studiert. Dieses Studium hat aber leider ihren Bildungshorizont nicht erweitert, sonst wäre das Stuttgarter Gericht nie auf die Idee gekommen, eine Bildmontage Bauers, die den Lauterbach als Hitler karikiert (siehe Bild unten) für strafwürdig zu halten. Denn natürlich fällt die Montage unter den Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Kunstfreiheit garantiert. Das ist derselbe Artikel, der auch die Meinungsfreiheit verbürgt.

Drohung gegen Fußball-Profi

Dass Bauer zu einer Meinung über Lauterbach kommt, die ihn in der Nähe des fanatischen, zwangsorientierten Hitler sieht, liegt am besessenen Impf- und Pharma-Freund Lauterbach selbst. Es war Lauterbach, der dem Fußball-Profi und Impf-Skeptiker Joshua Kimmich anbot „dass ich ihn selbst impfe“. Doch nicht genug der Drohung, die fraglos nicht nur dem Profi Kimmich galt, sondern jener Allgemeinheit, die Distanz zum Pharma-Risiko hatte. Der Impfwahn Lauterbachs ging bis zur diktatorischen Prophetie: „Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein“. Auch in seinen politischen Erpressungs-Lügen war Lauterbach dem Diktator ähnlich, wenn er behauptete: „Klar ist aber, dass die meisten Ungeimpften von heute bis dahin (März 22) entweder geimpft, genesen oder leider verstorben sind, denn das Infektionsgeschehen mit schweren Verläufen betrifft vor allem Impfverweigerer“. Mit dem Begriff „Impfverweigerer“ stigmatisierte der Pharma-Agent Lauterbach gezielt jene nachdenklichen Menschen, die trotz des Medien-Trommelfeuers für die Spritzung noch in der Lage waren, Risiken abzuwägen. Die inzwischen bekannten Spritzschäden geben ihnen heute Recht.

Tribute to White Power

Selbst die Gerichte schreiben manchmal schmutzige Geschichten !

Wo Unrecht Schule macht, wird Widerstand zur Pflicht

Bleibt die Frage, auf welchem Weg die Post Bauers, die nur für Michael Ballweg gedacht war, an Minister Lauterbach gelangte, der sich prompt beleidigt fühlte und der dann ebenso prompt Strafantrag gegen Professor Bauer stellte. Weder die Gefängnisleitung noch Lauterbach, noch das Stuttgarter Gericht hatten das Recht, diese Post zum Zwecke eines Strafantrages einzusehen. Aber kriminelle Vergehen waren im Umfeld der organisierten Corona-Hysterie gern gesehen: Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes durch die Regierung wurde sogar durch deutsche Gerichte sanktioniert. Wo Unrecht Schule macht, wird Widerstand zur Pflicht. Da mußte sich der Bürger Rudolph Bauer mit seiner Kunstaktion geradezu vor den Artikel 19 GG stellen. Denn die Einschränkung der Versammlungsfreiheit berührt ein Grundrecht. Dazu formuliert das Grundgesetz im seinem Artikel 19: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“.

Verstehen können oder wollen

Wer nicht versteht, dass Bauers Montage eine künstlerische Umsetzung des sprichwörtlichen „Wehret den Anfängen!“ bedeutet, der kann entweder oder will nicht begreifen, dass der Schutz vor einem imaginären Killer-Virus nur ein Vorwand für den drakonischen Abbau der Demokratie war. Wer das nicht kann, der gehört mangels demokratischem Verständnis nicht in den Justiz-Dienst. Und wer das nicht begreifen will, der sollte zum Schutz der Demokratie umgehend aus diesem Dienst entfernt werden.

Urheberrecht

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Oben      —     Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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Nachrichten-Portal Nius

Erstellt von Redaktion am 21. Juli 2023

Bereits Klage wegen Volksverhetzung:

Quelle      :        INFOsperber CH.

Esther Diener-Morscher / 

Die deutsche Online-Zeitung wettert gegen Ausländer, Klimaschutz und Transmenschen. Und behauptet, die Stimme der Mehrheit zu sein.

Deutschland hat seit ein paar Tagen eine neue angebliche «Stimme der Mehrheit». Die Online-Zeitung heisst Nius – die deutsche Aussprache des englischen Worts News.

«Vielleicht das gefährlichste Zeitgeist-Phänomen»

Das Medium handelt populäre Themen kurz und bündig ab: Oft geht es gegen Ausländer und Klimaschützer. Ausserdem hat das Portal «das vielleicht gefährlichste Zeitgeist-Phänomen» entdeckt, «das aber noch immer komplett beschwichtigt» werde: Transaktivismus.

Auch über einen «Eis-Schock in Deutschland!» berichtet das Portal. «Immer mehr Deutsche können sich kein Eis mehr leisten», heisst es, weil es pro Kugel zwei Euro oder mehr koste.

Genüsslich vermeldet Nius zudem, dass es in Berlin seinetwegen bereits einen Regierungs-Krach  gegeben habe. Ohne das Wissen des Bürgermeisters habe der neue Berliner Queer-Beauftragte Strafanzeige gegen mehrere Nius-Journalisten erhoben.

Der Grund für die Strafanzeige: Das Portal hat ein 90-minütiges Video mit dem Titel «Trans ist Trend: Wie eine Ideologie unser Land verändert» veröffentlicht, und der Queer-Beauftragte versteht dessen Inhalt als Volksverhetzung. Nius hingegen versteht die Strafanzeige als Angriff auf die Pressefreiheit.

Ex-Bild-Chefredaktor schürt Empörung

Nius positioniert sich klar rechts von der deutschen Bild-Zeitung. Die Zielgruppe: besorgte Bürger, denen das Portal nicht nur reichlich Stoff für weitere Besorgnis liefert, sondern auch gehörig Empörung schürt.

Prominentester Mitarbeiter ist der ehemalige Bild-Chefredaktor Julian Reichelt. Nach seiner Entlassung im Herbst 2021 eröffnete er vor einem Jahr seinen eigenen You-Tube-Kanal «Achtung Reichelt!» Diese Beiträge sind nun auf Nius zu sehen.

So erklärt Reichelt in einem Video dem Publikum den Zusammenhang zwischen Freibädern und offenen Grenzen – und zwar mit einer unterkomplexen Berichterstattung über eine angebliche «Gewalt-Explosion» in Freibädern.

Reichelt wendet sich im Video mit ernster Stimme an sein Publikum und warnt: Früher habe man sich gesorgt, dass die Kinder im Freibad ertrinken. Heute müsse man Angst haben, dass die Kinder im Freibad ertränkt würden.

«Das Freibad unserer Kindheit»

Weiter berichtet er: «Das Freibad unserer Kindheit gab es genau so bis vor wenigen Jahren. Aber offene Grenzen haben das für immer verändert. In unseren Freibädern sehen wir nun, dass unkontrollierte Migration sich immer zuerst auf Menschen auswirkt, die keinen eigenen Pool im Garten haben und sich keinen Flug in den Urlaub mit der ganzen Familie leisten können. Hinter schönen Hecken und hohen Mauern weiss man nicht, was in unseren Freibädern los ist.»

Einen der «Beweise», die Reichelt für die «Gewalt-Explosion» liefert, ist ein Video unbekannter Herkunft, das zeigt, wie zwei junge Männer ausgeflippt und auf das Badepersonal losgegangen sind. Eine hässliche Szene, sicher.

Aber die meisten Badegäste liessen sich nicht beim Sonnenbaden stören. Ertrinkungsgefahr für Kinder, wie sie Reichelt angekündet hatte, gab es schon gar nicht.

«Sie sind nicht allein mit Ihrer Meinung»

Trotzdem wettert Reichelt gegen eine Reportage im ZDF-Fernsehen, die «atemberaubend beschönigend» über «Sommerglück im Freibad» berichtet habe, statt die wahren Vorkommnisse zu zeigen: «Jugendliche aus arabischen Familien, die sich vom Personal nichts sagen lassen.»

Und immer wieder weiss Reichelt, wer den Deutschen «den Ort des Glücks, der Leichtigkeit und Unbeschwertheit» wegnimmt, nämlich die unkontrollierte Migration. «Erleben wir immer häufiger Messerstechereien am Beckenrand zwischen Jürgen und Jochen?», fragt Reichelt suggestiv.

Wer am Schluss des Beitrags noch nicht überzeugt davon ist, dass das Sommerglück im Freibad ernsthaft von Ausländern bedroht ist, den ermutigt Reichelt nochmals: «Haben Sie keine Angst, Sie sind nicht allein mit Ihrer Meinung.»

So macht Nius seine Beiträge zur «Stimme der Mehrheit»

«Themen, die Millionen Deutsche bewegen und ihren Alltag betreffen, aber anderswo viel zu selten berichtet werden, werden bei NIUS eine Heimat finden»: Das verspricht Nius auf seiner Website und schiebt gleich ein Umfrage-Ergebnis nach: Etwa die Hälfte der Deutschen stimmt dieser Aussage zu: «Ich befürchte negative Konsequenzen, wenn ich meine Meinung zu bestimmten Themen frei äussere.» Gleiches gilt für: «Ich habe das Gefühl, dass es in Deutschland keine Meinungsfreiheit (mehr) gibt.»

Die Umfrage durchgeführt hat das eher kleine deutsche Meinungsforschungsinstitut Insa, dessen politische Neutralität schon mehrmals angezweifelt worden ist. Das Unternehmen macht neben Umfragen für Bild und Focus auch politische Umfragen für die rechtskonservative Junge Freiheit. Der Geschäftsführer Hermann Binkert hat offensichtlich Verbindungen zur Partei AfD.

Chefredaktor von Nius ist Jan David Sutthoff. Laut eigenen Angaben ist er professioneller «Redaktions-Manager». Er will «zusammen mit anderen tollen Journalisten die neue politisch-gesellschaftliche Medienmarke Nius aufbauen».

Nius bietet derzeit einen Teil der Inhalte gratis an. Wer das ganze Angebot und keine Werbung möchte, zahlt 79.99 Euro pro Jahr.

Finanziert wird die Plattform vom deutschen Milliardär Frank Gotthardt. Sein Geld verdiente er vor allem mit Software für Ärzte.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

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Oben      —   Julian Reichelt in der WDR-Sendung „Maischberger“ am 7.11.2018

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Linke Rackete Zwei

Erstellt von Redaktion am 21. Juli 2023

„Wir alle haben Verantwortung“

Interview von Tobias Bachmann

Die Aktivistin Carola Rackete kandidiert bei der Europawahl 2024 für die Linke. Die Partei müsse wieder einen „Gebrauchswert“ bekommen für die Menschen, sagt sie.

taz: Frau Rackete, Sie kandidieren auf dem Ticket der Linkspartei für die Europawahl 2024. Warum wechseln Sie die Seiten, von der Bewegung in die Politik?

Carola Rackete: In der Situation, in der wir hier in Deutschland sind, fehlt der Bewegung auf der Straße die Verknüpfung zu einer starken parlamentarischen linken Kraft. Zum Beispiel im Bereich Klimagerechtigkeit: Historisch und global gesehen hat Deutschland die viertmeisten Emissionen und damit eine besondere Verantwortung für die Klimakrise. Wir müssen wirklich etwas tun. Und gleichzeitig haben wir dieses eklatante Versagen der jetzigen Bundesregierung. Das ist Arbeitsverweigerung auf allen Ebenen, besonders auch von den Grünen. Warum sie damit durchkommen, hat auch sehr viel damit zu tun, dass es keine starke linke Opposition im Bundestag gibt. Die aktuelle linke Fraktion dort macht leider oft keine gute Arbeit beim Thema Klimagerechtigkeit. Das liegt nicht am Programm, das ist wirklich stabil. Aber die guten Kli­ma­po­li­ti­ke­r*in­nen, die es in der Linken gibt, sind dort kaum vertreten.

Sie zieht es ins EU-Parlament.

Ich denke, ich kann auf EU-Ebene mehr bewirken. Aber es ist wichtig, sich auch dafür einzusetzen, dass die Richtung der Linken auch im Bundestag klar vertreten wird. Dass sozial gerechte Klimamaßnahmen nicht mehr gegen andere Ungerechtigkeiten oder gegen die Armut der Menschen ausgespielt werden. Das würde auch die Bewegung stärken. In dem, was Bewegung alles tun kann, ist die parlamentarische Kraft ein wichtiger Baustein. Natürlich müssen die Bewegungsakteure aber auch wirklich stark auf der Straße bleiben.

Sie haben mal gesagt, Sie würden sich aus einem Verantwortungsgefühl heraus politisch engagieren. Wie viel von diesem Gefühl steckt in Ihrer Kandidatur?

Wir haben alle eine Teilverantwortung an dem, was gesellschaftlich passiert. Anfangs war ich von der Kandidatur weniger überzeugt. Dann hatte ich einige interessante Gespräche, gerade mit Leuten, die keinen europäischen Pass haben, aber trotzdem von der EU-Politik betroffen sind. Die haben gesagt: „Naja, du hast diesen Pass, das ist ein Privileg. Du kannst kandidieren.“ Und das stimmt, das ist ein Privileg. Wenn wir zudem sehen, wie stark rechte, teilweise faschistische Parteien in Europa gerade sind, dann finde ich das total besorgniserregend.

Natürlich kann man sich auch Zivilgesellschaftlich gegen Rechts oder antirassistisch engagieren. In Deutschland haben wir aber gerade eine ganz spezifische Situation. Es besteht das Risiko, dass wir mit der Linken die einzige antikapitalistische Partei, und auch die einzige Partei, die jetzt gegen GEAS gestimmt hat, aus dem Bundestag verlieren könnten. Ich finde, das wäre tatsächlich ein großes gesellschaftliches Problem. Auch deshalb habe ich mich zur Kandidatur entschieden, als die Parteivorsitzenden auf mich zukamen.

Einige Stimmen in der Linkspartei tun sich schwer mit einer klaren Haltung gegen den russischen Angriffskrieg. Wie stehen Sie dazu?

Ich wünsche mir natürlich, dass die Partei eine ganz klare antiimperiale Haltung einnimmt. Ich war nicht nur schon mehrfach in der Ukraine, sondern auch in Georgien, wo Russland in den letzten 15 Jahren auch zweimal einmarschiert ist und jedes Mal ein Stück vom Land behalten hat. Für mich ist es vollkommen klar, dass eine linke Partei sich generell auf die Seite der jeweils Unterdrückten stellen muss. Und dass wir nicht aus irgendwelchen historischen Zusammenhängen Autokraten und Diktatoren verteidigen dürfen, nur weil sie vielleicht eine linke Geschichte haben. Ob das jetzt in China, in Weißrussland oder in Russland ist. Da müssen wir die Position der Zivilgesellschaft einnehmen und die antiimperialistische Perspektive als verbindendes Thema haben.

Eine andere Debatte, die die Linkspartei gerade spaltet, ist der Umgang mit Sahra Wagenknecht und ihre Ankündigung, eine eigene Partei zu gründen.

Dass der Parteivorstand sich einstimmig dazu geäußert hat, dass sie ihr Mandat zurückgeben soll, finde ich sehr gut. Und jetzt ist es wichtig, als Bewegungsakteure zu überlegen, was wir beitragen können, um die Linkspartei in eine neue Richtung zu bringen. Sodass sie wieder einen Gebrauchswert für die Menschen auf der Straße bekommt – sowohl für Geringverdiener mit deutschem Pass als auch für Migrant*innen. Und dass wir diese Frage wirklich von unten, also letztlich als ökologische Klassenpolitik aufmachen und dabei eine klare antirassistische Haltung haben.

Wie kann die Neuausrichtung der Linken gelingen?

Wir brauchen einerseits ein Verständnis dafür, wie fundamental die Probleme der Partei sind, warum sie Wäh­le­r*in­nen und Un­ter­stüt­ze­r*in­nen verloren hat – und einen Plan, wie es nun wieder vorwärtsgeht. Dazu braucht es einen starken Veränderungswillen, also mehr als nur Worte.

Das heißt konkret?

Die Linke muss beide mitnehmen: sowohl die Leute, die sich schon lange in der Partei engagieren, als auch diejenigen, die ein Interesse an einer linken Partei haben, aber sich eher der linken Zivilgesellschaft zuordnen. Ich glaube, nur wenn diese zusammenkommen, kann die Linke eine gute neue Richtung und eine klare Haltung gewinnen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Es braucht einen Beteiligungsprozess, der öffentlich und nicht nur nach innen gerichtet ist. Dazu sollten auch Leute außerhalb der Partei eingeladen sein, darüber zu diskutieren, wie die Partei wieder einen Gebrauchswert erreichen kann und zu welchen, auch konfliktreichen, Themen sie sich klar positionieren sollte.

Sie sagen, Ihr mögliches Mandat im EU-Parlament wäre ein „Bewegungsmandat“. Planen Sie dafür auch einen öffentlichen Beteiligungsprozess?

Quelle           :       TAZ-online            >>>>>>          weiterlesen

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Lebendige Dystopie

Erstellt von Redaktion am 20. Juli 2023

Brasilien: Was verbrennt den Amazonas?

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von          :     crimethinc

Ein Plädoyer von brasilianischen Anarchist*innen. Während die Brände im Amazonas-Regenwald im Jahr 2019 loderten, haben uns Genoss:innen in Brasilien diese Analyse der Ursachen der Katastrophe geschickt und beschreiben wie sie unsere Vision der Zukunft beeinflussen sollte.

Die Szenerie ist düster. Am 19. August 2019 liegt Rauch über den Städten des Bundesstaates São Paulo und macht um 15 Uhr den Tag zur Nacht. Am Tag zuvor haben die Menschen in Island die erste Beerdigung eines für tot erklärten Gletschers organisiert, mit einem Grabstein und einer Schweigeminute. Der Rauch, der São Paulo einhüllte, wird durch Waldbrände im Amazonaswald weit im Norden Brasiliens verursacht; der Gletscher ist aufgrund der steigenden Temperaturen, die mit dem sich in der Atmosphäre ansammelnden Kohlendioxid zusammenhängen, verschwunden.Diese tragischen Szenen – fast malerisch, fast absurd – könnten komisch wirken, wenn sie nicht real wären. Sie sind so extrem, dass sie uns an fiktive Szenarien erinnern, wie sie in dem Roman Und noch immer die Erde beschrieben werden, einer brasilianischen Umweltdystopie von Ignácio de Loyloa Brandão. Das in den 1970er Jahren während der Militärdiktatur in Brasilien geschriebene Buch beschreibt ein fiktives diktatorisches Regime namens »Civiltar«, das die Abholzung des letzten Baumes im Amazonasgebiet mit der chauvinistischen Erklärung feiert, dass es »eine Wüste grösser als die Sahara« geschaffen habe. In dieser Geschichte sind alle brasilianischen Flüsse tot; Krüge mit Wasser aus jedem der erloschenen Flüsse werden in einem hydrographischen Museum ausgestellt. Dünen aus Aluminiumdosen und Autobahnen, die ständig durch die Karossen verlassener Autos blockiert sind, bilden die Kulisse von São Paulo. Die Stadt selbst leidet unter plötzlichen Hitzewallungen, die jeden ahnungslosen Menschen töten können; mysteriöse Krankheiten suchen die Bürger*innen, insbesondere die Obdachlosen, heim.

Der Autor behauptet, er habe sich von realen Ereignissen inspirieren lassen, die damals absurd und ungewöhnlich erschienen. Heute werden sie immer alltäglicher.

Die Nachricht von der zunehmenden Verbrennung im Amazonasgebiet hat weltweit für Erschütterungen gesorgt. Laut dem Nationalen Institut für Weltraumforschung ist die Zahl der Brände in Brasilien im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 82% gestiegen, und während wir diese Zeilen schreiben, werden immer noch neue Ausbrüche von Bränden gemeldet. Die katastrophalen Bilder der Zerstörung haben die Empörung von Menschen auf der ganzen Welt geschürt, die sich Sorgen um die Zukunft des Lebens auf der Erde machen, da sie wissen, wie wichtig der Amazonas-Regenwald für die Klimaregulierung und die globale Artenvielfalt ist. Die Bilder der Brände veranlassten den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, das Thema auf dem G7-Gipfel anzusprechen und sich in den Medien einen Schlagabtausch mit Präsident Jair Bolsonaro zu liefern, nachdem Frankreich Millionen von Dollar für die Bekämpfung der Waldbrände bereitgestellt hatte.

Seit Ende 2018 wurden in vier brasilianischen Bundesstaaten eine halbe Milliarde Bienen tot aufgefunden. Das Sterben dieser Insekten, die für die Befruchtung von 75% des Gemüses, das wir essen, unerlässlich sind, wird mit dem Einsatz von Pestiziden in Verbindung gebracht, die in Europa verboten, in Brasilien aber erlaubt sind. Im August 2019 wies das Gericht die Anklage gegen einen Landwirt ab, der im Jahr 2015 aus einem Flugzeug abgeworfene Pestizide als chemische Waffe gegen die indigene Gemeinschaft Guyra Kambi’y in Mato Grosso do Sul eingesetzt hatte. Im selben Monat koordinierten Gruppen von Landwirten, »Landräubern« (Personen, die Dokumente fälschen, um sich Land anzueignen), Gewerkschaftsmitgliedern und Händlern über eine WhatsApp-Gruppe das Legen von Bränden in der Gemeinde Altamira in Pará, dem Epizentrum der Brände im Amazonas-Regenwald. Wie in Folha do Progresso berichtet, wurde der »Tag des Feuers« von Menschen organisiert, die durch die Worte von Jair Bolsonaro ermutigt wurden: »Das Ziel«, so einer der Anführer, der anonym sprach, »ist es, dem Präsidenten zu zeigen, dass sie arbeiten wollen.«

Die jüngste Welle von Bränden, die die Politik von Präsident Jair Bolsonaro mit Angriffen auf Wälder, Kleinbäuer*innen und indigene Bevölkerungen in Verbindung bringt, ist eine Intensivierung eines Prozesses, der so alt ist wie die Kolonialisierung Amerikas. Als die Arbeiterpartei (PT) noch an der Macht war, wurden zahlreiche Projekte zur Ausweitung und Beschleunigung des Wachstums eingeleitet, darunter der Bau des Kraftwerks Belo Monte, durch den indigene Gemeinschaften und Tausende andere Landbewohner*innen vertrieben wurden oder auf andere Art davon betroffen waren. Die Verabschiedung des Forstgesetzes im Jahr 2012 ermöglichte es den Landwirt*innen, ungestraft in indigene Gebiete und Naturschutzgebiete vorzudringen, während die Ausweisung neuer Schutzgebiete ausgesetzt wurde.

Sowohl linke als auch rechte Regierungen sehen die Natur und das menschliche Leben in erster Linie als Ressourcen für die Produktion von Gütern und für den Profit. Die Regierung Bolsonaro, ein erklärter Feind der einfachen Leute, der Frauen und der indigenen Gruppen, droht uns nicht nur mit der physischen Gewalt der polizeilichen Unterdrückung. Mit seiner Ankündigung, kein indigenes Land mehr anzuerkennen, verschärft Bolsonaro einen Krieg gegen die Ökosysteme, die das menschliche Leben ermöglichen – einen Krieg, der ihm lange vorausgeht.

Eine seit 500 Jahren andauernde Katastrophe

Seit Jahrhunderten kämpfen wir darum, die grösste Katastrophe unserer Zeit zu überleben, eine Katastrophe, die die Nachhaltigkeit aller Biome und Gemeinschaften auf diesem Planeten bedroht. Ihr Name ist Kapitalismus – das grausamste, ungerechteste und zerstörerische Wirtschaftssystem der Geschichte. Diese Bedrohung ist nicht das Ergebnis unausweichlicher Naturgewalten. Der Mensch hat sie geschaffen, und der Mensch kann sie beseitigen.

In Brasilien haben wir aus erster Hand erfahren, wie dieses System Menschen ausbeutet, Genozid fördert und die Erde, das Wasser und die Luft degradiert und verschmutzt. Selbst wenn wir es letztendlich schaffen, es abzuschaffen, werden wir immer noch mit den Folgen leben müssen, die sich daraus ergeben, dass wir es so lange haben weiterlaufen lassen. Die Zerstörung ganzer Ökosysteme, die Gifte in den Flüssen und in unserem eigenen Körper, die ausgestorbenen Arten, die verschwundenen Gletscher, die abgeholzten und zugepflasterten Wälder – diese Folgen werden noch viele Jahre lang zu spüren sein. In Zukunft werden wir überleben müssen, indem wir uns aus den Ruinen und Abfällen, die dieses System hinterlassen hat, das holen, was wir brauchen. All das Material, das dem Boden entrissen wurde, um über die Erdoberfläche verstreut und in die Meere gekippt zu werden, wird nicht über Nacht in die Tiefen zurückkehren, aus denen es kam.

Wenn wir dies erkennen, sollten wir unsere revolutionären Aussichten entsprechend gestalten. Es ist töricht, sich vorzustellen, dass die Abschaffung des Kapitalismus die Konsumaktivitäten, die der globalen Bourgeoisie derzeit zur Verfügung stehen, auf die gesamte Menschheit ausweiten wird; wir müssen aufhören, von einer regulierten post-kapitalistischen Welt mit unendlichen Ressourcen zu phantasieren, um die Art von Waren zu erzeugen, die uns die kapitalistische Propaganda vorgaukelt. Vielmehr müssen wir experimentieren, wie wir die Selbstverwaltung unseres Lebens inmitten der Wiederherstellung unserer Biome, unserer Beziehungen und unserer Körper nach Jahrhunderten der Aggression und Ausbeutung teilen können – indem wir das Leben in Regionen organisieren, die ihm feindlich gesonnen sind.

Die Art und Weise, wie wir heute unseren Widerstand organisieren, sollte von der Tatsache geprägt sein, dass unsere revolutionären Experimente nicht in einer Welt des Friedens, der Stabilität und des Gleichgewichts stattfinden werden. Wir werden inmitten der Folgen von jahrhundertelanger Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung ums Überleben kämpfen müssen. Im besten Fall wird die Zukunft so aussehen wie die Situation in Kobanê im Jahr 2015: eine siegreiche Revolution in einer zerbombten Stadt voller Minen.

Niemand muss sich eine Apokalypse ausmalen, wenn die schlimmsten Dystopien bereits Teil der Realität sind. In den Städten Mariana und Brumadinho im Bundesstaat Minas Gerais sind die von den Bergbauunternehmen Samarco und Vale betriebenen Dämme wegen mangelnder Wartung und Vernachlässigung von Mensch, Tier und Umwelt zusammengebrochen. In Mariana kamen bei einem Unfall im Jahr 2015 19 Menschen ums Leben; in Brumadinho sind nach einer Katastrophe im Januar 2019 mindestens 248 Menschen ums Leben gekommen und Dutzende werden noch vermisst. Um des Profits willen haben diese Unternehmen und ihre Manager*innen eine der schlimmsten Umweltkatastrophen des Landes verursacht, von der Tausende betroffen sind, von den Angehörigen der Toten bis hin zu den indigenen und ländlichen Gemeinschaften, die von den Flüssen abhängen, die durch den giftigen Schlamm, der in den Dämmen eingeschlossen wurde, verwüstet wurden.

An solchen Beispielen lässt sich leicht erkennen, dass die schlimmste Tragödie nicht das Ende der kapitalistischen Ordnung ist, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt existiert. Wie Buenaventura Durruti in einem Interview während des spanischen Bürgerkriegs sagte:

»Wir, die Arbeiter, können andere bauen, die ihren Platz einnehmen, und zwar bessere! Wir haben nicht die geringste Angst vor Ruinen. Wir werden die Erde erben, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Die Bourgeoisie könnte ihre eigene Welt sprengen und zerstören, bevor sie die Bühne der Geschichte verlässt. Wir tragen hier eine neue Welt in unseren Herzen. Diese Welt wächst in dieser Minute.«

Was also brennt im Amazonas?

Wissenschaftler*innen, staatliche Institutionen, soziale Bewegungen und die Land- und Stadtbevölkerung sind sich einig über die Auswirkungen und Risiken der globalen Erwärmung und der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung. Einige dieser Folgen sind im Begriff, unumkehrbar zu werden. Die Abholzung des Amazonas selbst könnte irreparabel werden, wenn sie 40% seiner Gesamtfläche erreicht.

Es hat noch nie funktioniert, von Regierungen zu verlangen, dass sie diese Probleme für uns lösen – und wird es auch nie. Das ist besonders töricht, wenn es um die Umweltkatastrophen geht, die durch ihre eigene Politik verursacht werden. Die Beschlagnahmung von Land und die Abholzung des Amazonas sind untrennbar mit den organisierten kriminellen Unternehmen verbunden, die auf dem Lande schmuggeln und töten. Ganze 90% des geernteten Holzes sind Schmuggelware, die von einem riesigen Apparat des illegalen Kapitalismus unterstützt wird, an dem bewaffnete Milizen und der Staat selbst beteiligt sind.

Populistische Führer*innen wie Bolsonaro versuchen, von der sich abzeichnenden ökologischen Katastrophe zu profitieren, während sie gleichzeitig leugnen, dass sie stattfindet. Einerseits behaupten sie, dass kein Handlungsbedarf besteht, um die globale Erwärmung einzudämmen – neben Trump war Bolsonaro der einzige andere Führer, der damit drohte, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, und behauptete, die globale Erwärmung sei eine »Fabel für Umweltschützer«. Dies trägt dazu bei, die rechtsextreme Basis zu mobilisieren, die offenkundige Unehrlichkeit als Demonstration politischer Macht bewundert und zelebriert. Andererseits werden diese Führer*innen, wenn die Folgen des Klimachaos und der ökologischen Ungleichgewichte zu offensichtlichen, unbestreitbaren Tatsachen werden, Umweltkrisen, Produktknappheit, Flüchtlingsströme und Klimakatastrophen wie Wirbelstürme opportunistisch als Vorwand nutzen, um die Umsetzung von immer autoritäreren Massnahmen in den Bereichen Gesundheit, Verkehr und Sicherheit zu beschleunigen. Der Einsatz autoritärer und militarisierter Mittel, um zu bestimmen, wer Zugang zu den Ressourcen hat, die er zum Überleben in einem Kontext weit verbreiteter Knappheit benötigt, wird von vielen Theoretiker*innen als Ökofaschismus bezeichnet.

Das Eingreifen ausländischer Staaten in die Wälder des Amazonasgebiets nach ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen ist lediglich die Fortsetzung des Kolonialismus, der 1492 begann. Keine Regierung wird das Problem der Brände und der Entwaldung lösen. Bestenfalls können sie die Auswirkungen der Ausbeutung, an der sie schon immer beteiligt waren, verlangsamen. Der neoliberale Kapitalismus fordert endloses Wachstum und verlangt die Umwandlung von Wäldern und Böden in konkurrenzfähige Konsumgüter auf dem Weltmarkt.

Was also verbrennt den Amazonas – und den gesamten Planeten? Die Antwort ist klar: das Streben nach Land, Profit (legal oder nicht) und Privateigentum. Nichts davon wird von einer gewählten oder aufgezwungenen Regierung geändert werden. Die einzige wirklich ökologische Perspektive ist eine revolutionäre Perspektive, die das Ende des Kapitalismus und des Staates selbst anstrebt.

Unsere Fähigkeit zur Vorstellungskraft trainieren

Die dystopischen Bilder in And Still the Earth und George Orwells Roman 1984 waren als Warnungen gedacht: übertriebene Projektionen des Schlimmsten, was passieren kann, wenn wir den Lauf der Geschichte nicht ändern. Heute, wo Kameras an jeder Ecke stehen und unsere eigenen Fernseher und Handys uns überwachen, scheint es, als würden diese dystopischen Romane als Handbuch für Regierungen und Unternehmen dienen, um unsere schlimmsten Albträume Wirklichkeit werden zu lassen.

Dystopien sind Warnungen, aber Utopien stellen per Definition Orte dar, die es nicht gibt. Wir brauchen andere Orte, Orte, die möglich sind. Wir müssen in der Lage sein, uns eine andere Welt vorzustellen – und uns selbst, unsere Wünsche und unsere Beziehungen ebenfalls anders zu gestalten.

Wir sollten die Kreativität, die uns befähigt, uns Zombie-Apokalypsen und andere literarische oder filmische Katastrophen vorzustellen, nutzen, um uns eine Realität jenseits des Kapitalismus vorzustellen und sie aufzubauen. Heute, da die Realität die Fiktion übertrifft, sind unsere Aktivitäten weitgehend von Unglauben und Passivität geprägt. Aber mensch kann in einem fahrenden Zug nicht neutral sein – schon gar nicht in einem, der auf einem Gleis in den Abgrund rast. Wer die Arme verschränkt, macht sich mitschuldig. Ebenso ist individuelles Handeln unzureichend, weil es die Logik aufrechterhält, die uns hierher gebracht hat.

Wir müssen revolutionäre Bezugspunkte für ein selbstorganisiertes und egalitäres kollektives Leben wiederentdecken. Wir müssen Beispiele für reale Gesellschaften, die sich dem Staat und dem Kapitalismus widersetzt haben, wie die anarchistischen Experimente während der russischen und ukrainischen Revolutionen von 1917 und der spanischen Revolution von 1936, mit anderen teilen. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass alle diese Versuche letztlich von der bolschewistischen Partei und der ihr folgenden stalinistischen Diktatur, die eine beispiellose Industrialisierung und die Massenvertreibung der Landbevölkerung durchführte, verraten und niedergeschlagen wurden, oder mit deren Duldung. Dies verdeutlicht, warum es so wichtig ist, eine Vorstellungswelt zu entwickeln, die nicht einfach die Visionen des kapitalistischen Industrialismus reproduziert.

Wir können auch auf zeitgenössische Beispiele wie den zapatistischen Aufstand in Mexiko seit 1994 und die laufende Revolution in Rojava in Nordsyrien schauen. Aber zusätzlich zu den Beispielen, die von Anarchist*innen oder Menschen, die von anarchistischen Prinzipien beeinflusst sind, angeboten werden, sollten wir von den vielen indigenen Völkern um uns herum lernen: Guaranis, Mundurukus, Tapajós, Krenaks und viele andere, die der europäischen und kapitalistischen kolonialen Expansion fünf Jahrhunderte lang unaufhörlich Widerstand geleistet haben. Sie alle sind lebende Beispiele, von denen Anarchist*innen über das Leben, die Organisation und den Widerstand ohne und gegen den Staat lernen können.

Wenn es eine grundlegende Basis für Solidarität als Antwort auf den Angriff auf die Grundlage allen Lebens im Amazonasgebiet gibt, dann ist es das Potenzial, dass wir Verbindungen zwischen den sozialen Bewegungen, den Armen und Ausgegrenzten der Welt und der indigenen und bäuerlichen Bevölkerung ganz Lateinamerikas herstellen können. Um der Abholzung im Amazonasgebiet und zahllosen ähnlichen Formen der Zerstörung auf dem ganzen Planeten Einhalt zu gebieten, müssen wir Basisbewegungen stärken, die die neoliberale Ressourcenbewirtschaftung von Böden, Wäldern, Gewässern und Menschen ablehnen.

Für eine Solidarität zwischen allen Bevölkerungsgruppen und ausgebeuteten Klassen, nicht zwischen Paternalismus und dem Kolonialismus der Regierungen! Die einzige Möglichkeit, die Umweltkrise und den globalen Klimawandel zu bewältigen, ist die Abschaffung des Kapitalismus!

Ein anderes Ende der Welt ist möglich!

Übersetzung aus dem Buch Das Gebot der Ordnung. Die Wahl 2022 in Brasilien. Immergrün Verlag 2022. 132 Seiten. ca. CHF 12.00. SKU 01-194-9783910281073.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —     Brigadistas do Prevfogo/Ibama participam de operação conjunta para combater incêndios na Amazônia Foto: Vinícius Mendonça/Ibama

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Deutschland hört Signale

Erstellt von Redaktion am 20. Juli 2023

Frauen an die Arbeitsfront!

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von            :          Suitbert Cechura

Das „Fachkräfteland Deutschland“ braucht noch den letzten Mann und die letzte Frau und kann das sogar als Emanzipationsakt verkaufen.

Dass nicht alle Frauen voll arbeiten, lässt weder Politiker noch Experten ruhen. Dabei ist es keinesfalls so, dass Frauen nicht ausgelastet wären. Nicht wenige stöhnen über die Doppelbelastung von Haushalt und Beruf. Was aber die Kritiker nicht ruhen lässt, ist die Tatsache, dass Frauen nicht voll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und damit der Wirtschaft als Gewinnquelle verloren gehen.

Arbeitskraft gilt ja zur Zeit in Deutschland als Mangelware: „Das freie Unternehmertum vermisst nachhaltige Planung auf dem Arbeitsmarkt“, hieß es dazu jüngst bei Telepolis. Zwar könnte ein unbefangener Blick in dem immer wieder beschworenen Fachkräftemangel auch etwas anderes erblicken, was Fachleuten sogar gelegentlich einfällt:

„Letztlich sind die Fachkräfte nicht weg, sondern nur woanders“, so der Arbeitsökonom Simon Jäger im Interview mit dem Bonner General Anzeiger (11.7.23). „Der Chef des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn ist überzeugt, dass die so dringend gesuchten Mitarbeiter vor allem dort hingehen, wo hohe Löhne locken.“

Aber solche gut gemeinten Hinweise auf die Marktmechanismen (die ausnahmsweise, man höre und staune, auch mal Arbeitnehmern zugute kommen), gehen natürlich an dem nationalen Notstand vorbei. Den hat die Bundesregierung bereits im letzten Oktober mit ihrer Strategie zur Fachkräftesicherung unter dem Titel „Fachkräfteland Deutschland“ öffentlich bekannt und zu ihrem vorrangigen Sorgeobjekt gemacht.

Demgemäß tut sie, wie das Fazit im Telepolis-Kommentar hieß, alles dafür, dass möglichst viele Menschen als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und ihren Beitrag zum Erfolg der Nation leisten. Und genau deshalb muss auch alles getan werden, damit der wirtschaftliche Druck auf Frauen erhöht wird, sich ganz in den Dienst von Unternehmen und Staat zu stellen. So können sie ihren Beitrag zum Erfolg der Nation abliefern. Und das natürlich – Achtung! – alles im Sinne der Gleichberechtigung, ja als längst notwendiger emanzipatorischer Akt, der endlich die letzten Zöpfe der Adenauerära abschneidet.

Weg mit dem Ehegattensplitting

Mit dieser Forderung eröffnete der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil dieses Jahr die Saure Gurken-Saison in den Medien:

„Wir haben im Koalitionsvertrag schon festgelegt, dass wir Steuern gerechter verteilen wollen,“ stellte er Anfang Juli fest. „Das jetzige Steuerrecht führe dazu, dass vor allem Frauen eher zu Hause blieben, anstatt zu arbeiten, weil Frauen im Vergleich zu ihrem Partner häufiger weniger verdienen.“ (ZDF 10.7.23)

Dieser Kalkulation von Paaren will der oberste Sozialdemokrat ein Ende setzen, was dazu führen würde, dass sie steuerlich stärker belastet würden. So buchstabiert sich Steuergerechtigkeit Anno Domini 2023! Für sich genommen natürlich wieder ein Lehrstück in Sachen sozialer Gerechtigkeit: Dass es einige Leuten besser geht, zeigt sofort an, dass man ihnen etwas wegnehmen kann.

Dass das Ehegattensplitting heutzutage überholt ist, weiß auch die Kommentatorin der Süddeutschen Zeitung. Schließlich wurde diese Regelung zu Adenauers Zeiten eingeführt, um Frauen dazu zu bewegen, sich ganz der Familie zu widmen (H. Roßbach, SZ, 11.7.23). Das liberale Blatt kann sich die Abschaffung des Ehegattensplittings ganz gut als eine genderpolitische Großtat vorstellen – ohne eigens den Zweck zu bemühen, für den Klingbeil den Vorschlag ins Gespräch gebracht hat, nämlich die Beschaffung von Mehreinnahmen für den Staat als Alternative zur Kürzung des Elterngeldes.

So wird die Sachlage, die angeblich – wegen der ewig knappen Haushaltsmittel – ein Herunterfahren der Sozialleistungen gebietet, gleich in Gerechtigkeitsfragen verwandelt: Die Kürzung selbst steht nicht mehr zur Debatte, sondern als Notwendigkeit im Raum, und die Betroffenen können sich nur noch daran abarbeiten, wen es gerechterweise treffen soll.

Dass die Ehe als gegenseitige Sorgegemeinschaft staatlich organisiert ist und in allen Einzelheiten rechtlich betreut wird, die Ehepartner damit also auf ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis festgelegt sind, das ist Politikern wie Journalisten eine Selbstverständlichkeit. Dass die Familie die „Keimzelle“ des Staates ist, hat denn auch bei der aktuellen Debatte die Frankfurter Allgemeine gleich in Erinnerung gerufen:

„Dass Gemeinwesen muss ein Interesse daran haben, seine Keimzellen zu bewahren, zu pflegen und zu fördern.“ (FAZ, 11.7.23)

Von wegen: Im Liebesleben kommt es ganz auf die freie Entscheidung zweier Menschen an! Das ist allen klar, dass aus einem Liebesverhältnis ein Verpflichtungsverhältnis oder juristisch eine Verantwortungsgemeinschaft wird, weil das Gemeinwesen, sprich: die demokratische Obrigkeit, hier ihren eigenen Bedarf hat.

Überholt ist nur der juristische Anspruch an die Dauerhaftigkeit und Institutionalisierung dieses Verhältnisses. Dass Paare sich scheiden lassen oder unverheiratet zusammen leben, ist im Gegensatz zu den Zeiten des ersten Bundeskanzlers Adenauer normal. Das hindert den Staat aber nicht daran, auch unverheiratete Paare in die Pflicht zu nehmen – etwa in Form der Bedarfsgemeinschaften beim Bürgergeld.

Dementsprechend besteht nun die Befreiung der Frau aus der Abhängigkeit von ihrem mehr verdienenden Ehemann darin, dass ihr ein neuer Zwang aufgemacht wird: Sie ist genötigt, selber für sich zu sorgen und sich in die Abhängigkeit von einem Arbeitgeber zu begeben.

Ins gleiche Horn stößt auch eine Wirtschaftsweise, die noch weitere Möglichkeiten der Einsparung, pardon: der Emanzipation aus vorgestrigen Rollenklischees, entdeckt hat.

Schluss mit der Witwenrente

„Die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, will die Witwenrente abschaffen – in ihrer jetzigen Form. Stattdessen setzt sie auf Rentensplitting. Die große Babyboomer-Generation erreicht das Rentenalter – damit droht der Wirtschaft ein Fachkräftemangel und dem Rentensystem eine gewaltige Belastung. Die Ökonomin und Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, setzt sich deshalb für die Abschaffung der sogenannten Witwenrente ein. Statt der aktuellen Form schlägt sie eine andere Regelung vor: das sogenannte Rentensplitting. Gegenüber dem Spiegel begründete die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen ihre Position so: ‚Die jetzige Regelung reduziert die Anreize, eine Beschäftigung aufzunehmen‘.“ (Frankfurter Rundschau, 11.7.23)

Während die jetzige Regelung der Frau oder dem Mann lebenslang 55 bzw. 65 Prozent der Rente des verstorbenen Partners sichert, soll beim Rentensplitting nur dann ein Anspruch auf einen Teil der Rente des Partners bestehen, wenn der oder die Überlebende während der Ehe selber gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat. So soll der Druck auf Frauen – schließlich sind sie meist diejenigen, die Familienarbeit leisten und nach dem Tod des Partners auf die Rente angewiesen sind – auf eine andere Art erhöht werden, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen.

Schon die früheren Regierungen haben auf diese Weise an den Frauen gespart und den wirtschaftlichen Druck erhöht, damit sie auf die Suche nach einem Arbeitsplatz gehen. So wurden etwa die Versorgungsansprüche nach einer Scheidung reduziert. Die Rentenansprüche wurden in die „große Witwenrente“ mit 60 bzw. 55 Prozent der Bezüge des Partners und die „kleine Witwenrente“ mit 25 Prozent unterschieden. 60 Prozent bekommen diejenigen, deren Partner vor dem 1. Januar 1962 geboren wurde, 55 Prozent diejenigen, deren verstorbener Partner nach diesem Datum geboren wurde. Überlebende, die jünger als 47 und weder behindert sind noch ein Kind versorgen müssen, erhalten nur 25 Prozent der Rente ihres verstorbenen Partners. Wobei diese Prozentangaben sich auf Renten beziehen, die in den letzten Jahren drastisch gesenkt wurden und inzwischen im Idealfall nur noch 48 Prozent des früheren Einkommens betragen.

So geht sie eben die Befreiung der Frau von Mann und Herd. Es wird alles getan, damit sie gezwungen ist, für sich selber zu sorgen und sich Arbeitgebern anzudienen. Und neben der Lohnarbeit bleiben die Notwendigkeiten des Alltags trotzdem erhalten in Form von Einkaufen, Waschen, Putzen, Kindererziehen usw. – auch wenn der Partner mithilft.

So werden Frauen aus ihren subalternen Rollen befreit. Sie sind nicht länger „Reproduktionsgehilfinnen“ des erwerbstätigen Ehemannes, wie es bei Friedrich Engels zu Beginn der kapitalistischen Ära hieß. Sie sind frei und unabhängig und haben keinem Herrn zu dienen – außer dem Erfolg der Nation, der auf dem Arbeitsmarkt und noch an einigen anderen Fronten erstritten wird.

Zuerst erschienen bei Telepolis

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      —      Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne Menschen von einem überfüllten Boot, 15. Juni 2015

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 20. Juli 2023

„Krieg und Frieden“
Absurd: Moskaus Feldzug gegen trans Menschen

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Aus Riga von Maria Bobyleva

Neulich hat die russische Staatsduma in erster Lesung einem Gesetzentwurf über das Verbot von Geschlechtsangleichung für trans Menschen zugestimmt.

Das Verbot betrifft sowohl die Möglichkeit, das Geschlecht im Pass ändern zu lassen, als auch medizinische Eingriffe, die für trans Personen nötig sein können. Ein weiteres repressives Gesetz eines fast totalitären Staates – nichts Ungewöhnliches also? Tatsächlich wurde damit eine neue Stufe der Unmenschlichkeit erreicht.

Erstens: Es gibt nur wenige trans Personen in Russland. Laut Innenministerium haben zwischen 2016 und 2022 nur 3.050 Menschen ihr Geschlecht im Pass umschreiben lassen. Das sind weniger als 500 im Jahr. Wenn die Abgeordneten mit erhobener Stimme davon sprechen, dass Menschen sich mit einem anderen Geschlecht registrieren lassen, um sich so vor der Mobilmachung zu drücken und nicht in den Krieg in der Ukraine zu müssen, klingt das selbst für Dumaverhältnisse völlig absurd.

Wegen jährlich 500 Menschen, ernsthaft? Tausende von Männern haben im vergangenen Jahr in nur einem Monat das Land verlassen, um dem Krieg zu entkommen. Ich spreche hier nicht mal darüber, dass es bei trans Personen nicht nur den Übergang von Mann zu Frau, sondern natürlich auch umgekehrt gibt. Aber das haben die Abgeordneten wohl vergessen – oder wussten es nicht.

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Zweitens: Die Gruppe dieser Menschen ist nicht nur klein, sie ist auch weitgehend unpolitisch. Das Leben von trans Menschen in Russland war schon vor diesem Verbot extrem schwierig. Das reicht von genereller Stigmatisierung über Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche bis zu allen daraus resultierenden seelischen Problemen. Sie sind bereits mit der Bewältigung ihres komplizierten Lebens beschäftigt und haben keine Zeit für Politik. Die Repressionen sind daher nicht nur absurd, sondern auch politisch sinnlos.

Und drittens: Hier werden Menschen nicht für das bestraft, was sie tun, sondern dafür, wer sie sind. Das ist das Allerschlimmste. Selbst die brutalsten Gesetze gegen Oppositionelle sind immer Gesetze gegen Taten oder Worte, die sich gegen das Regime richten. Das Gesetz gegen trans Personen ist eine Maßnahme gegen eine bestimmte Gruppe Menschen.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Unten     —    View of Riga towards the cathedral and Vanšu Bridge.

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Slow Thinking

Erstellt von Redaktion am 19. Juli 2023

Plädoyer für eine Ökologie des Denkens

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Denken ist eine natürliche, jedoch bedrohte Ressource – manipuliert, eingeschränkt, durch Meinung ersetzt. Wer eine Meinung hat, braucht sich mit dem Denken nicht mehr lange aufzuhalten.

Man könnte ja einmal – es ist schließlich Ferienzeit, man hat etwas Zeit – die Behauptung aufstellen, das Denken gehöre zur menschlichen Natur. Dazu wiederum gehöre, logisch, auch Denken über das Denken. Was zur Hölle ist eigentlich dieses Denken, von dem wir gerade argwöhnen, es könne uns von Maschinen abgenommen werden?

Allgemein gilt als Denken eine besondere Art von Informationsverarbeitung, die in einem menschlichen Gehirn stattfindet, das sich in einem menschlichen Körper befindet, der sich wiederum sowohl in einer Biografie als auch in einer Gesellschaft bewegt, die sich wiederum aus zahlreichen Biografien und Körpern mit Gehirnen zusammensetzt, die sich gelegentlich mit dem Gedanken tragen, Denken zu riskieren. Schließlich hat man noch dieses „Ich denke, also bin ich“ im Kopf, und wer, bitte schön, möchte denn nicht sein? Irgendwie. Intelligenz wäre dann die Fähigkeit, das Denken zu praktizieren (oder es taktisch sein zu lassen) und ihm zugleich Struktur, Wert und Bedeutung zu geben. Ist Denken Arbeit, Spiel, Lust, Pflicht (sogar Zwang), Talent oder Disziplin? Und wer kann, will, soll, muss, darf und wird denken? Man hat noch gar nicht angefangen mit dem Denken, schon wird es einem unheimlich.

Das Problem mit dem Denken ist, dass es anstrengend sein kann. Außerdem weiß man nie so recht, wohin es führt. Deswegen machte sich, als der erste Mensch mit dem leidigen Denken anfing, der zweite vermutlich sogleich Gedanken darüber, wie man dieses Denken kontrollieren, beeinflussen, begrenzen und möglicherweise sogar ausnutzen kann. Mit dem Denken kommt die Unruhe in die Welt. Wenn es nicht irgendwas mit Sex zu tun hat, dann hat es wohl mit dem Denken zu tun, dass die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden. Vielleicht gibt es sogar eine dialektische Beziehung zwischen beidem; dem Denken und dem Sex. Was aber übrig blieb, nach der Vertreibung aus dem Paradies, war die Arbeit. Das menschliche Denken wurde somit zur Arbeit, mit Konkurrenz, Entfremdung, Ausbeutung, Profit, Karriere, Gewalt, also das Gegenteil von Freiheit. Herrschaft bedeutet, alles Denken auf ein Ziel richten zu können, Macht bedeutet, Denken im eigenen Interesse regulieren und manipulieren zu können. Dazu gehört nicht zuletzt, Denken zum Privileg zu machen. Früher, als bekanntlich doch nicht alles besser war, behauptete in aller Regel eine schmale Schicht – meist männlich, weiß, alt und „vermögend“ – dass das Denken vernünftigerweise ausschließlich in diesem Kreis stattzufinden habe. Sklaven, Frauen, Kinder, Fremde, Proleten und Habenichtse seien prinzipiell zum Denken unfähig. Fingen sie doch an zu denken, müsse man es ihnen mit möglichst drastischen Mitteln austreiben. So einfach ist das heute natürlich nicht mehr. Aber: Ist das Denken wirklich demokratisiert? Oder gibt es immer noch Szenen, Milieus, Strukturen etc., die den einen das Denken zuordnen und den anderen absprechen?

Gedacht – wer schalten denn in der Politik immer die Birne aus ?

Der Widerspruch zwischen Denken und Macht ist unauflöslich. Wo gedacht wird, kann nicht unbegrenzt geherrscht, ausgebeutet, betrogen, vernichtet werden. Die Grundlage von Macht ist die Fähigkeit, sich das Denken untertan zu machen. Heißt: das Nutzbringende zu verwenden, das Störende abzuschaffen. (Aha, denkt man gleich: Daher weht der KI-Wind!) Zur Abschaffung des Denkens dienen vornehmlich drei Instrumente: Gewalt (Zensur und Gefängnis), Lebensweise (man muss sich nicht zu Tode arbeiten oder amüsieren, es genügt, zu müde zum Denken zu sein) und Ideologie. Letztere organisiert das tief sitzende und auch nicht wirklich grundlose Misstrauen gegen das Denken. Entfernt es sich nicht vom richtigen Leben? Ist es nicht „kalt“ und „abstrakt“? Erzeugt es nicht immer wieder aus der Avantgarde die Elite, und sei es in Form akademischer Fundamental-Schnösel, die nicht müde werden zu erklären, dass das Denken außerhalb des Campus tunlichst zu unterlassen sei? Denken muss man sich leisten können, so fängt das an.

Mit der exponentiellen Vermehrung des Wissens muss sich wohl oder übel auch das Denken beschleunigen. So sehr, dass es schließlich nur noch von Spezialisten bewerkstelligt werden kann, denen man den Namen „Experten“ gibt. Ein Intellektueller ist ein Mensch, der seine Mitmenschen zum Denken anregen will; ein Experte ist ein Mensch, der seinen Mitmenschen das Denken abzunehmen verspricht. Dass unsere Kultur die Experten liebt und die Intellektuellen hasst, bedeutet also … kann man mal drüber nachdenken.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben           —       This is an educational image that I created for my classroom to remind them about the writing process.

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Vereinte Nationen:

Erstellt von Redaktion am 19. Juli 2023

Warnung vor rassistischer und sexistischer KI

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Künstliche Intelligenz kann diskriminieren, und Staaten sollten Menschen davor schützen. Das steht in einer neuen Resolution des UN-Menschenrechtsrats. Der Beschluss ist vage, sendet aber ein Signal an viele Regierungen, die gerade neue KI-Gesetze schreiben.

Wenn sogenannte Künstliche Intelligenz Fehler macht, können Unschuldige im Knast landen. Im Jahr 2020 wurde etwa der US-Amerikaner Robert Williams verhaftet, wie die New York Times (NYT) berichtete. Die Polizei war auf der Suche nach einem Ladendieb, und ein KI-System für Gesichtserkennung sagte: Williams sieht aus wie der Verdächtige. „Nein, das bin ich nicht“, sagte Williams, als die Polizei ihm das Foto des Gesuchten zeigte. „Denkt ihr, alle Schwarzen Männer sehen gleich aus?“

Das Beispiel zeigt die typischen Probleme von KI-Systemen: Sie können Leute benachteiligen, die nicht ausreichend in den Trainingsdaten repräsentiert waren, zum Beispiel Schwarze Personen. Und wenn Menschen die Entscheidungen eines KI-Systems unkritisch übernehmen, kann es schnell fatal werden.

Von solchen und anderen Fällen handelt eine neue Resolution des UN-Menschenrechtsrats. In dem Beschluss steht auf Englisch: Künstliche Intelligenz kann diskriminieren, „unter anderem aufgrund von race, Geschlecht, Alter, Behinderung, Nationalität, Religion und Sprache“. Staaten sollen Menschen vor Schäden und Diskriminierung durch KI-Systeme schützen. Sie sollen die Folgen von KI abschätzen und Risiken mindern. Dass solche Dinge wichtig sind, darauf haben sich die Mitgliedstaaten im Menschenrechtsrat am 14. Juli geeinigt.

Der finale Text der Resolution ist noch nicht online, deshalb verlinken wir hier eine Fassung vom 12. Juli. Demnach sollen Trainingsdaten für KI-Systeme „genau, relevant und repräsentativ“ sein. Sie sollen auf Verzerrungen („bias“) geprüft werden.

Wenn der Mensch die Maschine falsch einsetzt

Diskriminierung kann nicht nur passieren, wenn Menschen ein KI-System entwickeln, sondern auch, wenn sie es einsetzen dürfen. Auch davor warnt der Menschenrechtsrat. Anschaulich macht das wieder ein Vergleich mit dem Fall von Robert Williams. Es waren letztlich Menschen, die das Ergebnis des KI-Systems nicht ausreichend hinterfragt haben. Die Polizist*innen haben Williams laut NYT erst einmal festgenommen, fotografiert, über Nacht eingesperrt und seine Fingerabdrücke genommen.

Besonders gefährdet sind laut UN-Menschenrechtsrat auch Personen, die „nationalen“, „indigenen“ oder „sprachlichen“ Minderheiten angehören. Der Rat schreibt von Menschen in „ländlichen Gebieten“, von „wirtschaftlich benachteiligten Personen“ und von Menschen in schwierigen Lebenslagen. Sie alle seien einem größeren Risiko ausgesetzt, dass ihre Rechte übermäßig durch KI-Systeme verletzt werden.

Als Gegenmaßnahme sollen Staaten fördern, dass KI-Systeme transparent sind. Das heißt, KI-basierte Entscheidungen sollen erklärbar sein. Außerdem sollen Staaten den Einsatz von KI-Systemen beaufsichtigen.

Redefreiheit in Gefahr

KI ist ein grober Sammelbegriff, Beispiele für konkrete Systeme nennt der UN-Beschluss kaum. Immerhin schreibt der Menschenrechtsrat ausdrücklich von KI-Systemen, die Desinformation und Hassrede eindämmen sollen, etwa in der Content Moderation.

Große Online-Dienste wie Instagram, Facebook, TikTok und YouTube setzen solche Software ein. Sie soll automatisch verdächtige Inhalte erkennen. Anders wäre die Flut an Inhalten kaum zu bewältigen. An dieser Praxis dürfte sich künftig kaum etwas ändern, im Gegenteil. Auch die deutsche Medienaufsicht fahndet inzwischen mit Software nach beispielsweise Volksverhetzung. Laut UN-Beschluss sollten Staaten in dem Bereich Forschung fördern und sich über transparente Lösungswege austauschen. Bei der Moderation von Inhalten sollten Menschenrechte wie Meinungs-, Rede- und Informationsfreiheit geschützt werden.

Die Probleme von KI-Systemen beschreibt der Beschluss zwar ausführlich. Aber konkrete Pflichten für Staaten stehen in dem Beschluss nicht. Die Mitgliedstaaten „heben“ lediglich die Wichtigkeit der Themen „hervor“. Hervorgehoben wird der „Bedarf“, den Themen „besondere Aufmerksamkeit zu schenken“. Das ist der Sound von gemeinsamen Beschlüssen auf internationaler Bühne: weich und unverbindlich.

Immerhin bringt der Beschluss die grundrechtlichen Probleme von KI-Systemen weltweit auf die Agenda. Im UN-Menschenrechtsrat sind 47 Staaten vertreten, darunter autoritäre Regime. Wie die französische Nachrichtenagentur AFP berichtet, haben Österreich, Brasilien, Dänemark, Marokko, Singapur und Südkorea die Resolution vorgeschlagen. Trotz ihrer Zustimmung im Rat hätten China und Indien gesagt, sie seien mit dem Ergebnis nicht ganz einverstanden.

Die EU verhandelt ihr KI-Gesetz genau jetzt

Aktuell verhandeln das Europäische Parlament, der Ministerrat und die EU-Kommission ein KI-Gesetz für die EU. Es soll sogenannte Künstliche Intelligenz umfassend regulieren. Das Gesetz ist das erste seiner Art, es könnte international Maßstäbe setzen.

Wer könnte sich hier wohl angesprochen fühlen – nschedem sie über sieben Brüclen gehen musste ?

Während die EU im Trilog hinter verschlossenen Türen am finalen Text arbeitet, drängen Bürgerrechtler*innen auf den Schutz von Grundrechten. Über die größten Probleme im KI-Gesetz haben wir hier berichtet. Unter anderem wollen Staaten selbst gefährliche KI-Systeme für die „nationale Sicherheit“ einsetzen. Solche Ausnahmen können Löcher in das eigentlich ambitionierte Gesetz reißen.

Um diese und weitere Probleme dreht sich auch ein Aufruf von NGOs wie European Digital Rights, Algorithm Watch und Amnesty International. Er wurde am 12. Juli veröffentlicht, insgesamt haben ihn 150 Organisationen unterzeichnet. Sie fordern die EU-Organe auf, „Menschen und ihre Grundrechte im KI-Gesetz an erste Stelle zu setzen“.

Vor allem der Hype um den Chatbot ChatGPT hat KI in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit und vieler Regierungen gerückt. Auch die USA planen neue Regulierungen. Am 17. Juli berichtete die Agentur Reuters, dass die EU in Asien für Regeln nach dem Vorbild des KI-Gesetzes lobbyiert. Demnach soll es Gespräche mit Vertreter*innen aus Indien, Japan, Südkorea, Singapur und den Philippinen gegeben haben. Die Reaktionen seien aber verhalten gewesen; die Regierungen würden demnach lieber erst einmal abwarten.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —     shitting bull within a red circle

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Vollbremsung oder Crash?

Erstellt von Redaktion am 19. Juli 2023

Das Zeitfenster zur Begrenzung der Klimakatastrophe schließt sich

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Von Jürgen Tallig

Die Menschheit befindet sich in einer Vielfachkrise. Sie bewegt sich mit weit offenen Augen immer schneller auf einen großen Krieg, möglicherweise einen Weltkrieg, also einen Atomkrieg zu. Die Welt teilt sich offenbar erneut in Blöcke, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen. Zig Milliarden werden für eine sich ausweitende Spirale der Zerstörung und des Tötens ausgegeben und fehlen woanders, um Leben zu retten und zu schützen und die eskalierende Klimakatastrophe einzudämmen.

Wissenschaftler sprechen längst von Alarmstufe Rot, vom „Klima-Endspiel“, einem beispiellosen Artensterben, einem globalen Notstand, vom vielfachen Überschreiten planetarer Grenzen, von drohenden Kippprozessen und fordern einen sofortigen Kurswechsel, um die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens und des Artenschutz-abkommens einzuhalten und eine weitere Eskalation der globalen Katastrophe zu verhindern.

Doch die zukunftsbedrohende Vielfachkrise der Menschheit verschwindet hinter einem Schleier von symbolischer Politik und Nebensächlichkeiten. Die Klimaschreckensmeldungen aus aller Welt und die immer ernsteren Mahnungen und Warnungen der Wissenschaft und der Klimaberichte erreichen immer nur kurz die mediale Oberfläche, um sofort wieder in einem Meer von populistischer Manipulierung und kunterbunter Abstumpfung zu versinken. Optimismus beruht bekanntlich auf Mangel an Information und auf dem Übermaß an nicht relevanten Informationen.

Weder die Gesellschaft, noch die Politik haben scheinbar den wirklichen Ernst der Lage begriffen, siehe die Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur Räumung von Lützerath,

http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/umsp1215.html

geschweige denn, dass man zu einem wirklichen Kurswechsel bereit wäre.

Die Stimmen des fossilen „Weiter so!“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossillobby scheint ungebrochen.

Darauf angesprochen, dass die derzeitige Politik die Klimaziele missachte und daher rechtswidrig sei, äußerte Minister Habeck, dass es dann künftig höhere negative Emissionen geben müsse und offenbarte damit eine fahrlässige Unkenntnis der naturwissenschaftlichen und juristischen Faktenlage.

Defizite der Klimapolitik

Es ist ja leider so, dass das überlebenswichtige Klimathema in den letzten drei Jahren in der Politik und auch in der Öffentlichkeit durch andere Themen in den Hintergrund gedrängt wurde. Erst durch die Corona-Pandemie und jetzt durch den Krieg, die vermeintliche Energiekrise und die Aufrüstungsdebatte. Das führte zu einem klimapolitischen Rollback und dazu, dass die Klimaverpflichtungen des Pariser Klimavertrages international aber auch national nicht eingehalten werden und somit eine völlig ungebremste weitere Eskalation der Klimakatastrophe droht.

Es ist notwendig, auf dieses Defizit der Klimapolitik und auf die drohende Gefahr einer nicht mehr rückholbaren Klimakatastrophe hinzuweisen und die Öffentlichkeit zu mobilisieren, um die Politik endlich zu problemadäquatem Handeln zu bewegen.

Die Aktivisten der Letzten Generation, mit denen wir solidarisch sein sollten (obwohl ich die Beschädigung von Kunst ablehne) weisen mit ihren spektakulären Aktionen besonders auf die Fortführung einer rechtswidrigen, unverantwortlichen Verkehrspolitik hin, die fortwährend gegen die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes verstößt.

Das führte dazu, dass mittlerweile der BUND, der größte Umweltverband Deutschlands, Klage gegen die Bundesregierung beim Oberverwaltungsgericht eingelegt hat, – wegen Nichteinhaltung des Klimaschutzgesetzes. Es ist aber auch höchste Zeit, zu klären, wer denn eigentlich die Gesetzesverletzer sind. Die Reaktion der Bundesregierung war eine Änderung des Klimagesetzes, als Bewertungsgrundlage ist jetzt das Gesamtbudget zu betrachten, so dass einzelne Bereiche nun nicht mehr angreifbar sind. Das sind Taschenspielertricks!

Es gilt unverändert die Taktik: Ausweichen und auf die lange Bank schieben.

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Morgen, Morgen nur nicht Heute, sagen alle faulen Leute und die sehen wir hier!

Gleichzeitig spekuliert man über massive Subventionen für energieintensive Industrien.

Wir sind die letzte Generation

die die Klimakatastrophe noch begrenzen kann. Der Klimaschutz muss endlich den Vorrang erhalten, der ihm auf Grund des Ernstes der Lage, also der Gefahr einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung durch das Überschreiten von Kipppunkten gebührt.

Hier hat die „Letzte Generation“, in letzter Zeit den Staffelstab übernommen und sehr mutig und phantasievoll das Thema wieder nach vorne gebracht. Und keinesfalls nur mit Klebeaktionen, wie uns die bürgerlichen Medien weismachen wollen, sondern mit einer Vielzahl unterschiedlichster Aktionsformen.

Sei es die Besetzung des „Adlon“ und das Entrollen eines großen Transparentes „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“, die Blockade des Hamburger Hafens, die „Verschönerung“ der RWE-Filiale mit roter Farbe, die Teilnahme an Protesten gegen ein Straßenbauprojekt in der Wuhlheide, das symbolische Abdrehen des Gashahnes in der Raffinerie Schwedt, – das geht schon alles in die richtige Richtung, wird aber gerne totgeschwiegen. Unterstützung kommt von Bürgermeistern, Museumsdirektoren, Wissenschaftlern. So manche altkluge Kritik sollte hier nicht an die Aktivisten gehen,

sondern an die Besserwisser, die sich lieber zurücklehnen und zuschauen, obwohl sie doch auch die Letzte Generation sind.

„Es rettet uns kein höheres Wesen“ und auch kein imaginäres Subjekt der ökologischen Wende aus dem Süden. Von dort werden sogar bald Dutzende und hunderte Millionen Klimaflüchtlinge nach Norden aufbrechen, weil ihre Heimat unbewohnbar geworden ist.

Die Zeit wird knapp und die Klimawende muss vor allem und zuerst im Norden stattfinden.

Die Erderhitzung beschleunigt sich

Die Erderhitzung und der Klimawandel beschleunigen sich immer weiter.

Die neuesten Entwicklungen sind erschreckend. So gibt es einen erneuten Negativrekord beim Schwund des Antarktischen Meereises. Das Tempo des Meeresspiegelanstiegs hat sich seit 1993 verdoppelt. Voriges Jahr erreichte die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur bereits 1,26 Grad und sie nimmt mittlerweile bereits um über 0,2 Grad pro Jahrzehnt zu und all dies beschleunigt sich immer weiter.

https://www.energiezukunft.eu/klimawandel/erde-erwaermt-sich-schneller/

Asien ächzt dieses Jahr unter einer Hitzewelle (in Indien 45-50 Grad Celsius) und leidet unter zunehmendem Wassermangel. Die Gletscher des Himalaya schmelzen rasant.

Doch auch Südeuropa, Nordafrika und die südlichen USA (etwa 100 Millionen Menschen) sind von extremer Hitze betroffen, die teilweise schon wochenlang anhält.

Das führte auch zu verheerenden Waldbränden,- die in Kanada sind nicht zu löschen. Sie nebeln nicht nur New York und die Ostküste der USA ein, sondern haben inzwischen auch Europa und höhere Luftschichten erreicht, wo der Rauch die Wolkenbildung verändert und die Ozonschicht schädigt.

Es wird zudem vielfach eine extreme Erwärmung der Meere und Ozeane beobachtet. Darüber hinaus wird inzwischen mit 80%iger Wahrscheinlichkeit mit einer El Nino- Phase gerechnet, einer periodisch wiederkehrenden Wetteranomalie, die die Temperaturen zusätzlich nach oben treibt und für zusätzliche Wetterextreme sorgt.

Während sich Deutschland in diesem Frühjahr und Frühsommer sehr häufig unter dem Einfluss kalter Luft aus dem Norden befand und es häufigere Niederschläge gab, ist Südeuropa von Hitze und Dürre extrem betroffen. Austrocknende Seen und Flüsse, eine weiter erhöhte Waldbrandgefahr und eine massive Beeinträchtigung der Wasserversorgung und der Landwirtschaft stellen für viele heute schon die Existenzfrage,- doch auch Deutschland ist keine Insel der Seligen.

Längst ist das Wetter zum „Un“-Wetter geworden. Wir haben die atmosphärische Zirkulation über Europa grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt, das uns im Wechsel arktische Polarluft oder subtropische Warmluft beschert und die Niederschläge verschoben hat. In Europa hat sich zudem zwischen 1991 und 2021 die Oberflächentemperatur um unglaubliche 0,5 Grad pro Jahrzehnt erhöht. Die Erwärmung über Land ist viel stärker als über den Ozeanen und Europa ist der Kontinent, der sich am schnellsten erwärmt.

Wir haben jetzt „erst“ eine um etwa 1,2 Grad Celsius erhöhte globale Mitteltemperatur erreicht. Was passiert dann aber bei den zu erwartenden globalen 2,7 oder 3,2 Grad, oder gar bei 4 oder 5 Grad globaler Temperaturerhöhung?

»Wenn wir global bei 3 Grad landen, drohen Deutschland etwa 6 Grad«

Der bekannte Klimawissenschaftler Stefan Rahmstorf hat sich jüngst in einem Interview mit Spektrum der Wissenschaften geäußert:

https://www.spektrum.de/news/klimakrise-stefan-rahmstorf-im-interview/2121369

„Wenn wir global tatsächlich bei drei Grad landen werden, drohen Deutschland etwa sechs Grad Erwärmung.“ sagt Prof. Rahmstorf.

„Landgebiete erwärmen sich etwa doppelt so rasch wie der globale Mittelwert, der zu 70 Prozent aus Meerestemperaturen gebildet wird. Hier zu Lande ist in der Vergangenheit die Temperatur daher etwa doppelt so stark gestiegen wie im globalen Mittelwert von 1,1 Grad. Wir sind in Deutschland inzwischen bei rund 2,3 Grad Erwärmung angelangt.…“

Seine größte Sorge ist, „Dass wir unumkehrbare Dinge in Gang setzen. Nicht nur die berühmten Kipppunkte, sondern ganze Kaskaden von Kipppunkten, die dann zum unaufhaltsamen Selbstläufer werden. …“

Abschließend stellt der Professor etwas resigniert die polemische Frage, ob denn die Entscheidungsträger, wenigstens die Zusammenfassungen der Berichte des Weltklimarates lesen würden… Er stelle immer wieder fest, dass das Wissen bei den Entscheidern unvorstellbar begrenzt ist.

Lizenz zum Klimakillen

Eine neue Studie namhafter Klimawissenschaftler, mit der IPCC-Methodik, aber unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse

https://www.energiezukunft.eu/klimawandel/erde-erwaermt-sich-schneller/

, kommt zu dem Ergebnis, dass das CO?- Budget nur noch halb so hoch ist, wie bisher angenommen. Dazu muss man wissen, dass die IPCC-Berichte des Weltklimarates nur alle sechs Jahre erscheinen und wesentlich auf konservativen Forschungsergebnissen des zurückliegenden Zeitraums beruhen, die aber durch das Tempo der Veränderungen oftmals schon überholt sind.

Weiterhin muss man wissen, dass das in den IPCC- Berichten ermittelte CO?- Budget, Grundlage der internationalen und nationalen Klimapolitik ist und die Höhe der tolerierbaren Restemissionen vorgibt. Kritiker dieser fragwürdigen und teils höchst spekulativen Berechnungen, nennen dies die Erteilung der „Lizenz zum Klimakillen“.

Nicht zu Unrecht. Hier wird die Möglichkeit zur CO?- Rückholung in großem Stil fest einkalkuliert, obwohl diese rein spekulativ und kaum umsetzbar ist.

Nach den neuesten Forschungsergebnissen müsste eigentlich bei der nächsten UN-Weltklimakonferenz, der COP 28 im November, ein neues, strengeres CO?- Budget beschlossen werden. Auch die Bundesregierung müsste dann, bei einem nur noch halb so hohen Budget, laut Klimaschutzgesetz ihre Klimaziele- und Maßnahmen erheblich verschärfen. Doch sie hält ja nicht einmal die derzeitigen, völlig ungenügenden Verpflichtungen ein, da Wirtschaftswachstum und Profit absoluten Vorrang haben.

Die Subventionierung der Klimakatastrophe

Fossile Energie und klimazerstörender Verkehr werden nachwievor hoch subventioniert, laut Umweltbundesamt mit über 65 Milliarden Euro pro Jahr,- was nicht länger hinnehmbar ist.

Diese umweltschädlichen Subventionen sind insgesamt weit höher als die Ausgaben für den Klimaschutz. Dazu gehören zum Beispiel:

8,4 Milliarden Euro für die Befreiung des Luftverkehrs von der Energiesteuer,

8,2 Milliarden Steuernachlass für Dieselkraftstoff,

6.0 Milliarden für die Pendlerpauschale,

5,2 Milliarden Steuernachlässe für tierische Lebensmittel,

2,1 Milliarden für kostenlose CO2-Emissionsrechte an Unternehmen,

1,9 Milliarden Energiesteuerbefreiung für energieintensive Industrien.

Dieses viele Geld müsste in den öffentlichen Verkehr und in sonstigen Klimaschutz umgeleitet werden. Auch eine wirksame CO2-Steuer könnte direkt zur Finanzierung des ÖPNV und z.B. zur Einführung von 100% Ökologischer Landwirtschaft beitragen, um unsere Insekten und Vögel zu retten. Klima- und Naturschutz und die massive Subventionierung fossiler Energie und von Autoverkehr sind nicht vereinbar.

Die Bundesregierung will das Energieproblem perspektivisch mit dem beschleunigten Ausbau Erneuerbarer Energien lösen, doch die können maximal ein Drittel des derzeitigen viel zu hohen Energieverbrauchs abdecken. Zudem werden gleichzeitig weiterhin kostenlose CO2- Emissionszertifikate ausgegeben, bis mindestens 2034, deren Menge sich nur allmählich reduzieren soll, so dass der Emissionshandel erst mal zahnlos bleibt und nicht die nötige Lenkungswirkung entfalten kann, zumal viel zu viele Zertifikate auf dem Markt sind (EU-Emissionshandel verschärft, Kostenlose Zuteilung fällt und CO2-Grenzausgleich kommt – pv magazine Deutschland).

https://www.pv-magazine.de/2022/12/19/eu-emissionshandel-verschaerft-kostenlose-zuteilung-faellt-und-co2-grenzausgleich-kommt/

Missachtung des Vorsorgeprinzips

Die einzig hinreichend regulierungsfähige Macht, der Staat, befindet sich offenbar in allen großen westlichen Ländern nachwievor fest in der Hand kapitalhöriger Kräfte, die nicht die Interessen der Bürger und der Umwelt, sondern eben vor allem die Interessen des Großkapitals und der fossil-mobilen Großkonzerne vertreten,- woran in Deutschland bisher auch die Regierungsbeteiligung der GRÜNEN nichts ändern konnte. Klimaschutz zu realisieren, bedeutet eben auch Schutz und Ausbau der Demokratie gegen den illegitimen Zugriff mächtiger Minderheiten. Klimaschutz und Demokratie werden im Moment zusehends als Wachstumshemmnisse betrachtet, die in der allgemeinen Mobilmachung für den globalen Konkurrenzkampf stören, wie die zunehmende mediale Hetze gegen die „Letzte Generation“ und ihre verschärfte juristische Verfolgung zeigen.

Es ist unübersehbar, dass die aktuelle Politik vorrangig zugunsten der Interessen einer kleinen, reichen Minderheit handelt und die Interessen der kommenden Generationen missachtet. Damit wird aber die Lage weiter eskaliert zu einer Klimakatastrophe die nicht mehr gestoppt oder rückgängig gemacht werden kann. Hier wird weder „Schaden vom deutschen Volke abgewendet“ und auch die Lebensgrundlagen werden nicht gesichert, sondern das Vorsorgeprinzip wird aus aktuellen Macht- und Profitinteressen sträflich missachtet, – insofern ist dieses (Nicht)Handeln nicht nur verantwortungslos, sondern rechtswidrig.

Diese fahrlässige Politik zu Lasten der kommenden Generationen missachtet aber nicht nur das Vorsorgeprinzip sondern beruht außerdem auf der weit verbreiteten, völlig spekulativen Annahme, dass künftig riesige Mengen CO2 aus der Atmosphäre zurückgeholt und die Temperaturen wieder gesenkt werden können. Die Inkaufnahme des Überschreitens der Temperaturgrenzen, die ja gar nicht zeitweilig sein kann, ist unverantwortlich und kommt einem Todesurteil für hunderte Millionen Menschen gleich. Im Bereich von Kipppunkten und einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung gibt es kein Zurück.

Klimaungerechtigkeit

Inzwischen können wir die Klimakatastrophe nicht mehr verhindern sondern nur noch verlangsamen und begrenzen, – doch wir beschleunigen sie immer weiter.

Weshalb zeigen sich die EU und Deutschland (selbst mit grüner Regierungsbeteiligung) unfähig und unwillig die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, obwohl man doch gleichzeitig hunderte von Milliarden Euro für dubiose Corona-„Wiederaufbauprogramme“, für Aufrüstung und für Energiesubventionen ausgibt, die man offenbar als systemrelevant betrachtet? Die rechtlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz missachtet man hingegen und macht sich damit sogar strafbar. In der Logik des kapitalistischen Wachstumssystems ist Klimaschutz offenbar nicht „systemrelevant“, sondern systembedrohend, da er ein schnelles „Weniger“, statt des beständigen „Immer mehr“ erfordert, das ja die Grundlage für das Funktionieren des ganzen Systems ist.

Es gibt offenbar einen antagonistischen Widerspruch zwischen den dominanten Gegenwartsinteressen, die vorwiegend Wachstums, Profit- und Konsuminteressen sind und den Interessen der jungen Generation, der Ärmeren, der Bauern, des Südens und der kommenden Generationen an der Sicherung der Lebensgrundlagen und der Zukunft. Siehe hierzu das bemerkenswerte „Manifest der Völker des Südens – Für eine ökosoziale Energiewende“, https://infobuero-nicaragua.org

das unbedingt diskutiert und weiterverbreitet werden sollte.

Der Klimakonflikt ist natürlich auch ein nationaler und globaler Konflikt zwischen Arm und Reich, da die reichen 10 % in Deutschland und Europa in etwa genauso viele Treibhausgase verursachen, wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung (Klaus Dörre, Die Linke muss sich neu erfinden- aber wie?, LUXEMBURG 1/2022, Seite 119.und weltweit verursachen: „Die reichsten 1 % der Weltbevölkerung doppelt so viel Emissionen, wie die ärmeren 50 %, oder die reichsten 0,5 % so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung!“ (Quelle: Stockholm Environment Institut 2020). Was für eine ungerechte Welt! Um Klimagerechtigkeit herzustellen, müssten die reichen 10 % in Deutschland Ihre Emissionen übrigens auf ein Dreißigstel reduzieren.“ (Quelle: Dörre, 2022).

Beim derzeitigen „Endspiel um die Zukunft“ (Der Rabe Ralf April/Mai 2023, S.16-17)

https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/endspiel/

geht es von daher nicht nur ums Klima, sondern um reale Macht, es geht um Gerechtigkeit und Gestaltungsmacht für die kommenden Generationen, um eine dauerhaft mögliche, zukunfts- und friedensfähige Gesellschaft.

Die derzeitige Zukunftsblockade spaltet die Gesellschaft und wird durch die Klimakrise, die Aufrüstung, aber auch durch die nur vermeintlich klimafreundliche „grüne“ Modernisierung ständig weiter verschärft und ist in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen offenbar nicht auflösbar.

Vollbremsung oder Klimacrash

Wir werden jetzt die Klimakatastrophe begrenzen oder wir werden sie überhaupt nicht mehr begrenzen können, weil sie sich dann verselbständigt hat und selbst verstärkt.

Das meint ganz konkret den auftauenden Permafrost, das schwindende Meereis, die brennenden Wälder, -alles Verstärkungen der Erderhitzung, die bereits in vollem Gange sind, aber in diesen Budgetzahlenspielereien gar nicht berücksichtigt werden.
Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO, https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0
könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

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Die weitere Verschärfung der Klimakatastrophe bedroht direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen. Jede Tonne CO? die ausgestoßen wird, führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Extremwetter, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden. 2022 gab es in Europa bereits 60000 Hitzetote, in Deutschland waren es 8000 und das ist erst der Anfang. Jede weitere Tonne CO? destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter, – deshalb muss Schluss sein mit dem Kohle-und Autowahnsinn,- das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Man kann eine sich aufschaukelnde Klimakatastrophe nicht später wieder rückgängig machen, genauso wenig wie den Tod. Deshalb müssen wir uns heute für das Leben entscheiden.

Trägheit der Herzen und Strukturen

Ein „Weiter so“ scheint aber vielen immer noch das geringere Übel. Groß sind die interessegeleiteten Trägheitskräfte in der Gesellschaft und bei jedem Einzelnen, eingeübte Routinen von Pflichterfüllung und vorauseilendem Gehorsam.

Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.“ wie der französische Philosoph Baudrillard treffend formulierte. Unsere derzeitige Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht nur imperial, sondern zerstörerisch und bedeutet faktisch einen permanenten Krieg gegen das Klima, die Biosphäre und andere Kulturen, wird aber nachwievor als fortschrittlich, rational und alternativlos dargestellt und verteidigt. Doch wir sind nicht die Vernünftigen,

-wir Biedermänner sind die Brandstifter. . .

Und so werden wir wahnsinnig Vernünftigen die Welt in den Abgrund der Klimahölle befördern, nicht aus böser Absicht, sondern aus Trägheit und Bequemlichkeit, aus Gewohnheit und Pflichtgefühl, weil wir nicht bereit sind unsere gewohnte Komfortzone zu verlassen,- auch wenn wir schon den Rauch und die Hitze des großen Feuers spüren.

Wie man die Trägheit der Herzen und Strukturen noch rechtzeitig überwinden kann, ist inzwischen eine Überlebensfrage…“ schrieb ich bereits 2017.

Jeder Krieg geht vorbei, jedoch die Klimakatastrophe beginnt gerade erst und wird eine lebensbedrohliche Dynamik entfalten, die das Überleben der Menschheit gefährdet.

Das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen und endlich entsprechend handeln.

Krieg oder Frieden?

Sei es gegen eine klimafeindliche Energiepolitik (Lützerath), eine rechtswidrige Verkehrspolitik (Letzte Generation und FfF), gegen Aufrüstung und Waffenexporte, wie jüngst in Berlin,- es regt sich Widerstand, die Menschen werden aktiv, bekennen Farbe und fordern eine andere Politik. Die Friedenstaube war auf der Friedensdemo der 50000 auf vielen Transparenten, Plakaten und Ansteckern unübersehbar.

Das macht Mut und war zwar kein „Aufstand“, aber ein Aufbruch ganz gewiss, in dem viele den Beginn einer neuen Friedens- und Bürgerbewegung sahen. Höchste Zeit wäre es. Auch dass sich Friedens- und Klimabewegung zusammenfinden und viele andere Initiativen, um den verpassten „Aufbruch21“ doch noch nachzuholen (siehe Der Rabe Ralf, Februar/März 2021, Seite 15). So zeigte der gemeinsame Klimastreik von Fridays for Future und VERDI am 03.03.2023 mit über 220000 Teilnehmern, was schon alles möglich ist.

Frieden (auch mit der Natur), Klimaschutz, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit könnten und sollten dabei die verbindenden Gemeinsamkeiten sein, denn nur eine Gesellschaft, die sich in diese Richtung verändert, wird den Herausforderungen der Gegenwart gewachsen sein und Lösungen und nicht Probleme produzieren.

Eine Politik des Friedens

Eine wirksame, globale Klimapolitik ist nicht möglich, wenn jede Regierung nur den gegenwärtigen Vorteil ihres Landes sucht und vor allem der reiche Westen seine Gewinnerposition mit allen Mitteln bewahren will.

Früher oder später prallen die Interessen auch militärisch aufeinander, wenn man sich nicht beschränken und verständigen will, wie wir gerade erleben müssen. Es ist höchste Zeit, zu erkennen, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt auf die irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen hinausläuft und nur Frieden untereinander und Frieden mit der Natur eine dauerhaft mögliche Lösung sind.

Wir entscheiden jetzt über Leben und Tod, über die Zukunft der vielen Milliarden Menschen, die noch nach uns auf der Erde leben wollen.

Um das Feuer der Klimakatstrophe zu löschen, ist ein wirklicher Machtwechsel und ein grundlegender Um-Rück- und Neubau der Gesellschaften weltweit notwendig. Es geht um den Aufbau von Gesellschaften und stationären Ökonomien, deren zentrales Paradigma nicht Wachstum um jeden Preis, sondern der Fortbestand des Lebens und der Menschheit ist, wobei die westlichen Industriegesellschaften voran gehen müssen. Hier noch einmal die

Konturen einer sozial-ökologischen Transformation

(zuerst in Tarantel 93, Auszug aus „Die Freiheit der Anderen“)

https://www.oekologische-plattform.de/2022/02/tarantel-nr-93-ii-2021/

* Grundlegender Umbau des Steuersystems, ökologische Steuerreform: Belastung des Energie- und Rohstoffverbrauchs, Entlastung der lebendigen Arbeit, regenerativer Energien und des öffentlichen Verkehrs, Reichensteuer. Preisreform: Verteuerung von Energie und Rohstoffen, ein progressiv schnell steigender CO?-Preis von mindestens 60 Euro pro Tonne, nicht gedeckelt und subventioniert, aber natürlich sozial abgepuffert für Geringverdiener und kleinere Unternehmen. Abschaffung des Bruttosozialprodukts zugunsten eines Ökosozialprodukts, Bilanzierung und Besteuerung der Unternehmen nicht nur nach ökonomischen Kennzahlen, sondern ebenso nach ökologischen und sozialen Kriterien.

* Einführung einer möglichst globalen, stetig steigenden Transportsteuer zur Eindämmung der Globalisierung und des ausufernden Verkehrs.

* Grundlegender Umbau der Finanzordnung: Geld als reines Tauschmittel, Abschaffung des Kapitalzinses und der leistungslosen Spekulations- und Aktiengewinne, Bankensystem als reine Dienstleistung in öffentlicher Hand, Geldmengenbegrenzung und friedliche Kapitalvernichtung.

* Sofortprogramm-Nahziele: sofortiger Kohleausstieg, sofortige Abschaffung und Umlenkung der Subventionen für fossile Energien, Einführung einer hohen Kerosinsteuer, Ausstieg aus dem motorisierten Individualverkehr, Tempolimit, kostenloser ÖPNV, 100 Prozent ökologische Landwirtschaft, Wiederaufforstung, Wiedervernässung von Mooren, Verbot von Einwegflaschen und -verpackungen, Verbot von Werbung für Umwelt- und gesundheitsschädliche Produkte, Zerschlagung unkontrollierbarer Konzern- und Kartellstrukturen.

Es gilt weltweit, die Debatte über eine gesellschaftliche Alternative jenseits des Wachstums wiederzubeleben, über eine sozial gerechte, lebensdienliche Ökonomie und Gesellschaft, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört. Es gilt eine breite Öffentlichkeit zu überzeugen, dass eine andere Welt nicht nur immer dringender nötig, sondern auch möglich ist und wie diese andere Welt und die Wege dahin aussehen könnten.

Entscheidung für das Leben

Aktuell geht es natürlich zuallererst um Frieden, um den Stopp von Aufrüstung und Waffenlieferungen und die Verhinderung eines neuen Wettrüstens.

Fossile Brennstoffe werden nach jüngsten Schätzungen (2022) mit jährlich 554 Milliarden Dollar subventioniert und in ihr Militär stecken die Länder der Welt pro Jahr rund zwei Billionen Dollar. Beide Zahlen haben sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine noch einmal erheblich erhöht. Um das ins Verhältnis zu setzen, der Weltklimarat IPCC erachtet als nötig: Es müssten alljährlich 1,6 bis 3,8 Billionen Dollar ausgegeben werden, um eine Klimaerwärmung um mehr als 1,5 Grad Celsius zu verhindern.

Weiter „Öl“ ins Feuer der Klimakrise zu gießen (egal woher es kommt), ist genauso unsinnig und unverantwortlich, wie die Lieferung von immer mehr Waffen in Krisengebiete und das dadurch bedingte weitere Anheizen kriegerischer Konflikte.

Es gilt militärisch, aber auch energetisch und ökonomisch abzurüsten und eine gerechte, global wirksame neue Sicherheits- und Kooperationsstruktur zu schaffen und die freiwerdenden Mittel in die Sicherung der Lebensgrundlagen und die Verhinderung der Klimakatastrophe umzulenken. Wir brauchen die Friedensdividende für die globale Klimawende. Insofern ist Friedenspolitik die beste Klimapolitik und Voraussetzung und Schlüssel für die Bewältigung der sich zuspitzenden Existenzkrise der Menschheit.

Der Autor war 1989 Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig

Weitere Informationen unter:

www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

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Grafikquellen      :

Oben      —     Folgen der globalen Erwärmung: Anstieg des Meeresspiegels auf den Marshallinseln (Luftaufnahme aus dem Dokumentarfilm One Word von 2020)

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Radikal anders, jetzt!

Erstellt von Redaktion am 18. Juli 2023

Die Linke braucht dringend Erneuerung – inhaltlich wie personell.

Ein Debattenbeitrag von  :   ALINA LYAPINA, DAVID DRESEN und LIZA PFLAUM

Lagerkämpfe, Parteiaustritte, Visionslosigkeit – die Linke steckt in einer tiefen Identitätskrise. Seit Jahren streiten sich die führenden Köpfe öffentlich über die Frage, für wen und was genau eine linke Partei in Anbetracht steigender Energie- und Lebensmittelpreise, Klimakrise, Abschottung und Rechtsruck eigentlich im Kern stehen kann. Eine Antwort gibt es bis heute nicht. Doch genau das können wir uns in Anbetracht der aktuellen Lage schlicht nicht leisten.

Denn dies geschieht in einer Zeit, in der die AfD die ersten Landrats- und Bürgermeisterwahlen gewonnen hat und die Brandmauer der CDU zu bröckeln beginnt. In einer Zeit, in der die Inflation unsere Gehälter auffrisst und die SPD den Mindestlohn nur um ein paar lächerliche Cent erhöht. In einer Zeit, in der die Klimakrise durch Dürren und Unwetter in unserem Alltag angekommen ist, während die Grünen der Aufweichung des Klimaschutzgesetzes zustimmen und das Dorf Lützerath für Braunkohle zerstören lassen. In einer Zeit, in der die FDP die Kindergrundsicherung blockiert und gleichzeitig Steuersenkungen für Konzerne durchdrücken will.

Als Menschen, die seit Jahren in verschiedenen Bewegungen für gerechte Löhne, radikalen Klimaschutz und die Einhaltung der Menschenrechte kämpfen, müssen wir leider feststellen: Eine starke linke Partei fehlt derzeit schmerzlich. Wir sind überzeugt, dass die engagierte Zivilgesellschaft einen starken Bündnispartner in den Gemeinderäten, den Landesparlamenten und im Bundestag braucht.

Grüne und SPD sagen „Tschüss“ zu ihren Grundwerten

Genau jetzt kommt es darauf an, linke Themen zu setzen und dort aktiv zu sein, wo die Bundesregierung versagt. Spätestens seit der Entscheidung für eine der weitreichendsten Asylrechtsverschärfungen seit 1993 und dem Gebäudeenergiegesetz ist klar: Sowohl die Grünen als auch die SPD haben sich von ihren Grundwerten verabschiedet. Anstatt berechtigte soziale und ökologische Anliegen miteinander in Einklang zu bringen, streiten sie für die Interessen der gehobenen Mittelschicht und der Großkonzerne.

Die von Liberalen und Konservativen vorangetriebene und von SPD und Grünen mindestens geduldete Umverteilung von unten nach oben wird den Rechtspopulismus in Deutschland weiter nähren. Es braucht eine Partei, die sich dem neoliberalen Rechtsruck entgegenstellt und zeigt, dass soziale und ökologische Interessen nur durch einen solidarischen Klassenkampf verbunden werden können. Denn nach unten treten bringt nichts: Hierdurch gibt es keinen einzigen Cent mehr Lohn und keine einzige warme Mahlzeit mehr.

Es braucht jetzt eine Partei, die unmissverständlich für Gerechtigkeit kämpft und klare Kante zeigt. Die denjenigen eine Stimme gibt, die am stärksten von steigenden Miet-, Energie- und Lebensmittelpreisen, Klimafolgen und harten Außengrenzen betroffen sind – ohne diese Menschen gegeneinander auszuspielen. Die für alle Menschen ein Ort der Organisierung sein kann, weil sie im Lokalen verankert ist und ihre Ressourcen teilt. Die mit starken Kampagnen und Projekten Sichtbarkeit für die Probleme der Menschen schafft.

Eine Partei, die für die Sache steht und deren Abgeordnete nicht an Posten hängen. Eine Partei, die sich gegen männliche Dominanzstrukturen richtet. Die dort aktiv und laut wird, wo soziale Ungerechtigkeit, Klimaschäden oder Entrechtung geschehen. Kurz: eine Partei, die im Leben der Menschen einen realen Unterschied macht. Nicht für einige wenige, sondern für die vielen.

Es ist Zeit, dass die Linke zu dieser Partei wird. Aber wie?

Für wen und mit wem möchte die Linke ihre Politik machen?

Neulich hat der Parteivorstand angekündigt, die Linke bis 2025 wieder auf Erfolgsspur bringen zu wollen. „Die Zukunft der Linke ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht“, hieß es. Diese richtigen Absichten dürfen nicht nur auf dem Papier stehen bleiben. Was es jetzt braucht, ist eine radikale Erneuerung, in der die wichtigsten offenen Fragen beantwortet und die Strukturen der Partei grundlegend erneuert werden.

Gleichzeitig muss die Linke sich nach außen öffnen und frisches Personal auf allen Ebenen reinlassen.

Unter anderem ist eine Klärung in der Außenpolitik nötig. Die Linke muss konkrete Antworten auf aktuelle (geo)politische Herausforderungen finden: Wie könnte man in Europa jenseits von Militärbündnissen gemeinsam und solidarisch für die Sicherheit der Nachbarn sorgen? Was bedeutet für uns Linke denn praktisch das Recht auf Widerstand und Verteidigung, wenn es darauf wirklich ankommt? Es braucht ein klares Bekenntnis gegen alle Autokraten und Diktatoren.

Gleichzeitig muss die Linke sich nach außen öffnen und frisches Personal auf allen Ebenen reinlassen, das den neuen Kurs vertritt und gegen Widerstände verteidigt. Denn die Linke hat einen Personalnotstand – besonders auffällig in der Bundestagsfraktion –, und das macht sie für viele potenzielle Wäh­le­r*in­nen unattraktiv. Umso wichtiger ist es, dass die Partei bereits bei der EU-Wahl neue Gesichter nach vorne stellt, die die notwendige Erneuerung vorantreiben.

Neben neuen Gesichtern benötigt eine demokratische linke Partei auch demokratische Strukturen, die unter anderem die Bereicherung Einzelner verhindern. Nicht zuletzt fehlt die Klarheit in der Frage, für wen und mit wem die Linke ihre Politik machen möchte. Das verstaubte Image der Linken schreckt zahlreiche Menschen ab. In erster Linie braucht es Mut und Veränderungswillen, jetzt diesen Prozess grundlegend zu starten.

Quelle          :            TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Foto: DIE LINKE NRW / Irina Neszeri

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Tiefsee-Bergbau stoppen

Erstellt von Redaktion am 18. Juli 2023

Niemand stoppt Tiefsee-Bergbau in internationalen Gewässern

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Der Mensch :  Erst macht er seiner Erde den Gar-aus, dann höhlt er auch den Meeresboden aus, dem folgen Mond und Sterne – die Erde hatte wirklich Niemand gerne..

Quelle      :        INFOsperber CH.

Susanne Aigner / 

Greenpeace warnt vor Schlick und Giftstoffen und veröffentlicht verdeckte Video-Aufnahmen der jüngsten Tests am Meeresboden.

Bereits von Mitte September bis Mitte November 2022 hatte das kanadische Bergbauunternehmen The Metals Company (TMC) mit dem Tiefseebergbauschiff «Hidden Gem» Tests durchgeführt, welche die Internationale Meeresbodenbehehörde ISA kurzfristig genehmigte. Auch die Schweizer Allseas beteiligte sich daran. Sie besitzt mehrere Spezialschiffe. Die Unternehmen TMC und Allseas würden über einen Lizenzzeitraum von dreissig Jahren einzigartige vielfältige Ökosysteme direkt am Meeresboden zerstören, befürchtet Greenpeace.

Das Testgebiet lag im Pazifik in der Clarion-Clipperton-Zone zwischen Mexiko und Hawaii. Wie irreversibel die Tiefsee zerstört wird, das zeigen vor allem verdeckte Aufnahmen: Zunächst saugen Planierraupen die obersten vier bis zehn Zentimeter des Meeresbodens auf. Dann filtern Maschinen die Manganknollen heraus, um sie anschliessend durch ein Steigrohrsystem an die Wasseroberfläche zu pumpen und an Land weiter zu verarbeiten. Insgesamt wurden auf einer Länge von achtzig Kilometern mehr als 3000 Tonnen metallhaltige Knollen eingesammelt.

16’000 Quadratkilometer Lebensraum sollen zerstört werden

Ende Juli will die ISA (International Seabed Authority) die ersten Extraktionslizenzen vergeben. Demnach dürfen grosse Bergbauunternehmen innerhalb eines Zeitraumes von dreissig Jahren rund 16’000 Quadratkilometer Meeresbodens zerstören, eine Fläche etwa so gross wie die Kantone Aargau, Bern, Luzern und Graubünden zusammen.

Mit der Entfernung der Manganknollen werden am Meeresboden vor allem die oberen Sedimentschichten zerstört. In diesem Bereich finden nicht nur wichtige biochemische Prozesse statt, er ist auch Lebensraum für die meisten Lebewesen und Mikroorganismen. Neben den vom Meeresboden abgesaugten Sedimenten werden die Produktionsabwässer mit Gesteinstrümmern direkt wieder ins Meer geleitet. Damit werde praktisch das gesamte Ökosystem im zerstört, warnen Greenpeace-Experten. Herab sinkender Schlick und Giftstoffe in den Abwässern kann die Lebewesen auch über das Abbaugebiet hinaus schädigen und ersticken.

Steigende Nachfrage macht den Abbau unter Wasser attraktiv

Die grössten Vorkommen von Manganknollen liegen in einer Tiefe zwischen 4000 und 6000 Metern. Im Rahmen des Programms MiningImpact hat ein Forschungsschiff auf der Expedition SO295 in den Explorationslizenzgebieten in der Clarion-Clipperton Zone im Nordpazifik Ende des vergangenen Jahres Versuche auf dem Meeresboden durchgeführt.

Dabei wurden die oberen vier bis zehn Zentimeter – die mit den Knollen bedeckte Zone des Meeresbodens – komplett entfernt. Aufgrund des abgestorbenen Planktons werde sich diese Schicht erst im Laufe von rund zehntausenden Jahren wieder aufbauen, erklärt Matthias Haeckel, Biogeochemiker am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel.

Zwar wurden die Vorkommen von Manganknollen bereits in den 1960er und 1970er Jahren von einigen Industrienationen als mögliche Rohstoffquellen erkannt, doch erst in den letzten Jahren liessen steigende Rohstoffpreise und eine wachsende Nachfrage nach seltenen Metallen die Pläne zum Abbau der Manganknollen am Tiefseeboden reifen.

Manganknollen strahlen hundert Mal stärker als erlaubt

Auch das gesundheitliche Risiko durch radioaktive Strahlung beim Abbau und der Verarbeitung der Manganknollen wurde bisher offenbar stark unterschätzt.

Wie eine neue Studie zur Radioaktivität von Manganknollen zeigt, ergeben sich potenzielle Gesundheitsgefahren für Menschen im Zusammenhang mit der Förderung und Verarbeitung von Manganknollen sowie der Nutzung der daraus gewonnenen Produkte, erklärt Professorin Sabine Kasten, Projektleiterin der MiningImpact-Vorhaben am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Diese müssten bei weiteren Planungen dringend berücksichtigt werden.

So massen Wissenschaftler des AWI 2015 und 2019 die Radioaktivität in den Manganknollen in der Clarion-Clipperton-Zone. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im Mai 2023 im Fachmagazin «Scientific Reports».

Bereits aus früheren Studien war bekannt, dass die äussere Schicht der Manganknollen natürliche radioaktive Stoffe wie Thorium-230 und Radium-226 enthält, die sie über lange Zeiträume aus dem Meerwasser anreichern, weiss die Biogeochemikerin Jessica Volz.

Neu ist die Erkenntnis, dass die äussere Schicht der extrem langsam wachsenden Knollen für bestimmte Alphastrahler Werte des Hundert- bis Tausendfachen einiger Grenzwerte erreichen, die im Rahmen von Strahlenschutzregelungen gelten. Für Radium-226 etwa konnte das AWI-Team Aktivitäten von über fünf Becquerel pro Gramm auf der Aussenseite der Manganknollen nachweisen. Zum Vergleich: Die deutsche Strahlenschutzverordnung sieht für eine uneingeschränkte Freigabe Höchstwerte von lediglich 0,01 Becquerel pro Gramm vor. Zudem war auch die Strahlungsintensität bei der Bildung des radioaktiven Edelgases Radon überraschend hoch. Wenn die Manganknollen verarbeitet werden, können beim Lagern in schlecht belüfteten Räumen gesundheitsschädigende Stäube entstehen. Das Einatmen von Staub kann menschliche Atmungsorgane schädigen oder Krebserkrankungen auslösen. Radioaktive Stoffe reichern sich auch in den verarbeiteten Produkten an. Ob alle Manganknollen in der Tiefsee solche Werte erreichen, ist unklar.

Mariner Bergbau gefährdet Muscheln, Wale, Tintenfische

Bis vor Kurzem glaubte man, dass die grossen Tiefsee-Ebenen im zentralen Pazifik nur dünn besiedelt seien. Doch Wissenschaftler des europäischen Projektes MiningImpact fanden heraus, dass die ökologische Vielfalt gerade dort gross ist, wo viele Manganknollen auf dem Meeresboden liegen. In den unwirtlichen, kalten Bedingungen entwickelten sich hunderttausende Arten – oft mit bizarrem Aussehen. Vom Tiefseebergbau akut gefährdet wären zum Beispiel Vampirtintenfische, Seefledermäuse, Seegurken und Tiefseekraken.

Auch Wale sind vom Tiefseebergbau bedroht. Das zeigt eine aktuelle Studie. So tauchen Pottwale in bis zu tausend Meter Tiefe, um Riesenkalmare zu jagen. Rund 30 Walarten und andere zahlreiche Arten wären vom Aussterben bedroht. Auch Kleinstlebewesen wie Mikroorganismen, Muscheln, Borstenwürmer leben am Meeresboden. Wenn die panzerähnlichen Maschinen beim Abbau der Knollen in der Tiefe lärmen, stört das zudem die Kommunikation zwischen erwachsenen Walen und ihren Kälbern erheblich und könnte deren Gesundheit gefährden. Zusätzlich würden Lärm, Vibrationen, Licht und Schiffe auch andere Tiefseearten verscheuchen. Bei Unfällen könnten Öle und andere giftige Stoffe in die Umwelt gelangen und sie verpesten.

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Auf dem weichen schlammigen Tiefseeboden in mehr als 4000 Metern Tiefe sind die Manganknollen ein wichtiger Lebensraum für viele festsitzende Tiere wie etwa Muscheln oder Anemonen, oder davon abhängige Tierarten, die einen festen Untergrund zum Leben benötigen.

«Wir dürfen nicht zerstören, was wir nicht verstehen!»

Bis sich diese Ökosysteme in der Clarion-Clipperton-Zone erholt haben, könnte es mehrere hundert Jahre dauern, erklärt Till Seidensticker von Greenpeace. Hier müsse das Vorsorgeprinzip gelten. Es dürfe keinen neuen Industriezweig geben, in dem Arbeitskräfte im Nordostpazifik für den Überkonsum einiger weniger reicher Staaten leiden müssen, so der Meeresexperte.

Werden die Abbaupläne in den Tiefen des Meeres umgesetzt, könnte dies den Lebensraum der dort lebenden Tiere zerstören, warnen auch 530 führende Wissenschaftler.

In einer aktuellen Petition appelliert Greenpeace an Robert Habeck, die Ausbeutung der Tiefsee zu stoppen. Bereits im Frühjahr 2021 protestierten Greenpeace-Aktivisten mit dem Schiff Rainbow Warrior bei Tests der Firma Global Seas Mineral Resources (GSR) gegen den Tiefseebergbau. Nachdem die deutsche Bundesregierung fünfzig Millionen Euro in den Tiefseebergbau investiert hatte, sprach sie sich zwar im November für eine «vorsorgende Pause» aus, blieb aber seither weitgehend untätig.

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Oben      —            Tiefseebergbau in aller Welt. In der Clarion-Clipperton-Zone haben sich zahlreiche Staaten Explorationsgebiete reserviert. Quelle: Meeresatlas 2017 – Daten und Fakten über unseren Umgang mit dem Ozean[1]

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Linke zündet eine Rackete

Erstellt von Redaktion am 18. Juli 2023

Carola Rackete und Gerhard Trabert möchten für DIE LINKE ins Europaparlament

Quelle       :        Scharf  —  Links

Kommentar von Edith Bartelmus-Scholich

Für Viele überraschend haben die Vorsitzenden der Partei DIE LINKE heute öffentlich ein Spitzenteam für die Wahl des Europäischen Parlaments vorgeschlagen. Zwei der ersten vier Listenplätze sollen danach an Parteilose gehen. Carola Rackete und Gerhard Trabert haben sich bereit erklärt zu kandidieren um die Linke und die Partei DIE LINKE zu stärken und sozialen Bewegungen Zugang und Stimme im EU-Parlament zu ermöglichen.

Angeführt werden soll die Liste von Martin Schirdewan, der seine Arbeit im Europaparlament fortsetzen möchte. Auf Platz 2 soll die Klimaaktivistin und Seenotretterin Carola Rakete kandidieren. Platz 3 soll an die Abgeordnete Özlem Demirel gehen und auf Platz 4 der Liste soll der Sozialmediziner und Armenarzt Gerhard Trabert gewählt werden. Der Vorschlag der Vorsitzenden wird im September im Bundesausschuss der Partei, welcher der Bundesvertreterversammlung eine Liste vorschlägt, beraten. Mitte November erfolgt dann in Augsburg die Wahl dieser Liste. Alles andere als eine Bestätigung durch die Vertreter*innen wäre eine große Überraschung.

Den Vorsitzenden ist heute ein Coup gelungen, der sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei DIE LINKE viel Aufmerksamkeit generiert. Der Vorschlag zeigt, dass der Vorstand nach dem politischen Bruch mit Wagenknecht begonnen hat, die Partei neu auszurichten und zwar als bewegungsorientierte Klassenpartei.

Mit den Vorschlägen werden jeweils unterschiedliche Facetten der sozialen Frage besetzt: Carola Rackete steht für tätige internationale Solidarität mit Geflüchteten und für weltweite Klimagerechtigkeit. Özlem Demirel als Gewerkschafterin adressiert klassisch den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Gerhard Trabert hilft als Arzt armen Menschen, die aus sozialen Sicherungssystemen herausgefallen sind. Das ist ein politisches Angebot an alle Lohnabhängigen, egal ob und unter welchen Bedingungen sie arbeiten und leben und egal wie lange sie schon in Deutschland sind. Soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit werden verbunden und die Verteidigung der Menschenrechte gegen die extreme Rechte und eine aktive Sozialpolitik für gute Arbeit zusammengebracht.

Auch ist ein erster Schritt getan, mit den sozialen Bewegungen, die zuletzt sehr auf Distanz zur LINKEN gegangen waren, in eine bessere und dauernde Zusammenarbeit einzutreten. Die Linke ist ja weit mehr als die gleichnamige Partei und diese gesellschaftliche Linke muss dringend gegen den Vormarsch der Rechten überall zusammenarbeiten. So entstand heute ein erstes, noch unvollständiges Bild einer erneuerten Linken, als eine Partei auf der Höhe der Zeit, die die Aufgaben, welche die multiple Krise des Kapitalismus stellt, anpackt, fortschrittliche Lösungen erarbeitet und rechten Narrativen eine Absage erteilt. Dementsprechend wurde der Personalvorschlag heute innerhalb der Partei ganz überwiegend mit Begeisterung aufgenommen.

Edith Bartelmus-Scholich, 17.07.2023

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      —     Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch 3 und Unterstützerin von Extinction Rebellion, Berlin, Friedrich-Ebert-Stiftung, 12.11.21

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 18. Juli 2023

Entgleisungen der Woche:  –  Rhetorische Peniskanonen

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Durch die Woche mit Ariane Lemme

Diskursiv wurde scharf geschossen. Manche wurden sogar handgreiflich diese Woche. Zeit für einen Streik.

Erst wollte ich heute eigentlich streiken. Aus Solidarität mit den Drehbuchautoren in Hollywood. Ich fühle mit ihnen, nicht nur weil sie – wie ich, wie wir alle hier – verdammt noch mal viel mehr Kohle verdient haben, als sie bekommen. Die Dreh­buch­au­to­rin­nen aber natürlich ganz besonders, sie sind die letzten, die uns auf diesem abgefuckten, von Mansplainern, Klimaleugnern und anderen Penis­kanonen geebneten highway to hell ein wenig Ablenkung und Erheiterung verschaffen.

Also schreibe ich Ihnen heute doch was, auch wenn ich mich frage, ob Arbeit in dieser dem Untergang geweihten Welt überhaupt noch sinnvoll ist. Vielleicht nicht mit so vielen Cliffhangern wie bei den Genossen aus Hollywood, dafür aber auch keine mehrteiligen Epen. Ich hatte, anders als die schreibende Hollywood-Hautevolee, bayerische Grundschullehrer, die meine ausufernden Aufsätze grässlich fanden. Seitdem fasse ich mich kurz.

Die Serie, die ich diese Woche ge­binget habe, war sowieso keine Hollywoodproduktion, sondern eine aus dem Hause Realitydrama: die Klebeaktionen der Letzten Generation und die me­dia­le Schmonzette darüber – Stichwort: Urlaubsbeginn versaut! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich gönne uns allen Urlaub. Ich gönne den Kindern der jetzt Empörten aber auch eine Zukunft auf diesem Planeten außerhalb kühler Erdlöcher.

Schuld an der Verrohung

Schwer zu guckender Höhepunkt des Dramoletts: der völlig enthemmte Lastwagenfahrer, der zwei Ak­ti­vis­t:in­nen erst brutal von der Straße zerrt und dann einfach losfährt, obwohl sie wieder auf der Straße sitzen. Ob er das sehen konnte oder nicht, ob man das versuchten Mord oder fahrlässige Körperverletzung nennen soll, kann ich nicht beurteilen, ich bin kein Jurist. Immerhin musste er seinen Führerschein abgeben. Hoffentlich für immer.

Was ich weiß: An einer derartigen Verrohung hat nicht nur die böse Springer-Presse Schuld, sondern auch die Bundesregierung, die ihre sich selbst gesteckten Klimaziele nicht nur von innen heraus torpediert, sondern es auch nicht schafft, diesen friedlichen Protest mit seinen zum Weinen geringen Forderungen (Tempolimit, 9-Euro-Ticket, ein Gesellschaftsrat) einzuhegen. Die dumme Rede davon, dass man alle mitnehmen müsse, könnte sie sich sparen, wenn sie einfach ihre eigenen Vorhaben umsetzen würde, statt zuzulassen, dass die, die sie daran erinnern, kriminalisiert werden; oder entmenschlicht wie vom FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Müller-Rosentritt, der im Bezug auf die Letzte Generation von „totalitärem Abschaum“ twitterte.

Kamen nicht Politiker der FDP aus der untersten Gosse, welche das Glück hatten, beim letzten Regenschauer nicht weggespült zu werden ?

Die Empörten könnte die Politik abholen, indem sie ihre Vorhaben kraft ihrer rhetorisch geschulten ­Superpower als sinnvoll, ja notwendig erklärte und außerdem Geld in sozialen Ausgleich pumpte. Herrgott, bei Corona ging es doch auch.

Alle mal abkühlen

Doch statt die erhitzten Gemüter zu kühlen, was ihr Job wäre, feuert die Politik – zumindest die in Berlin (schon klar, andere Koalition, sogar ohne FDP) – einen neuen Knaller ab: Schließung einiger Freibäder nach Gewaltvorfällen. So nimmt man garantiert niemanden mit. Klar, eine kleine Gruppe Nervensägen darf den friedlichen Rest nicht in Mitleidenschaft ziehen. (Wenn Sie hier Vergleiche zur Letzten Generation ziehen, denken Sie bitte noch mal nach.) Aber das bisschen Abkühlung steht allen zu.

Quelle          :            TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Grüner Neokolonialismus

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2023

Die Begeisterung der Latinos darüber hält sich in Grenzen.

Ein Debattenbeitrag von Gerhard Dilger

Neue Lateinamerika-Agenda der EU. Die Europäische Union hat ihre Liebe zum „natürlichen Partner“ Lateinamerika neu entdeckt. Das Geschäft mit den Fossilien boomt und bedroht die in den Förederegionen lebenden Menschen existenziell.

Dunkle Wolken ziehen über dem Gipfel auf: Am Montag und Dienstag kommen Dutzende Staatschefs aus der EU, Lateinamerika und der Karibik (Celac) in Brüssel zusammen. Dort wird sich wohl zeigen, dass die Unterschiede zwischen den Partnern mit den „gemeinsamen Werten“ größer sind, als man sich das in den hohen Sphären europäischer Politik und Wirtschaft wünscht. Immer wieder wird eine Beziehung „auf Augenhöhe“ beschworen – doch die Fakten sprechen eine andere Sprache.

Im letzten halben Jahr haben Olaf Scholz, Robert Habeck, Annalena Baerbock, Ursula von der Leyen und viele andere mehr in Lateinamerika für eine Energiewende und für neokoloniale Freihandelsabkommen geworben. Konkret geht es um den Vertrag mit den Mercosur-Ländern Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, der prinzi­piell bereits 2019 beschlossen wurde, und um die Modernisierung der Abkommen mit Chile und Mexiko.

Mit einem Investitions- und Infrastrukturprogramm will die EU den Einfluss Chinas zurückdrängen. 10 von insgesamt 300 Milliarden stellte von der Leyen davon für Lateinamerika in Aussicht. Die „Leuchtturmprojekte“ dieses Global Gateway drehen sich vor allem um Energie, Transport und Digitalisierung. Ein sehr ähnliches Modell allerdings praktiziert China mit seiner „Neuen Seidenstraße“ schon seit zehn Jahren. Menschenrechte, Umweltschutz oder gar Klimagerechtigkeit sind in beiden Spielarten unterbelichtet.

Die neue Lateinamerika-Agenda, die die Europäische Kommission im Juni vorstellte, deckt zwar alle Politikfelder ab, doch die zentrale Rolle spielen die kritischen Rohstoffe, die sich europäische Firmen in der Region sichern möchten. Der Subkontinent verfügt über rund 40 Prozent der Kupfer- und 60 Prozent der Lithiumvorkommen weltweit, ­Letztere vor allem im Dreiländereck Argentinien/Bolivien/Chile.

Seit vier Wochen werden in der argentinischen Provinz Jujuy, wo bereits zwei Lithium-Großprojekte funktionieren und viele mehr geplant sind, indigene Ak­ti­vis­t:in­nen verfolgt und verhaftet. Sie fürchten zu Recht um ihre Lebensgrundlage im fragilen Puna-Ökosystem. So beteuert etwa BMW, das für seine Elektro-SUVs Lithiumkarbonat aus Argentinien bezieht, dieses werde „nachhaltig“ gefördert. Doch im ariden Andenhochland trocknen ganze Flüsse aus, sinkt der Grundwasserspiegel und werden die Böden verseucht. Es handelt sich um „grünen“ Extraktivismus, der Lateinamerika wie schon seit 500 Jahren seiner Ressourcen beraubt: früher Gold, Silber und Zinn – heute „weißes Gold“, Wasser oder Windkraft.

Als Kanzler Scholz im Januar mit einer großen Wirtschaftsdelegation nach Argentinien und Chile reiste, machte er keinen Hehl aus dem Interesse deutscher Firmen am Lithium, beim Aufbau einheimischer Wertschöpfungsketten wolle man aber behilflich sein. Und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte in Santiago einen Fonds für grünen Wasserstoff in Höhe von 225 Millionen Euro an.

Doch während Wasserstoff noch Zukunftsmusik ist, boomt das Geschäft mit den Fossilen weiter und bedroht die in den Förderregionen lebenden Menschen existenziell: Aus Kolumbien importiert Deutschland mehr Steinkohle denn je, und in Argentinien ist die BASF-Tochter Wintershall Dea beim Fracking und in der Offshore-Gasförderung aktiv. Dank deutscher Investitionen werde man ein „sicherer Gasproduzent“ werden, sagte Argentiniens Präsident Alberto Fernández beim Scholz-Besuch.

Andererseits erinnern sich die lateinamerikanischen Staatschefs aber auch gut daran, wie wenig die EU während der Covid-19-Pandemie zur Lieferung bezahlbarer Impfstoffe oder gar zu Ausnahmen beim Patentschutz bereit war – oft sprangen Russland und China ein. Auf die neuen Freundschaftsbeteuerungen reagieren sie daher skeptisch – und auf einseitig dekretierte Forderungen allergisch.

Niemand tut dies deutlicher als Luiz Inácio Lula da Silva. Mit Emmanuel Macron, von der Leyen oder Scholz spricht der brasilianische Staatschef auch öffentlich Klartext. Ihn stören die vom European Green Deal geprägten Umweltauflagen, die die EU in einem Zusatzprotokoll zum EU-Mercosur-Abkommen festhalten möchte. Das sei inakzeptabel und protektionistisch, meint er.

Quelle          :           TAZ-online           >>>>>         weiterlsen

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Oben           —     European Union–Mercosur relations.

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Das Berliner Freibadtheater

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2023

Ausweispflicht im Freibad als Sicherheitstheater

Kaie Wegener und seine blonde Locke in Berlin

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von              :        Markus Reuter

Berlins CDU-Bürgermeister Kai Wegner führt im Hauruck-Verfahren eine Ausweispflicht für Freibäder ein. Angeblich soll das Gewalt und Randale eindämmen. Zunächst steckt dahinter aber nur Symbolpolitik – und Berlins Datenschutzbehörde hinterfragt den Sinn.

Am gestrigen Donnerstag hatte Berlins Regierende Bürgermeister, Kai Wegner (CDU), Ausweiskontrollen in Schwimmbädern des Landes angekündigt. Jetzt verkündigen die Bäder-Betriebe nur einen Tag später per Pressemitteilung, dass die Ausweiskontrollen sofort losgehen:

Zugang zu den Freibädern ist ab Sonnabend, den 15. Juli, nur noch gegen Vorlage eines Lichtbildausweises möglich. Das kann ein Personalausweis ebenso sein wie ein Führerschein oder ein Schülerausweis. Das Dokument muss am Eingang vorgezeigt werden.

Hintergrund der Maßnahmen sind unter anderem Schlägereien und Straftaten in Berliner Bädern, die für eine bundesweite Debatte gesorgt hatten. Die neue Ausweiskontrolle kommt so schnell, dass offenbar noch niemand überprüft hat, wie das mit dem Datenschutz vereinbar ist. Wir haben hierzu bei der Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit nachgefragt. Der Aufsichtsbehörde sei bislang nichts zur Ausgestaltung der Ausweispflicht bekannt, kündigt jedoch eine Prüfung an.

Unter anderem werde zu prüfen sein, was die Ausweispflicht bezwecken soll: „Soll diese der Erleichterung der Verfolgung von Straftaten dienen oder auch eine präventive Wirkung haben?“, schreibt eine Sprecherin auf Anfrage von netzpolitik.org. Überprüfen will die Datenschutzbehörde auch, ob die Maßnahme überhaupt geeignet ist, die gewünschten Ziele zu erfüllen und Freibäder sicherer zu machen.

Symbolisch auf den Ausweis schauen

Wie die Ausweispflicht eigentlich umgesetzt wird, weiß man bei den Berliner Bäder-Betrieben offenbar selbst nicht genau. Noch am Freitagmorgen schrieben die Bäder-Betriebe auf unsere Fragen zur Datenverarbeitung und Kontrollabläufen:

Wir stecken mit allen diesen Entscheidungen noch sehr am Anfang. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht auf Ihre Fragen antworten können.

Das ist ein Hinweis darauf, dass die ab sofort geltende Ausweispflicht im Freibad zunächst symbolisch ist, eine Art Sicherheitstheater. Anscheinend werden einfach Ausweise betrachtet – ohne genau zu wissen, was man damit tun soll.

Die Berliner Datenschutzbeauftragte will das genauer wissen, wie aus der Antwort der Behörde hervorgeht. Es stelle sich die Frage, ob die erhobenen Daten an Dritte übermittelt werden, insbesondere an Strafverfolgungsbehörden. Die Datenschützerin verweist hier auf das Personalausweisgesetz. Dort stehen „enge gesetzliche Vorgaben zur Verarbeitung von Ausweisdaten“ durch öffentliche und nicht-öffentliche Stellen.

Zuerst mildere Mittel einsetzen

Maßnahmen für mehr Sicherheit in Freibädern müssten laut Datenschutzbehörde „gesetzlich zulässig und verhältnismäßig“ sein. Zugleich müssten sie geeignet sein, die angestrebte Sicherheit in den Bädern wirklich zu erreichen. Die Ausweiskontrolle greife in der das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Man müsse mildere Mittel prüfen, etwa die „Verstärkung des Sicherheitspersonals, der Einsatz von Deeskalationsteams, die Begrenzung der Anzahl von Badegästen, die sicherheitsfördernde Ausgestaltung des Freibad-Areals“.

Zumindest einen Teil dieser Maßnahmen haben die Bäder-Betriebe schon in ihrer Pressemitteilung angekündigt: mehr Sicherheitspersonal und Einlass-Stopps, wenn das Bad zu voll wird. Zusätzlich soll es noch mobile Wachen der Polizei vor dem Freibad geben und eine Videoüberwachung am Eingang – auch das dürfte die Datenschutzbehörde interessieren. Am Problem von vor allem durch Männer ausgeübte Gewalt rütteln Kameras und Ausweiskontrolle derweil wenig.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —       29th plenary session of the 19th legislative period of the Abgeordnetenhauses of Berlin: Election of the Governing Mayor

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Die Hitze des Tages

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2023

Ein Mathematiker stellt Strafanzeige gegen den Bundespräsidenten

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Adel unter sich? – Ein König und sein Schuhputzer

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Oft reichen schon der gesunde Menschenverstand und Sinn für Genauigkeit, Dinge bei ihrem Namen zu nennen und entsprechend anzuprangern. So verbeispielt durch den Mathematiker Wolf Göhring.

Entgegen der Meinung von Olaf Scholz darf man eben fünf nicht gerade sein lassen, zumal wenn es um Leben und Tod geht. Gestellt wurde die Anzeige gegen den Bundespräsidenten, weil dieser in einer ZDF-Sendung zum Thema Streumunition geäussert hatte, dass man den USA in Sachen international geächteter Sreumunition „nicht in den Arm fallen dürfe“. Er sei befangen, weil er seinerzeit höchstpersönlich als Aussenminister die Konvention für die Ächtung der Streumunition in Oslo unterschrieben habe. Na hoppla, wenn es darauf ankommt, will unser Staatsoberhaupt nicht mehr daran gehalten sein, was er selbst unterschrieben hat und was dann in Berlin nach der Ratifizierung deutsches Kriegswaffenkontrollgesetz wurde?

Bei seinem Amtsantritt hat unser Staatsoberhaupt noch hoch und heilig geschworen, „daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde“. Den Deutschen heute zu empfehlen, dem Einsatz von international geächteter Streumunition nicht zu verhindert bzw. jemanden anderen an deren Einsatz nicht zu hindern, ist wahrlich nicht zum Wohle des deutschen Volkes, zumal diese Streumunition mit deutschen Geschützen in der Ukraine abgefeuert werden kann. Auf jeden Fall würde ihr Einsatz zu einer fatalen Eskalation des Krieges und zu einer unmittelbaren Bedrohung für uns führen.

Daher ist es eine selbstverständliche Pflicht eines freien Bürgers, sich gegen eine solche Aussage unseres Staatsoberhauptes zu verwahren. Und ein Mittel dabei ist die Strafanzeige, damit die Staatsanwaltschaft die Sache nach Recht und Gesetz prüft und bescheidet. Nun ist recht haben und recht bekommen oft eine verzwickte Sache. An diesem Fall wird sich zeigen, ob und wie politisch unser Rechtssystem eingestellt ist.

Vor dem Recht sind an sich alle Menschen gleich, was aber unser Staatsoberhaupt wohl etwas anders sieht. Dabei sollte gerade er seine Pflichten gewissenhaft erfüllen und seine Aussagen eindeutig und klar machen, damit Schaden von uns abgewendet wird. Als Staatsoberhaupt und Vorbild muss er zu seinem Wort bzw. seiner Unterschrift stehen, ohne wenn und aber, sonst ist seine Glaubwürdigkeit ein für alle mal dahin. Hier hat er sich einen menschenverachtenden faux-pas (Fehltritt) geleistet, den er sicherlich bis zum Ende seiner Amtszeit anfechten wird, um dann in seinen „wohlverdienten“ Ruhestand bei höchstmöglicher, steuerfinanzierter finanzieller Absicherung durch den Staat zu gehen.

Es kann und darf nicht sein, dass unser Staatsoberhaupt – über Wohl und Wehe unseres Volkes hinweg – die vertrackten Vorstellungen der USA in Sachen international geächteter Streumunition fördert, ja sogar unterstützt. Tut er es dennoch und verteidigt es auch noch, sollte er unverzüglich seinen Hut nehmen. Dieser Fall wird eine harte Nuss für unsere Justiz und eine Bewährungsprobe für unsere Demokratie.

Urheberrecht
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Oben      —   Bundespräsident Steinmeier und Elke Büdenbender beim Empfang von Charles III. und Camilla, Queen Consort am 29. März 2023 in Berlin

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Verkehrs-, Freibad- und Hollywood-Chaos. – Nur Ärger im Sommer – Die Hollywood-Autor*innen kämpfen für mehr Lohn, die Fahr­rad­fah­re­r*in­nen ums Überleben im Straßenverkehr und die Freibad-Gäste: gegeneinander.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: „Geächtete“ Streumuniton.

Und was wird besser in dieser?

„Umstrittene“ Streumunition.

Was ist wahrscheinlicher? Die Türkei in der EU oder Schweden in der Nato?

Hier tritt Platz 4 gegen Platz 165 der Pressefreiheits-Charts an, die Reporter ohne Grenzen erstellt. Schweden erkauft den Nato-Beitritt mit Verzicht auf Liberalität; die Türkei wäre noch eine Autokratie mehr in der EU. Beide Organisationen wachsen – weniger Werte, mehr Gemeinschaft. Derzeit eher ein Militär- und Wirtschaftsbündnis, die beide ihre „Werte“ auf bessere Zeiten vertagen.

Die Nato nickt geächtete Waffen ab, die EU erduldet autoritäre Regime. Das Ideal, man werde die Radikalen in den Bündnissen langfristig bezähmen, steht gegen die Sorge, selbst fortgerissen zu werden. Lieben Gruß von Deutschland, dem nur noch 21. Platz im Pressefreiheits-Ranking.

Der Kollege Arno Frank identifizierte kürzlich im Freibad „Kennzeichen öffentlicher Räume, wie es sie in dieser Fülle und Zugänglichkeit wohl kein zweites Mal gibt“. Sind Freibäder also nicht genau der richtige Ort, um Debatten zu provozieren?

Mal so vom Zehner geguckt: Bademeister-Bashing und Prügeleien im Nichtdenker-Becken haben schon viel Ähnlichkeit mit manchen Demos, die unter Pegida, Corona, „Merkel muss-weg“ und anderen Labels liefen: Ein kollektiver Schrei nach Autorität. Gemeinsames Aufbegehren gegen „die da oben“. Die realen Autoritäten werden provoziert, getestet, ramponiert – auf der Suche nach dem, „der mal richtig mit der Faust auf den Tisch haut“.

Rechte Wutbürger kann man nicht besser beleidigen als damit, ihre Nähe zu Clans und Parallelgesellschaften aufzuzeigen. Deshalb sollte das hier unter uns bleiben. Das sind vordemokratische Strukturen; also Leute, die noch nicht im langweiligen halbtollen Kompromiss angekommen sind. Hoffentlich vordemokratisch, weil: postdemokratisch wäre schlimm.

Die Zahl der Verkehrsopfer in Deutschland ist laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2022 gestiegen. Was muss sich dringend ändern?

Mal wieder Corona? Der Anstieg um 9 Prozent wird mit der wieder erhöhten Fahrleistung erklärt. Zugleich sank die Zahl der Verkehrsopfer seit 1968 in Deutschland um 90 Prozent. Dazwischen lagen Tempolimits, Promillegrenzen, Gurtpflicht und technische Verbesserungen wie Airbags, Bremssysteme, Knautschzonen.

Also alles, was keinen Spaß macht. Gute Verkehrspolitik wäre also gekonntes Spaßverderben. Ein langer Weg, wir kommen von „Freie Fahrt für freie Bürger“ (FDP) und „Freude am Fahren“ (BMW). Ziel wäre „Umparken im Kopf“ (Opel). Das ist dunkle Pädagogik: Verbot, Strafe. Lustverlust. Ich habe keinen Alternativvorschlag, „immer mehr Menschen überleben den Straßenverkehr“ klingt ein bisschen verzagt.

Carsten Linnemann wird von Friedrich Merz zum neuen CDU-Generalsekretär gekrönt. Ist das nur ein Personal- oder auch ein Paradigmenwechsel?

Friedrich Merz’ Gesamtbeglückungsstrategie – ein Ossi und eine Frau in Reserve – sollte irgendwie alles sein und war offenbar nichts. Die CDU hat seit circa Heiner Geißler konsequent gegen die Jobbeschreibung besetzt: Man braucht Zuspitzer und Polemiker, damit der Parteivorsitz umso präsidialer auftreten kann. Die Union dagegen verschliss Parteiseelsorger von Hintze, Pofalla, Tauber bis Ziemiak.

Wenn mal eine Merkel oder Kramp-Karrenbauer dazwischen war, wurde es für deren Chefs gleich ungemütlich. Linnemann ist nun Mann, West, Wirtschaft wie Merz selbst; ob er zuspitzt und gut organisiert, wird sich zeigen. Bereits erkennbar dagegen: Merz meint, ein Methadonprogramm für Merkelianer nicht mehr zu brauchen.

Nach dem Au­to­r*in­nen­streik in Hollywood folgen jetzt die Schauspieler*innen. Sie fordern unter anderem höhere Löhne. Werden bald sowieso alle durch KI ersetzt?

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Wege von Waschmaschinen

Erstellt von Redaktion am 16. Juli 2023

Waschmaschinen auf Abwegen

AUS BERLIN UND STEPANTSMINDA  – JEAN-PHILIPP BAECK,  ANNE FROMM,  LUISE MÖSLE,  LILE SAMUSHIA UND LALON SANDER

Die taz hat ausgewertet, wie sich die Handelsströme in Europa seit Kriegsbeginn verändert haben. Stutzig macht der enorm gestiegene Waschmaschinen-Export nach Kasachstan. Aber nur auf den ersten Blick, denn Russland braucht die darin verbauten Chips dringend. Wie wirksam sind die Sanktionen?

Die Europastraße 117 ist nicht nur eine Autobahn, sie ist eine Touristenattraktion. Auf 1.100 Kilometern führt sie von Armenien über Georgien nach Russland. Mitten durch den Kaukasus, vorbei an schneebedeckten Gipfeln und geschichtsträchtigen Klöstern.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die E117 aber auch als Handelsstraße an Bedeutung gewonnen. Sie ist die wichtigste Landverbindung zwischen Russland und Georgien. Wer aus der Türkei, Armenien, Aserbaidschan oder dem Nahen Osten Waren nach Russland liefert, fährt wahrscheinlich hier durch – mit legalen, aber auch mit illegalen Transporten.

Am Grenzübergang von Georgien nach Russland reihen sich seit Monaten die Lkws aneinander. So auch an diesem Tag Anfang Juli. Einen Kilometer ist die Schlange lang. Viele Fahrer haben ihre Motoren ausgeschaltet, einige ihre Lastwagen verlassen. Um einen Tisch am Straßenrand sitzen georgische Fahrer mit einem Sommerpicknick. Sie haben Gurken, Tomaten, Brot und Käse vor sich. Essen und Warten. Seit Beginn des Kriegs sei das so, erzählen sie. Manchmal würden sie Stunden, manchmal sogar Tage lang ausharren, bis sie über die Grenze könnten.

Die EU hat auf den russischen Einmarsch in die Ukraine mit umfassenden Sanktionen reagiert. Sie hat es europäischen Firmen weitgehend verboten, Geschäfte mit russischen Unternehmen zu machen. Sie hat Listen angefertigt, welche Waren nicht mehr aus der EU nach Russland exportiert werden dürfen. Sie hat es sehr schwer gemacht, Geld aus der EU nach Russland zu schicken. Der Handel zwischen der EU und Russland ist so fast zum Erliegen gekommen. Aber eben nur fast.

Waren aus der EU gelangen über Umwege trotzdem nach Russland. Zwischenhändler helfen dabei, Logistikunternehmen erschließen neue Routen. Sie führen über Länder außerhalb der EU, auch über Georgien oder Kasach­stan. An deren Grenzen ist es seitdem voller geworden. Und die deutschen Behörden haben Mühe, die Sanktionsverstöße zu verfolgen.

Es ist nicht irgendeine Ware, die in Russland landet. Es sind Güter, die Russland für seinen Krieg gut gebrauchen kann, zum Beispiel weil sie Mi­kro­chips enthalten. Dazu zählen auch Waschmaschinen, etwa von Miele aus Deutschland.

Die taz hat ausgewertet, wie sich die Handelsströme nach Russland seit Kriegsbeginn verändert haben. Es zeigt sich deutlich: Die Exporte von Europa nach Russland sind drastisch zurückgegangen. Dafür profitieren andere: China exportiert nun fast 13 Prozent mehr nach Russland als vor dem Krieg. Die Türkei verdoppelte die Exporte zwischen 2020 und 2022.

Besonders stark stiegen aber die Exporte von und in die russischen Nachbarstaaten Georgien und Kasachstan. Von Deutschland nach Kasachstan und von Kasachstan nach Russland wird wesentlich mehr exportiert. So hat Kasachstan im Jahr 2022 Waren im Wert von etwa 8,8 Milliarden Dollar nach Russland ausgeführt – 25 Prozent mehr als im Jahr 2021. Für Georgien ist der Anstieg nicht ganz so steil.

Am stärksten zeigt sich der Exportboom bei Autos und Maschinen. Dazu gehören auch Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen. Die nach Russland zu exportieren ist nicht grundsätzlich verboten. Aber der Anstieg der Waschmaschinen-Geschäfte macht stutzig.

Laut unserer Datenauswertung werden aus Europa nach Russland nur noch halb so viele Waschmaschinen geliefert wie vor dem Krieg. Dafür hat sich der Waschmaschinen-Export von Europa nach Kasachstan im selben Zeitraum mehr als verfünffacht.

Wie viel mehr Waschmaschinen von Kasachstan nach Russland exportiert wurden, lässt sich nicht genau sagen. Die UN-Daten, auf denen unsere Auswertung beruht, sind für Kasachstans Waschmaschinen-Ausfuhren nicht vollständig. Aber für die große Gruppe „Maschinen und Anlagen“, zu denen auch die Waschmaschinen zählen, gibt es Zahlen: Während Kasach­stan im Jahr 2021 Maschinen im Wert von 128 Millionen Dollar nach Russland exportierte, waren es im Jahr 2022 Maschinen im Wert von 837 Millionen Dollar. Die deutschen Maschinen-Exporte nach Russland gingen im gleichen Zeitraum von 8 auf 3 Milliarden Dollar zurück. Zu den gefragten Geräten zählen in Russland auch Kühlschränke, Geschirrspülmaschinen und elektrische Milchpumpen – Geräte, in denen Chips verbaut sind.

Was ist da los? Waschen die Ka­sa­ch:in­nen plötzlich mehr, weil ihre Bevölkerung wächst? Unwahrscheinlich, die Geburtenrate in Kasachstan ist gesunken. Der Verdacht liegt nah, dass Kasachstan die Waren nach Russland durchwinkt und Russland sie in ihre Kleinteile zerlegt. Kann das sein?

Für Russland seien alle sanktionierten Produkte und Technologien von Interesse, die dem militärisch-­in­dus­triel­len Komplex zugutekommen, sagt Hans-Jürgen Wittmann von German Trade & Invest. Das ist die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik, eine Art staatliche PR-Agentur für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Besonders interessiert sei Russland, sagt Wittmann, an Maschinen, Informationstechnik und Halbleitern.

Halbleiter sind Bestandteile von Computerchips. Sie sind zentral für moderne Elektronik – sowohl für Kühlschränke als auch für Drohnen, Panzer, Raketen und Nachtsichtgeräte. Russland stellt kaum eigene Chips her, es hat sie seit jeher aus Asien, Europa und den USA importiert. Doch sowohl die Europäische Union als auch die USA haben den Export von Halbleitern seit Kriegsbeginn streng reglementiert. Nun nehmen sie Umwege über Drittstaaten. Japanische Jour­na­lis­t:in­nen haben recherchiert, dass seit Kriegs­beginn 75 Prozent der US-amerikanischen Mikro­chips, die in Russland gelandet sind, über Hongkong oder China ins Land kamen – wohl über kleine Chiphändler oder illegale Zwischenhändler.

Waschmaschinen-Kleinteile in russischen Panzern? Für Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, war dieser Verdacht ein Grund zur Freude. Wenn Russland mittlerweile Waschmaschinen ausschlachten müsse, liege die Industrie offenbar in Trümmern, sagte sie im vergangenen Herbst vor dem EU-Parlament. Allerdings zeigt das eben nicht nur die Schwäche der russischen Industrie, sondern auch die Schwäche der europäischen Sanktionen.

Die EU hat festgelegt, welche Produkte nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen. Dazu gehören die sogenannten Dual-Use-Güter, die zivil, aber auch zum Bau von Waffen genutzt werden können. Waschmaschinen fallen nicht grundsätzlich unter das Embargo. Nur die besonders teuren, luxuriösen Modelle dürfen tatsächlich nicht nach Russland exportiert werden. Andere Waschmaschinen-Typen hat die EU auf die Liste der „Kritischen Güter“ aufgenommen. Unternehmen und Drittländer sollen bei deren Export „besonders wachsam“ sein.

Im nordrhein-westfälischen Gütersloh laufen die Waschmaschinen der Firma Miele vom Band. Von hier werden sie in die ganze Welt geschickt. Fast in die ganze Welt. Miele liefert seit Kriegsbeginn im März 2022 keine Haushaltsgeräte mehr nach Russland. Trotzdem sind in Russland weiter Miele-Maschinen zu haben.

Unsere Recherchen zeigen: Von Russland aus bekommt man die Geräte leicht im Internet, zum Beispiel auf Webseiten wie mlshop.ru. Die Seite sieht aus, als käme sie direkt von Miele: professionelles Webdesign, Miele-Logo, Miele-Waschmaschinen im Angebot. Ein offizieller Miele-Shop sei das nicht, schreibt ein Unternehmenssprecher, als wir ihn danach fragen. Es sei der Shop eines Handelspartners, den Miele aber nicht mehr beliefere. Die Versorgung mit den Geräten könne nur über den „Graumarkt“ erfolgt sein.

Nach Kriegsbeginn hat Russland sogenannte Parallelimporte legalisiert. Darüber können Einzelhändler Produkte nach Russland importieren, ohne die Genehmigung des Herstellers einzuholen. Das russische Industrie- und Handelsministerium hat eine Liste von Waren festgelegt, die über Parallel­importe eingeführt werden dürfen. Auf dieser Liste steht neben Apple, Siemens und Volkswagen auch Miele. Deswegen könne das Unternehmen gegen diese Importe wenig tun, sagt der Miele-Sprecher der taz. Nur: Wie kommen die Waschmaschinen über die Grenze auf der Europastraße E117?

Hört man sich unter deutschen Logistikunternehmen um, erzählen einige, es sei ein offenes Geheimnis in der Branche, dass Güter nach Russland über Georgien und Kasachstan vertrieben werden. Öffentlich will das niemand sagen. Die Sanktionen und die politische Situation in Russland hätten den Transport in und durch das Land zwar erschwert. Aber die Transportwege verlagerten sich.

Verhindern soll das eigentlich der deutsche Zoll. Wer kritische Güter wie etwa Dual-Use-Güter in Drittstaaten exportiert, muss das beim Zoll anmelden. Der prüft, ob die Ausfuhr zulässig ist. Dual-Use-Güter dürfen nur mit gesonderter Genehmigung des Bundesamts für Ausfuhrkontrolle ausgeführt werden. Die Zollabwicklung läuft digital, alle Informationen und Risikohinweise werden automatisch an die Zollstellen übermittelt und bei der Ausfuhr kontrolliert, sagt André Lenz, der Sprecher des Zolls am Telefon. Zusätzlich werde auch die Ware selbst risikoorientiert kontrolliert.

Quelle         :            TAZ-online           >>>>>       weiterlesen   

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Oben      —       Argol, musée vivant des vieux métiers : machine à laver (vers 1935).

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Arm auf Kosten der Reichen

Erstellt von Redaktion am 16. Juli 2023

Perverser Reichtum auf Kosten der Armen

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

„Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Dieser Massenvernichtung begegnet die öffentliche Meinung des Westens mit eisiger Gleichgültigkeit,“ schrieb Jean Ziegler, als er UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung war.

Seitdem hat sich die Situation für die Armen widerlich verschlechtert, während die 500 reichsten Menschen im ersten Halbjahr 2023 einen Vermögenszuwachs von 852 Milliarden US-Dollar verbuchen konnten. Das ist eine schier unvorstellbare Zahl, die man erst einordnen kann, wenn man sie den 828 Millionen Menschen gegenüber stellt, die jeden Abend hungrig zu Bett gehen müssen. Oder den 330 Milliarden US$, die laut einer Oxfam-Studie notwendig sind, den Hunger auf der Welt bis 2030 zu besiegen. Es ist schlichtweg eine Schande für die wertegetriebenen westlichen Staaten, dass diese hier nicht ex cathedra einschreiten und diese leistungslosen Vermögenzuwächse mindestens teilweise dem Gemeinwohl der Menschen zugute kommen lassen. Die akute Notlage in der Welt wäre auf einen Schlag gelindert.

Geradezu vorbildlich verfährt da die chinesische Regierung. Sie will keinen brutal kapitalistischen Wettbewerb auf Kosten kleiner Unternehmen und der Verbraucher und stellt die menschlichen Interessen in den Mittelpunkt. In diesem Sinne forderte sie die beiden großen Anbietre von E-Autos, BYD und Tesla, auf, ruinöse Preiskämpfe zu unterlassen. Und siehe da, der geldgeile Musk (Tesla) bekennt sich prompt in China zu den dort geltenden sozialistischen Grundwerten. Da kann man wohl nur von einer tiefen Geistesspaltung ausgehen, wenn der größte Kapitalist der Welt in China seine Meinung ändert, um seine Marktposition abzusichern. Perverser geht’s nimmer!

Bereits 2021 beklagte sich David Beasley, dass wir uns schämen sollten, wenn täglich 24.000 Menschen an Hunger sterben, während gleichzeitig auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie das Nettovermögen der Milliardäre um 5,2 Milliarden US$ pro Tag steigt. Und Schande rief er über unser Nichtstun, wenn stündlich 1.000 Menschen an Hunger sterben und in der gleichen Zeit das Netto-Vermögen der Milliardäre um 216 Millionen US$ steigt. Und das Geldschäffeln ohne Ende geht blind für die Nöte der Welt weiter mit der Produktion von Waffen und Munition (Streubomben), mit die Natur zerstörendem Fracking für LNG usw.

An Hunger und Nöte aller Art ist der kapitalistische Westen nur dann interessiert, wenn damit umgekehrt proportional Geld gemacht werden kann. Solange BlackRock, Musk, Zuckerberg, Bezos bis hin zum König der Briten und Konsorten den Lauf der kapitalistischen Welt beherrschen und ihre Gewinne der Besteuerung trickreich entziehen und so dem Gemeinwohl vorenthalten, wird sich an dieser unglaublichen Ungerechtigkeit nichts ändern, bis hin zu den Flüchtlingsströmen wegen Hunger und Not, die wir nicht sehen wollen und als Missbrauch unseres Wohlstandes gedankenlos verhindern wollen.

Unsere Multimilliardäre sind ganz offenbar in die Gedankenwelt des ’Pecunia non olet’ („Geld stinkt nicht“) zurückgefallen und übersehen selbstgefällig, dass es sich nicht um stinkende Pisse handelt, sondern um den Leichengeruch verhungerter Menschen.

Urheberrecht
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Oben      —      Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer (1896)

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Lebensform ist Privatsache

Erstellt von Redaktion am 16. Juli 2023

Ehegattensplitting und Elterngeld

Der Leitartikel von Barbara Dribbusch

Geht es in der Politik um Geld, werden die Klischees ausgepackt. Die Annahme, das Steuersplitting halte Frauen vom Arbeitsmarkt fern, ist übergriffig.

Immer dann, wenn Po­li­ti­ke­r:in­nen Lebensformen auf- oder abwerten, um Kürzungen oder Nichtkürzungen zu rechtfertigen, sollten rote Warnlampen angehen. Denn Klischees werden ausgepackt, wenn es in die Interessenlage passt. Das war schon zu Zeiten der strukturellen Massenarbeitslosigkeit um die Jahrtausendwende so, als man Arbeitslosen Faulheit unterstellte, obwohl Jobs knapp waren.

Auch jetzt verlangt der Bundesfinanzminister Einsparungen. Und schon werden die Ressentiments ausgegraben. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil will dem „antiquierten Steuermodell“ des Ehegattensplittings, das nur „die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau“ begünstige, „ein Ende setzen“.

Zur Klarstellung: Das Splitting trägt dazu bei, dass in Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften, in denen ei­ne*r mehr verdient als der andere, nicht mehr Steuern bezahlt werden müssen als in Partnerschaften, in denen beide gleich viel verdienen.

Hat beispielsweise in einer Ehe ei­ne*r der Part­ne­r:in­nen 50.000 und der oder die andere nur 10.000 Euro im Jahr zu versteuerndes Einkommen, so wären bei einer Individualbesteuerung ohne das Splitting 11.816 Euro Steuern fällig. Ein Paar, bei dem beide 30.000 Euro im Jahr verdienen, muss nur 9.902 Euro Steuern entrichten. Den gleichen Steuerbetrag zahlt ein ungleich verdienendes Paar dank des Splittingtarifs, den man freiwillig wählt.

Splitting ist nicht unlogisch

Das Splitting erweitere den „Spielraum“ einer Partnerschaft in der Aufgabenteilung, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2013. Es gab schwulen Paaren recht, die den Splittingvorteil für ihre eingetragene Lebenspartnerschaft haben wollten. Wer heiratet oder sich verpartnert, verpflichtet sich zum Unterhalt für den oder die Part­ner:in. Also ist es nicht unlogisch, den zu versteuernden größeren Anteil am Einkommen rechnerisch zu reduzieren und einen Betrag dem oder der Part­ner*in zuzuordnen – nichts anderes geschieht beim Splitting.

Es gibt Reformmodelle von SPD und Grünen, die das Splitting durch eine individuellere Besteuerung ersetzen, bei der die Unterhaltsverpflichtung aber in Form von Freibeträgen berücksichtigt wird. Das würde für manche Ehepaare ­etwas höhere Steuern als bisher bedeuten und etwas mehr Geld für den Staat. Kann man machen für neue Ehen, sollte man aber auch so ansagen und sich das Gerede über irgendwelche „Anreize“ ­spare

Das Anreizgerede ist übergriffig

Am Bundesgerichtshof erging 2009 das Urteil, übrigens unter einer Frau als oberster Familienrichterin, die Unterhaltsrechte der ersten Ehefrau nach einer Langzeitehe dramatisch zu mindern, wenn der Mann danach eine zweite Familie gründet. Auch hier war von Anreizen für die ersten Ehefrauen die Rede, sich frühzeitig um einen Job zu bemühen, um selbstständig zu werden. Und die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, will die Witwenrente in der bisherigen Form abschaffen, weil die jetzige Regelung die „Anreize“ reduziere für Ehefrauen, eine eigene Beschäftigung aufzubauen.

Dieses Anreizgerede, die Sorge, das selbst gewählte Splitting halte die Frauen vom Arbeitsmarkt fern, wie Wis­sen­schaft­ler*in­nen behaupten, ist übergriffig. 75 Prozent der Mütter arbeiten, zwei Drittel davon in Teilzeit. Sie brauchen bessere Kinder- und Altenbetreuung, keine finanziellen Verschlechterungen.

Elterngeldkürzung wirkt wie ein Vertrauensbruch

Quelle         :            TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Print. Small surimono-style erotic prints from a series of actors as famous pairs of lovers. ?Fukonoya Daisuke and the courtesan Nanaura.

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Die Plenaren Hoheitlichen

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Eine Ständig lückenhafte Vertretung

Die Berliner Show-Bühne von politischer Arroganz und persönlichen Eitelkeiten.

Von    :       Clemens Dörrenberg

Mehr als 20 Millionen Menschen haben einen Hauptschulabschluss. Nur 20 von ihnen sitzen im Parlament.

Tina Winklmann ist eine seltene Erscheinung im Deutschen Bundestag. Die Oberpfälzerin sitzt für die Grünen in Deutschlands höchstem Parlament in Berlin. Sie tritt zu ihren Reden über Sport- und Arbeitsmarktpolitik im Plenum meist in Turnschuhen ans Pult und spricht mit einem unverkennbar baye­rischen Akzent. Und sie hat es dorthin als eine von wenigen Abgeordneten mit Hauptschulabschluss geschafft.

„Politik steht jedem und jeder offen, egal mit welchem Abschluss“, sagt Winklmann. Häufig würde den Grünen unterstellt, eine „Akademiker-Partei“ zu sein, berichtet sie. Das weist die Politikerin jedoch zurück. Trotzdem haben die meisten der 736 Bundestagsabgeordneten studiert. Extrem unterrepräsentiert sind dagegen Abgeordnete mit Hauptschulabschluss, die – wie Winklmann – nach der Schule eine Ausbildung absolviert und sich danach beruflich weiterqualifiziert haben.

Fast ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland hatte nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2022 den Haupt- oder Volksschulabschluss. Das sind mehr als 20 Millionen Menschen, rund ein Drittel der Wahlberechtigten. Jedoch sitzen laut Datenhandbuch des Bundestags in dieser Legislaturperiode insgesamt nur 20 Volksvertreterinnen und -vertreter mit Hauptschulabschluss im Parlament. Tina Winklmann ist eine von fünf, mit denen die taz gesprochen hat.

Die 43-Jährige hat nach der Hauptschule Verfahrensmechanikerin für Kunststoff- und Kautschuktechnik gelernt und sei in einem „Arbeiterhaushalt“ in der „immer noch sehr CSU-lastigen“ Oberpfalz aufgewachsen, wie sie es formuliert. Zwischen zwei Sitzungen im Bundestag hat sie das telefonische Interview mit der taz gelegt und für das Telefonat kurz den Plenarsaal verlassen. „Politik ist unser Leben, und mein Weg in die Politik war klar“, sagt Winklmann über ihre Familie und ihren politischen Werdegang. „Mit 15 habe ich die Ausbildung begonnen und bin gleich Gewerkschafterin geworden.“ Mitglied der Grünen wurde sie wenig später. Weil Sport- und Arbeitsmarktpolitik als vorrangig bundespolitische Themen zu ihren Schwerpunkten zählen, sei ihre „Heimat immer im Bundestag“ gewesen, sagt sie.

Für viele dürfte ein solcher Weg jedoch weniger selbstverständlich sein. Von einer „Repräsentationslücke“ spricht daher die Hamburger Soziologin Christiane Bender. „Da fehlen Stimmen im Bundestag, die von Menschen geäußert werden können, die vorwiegend von den Verwerfungen des sozialen Wandels betroffen sind“, sagt Bender. Durch „Werbung, Werbung, Werbung“ will die Grünen-Parlamentarierin Winklmann mehr Menschen mit mittlerem Bildungsabschluss die Möglichkeit zu politischer Teilhabe sowie den Weg in die Parlamente aufzeigen. „Viele Menschen trauen sich schlichtweg nicht den Weg zu gehen“, so Winklmann. Sie besuche öfter Berufs- und Mittelschulen, wie die Hauptschulen in Bayern heißen, motiviere dort für politisches Engagement und ernte „positive Reaktionen“.

Politisches Engagement aus allen Schichten scheint dringend notwendig zu sein. Denn für die Soziologin Bender hat die Repräsentationslücke auch Auswirkungen auf die Demokratie und den sozialen Frieden. „Wer über keinen oder einen niedrigen Bildungsabschluss verfügt, den treffen die Risiken in der Arbeitswelt hart“, sagt sie. Weitere soziale Probleme, wie die am Wohnungsmarkt, zeigten sich am stärksten dort, wo Menschen mit geringen Einkommen leben.

Im Bundestag fehlen Abgeordnete, die sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrung diesen Problemen widmen und dadurch entstehe ein „Ungerechtigkeitsgefühl“. Eine Folge davon sei ein „Protestverhalten“, sich nicht an Wahlen zu beteiligen. Fehlende Repräsentation führe zu einem „Vertrauensentzug“ in die Politik, in die politisch Handelnden und in die Parteien, möglicherweise sogar in die demokratischen Institutionen.

„Wenn es Menschen wie mich hier gar nicht mehr geben würde, würden gewisse Themen gar nicht mehr behandelt“, sagt Alexander Ulrich. Er ist Parlamentarier der Linkspartei. Nach seinem Hauptschulabschluss in Rheinland-Pfalz hat er Werkzeugmacher gelernt und mehrere Jahre in seinem Lehrberuf bei Opel in Kaiserslautern gearbeitet, ehe er für den Betriebsrat freigestellt wurde und später in die IG-Metall wechselte. In seinem Büro im Parlamentsgebäude des Jakob-Kaiser-Hauses, angrenzend an den Reichstagsbau, erzählt er von seiner Geschichte.

„Ich habe einen anderen Zugang zu Bürgern mit kleineren und mittleren Einkommen“, betont Ulrich. Sorgen um die hohe Inflation und die damit verbundenen stark gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise könnten Abgeordnete aus wohlhabenden Akademikerfamilien kaum nachvollziehen, findet er. Seit 18 Jahren sitzt der ehemalige Gewerkschaftssekretär und Geschäftsführer der IG-Metall im Bundestag

Er habe „nie Interesse gehabt, Abgeordneter zu werden“, berichtet der 52-Jährige. Doch 2005, zur vorgezogenen Bundestagswahl, habe die neu gegründete Partei „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, die sich später mit der PDS zur Linkspartei zusammenschloss, Kandidatinnen und Kandidaten gesucht. Weil Ulrich als Gewerkschafter einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte, sei er als Kandidat vorgeschlagen worden und schließlich in den Bundestag eingezogen.

Woran es liegt, dass nicht mehr Menschen mit einer ähnlichen Biografie wie der von Ulrich und Winklmann in den Bundestag kommen, erklärt Soziologin Bender: „Für dieses Problem sind die Parteien verantwortlich, vor allem die Volksparteien, oder die, die es werden wollen.“ Sie bezeichnet Parteien als die „wichtigsten Interessensinstrumente der Bürgerinnen und Bürger, ihren Willen in unserer repräsentativen Demokratie durchzusetzen“. Daher müssten sich Parteien wieder in breiten Bevölkerungsgruppen engagieren, um möglichst viele Menschen zu erreichen.

Bender plädiert dafür, dass Parteien ihre Arbeit vor Ort verstärken und mit Menschen in Kontakt treten, die an der gesellschaftlichen Basis leben und arbeiten. „Wenn sie in den Parteien nicht vorkommen, kommen sie auch nicht im Parlament vor“, bekräftigt die Soziologin. Sonst würden sich immer mehr Menschen von der parlamentarische Politik abwenden, weil sie ihre Anliegen nicht mehr repräsentiert sähen. Eine Folge davon sei, „dass sich extremistische Ränder verstärken“. Mehr Basisarbeit erwartet sich die Gesellschaftswissenschaftlerin beispielsweise durch die Eröffnung von Parteibüros, insbesondere in strukturschwachen Gegenden. Die SPD sei dafür einst Vorbild gewesen.

Ja wo ist die Herde denn für den Hammelsprung. Dafür muss jeder studiert haben !!

Als Sozialdemokratin sitzt Peggy Schierenbeck im Bundestag. Die 52-Jährige ist in einer Schaustellerinnen- und Schaustellerfamilie groß geworden und hat mit ihrem Mann eine Achterbahn und eine Riesenrutsche auf Volksfesten betrieben, ehe sie sich zur Business- und Personaltrainerin ausbilden ließ. Weil die Eltern mit ihr von Rummel zu Rummel gezogen sind, sah Schierenbeck 113 Schulen von innen, bevor sie ihren Hauptschulabschluss machte.

Zu ihrem „politischen Zuhause“ sei die SPD während der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 unter Kanzler Gerhard Schröder geworden, berichtet Schierenbeck, die sich einen „sehr, sehr starken Leistungsmenschen“ nennt und gern mehr Unternehmerinnen und Unternehmer im Bundestag sehen würde. Sie trat zunächst in die Hamburger SPD ein und engagierte sich ab 2016 in der Kommunalpolitik ihres „Heimatorts“. Von dort rutschte sie schließlich in die Bundespolitik. Im Frühherbst 2021 zog sie für den niedersächsischen Wahlkreis Diepholz und Nienburg erstmals in den Bundestag ein. Unterstützt wurde sie bei ihrem politischen Aufstieg durch eine Mentorin.

Was Schierenbeck grundsätzlich vermisst, ist eine gleichwertige Anerkennung aller Schulabschlüsse. „Eine Stigmatisierung als Hauptschülerin habe ich selbst nie erlebt, und doch spürt man derzeit solche Tendenzen“, sagt sie und ergänzt: „Heutzutage steht oft das Abitur im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.“ Deshalb plant sie „ab diesem Jahr“ Abschlussfeiern von Haupt- sowie Realschülerinnen und -schülern in ihrem Wahlkreis zu besuchen und dort aus ihrer Biografie zu berichten.

Wenn Menschen sich nicht mehr repräsentiert fühlen, verstärken sich die extremistischen Ränder

Quelle       :           TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Oben     —    Amos Ben Gershom / Government Press Office

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Unten      ––     Plenarsaal im Landtag von Sachsen-Anhalt

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Streit: Krankenhausreform

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Gemeinwohl wäre besser

Von Gesa von Leesen

Ob die nun beschlossene Krankenhausreform etwas rettet oder die Versorgung noch schlechter macht, ist umstritten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) behauptet, eine Revolution einzuleiten. Verdi und viele Beschäftigte glauben das nicht und protestieren in Friedrichshafen.

Als der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) ans Mikrofon tritt, schallt ihm ein Pfeifkonzert entgegen. Hinter Lucha aufgereiht stehen seine Amtskolleg:innen und versuchen, neutral zu gucken. Vor Lucha, auf der Wiese am Bodenseeufer, stehen 600 Frauen und Männer, die im Gesundheitswesen arbeiten. Und die genug haben von zu wenig Kolleg:innen, von zu geringer Bezahlung, von einem System, das Krankenhäuser auf Gewinnerzielung trimmt anstatt aufs Heilen. Deshalb pfeifen sie.

Es ist Gesundheitsministerkonferenz (GMK) in Friedrichshafen, Lucha ist gerade deren Vorsitzender und verhandelt im Graf-Zeppelin-Haus mit seinen Länderkolleg:innen über die geplante Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der bezeichnet sie als Revolution. Warum, ist unklar. Denn eine Revolution wäre ja ein Systemwechsel, doch den sieht die Reform nicht vor. Grob zusammengefasst sollen Kliniken sich nur noch zum Teil über Fallpauschalen finanzieren, zudem sollen sie Geld bekommen für Leistungen, die sie vorhalten. Wie viel das sein wird, soll sich wiederum nach Versorgungsstufen richten, in die die Kliniken eingeteilt werden.

Im Rahmen der Prüfung, welche Kiniken welche Leistungen anbieten sollen, lässt sich dann feststellen, welches Haus geschlossen werden soll. Dass dies notwendig ist, davon sind viele Minister:innen – auch Manfred Lucha – und liberale Ökonomen seit Jahren fest überzeugt: Sie meinen, Deutschland ist mit Krankenhäusern überversorgt.

Überversorgt sehen sich Beschäftigte (und wahrscheinlich auch die meisten Patient:innen) derzeit eher nicht. Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft gibt es 30.000 unbesetzte Pflegestellen, auch Ärzt:innen fehlen zunehmend. Beschäftigte in outgesourcten Abteilungen wie Hauswirtschaft, Putzen, Therapie verdienen schlecht. Und wer als Patient:in ins Krankenhaus muss, kann vielfältige Geschichten erzählen von Ärzt:innen, die nicht zuhören, Pfleger:innen, die sehr lange auf sich warten lassen, und vom Krankenhauskeim sowieso.

Das Gesundheitswesen ist Teil der Lieferkette

Also hat Verdi seine Mitglieder im Gesundheitswesen aufgerufen, nach Friedrichshafen zu kommen, um der GMK ihre Forderungen mit auf den Weg zu geben. Zentral: ein Gesundheitssystem, das alle Patient:innen optimal versorgt, den Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen bietet, sich nicht rechnen muss und das kein Spielball von privaten Betreibern mit Renditeerwartungen sein darf. Auf der Wiese vor dem Graf-Zeppelin-Haus lauschen die Demonstrierenden den Reden von Betriebsrät:innen und hauptamtlichen Verdianer:innen, begrüßen einen Trupp Radfahrer:innen aus Dresden, der bei seiner fünf Tage dauernden Anreise gegen ein gewinnorientiertes Gesundheitssystem protestiert hat, sie gehen mit Protesttransparenten ins Wasser und genießen die Sonne am See.

Die drei von der Ampel 

Besonders gut an kommt die Rede von Achim Dietrich, Betriebsratsvorsitzender von ZF in Friedrichshafen, dem größten Industriestandort in der Region. Die Politik rege sich über ein paar fehlende Halbleiter auf, die die Lieferkette unterbrechen, sagt er. „Warum aber nimmt man hin, dass Patient:innen keine ausreichende Versorgung bekommen? Auch dieser Teil der Lieferkette muss funktionieren.“ Wenn Arbeitnehmer:innen keine Termine beim Facharzt bekommen, mit Schmerzen zur Arbeit gehen und lange krank sind, schade auch das der Wirtschaft. „Wenn die Kapitalisten keine Menschlichkeit kennen, dann müssen wir sie bei dem packen, was sie interessiert: dem Profit.“ Steige bei ZF der Krankenstand um ein Prozent mehr als vorausgesehen, koste das den Konzern vier Millionen Euro im Jahr. „Das Geld wäre besser im Gesundheitssystem angelegt als in der Krankenverwaltung“, findet Dietrich, der als Gesamtbetriebsratsvorsitzender 50.000 Patient:innen vertrete, wie er sagt.

Autos bauen lohnt sich mehr

Wieder zur Lieferkette gehören, also arbeiten, möchten manche Klient:innen von Torsten Lang. Der Sozialarbeiter schafft im Gemeindepsychiatrischen Zentrum des Klinikums Stuttgart und betreut psychisch kranke Menschen. „Manche lernen, trotz Ängsten wieder einkaufen zu gehen, andere unterstützen wir, eine Tagesstruktur einzuhalten“, sagt er. Psychosen, Depressionen, Borderline, Messiesyndrom – die Krankheiten, mit denen Menschen zu ihm und seinen Kolleg:innen kommen, sind vielfältig. Lang mag seinen Beruf, aber dabei selbst gesund zu bleiben, sei schwierig, sagt der 56-Jährige. Da wünscht er sich mehr Bemühungen von den Arbeitgeber:innen und auch mehr Anerkennung. „Monetäre.“ Der Beruf sei belastend, Klient:innen seien oft aggressiv. „Da frage ich mich schon, wie das im Verhältnis steht zu Arbeitern bei VW am Band. Die verdienen mehr als wir.“ Was allerdings mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad zusammenhängen könnte, der bei VW sehr hoch und im Gesundheitswesen eher niedrig ist.

Arbeiten wie am Fließband kennt Anna Gioftsirou. Die 47-Jährige ist Altenpflegerin – ursprünglich aus Überzeugung. „Weil ich mit meinen Großeltern aufgewachsen bin. Da fühlt man sich wie ein Baum mit ganz starken Wurzeln.“ Doch der Job hat sie gesundheitlich ausgelaugt. „Geteilte Schichten sind sehr anstrengend. Dann diese Minutenpflege wie am Band – das ist nicht gut“, sagt sie. Zudem gehe die Arbeit auf die Knochen: „Ich hatte einen Patienten, der wog sehr viel und war querschnittsgelähmt. Aus dem Bett heben, in die Dusche, wieder in den Rollstuhl, anziehen …“ Irgendwann brach sie zusammen. Burnout, und zwei Lendenwirbel „liegen quasi aufeinander“. Lange war sie krank, der Wiedereinstieg schwierig. Nun arbeitet sie im sozialen Dienst im Krankenhaus mit geregelten Arbeitszeiten. Auf ihrem ganzen Weg – Krankheit, neuer Job, Fortbildung – habe Verdi ihr stets geholfen. „Das vergesse ich nicht. Ich bin bei jeder Aktion dabei.“ Außerdem würde sie gerne Lauterbach treffen. „Ich möchte ihm sagen, wie schlimm das in der Pflege ist!“

Das gelingt ihr nicht. Zwar kommt der Bundesgesundheitsminister später überraschend doch noch, nachdem es zunächst hieß, ihn halten die Haushaltsverhandlungen in Berlin. Doch sein Auftritt ist kurz. Dafür souveräner als der von Manfred Lucha. Der zeigt deutlichen Widerwillen vor der Menge, die ihm nicht freundlich gesonnen ist, auch weil Baden-Württemberg das Land mit den meisten Krankenhausschließungen in den vergangenen Jahren ist. Wie bei jeder Verdi-Demo betont er, dass er Gewerkschaftsmitglied ist. „Hau ab!“, hört er aus der Menge. Er versucht, zu erklären, dass die Gesundheitsminister:innen gerade eine historische Gelegenheit hätten, „Kliniken, die am Markt am Start sind, gut auszustatten“. „Buh!“ Als er noch sagt: „Wir waren noch nie so nah an einer bedarfsgerechten Versorgung bei besten Bedingungen fürs Personal“, ist die Menge kurz vor dem Explodieren. „Auch du wirst mal alt!“, ruft einer.

Die Gefahr des wilden Kliniksterbens

Quelle         :         KONTEXT: Wochentzeitng-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben      —   Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Sportfunktionäre sitzen Proteste der Frauen aus

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Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Mit Helden ist das so eine Sache: Sie können immer scheitern. Einige junge Wrestlerinnen wurden gar von der Polizei geschlagen.

Aber was geschieht, wenn wir sie im Stich lassen und sie zu Opfern eines toxischen Systems machen? Schauen wir auf Vinesh Phogat, eine erfolgreiche indische Wrestlerin, die mehrere Gold- und Silbermedaillen bei den Weltmeisterschaften, den Commonwealth Games und den Asian Games gewonnen hat. Doch im Mai twitterte sie: „Vom Siegertreppchen auf die Straße, um Mitternacht unter freiem Himmel, in der Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Mit ihr demonstriert Sakshi Malik auf den Straßen Neu-Delhis. Sie war 2016 die erste olympische Bronzemedaillengewinnerin im Wrestling aus Indien. Seit Januar protestieren diese jungen Sportlerinnen gegen Brij Mohan Charan Singh, den Vorsitzenden des indischen Wrestlingverbandes WFI. Sie und weitere junge Wrestlerinnen werfen dem Funktionär sexuelle Belästigung vor. Er wird auch der Selbstherrlichkeit, des Mobbings und der Veruntreuung von Geldern bezichtigt. Als Politiker der regierenden BJP wurden ihm noch weitere schwere Straftaten vorgeworfen.

Als die Sportlerinnen mit ihrem Protest begannen, versprach man ihnen eine Untersuchung ihrer Vorwürfe. Die Polizei nahm sogar Ermittlungen auf. Wenn Athletinnen zusätzlich zu ihrem anstrengenden Training die mentale Stärke für einen öffentlichen Protest aufbringen, sollten sie aber nicht erleben müssen, dass Männer ihre Macht missbrauchen und den Frauen drohen, deren sportliche Karrieren zu beenden.

Für viele indische Sportlerinnen geht es nicht nur um einen persönlichen Lebenstraum und den Ruhm für ihr Heimatland, sondern schlicht um ihren Lebensunterhalt. Wer beruflich Sport treibt, mit Kollegen und Trainern zu tun hat und sich auch in Trainingscamps aufhält, muss immer wieder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erleben. Der gesetzlich vorgeschriebene Ausschuss gegen sexuelle Belästigung existiert bei der WFI nur auf dem Papier.

Wirklich wie ein Keulenschlag trifft uns aber, dass diese Wrestlerinnen keinerlei Rückhalt aus der übrigen Welt des Sports erhalten. Sie ernten entweder dröhnendes Schweigen – oder sogar Vorhaltungen, weil sie sich beklagt haben. Einige von ihnen wurden gar von der Polizei geschlagen und festgenommen. Und dann geschahen seltsame Dinge, um die Proteste in Verruf zu bringen: Manipulierte Bilder der Ath­le­t:in­nen zeigten sie mit höhnischem Grinsen, als ob man zeigen wollte, dass sie einen heimtückischen Plan ausgeheckt hätten, das politische Aus des WFI-Vorsitzenden herbeizuführen.

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Unter NATO Kommando

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2023

Himmelsabwehr als Himmelfahrtskommando

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von              :        Franz Schandl

Der Druck des kollektiven Westens ist anscheinend zu groß geworden. Österreich und die Schweiz schaffen sukzessive ihre Neutralität ab.

Die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) ist eines der größten und ambitioniertesten Rüstungsprojekte in Europa. 19 Staaten wollen gemeinsam einen flächendeckenden Luftabwehr-Schutzschirm über weite Teile des Kontinents spannen. Ein entsprechendes Dokument wurde letzten Freitag in Bern unterzeichnet. Sky Shield soll eine Art Einkaufsplattform sein. Als Kollektiv mehrerer europäischer Länder trete man an die Verteidigungsindustrie heran, um Infrastruktur zu einem guten Preis zu bekommen, erklärte etwa der Militärexperte Franz-Stefan Gady auf Ö1. Bis zur Etablierung dieser Systeme wird es freilich noch einige Zeit dauern.

„Die neuen Mittel, die vollständig interoperabel und nahtlos in die Luft- und Raketenabwehr der NATO integriert sind, würden unsere Fähigkeit zur Verteidigung des Bündnisses gegen alle Luft- und Raketenbedrohungen erheblich verbessern“, hieß es dazu schon im Herbst 2022 auf der Website der NATO. Interoperabilität, so sagt uns das schlaue Netz, ist die Fähigkeit verschiedener Systeme, Geräte, Anwendungen oder Produkte, sich zu verbinden und auf koordinierte Weise zu kommunizieren, ohne dass der Endnutzer etwas dafür tun muss. Im Ernstfall braucht es somit keiner besonderen Genehmigung seitens der Mitglieder. Nicht spezifisch soll auf etwaige Herausforderungen reagiert werden, sondern das vom NATO-Hauptquartier vorgegebene Programm wird für alle, auch für die Neutralen verbindlich. Nicht nur das Zustandekommen ist ein bedeutender Erfolg des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius, sondern auch dass er Österreich und die Schweiz da gleich en passant einkassiert hat. Zweifellos handelt es sich um eine Art Superbooster der Allianz.

Es war Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), der bereits vor Jahren die österreichische Neutralität, Resultat eines Staatsvertrags zwischen der Zweiten Republik und den Besatzungsmächten aus dem Jahr 1955, zu einem „Element der Selbstdefinition“ degradierte. Laut solcher Selbstdefinitionen erklären nun auch die beigezogenen Experten, dass dieser Beitritt zu Sky Shield mit der Neutralität vereinbar sei. Man hätte es nicht anders erwartet. Es handelt sich um einen akkordierten Schritt, der, um vollendete Tatsachen zu schaffen, rasch vollzogen werden muss. Speed kills. Letztlich werden damit Österreich und die Schweiz in die NATO integriert ohne beitreten zu müssen. Man erspart sich lästige Grundsatzdebatten, während die Anbindung an das westliche Militärbündnis stracks um einen Zacken weitergedreht wird. Alte Neutralitäten flutschen ins Nichts.

Zu diskutieren wäre wenig, schließlich geht es um den Schutz vor äußeren Aggressoren. Wer die sind, ist klar. Sky Shield soll vor russischen Luftangriffen schützen. Denn dort, und nur dort, haust und lauert das Böse. Man selber sei ein unschuldiges, rein defensives Bündnis von Freiheit und Demokratie. Dieses imaginierte Europa geht immer davon aus, keine Bedrohung zu sein, sondern allenfalls bedroht zu werden. „Die Neutralität verteidigt uns nicht und sie schützt uns nicht“, sagt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Der bestechende aber beschränkte Gedanke, dass ausschließlich Waffen schützen und nicht Verhaltensweisen scheint einer solchen Denke gar nicht zu kommen. Selbst die Diplomatie ist inzwischen auf dem Abstellgleis gelandet. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation.

Auch die Militärs spüren wieder Oberwasser. Endlich werden sie nicht mehr ausgehungert, endlich dürfen sie teure Waffensysteme anschaffen. Endlich das haben und tun dürfen, was man immer schon gewollt hat. Verteidigungspolitisch spricht man ebenfalls von „Zeitenwende“, und ist hoch erfreut. Abrüsung (oder gar Armeeabschaffung) wird zu einer Idee von vorgestern, die Zukunft gehört der Aufrüstung. Erstmals seit langem steht das Bundesheer nicht zur Disposition, erstmals seit langem wird seinen Forderungen weitgehend entsprochen. In den militärischen Sektoren knallen die Sektkorken. Auf jeden Fall verdanken wir die geplante Aufrüstung fast ausschließlich dem Krieg in der Ukraine und den eigenartigen Schlussfolgerungen, die gezogen werden.

Anders als in Finnland (oder bald Schweden) wird man zwar der NATO noch nicht beitreten, aber irgendwann in nicht so fernen Tagen wohl meinen, dass die materielle Zugehörigkeit auch nach einer formellen Ratifizierung schreit. „Warum bekennen wir uns nicht endlich zu einer Vollmitgliedschaft in der NATO?“, fragt nicht nur ein Poster in irgendeiner Tageszeitung. Barbara Toth, Redakteurin des linksliberalen Falter, nennt die Neutralität „nur mehr eine ‚Chimäre‘ und wir das endlich aussprechen sollten.“ Eine offene Kampagne für den NATO-Beitritt ist allerdings nach wie vor heikel, daher wird man sie vorerst unterlassen. Es geht auch so.

Das Massaker von Mỹ Lai

Was man aber nicht lassen wird, ist, dass dezidierte Kritik fortan den sogenannten radikalen Rändern der Gesellschaft zugeordnet wird, sprich Extremisten von Rechts und Links. Die Hufeisenhypothese ist en vogue. Einmal mehr gerät die ganze Debatte auf eine obskure Ebene. Sämtliche Einwände werden zu einem ungenießbaren Brei verrührt, um sie kollektiv zu erledigen. Weil die FPÖ gegen die Eliminierung der Neutralität ist, sind alle anderen, die auch dagegen sind, irgendwie mit den Freiheitlichen kompatibel. Proteste werden als populistisch punziert, wenn nicht gar als rechtsextrem diskreditiert. Zuschreibungen werden redundant vorgetragen.

Aktuell geht es um Framinig und Wording. Die Identitätsspirale dreht vorhersehbare Windungen: USA = NATO = EU = Europa = globaler Norden = unsere Werte. Man müsse wissen, wohin man gehöre und man müsse dabei und dafür sein. Das Imperium gibt vor. Der Westen soll zu einem Westblock werden. Militärische Kompetenzen sollen letztlich nur noch in den entsprechenden Kommandozentralen des Bündnis konzentriert sein. „Interoperabel und nahtlos“ schreiten wir der Zukunft entgegen. Mit der angestrebten Beteiligung an Sky Shield wird man jedenfalls zum Glied der neuen NATO-Luftabwehr, auch wenn man gar nicht NATO-Mitglied ist. Natürlich wurde bei der Unterzeichnung eine nichtssagende neutralitätsrechtliche Zusatzerklärung beigegeben, festgehalten wurde, dass Österreichs „besondere verfassungsrechtlichen Gegebenheiten berücksichtigt werden“. Dass die Österreicher puncto Neutralität schummeln, ist nicht neu, für die Schweiz hingegen ist das durchaus ein Novum.

Es ist relativ einfach: Wer sich einem militärisches System der NATO unterwirft, ist nicht mehr neutral. Durch solch einen Schritt haben sich die Neutralen entschieden, dass sie auf Perspektive nichts mehr zu entscheiden haben. Für die Neutralität stellt die europäische Himmelsabwehr ein Himmelfahrtskommando dar.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —     Ein Eurofighter Typhoon und eine Mirage 2000N üben ihren Formationsflug

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Noch schlimmer geht immer

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2023

Der NDR-Rundfunkrat macht’s vor: Caren Miosga wird die neue Anne Will

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Es ist passiert. Caren Miosga, bisher Tagesthemen-Moderatorin, wird Anne Wills Nachfolgerin und übernimmt vom nächsten Jahr an deren Sendeplatz sonntags um 21.45 Uhr. So beschlossen und verkündet von der NDR-Rundfunkratsvorsitzenden Sandra Goldschmidt.1

Der Vertrag über 60 Folgen der Sendung in den kommenden beiden Jahren – Arbeitstitel: „Miosga“ – ist unter Dach und Fach. Zugleich mit dieser Personalie teilte der NDR-Rundfunkrat mit, dass er zwei weitere Programmbeschwerden gegen Sendungen der Tagesschau abgelehnt habe, von deren Inhalt das Publikum natürlich nichts erfährt. Wie eh und je. Transparenz ist nicht. Wo kämen wir sonst hin mit dem
öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Welchen Millionenbetrag der NDR-Rundfunkrat für das sonntagabendliche Gelaber samt transatlantischer Einstimmung auf den erwünschten Krieg diesmal zum Fenster hinaus und der Moderatorin Miosga hinterherwirft, wird natürlich ebenfalls nicht mitgeteilt. Für
Anne Will waren es mindestens 2 600 Euro brutto pro Sendeminute.

2.) Günter Jauchs unverschämte 4 500 Euro Bruttohonorar pro Sendeminute#

3.)  erzielte sie damit nicht, aber ist noch dicke genug. Miosga wird mit Anne Will Vergleichbares abgreifen. Mehr dazu am Schluss dieses Artikels.

Was Miosga den Rundfunkbeitragszahler sonst noch kostet, weiß man hingegen genau: Wertvolle Lebenszeit, die er wesentlich sinnvoller verbringen könnte, ohne den Zaungast beim albernen Polittalk zu spielen.

Der NDR-Rundfunkrat sieht das natürlich vollkommen anders. Seine Vorsitzende Sandra Goldschmidt umkränzte die Entscheidung für Miosga mit Lob und Selbstlob:

„Nach 16 erfolgreichen Jahren der Sendung ‚Anne Will‘ soll der Sonntagsplatz mit einer neuen Moderatorin und einem überarbeiteten Konzept in die Zukunft gehen. Der NDR hat mit Caren Miosga eine erfahrene und versierte Journalistin für diese Aufgabe gewonnen. Frau Miosga verfügt über eine große Popularität, hohe Sympathiewerte und ist bekannt für ihre ebenso charmant wie hartnäckig geführten Interviews in den ‚tagesthemen‘.“

4.) Von „hartnäckig geführten Interviews“ scheint der Rundfunkrat eine recht eigenwillige Vorstellung zu haben, wenn ihm dabei ausgerechnet Miosga einfällt. Näheres wollen wir nicht wissen. Wie das „überarbeitete Konzept“ konkret aussieht, mit dem die Sendung „in
die Zukunft gehen“ soll, hätte uns hingegen schon aus professioneller Wissbegierde interessiert. Das aber verschweigt die NDR-Aufseherin Goldschmidt. Von wegen Transparenz. Wie eh und je.

Miosga soll es wuppen. Im Land der Dichter und Denker brauchen wir halt wie Schiller selig unsere faulen Äppel in der Schublade, sonst kriegen wir den genialen Durchblick nicht. Heißt heutzutage: mit Caren Miosga „mehr Qualitätsjournalismus wagen“.
Flachbildschirmgerecht, versteht sich. Wie eh und je. Vom Moderieren und vom Quasseln Moderierte Nachrichtensendungen – und als deren Verlängerung auch die politischen Talkshows – sind ein nach Deutschland geschwappter US-typischer Mix aus seriösem TV-Journalismus und Show-Business, von den Akteuren oft mit eigenen Politambitionen verbunden. Nach unserer (zugegeben: sehr beschränkten) Kenntnis dürfen Sarah Palin5 und Tucker Carlson6 als prägende Beispiele 7 genannt werden. Genre-Vertreter wie sie haben nicht die geringsten Hemmungen, in jeder denkbaren Weise abzusahnen.

Dieser kulturelle Segen aus USA hatte seinen entsprechenden Einfluss auf unsere deutschen Mattscheiben-Größen: „Talk“, selbstdarstellerisches Geschwafel, statt informativer Gedankenaustausch. Wie ihre US-Kollegen sind auch viele deutsche TV-Moderatoren Millionäre, mehr Unternehmer als Journalisten. Jahrmarktgrößen mit Kultstatus. Manche pflegen enge Beziehungen zum US-Lobby-Verein Atlantikbrücke.

8.) Was Caren Miosga aus ihrer Rolle als Talkmasterin macht, wird sich nächstes Jahr zeigen. Wie sie ihre Aufgabe als Tagesthemen-Moderatorin erfüllt, durchleiden wir schon seit 16 Jahren, insbesondere ihre methodische Vorwegnahme und Interpretation dessen, was in
der anschließenden Filmreportage berichtet wird – Bauchlandung nicht ausgeschlossen. Zwei Beispiele sollen der Nachwelt erhalten bleiben: Am 17. November 2017 wechselte Miosga vom Thema „Berliner Sondierungsgespräche über eine Jamaika-Koalition“ (Schwarz-Grün-Gelb) in steiler Gedankenkurve zum Thema „Bonner UN-Klimakonferenz“:

„Dass Jamaika überlebt, und zwar im buchstäblichen Sinne, darum wird gerade in Bonn auf der Weltklima-Konferenz gerungen.“ Und – platsch – die Offenbarung des eigenen Bildungsnotstands: „Denn auch die Karibikinsel wird vom steigenden Meeresspiegel bedroht.“

9.)  Tja. Da war das Tagesthemen-Servierfräulein wohl nicht ganz „auf der Höhe“. Die Insel Jamaika hat Steilküsten mit bis zu 500 Metern. Sie ist ein großenteils gebirgiges Fleckchen Erde. Mit einem Blick in den Atlas hätte die ARD-aktuell-Spitzenmoderatorin erkennen können, dass der Commonwealth-Splitter Jamaika vom steigenden Meeresspiegel sicher weniger bedroht ist als vom anglo-amerikanischen Neokolonialismus.

Aber da ist der tiefernste Blick unserer Pippi Miosga! Mit dem sie die meeresspiegelbedrohte „Welt“ vorstellt! Und ist die nicht willig, dekretiert Miosga dieLösung:

„Die Welt will und muss etwas tun, um die Erderwärmung zu begrenzen.“ (ebd.)

Jawoll, jetzt muss sie mal ran, die Welt. Bloß so im All rumeiern bringt‘s nicht mehr. Wegen „Erderwärmung“. Das Wort verwenden sprachlich notleidende Journalisten als bedeutungsgleichen Ersatz für „Klimaveränderung“. Die Erde erwärmt sich schließlich nicht, sondern kühlt in ihrer Gesamtheit ab10. Ihr flüssiger Kern glüht ja immer noch bei circa 5000 Grad Celsius. Nur die Lufthülle der Erde heizt sich auf.

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Klein Erna weiß das natürlich, in der Grundschule wurde das durchgenommen. Müsste eine erwachsene Wunderlampen-Moderatorin solch Basiswissen nicht ebenfalls draufhaben und sich entsprechend korrekt ausdrücken können? Müsste sie – nicht aber die ARD-aktuell-Blume Miosga. Mit Zitronen gehandelt

Oft und oft haben wir‘s schon vorgebracht: Sprache ist ein Spiegel des Denkens. Freilich, nonverbales (wortloses) Denken gibt´s auch. Das lassen wir hier mal beiseite. Wir begutachten das unter Moderatoren verbreitete Gegenteil, das Sprechen ohne Denken. Im vorliegenden Fall ohne Unterscheidung von Erde und Atmosphäre. Macht ja nichts, ist eh alles wurscht, und Putin muss sowieso weg.

Bedauerlich, dass wir auch für den Moderatorenunfug Rundfunkbeitrag zu zahlen haben, obwohl das Geld laut Gesetz (Medienstaatsvertrag) nur für Sendungen zur Information, Bildung und Unterhaltung (in dieser Reihenfolge!) verwendet werden soll.

Doch Caren Miosga moderiert nun schon seit Mitte 2007. Wäre ein Hartwig von Mouillard11, wären der Tagesthemen-Gründer Dieter Gütt  oder sein Stellvertreter Günter Müggenburg zu jener Zeit noch Chefredakteur der ARD-aktuell gewesen, dann hätte die Frau den Job nicht lange behalten. Im Februar 2009 hatte sie eine Reportage über das „Zitronenfest“ in Menton anzutexten (wo die biblische Eva die ersten Zitronen gepflanzt haben soll), das jährlich eine Viertelmillion Touristen anzieht.  Mit Fasching hat das farbige Ereignis allenfalls indirekt etwas zu tun, weil zeitgleich im 30 Kilometer entfernten Nizza der „Carnaval de Nice“ stattfindet. Ansonsten wird in Frankreich eher
selten Fasching gefeiert.15 Miosga deutete das Zitronenfest einfach um und schöpfte dazutieferen Sinn:

„Was hat Karneval mit Zitronen zu tun? Ich sach (sic!) es Ihnen. Dass man als Beginn des Karnevals den Elften Elften gewählt hat, geht auf die Theorie zurück, nach der dafür die Anfangsbuchstaben des Mottos der Französischen Revolution herhalten mussten: Égalité, Legalité (sic!), Fraternité, zusammen: ELF. Indem sich die Städte Köln und Mainz über diese Worte lustig machten, rächten sie sich an ihren französischen Besatzern.“ Kann man unterstellen, Miosga habe diesen – unmotivierten – Schmarren über das „Motto“ der Französischen Revolution spaßig gemeint? Es spricht nichts dafür. Ist anzunehmen, dass jeder der zwei Millionen Tagesthemen-Gucker sofort erkennen konnte, dass sie puren, logikfreien Blödsinn verzapfte? Eher nicht.

Wenn sich eine Moderatorin wie Miosga den Stoff für ihren Aufsager schon von der Internetseite eines Karnevalsvereins holt, sollte sie wenigstens sauber abschreiben können. „ELF“ lässt sich aus den Anfangsbuchstaben der Französischen Revolution bilden: „Egalité, Liberté, Fraternité“ – „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“.

Die weltbekannte „Losung“ beginnt mit dem Wort „Liberté“, in dieser Reihung ergäben die Anfangsbuchstaben jedoch nur ein sinnloses „LEF“, nicht das erwünschte „ELF“. Karnevalisten allerdings dürfen sich jedes Zitat für ihre harmlosen Zwecke zurechtbiegen. Aber der Französischen Revolution in den Tagesthemen allen Ernstes ein – obendrein verfälschtes! – „Motto“ anzudichten, wie in der Miosga-Moderation geschehen, lässt arge Rückschlüsse auf die Autorin und das Niveau der Tagesthemen zu. Ihre Behauptung, das Wort „Legalité“ (= Rechtsstaatlichkeit!) sei Teil des revolutionären Schlachtrufs gewesen, ist ein Armutszeugnis.

Die Französische Revolution (1789) begann bekanntlich als Hungerrevolte gegen den reichen Adel. Ein „Motto“ hatte sie nicht. Erst 50 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille wurde das anfeuernde „Liberté, Egalité, Fraternité!“ zur Leitidee der revolutionären abendländischen Zeitenwende erklärt. Mit „Liberté“ am Anfang, Miosga! Ohne „Legalité“ in der Mitte!

Auch unter aller Würde

Wenden wir uns, auf dass man uns keinen Antifeminismus unterstelle, dem Moderator Ingo Zamperoni zu, dem Strahlemann von der „Atlantik-Brücke“, solide transatlantisch abgerichtet im Verlauf seiner beruflichen Aktivitäten in den USA. Am 3. Januar 2019, am Tag, an dem die Volksrepublik China eine Sonde auf der „dunklen Seite“ des Mondes gelandet hatte, brachte er diese Spitzenleistung der Weltraumtechnologie mit folgenden Worten aufs Tagesthemen-Tapet:

„Dass chinesische Machthaber keine Scheu vor Großprojekten haben, bewiesen sie schon mit dem Bau der Chinesischen Mauer. Nun kreisen ihre ‚All’-Machtphantasien um den Mond. Als Erste haben die Chinesen nun eine Sonde auf der Mondrückseite gelandet, auf der Seite also, die wir Menschen von der Erde ausnie sehen …“

Mag sein, dass Zamperoni mit diesen albernen Sprüchen und Wortspielereien ein USamerikanisches Durchschnittspublikum beeindruckt hätte. Aber ein deutsches? Seine Sätze offenbaren Nonchalance, Arroganz und einen frappierenden Mangel an Nachdenklichkeit – und Allgemeinbildung. Die „Große Mauer“, mehr als 21 000 Kilometer lang, war nämlich gerade nicht Resultat von „Allmachtphantasien“ ihrer
Auftraggeber. Im Gegenteil, sie war Ausdruck des Schutzbedürfnisses des chinesischen Kaiserreichs, speziell des Kaisers Qin Shihuan; sie spiegelt die Furcht, das Reich könnte (u.a. von den Mongolen) überrannt und sein Herrscher umgebracht werden.19 Qui Shihuan hatte bekanntlich auch angeordnet, sein Leben nach dem Tod in einer Grabstätte von Tausenden lebensgroßer Terrakotta-Soldaten beschützen zu lassen…

Zamperoni: „Chinesen haben eine Sonde auf der Mondseite gelandet, die wir Menschen nie sehen…“ Der Chinese im Unterschied zum Menschen? Die fragwürdige Formulierung war ihm wohl einfach nur so herausgerutscht. Aber das ist der Punkt: Er belegt einen
erschütternden Mangel an Gespür und transportiert eine dickfellige Gedankenlosigkeit, für die es keine Entschuldigung gibt. Moderatoren haben ausreichend Zeit, den vom Teleprompter abzulesenden Inhalt sorgfältig zu formulieren und auszufeilen, und sie werden dafür auch erstklassig bezahlt. Mindestens 11 000 Euro monatlich für maximal 12 Auftritte vor der Kamera und 120 Schreibmaschinenzeilen pro Tag.
Freilich, solche Zamperoni-Schlenker sind nur kleine aber bezeichnende Offenbarungen im TV-Nachrichten-Unwesen der Westlichen Werte-Gemeinschaft. Die kann sich einfach nicht damit abfinden, dass die Volksrepublik China – unter Führung der Kommunistischen Partei – mittlerweile Spitzenpositionen einnimmt: in der Erforschung des Weltraums, in der Grundlagenforschung, in den Schlüsseltechnologien, bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Das wären Stichworte für angemessene Anmoderation zum Thema „Chinesische Mondsonde“. Dünkelhafte Wortspiele rund um den Schmähbegriff „Machthaber“ sind es nicht.

Wie es anfing und wo es endet

Wozu braucht eine Nachrichtensendung überhaupt Moderatoren? Warum genügt für die Präsentation der „Tagesthemen“ kein herkömmlicher Sprecher? Ursprünglich sollten die Moderatoren – anders als beim reinen Nachrichtenangebot der Tagesschau-Hauptausgabe 20 Uhr – „den Zuschauern ergänzende Informationen, übergeordnete Zusammenhänge und Hintergrundinformationen“ bieten.

So war ihre Aufgabe einst gedacht. Den Tagesthemen von heute ist das nicht mehr anzumerken. Nachrichten-Moderatoren gibt es im Ersten Deutschen Fernsehen seit 1978. Die bis dahin übliche „Tagesschau-Spätausgabe“ kurz nach 22 Uhr entfiel, statt ihrer wurden die
„Tagesthemen“ eingeführt, im wöchentlichen Wechsel präsentiert von Barbara Dickmann22 und Hanns-Joachim Friedrichs: sachlich, knapp, atmosphärisch dicht, journalistisch sauber und sprachlich präzise; ein seriöser, anschaulicher Faktenrahmen, hilfreich zur Einordnung des Weltgeschehens. Die Naheinstellung von beiden Moderatoren beherrschte den Bildschirm, Dickmann und Friederichs hampelten nicht in einer virtuellen Studiowelt herum, sie hatten nämlich dem Zuschauer tatsächlich „etwas zu sagen“.

Auch noch nach elf Jahren, im deutschen Schicksalsnovember 1989, machten Dickmann und Friedrichs die Tagesthemen zu einem informativen Ereignis, wie das Beispiel vom 9. November belegt. Vor der Kamera damals Hanns-Joachim Friedrichs: „Bundeskanzler Helmut Kohl ist heute Nachmittag um 15 Uhr in Warschau eingetroffen, zu einem sechstägigen offiziellen Besuch in Polen. Eine Reise, die
eine stürmische, für viele auch ärgerliche Vorbereitungszeit hatte, belastet durch Ungeschicklichkeiten bei der Zusammenstellung des Reiseprogramms, aber auch durch eine scharfe Kontroverse über den Beitrag des Kanzlers zur gemeinsamen deutsch-polnischen Erklärung zum Thema der polnischen Westgrenzen. Es ist zwar durch die Entschließung des Bundestages Klarheit geschaffen worden, gleichwohl hat man die Verkündung der ‚Gemeinsamen Erklärung’ erst einmal verschoben – auf den kommenden Dienstag. Aus Warschau berichtet Dierk Ludwig Schaaf…“

Das Zitat zeigt, wie knapp, distanziert aber adäquat ein qualifizierter Moderator selbst komplizierte Tagesthemen vermitteln konnte. Wenn eine Nachricht so dürftig und schlecht formuliert ist, dass sich ihre Relevanz nicht von selbst ergibt und erst von Moderatoren „hergestellt“ oder erfunden werden muss, dann nähern wir uns zügig dem aktuellen Tagesthemen-Standard. Wer dort einige Jahre lang serviert und Publizität gewonnen hat, weil regelmäßig auf dem Bildschirm, der kann auch Dummtalk moderieren – meinten die begnadeten NDR-Rundfunkräte. Und machen mit ihrem jüngsten Votum nach Anne Will die nächste Aufsagerin zur Millionärin.

Wie alle ARD-Talkshows wird nämlich auch die am Sonntagabend nicht vom öffentlichrechtlichen Sender kostengünstig selbst produziert, sondern für sündhaft teures Geld an eine private Produktionsgesellschaft vergeben. Derzeit ist das die Will Media GmbH, Berlin, mit Anne Will als Geschäftsführerin. Das Unternehmen erzielte im Schnitt der letzten Jahre einen Bilanzüberschuss von 1,7 Millionen Euro.

Die Herstellungskosten der Will Media für die Talkshow werden nicht veröffentlicht, sollen aber bereits 2011 satte 7,85 Millionen Euro betragen haben.26 Eine Grobschätzung sei gewagt: Wenn der NDR für Günter Jauch seinerzeit pro Jahr 10,5 Millionen Euro
hinblätterte, dann sind es jetzt für Anne Will 9 Millionen – und für Miosga werden es nicht weniger sein.

Wie auch immer: Als Eigenproduktion des NDR würde die Talkshow höchstens ein Viertel davon kosten. Talkshows sind nun mal eines der preisgünstigsten Sendeformate – wenn sie keinen privaten Profit abwerfen müssen. Verstehen Sie jetzt, warum ARD und ZDF ihre 8,32 Milliarden Euro Beitragseinnahmen  pro Jahr haben und trotzdem den Hals nicht vollkriegen?

Quellen:
1 https://www.presseportal.de/pm/165131/5547716
2 https://www.morgenpost.de/kultur/tv/article231868557/Anne-Will-Die-wichtigsten-Fakten-zurModeratorin.html
3 https://www.welt.de/fernsehen/article8458890/ARD-zahlt-Jauch-4487-18-Euro-fuer-jedeSendeminute.html
4 https://www.presseportal.de/pm/165131/5547716
5 https://de.wikipedia.org/wiki/Sarah_Palin
6 https://de.wikipedia.org/wiki/Tucker_Carlson
7 https://www.hdaustria.at/blog/late-night/
8 https://www.anonymousnews.org/medien/korrumpiert-das-sind-die-deutschen-mitglieder-der-uslobbyorganisation-atlantikbruecke/
9 https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/tt-5633.html (ab Min. 04‘19“)
10 https://www.scinexx.de/news/geowissen/erde-kuehlt-schneller-ab-als-gedacht/
11 https://de.wikipedia.org/wiki/Hartwig_von_Mouillard
12 https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Gütt
13 https://de.wikipedia.org/wiki/Günter_Müggenburg
14 https://de.allexciting.com/lemon-festival-menton/
15 https://www.deutschlandfunk.de/zitronenfest-in-menton-100.html
16 https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/tt-ts-1138.html (ab Min. 20‘28“)
17 https://www.bergaer-carneval-verein.de/wissenwertes-volltexte-2/
18 https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-6475.html
19 https://www.bambooblog.de/die-faszinierende-chinesische-mauer/
20 https://www.skr.de/china-reisen/sehenswuerdigkeiten/terrakotta-armee/
21 https://de.wikipedia.org/wiki/Tagesthemen
22 https://www.spiegel.de/geschichte/barbara-dickmann-die-erste-moderatorin-der-tagesthemen-a949527.html
23 https://www.hanns-joachim-friedrichs.de/index.php/das-letzte-interview.html
24 https://www.youtube.com/watch?v=LP57Pt4g_0o ab Min. 33‘40“
25 https://de.wikipedia.org/wiki/Will_Media
26 https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Will_(Fernsehsendung)
27 https://www.merkur.de/wirtschaft/ard-zdf-deutschlandradio-beitraege-gebuehren-gezbeitragsservice-zr-92350415.html

Anmerkung der Autoren :

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Oben     —   Berichterstattung zur Bundestagswahl aus dem Hauptstadtstudio Berlin; Pressetermin am 20. Sept. 2013

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Unten      —       Eine sowjetische Wostok-Rakete, ein stärkeres Nachfolgemodell der R-7. Mit einer derartigen Rakete wurde die erste Mondsonde (Lunik-1) gestartet

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2023

Party – Stress mit Döpfner für den „Medieninsider“ 

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Springer-Chef Mathias Döpfner ist gegen einen Bericht über seine Geburstagsparty des Branchendienstes „Medieninsider“ vorgegangen – nicht aber gegen einen der „FT“.

Was ist der Unterschied zwischen Günther Jauch und Mathias Döpfner? Beide halten sich für Journalisten. Aber es gibt auch noch weitere Parallelen. Wenn sie feiern, sind die beiden gern unter sich. Jauch hatte im Juli 2006 seine Hochzeit mit über 100 Gästen in einem Potsdamer Schloss gefeiert. Berichterstattung darüber und vor allem Fotos hätten aber zu unterbleiben, hatte Jauchs Anwalt den Medien vorwarnend mitgeteilt. Als sich die Bunte nicht daran hielt, schleppte Jauch sie bis vor den Europäischen Menschengerichtshof – und verlor.

Neulich hat nun Mathias Döpfner seinen 60sten mit noch mehr Menschen nachgefeiert. Nicht in seinem Potsdamer Schloss, sondern in einem Anwesen in der Toskana. Ob die Bunte dabei war, ist nicht überliefert. Dafür berichtete zunächst der Online-Fachdienst Medieninsider, wer sich da sonst so alles tummelte. Twitter-Grabschaufler Elon Musk war da, Netflix-Mitgründer Reed Hastings und auch KKR-Europa-Boss Philip Freise.

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Doch der Medieninsider-Bericht von Döpfners Sause steht nicht mehr im Netz. „Ich bin gut darin beraten, den Inhalt des Beitrags nicht zu wiederholen. Der hat Döpfner nämlich so wenig gefallen, dass er gleich seine Anwälte bemühte, um juristische Schritte gegen uns einzuleiten“, schreibt Medieninsider-Mitgründer Marvin Schade in eigener Sache. Und dass das Ganze keine „rechtliche Entscheidung, sondern eine wirtschaftliche“ sei: „So eine rechtliche Auseinandersetzung bedeutet schwer kalkulierbare Kosten. Wir sind noch mitten im Aufbau von Medieninsider und wollen unsere Ressourcen in Medieninsider stecken, anstatt in einen wundersamen Rechtsstreit.“ Dazu passt, dass das EU-Parlament gerade eben den Entwurf für eine Richtlinie gegen Slapp-Klagen verabschiedet hat. Slapp steht für Strategic Lawsuit against Public Participation und soll Einschüchterungsklagen gegen unliebsame Berichterstattung erschweren.

Dabei war bei Döpfners Mottoparty durchaus public participation, wie ein anderes Medium berichtet. Es seien nämlich auch Menschen aus dem Ort und lokale Hand­wer­ke­r*in­nen eingeladen gewesen, die beim Ausbau von Döpfners toskanischer Butze mit Hand angelegt hatten. Wer welches Kostüm getragen hat, verrät die Financial Times zwar nicht, aber zitiert Teilnehmende, dass es gar nicht „so bombastisch“, sondern „ac­tual­ly very nice“ gewesen sei. „Hat das Wunderkind Julian Reichelt dort denn auch dem Geburtstagskind gratuliert?“, fragt die Mitbewohnerin.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Tagesschau auf Kriegskurs

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

MAFIA IM ENDGERÄT

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Das TV-Gerät wirkt völlig harmlos. Millionen dieser Kästen stehen in deutschen Haushalten. Ein paar Millionen SmartPhones kommen hinzu. Mit allen werden Tag und Nacht die sogenannten Nachrichten der Tagesschau empfangen. Doch was so harmlos „Nachricht“ heißt, ist in Wahrheit zunehmend eine geballte Ladung von Werbebotschaften für die Waffenindustrie.

Mörderische Waffenindustrie

Wer für die mörderische Waffenindustrie arbeitet, der beteiligt sich an Verbrechen. Sowohl solche gegen das Grundgesetz als auch jene gegen die Menschlichkeit. Und wer diese Verbrechen organisiert, den kann man als mafiös bezeichnen.

Aus den Zwangsgebühren können Sie nicht aussteigen

Die ARD macht Ihnen, wie der Pate zu sagen pflegt, „ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können“ – so kommt die Tagesschau ins Haus. Denn aus den Zwangsgebühren können Sie nicht aussteigen. Sie haben keine Wahl. Wenn Sie es versuchen, dann wird die GEZ, die Gebühreneinzugszentrale, andere Seiten aufziehen. Auch wenn die GEZ heute ganz harmlos „Beitrags­service“ heißt, die Zwangsmittel sind die gleichen.

Werbung für die Rüstungsindustrie

Nach dem Rundfunkzahlungszwang folgt immer wieder die unbestellte Werbung für die Rüstungsindustrie. Mal erzählt die Tagesschau von den gestiegenen Rüstungsexporten und kommentiert die Steigerung damit, dass sie „die enge Verbundenheit mit unseren EU- und NATO-Partnern und engen Partnerländern abbilden“. Dann bemitleidet sie den Verteidigungsminister, weil dessen Etat zu klein sei.

Nachrichten unterstützen Verbrechen

Obwohl die diversen ARD-Anstalten zur Unparteilichkeit und Neutralität verpflichtet sind: Sie betreiben das Geschäft der Regierung und der ihr angeschlossenen Waffenindustrie. Ihre sogenannten Nachrichten unterstützen Verbrechen, sind also mafiös.

Zuschauer machen mit
Auch diese Ausgabe der MACHT-UM-ACHT stützt sich auf eine Vielzahl von
Zuschauer-Zuschriften, die an diese Adresse gesandt wurden:
DIE-MACHT-UM-ACHT@apolut.net Dafür bedankt sich die Redaktion ganz
herzlich.

Hier geht es zum Video:

https://apolut.net/die-macht-um-acht-133-mafia-im-endgeraet/

Urheberrecht

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Oben      —     Tagesschau logoen

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Mitwelt Stiftung Oberrhein

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

Am 19.7.1973 (vor 50 Jahren) wurde Wyhl zum Standort für das später verhinderte Atomkraftwerk

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Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein Venusberg 4, 79346 Endingen

Von         :         Axel Mayer

Vor 50 Jahren hatte die Umweltbewegung am Oberrhein einen ersten, großen Erfolg. Die Verantwortlichen des Energiekonzerns Badenwerk (heute EnBW) und die Landesregierung erkannten, dass der Atomkraftwerksstandort Breisach politisch nicht durchsetzbar war. Zu stark war der Protest der mehrheitlich konservativen Bevölkerung am Kaiserstuhl. Kurzerhand wurde die Planung 13 Kilometer nach Norden verschoben. Am 19. Juli 1973 wurde erstmals der neue Standort eines Atomkraftwerkes in Wyhl bekannt.

Es war eine spannende Zeit des Umbruchs in einer Phase extremer Umweltverschmutzung in Nachkriegsdeutschland und Europa. Nach den noch eher zaghaften Protesten gegen die Verschmutzung der Wutach und gegen die AKW in Breisach und Schwörstadt verstärkte sich der Protest. Der Nachkriegsglaube an das unbegrenzte Wachstum bekam erste Risse. Aus konservativen Nur-Naturschutzverbänden wurden politische Umweltverbände und im Elsass, in der Nordschweiz und Südbaden schwoll der Protest gegen umweltvergiftende Industrieanlagen und geplante Atomkraftwerke zu einer massiven Protestbewegung an.
Die heutigen (Teil-)Erfolge für Mensch und Umwelt in Sachen Luft- und Wasserqualität sind auch diesen frühen Kämpfen zu verdanken.

Es ging den Menschen nicht nur um die Bedrohung durch das AKW in Wyhl sondern auch um ein, im benachbarten Marckolsheim (F) geplantes, extrem umweltbelastendes Bleichemiewerk. Bei einem vergleichbaren Bleiwerk in Nordenham waren damals gerade sechzehn Kühe an Bleivergiftung gestorben, 69 Rinder mussten notgeschlachtet werden …
Die Menschen auf beiden Seiten des Rheins begannen erstmals nach dem Krieg in einer kleinen, alemannischen Internationale grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. Sie träumten und realisierten den Traum vom grenzenlosen Europa der Menschen und der verzweifelte Kampf gegen Blei und Atom begann.

Ein „Fenster der Möglichkeiten“ öffnete sich und beherzte Menschen aus dem Elsass und Baden begannen mit Informationsarbeit, Demonstrationen und der Vorbereitung der beiden Bauplatzbesetzungen in Wyhl und Marckolsheim(F). Aus den frühen erfolgreichen Kämpfen für Luftreinhaltung 1974 auf dem besetzten Platz in Marckolsheim entwickelte sich der Kampf gegen das Waldsterben 1.0. Langfristig gesehen liegen auch wichtige Wurzeln der heutigen Klimaschutzbewegung in diesen frühen Konflikten.

Die erfolgreiche AKW-Bauplatzbesetzung in Wyhl 1975 war ein wichtiger Impuls für die Besetzungen in Kaiseraugst(CH) und Gerstheim(F). Auch der Traum von einem schlagbaumlosen Europa der Menschen und von den kommenden erneuerbaren Energien wurde geträumt und angegangen. Doch nach kurzer Seit schloss sich das „window of opportunity“ und in Grohnde und Brokdorf war eine Wiederholung der Erfolge von Ober- und Hochrhein nicht mehr möglich.

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5 Jahrzehnte nach diesen trinationalen Umwelt-Konflikten, nach dem Streit um Gorleben und Wackersdorf und den Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima wurden in Deutschland die letzten Atomkraftwerke abgestellt. In diesen 50 Jahren gab es (gerade auch beim aktuellen Atomausstieg) immer ein zentrales Hintergrund-Thema, das bei den Konflikten um Kohle und Atom und beim Streit für die erneuerbaren Energien in der öffentlichen Debatte selten erwähnt wurde. Der Streit der Lobbyisten für Atom, Gas, Öl- und Kohle und ihr jahrzehntelanger Kampf gegen die Erneuerbaren war immer ein Konflikt um das Energieerzeugungsmonopol und um die Gewinne der mächtigen Energiekonzerne.

Die Verhinderung des AKW in Wyhl, des Bleiwerks in Marckolsheim und der Atomausstieg am 15.4.23 waren schon erstaunlich. Seit wann setzen sich in a »rich man´s world« die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Der Autor war Sprecher der ehemaligen BI Riegel, (alt-)Bauplatzbesetzer und dreißig Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg

Mehr Infos: https://www.mitwelt.org/kein-akw-in-wyhl.html

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Grafikquellen      :

Oben      —        Die Kritik am KKW Wyhl war Ende der 1970er Jahre noch subtil: unter dem Schild „Mafia“ ist „Kraft“ eingemeißelt

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Unten      —     Aufkleber gegen den Bau des Kernkraftwerkes Wyhl, 1975

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NATO-Gipfel in Vilnius

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

Der Krieg und das letzte Komma

Aus Vilnius Gemma Teres Arilla und Tanja Tricarico

Beim Nato-Gipfel wird vor allem um Worte gekämpft: Der Ukraine wird gegen den russischen Angriffskrieg viel versprochen – aber vieles bleibt vage.

In Vilnius bleibt Wolodimir Selenski nichts anderes, als den Ex-Komiker in ihm durchscheinen zu lassen. Es sind die immer wiederkehrenden Fragen, die die Jour­na­lis­t:in­nen zum Ende des Nato-Gipfels am Mittwochnachmittag an den ukrainischen Präsidenten stellen. Reicht das Angebot der Alliierten an die Ukraine? Ist das Signal der Verbündeten stark genug, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin einzuschüchtern? Kommt die Ausbildung an den F16-Kampfjets?

Selenski bemüht sich um Diplomatie, um das Gute im Unklaren für sein Land im Krieg zu finden. Und verweist irgendwann frotzelnd an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. „Du kannst diese Fragen auch alle beantworten.“ Lachen im Saal des Pressezentrums in Vilnius. Mitgefühl für den Präsidenten im Krieg ist zu spüren – und die unausgesprochene Gewissheit, dass allen klar ist: Die Zukunft der Ukraine ist ungewiss.

Es geht um diesen Schlüsselsatz im Abschlussdokument der 31 Nato-Staaten: „Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen, wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind.“ Bedingungen für ein Land im Krieg, in einem Krieg, von dem keiner weiß, wie lange er noch dauern wird? Übersetzt heißt das: Die Ukraine wird Teil der Nato – aber nicht jetzt. Auf einen breiteren Konsens konnten sich die Staats- und Regierungschefs beim Nato-Gipfel in Vilnius nicht einigen. Vor allem, weil Washington und Berlin nicht mitziehen wollten. Zu allem bereit wären die baltischen Staaten oder Polen gewesen.

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan positionierte sich klar für einen Beitritt. Stattdessen folgt eine windelweiche Formulierung: Wenn der Krieg zu Ende ist, dann gelten Bedingungen für die Aufnahme der Ukraine. So sollen etwa militärische Systeme miteinander funktionieren, auf rechtsstaatlicher Ebene müssen Regeln eingehalten werden. Bei allen Punkten wollen die Alliierten unterstützen.

Abschlussdokument der 31 Nato-Staaten :

„Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen“

Die deutsche Außenministerin Annalena Baer­bock spart nicht an Pathos, wenn sie von der gemeinsamen Vereinbarung spricht. Für sie schlägt „der Pulsschlag für die Ukraine“ in Europa nirgends so stark wie in Vilnius. „Die Nato ist unsere Lebensversicherung. Diese Lebensversicherung funktioniert aber nur, wenn einer für alle und alle für einen einstehen“, sagt Baerbock, sichtlich bemüht. Das zeige sich im Abschlussdokument des Gipfels und den Vereinbarungen für die Ukraine. Und das gelte natürlich auch für andere Konflikte. Für den Indopazifik-Raum und Asien etwa, für mehr Unabhängigkeit von China. Wie sehr der Puls der Li­taue­r:in­nen für die Ukraine schlägt, zeigt sich bereits am Dienstagabend.

Ein Meer ukrainischer Flaggen und Hunderttausende von Menschen, die ebenfalls in Gelb und Blau gekleidet sind, füllen den zentralen Platz der litauischen Hauptstadt. Auf der Bühne prangt ein riesiges Banner mit der Aufschrift #ukraine­nato33: Nach dem türkischen grünen Licht für die Aufnahme Schwedens am Montagabend wäre die Ukraine das 33. Nato-Mitglied. Selenski wird in wenigen Momenten zu den Li­taue­r:in­nen sprechen. Gerade angekommen in Vilnius, ist dies sein erster öffentlicher Auftritt. Mit den Nato-Verbündeten wird er erst am Folgetag sprechen. Während internationale Jour­na­lis­t:in­nen verzweifelt seit Tagen schreiben, dass es unklar ist, ob Selenski nach Vilnius zum Nato-Gipfel eintreffen wird, wussten die Vil­ni­u­se­r:in­nen längst Bescheid. Wie ein Popstar wird Selenski gefeiert, sobald er auf der Bühne mit seiner Ehefrau erscheint. Anschließend spielt eine litauische Band.

Der Platz ist nicht zufällig gewählt. In Zeiten der sowjetischen Besatzung stand dort in der Mitte eine Lenin-Statue, der Platz war nach ihm benannt. Unweit davon gibt es eine Open-Air-Dauerausstellung über den sogenannten Kaunas-Frühling im Mai 1972. Auslöser war die antisowjetische Protestaktion des Schülers Romas Kalanta, der sich öffentlich verbrannte. Ebenfalls nah ist das KGB-Museum, nun Museum der Opfer des Genozids genannt.

Die 40 Jahre sowjetischer Vergangenheit mit Unterdrückung der litauischen Sprache und Kultur spielen eine Rolle bei der Entscheidung der meisten Litauiner:innen, die Ukraine zu unterstützen. Vilnius ist nur rund 40 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Bis Russland, Richtung Osten, sind es knapp 350 Kilometer, aber im Westen grenzt Litauen mit der russischen Exklave Kalinigrad. Am Dienstag unterschreiben in Vilnius die Verteidigungsminister von Estland, Lettland und Litauen eine Koopera­tionsvereinbarung, die den Zugang für Nato-Staaten zum Luftraum der Baltenstaaten vereinfacht. Die drei Staaten haben keine eigenen Kampfjets.

„Ich werde alle schützen, außer die Russen“, sagt Etno Kelias Virginijus, der zusammen mit einem Freund auf den Platz gekommen ist. Natürlich hat auch er eine ukrainische Flagge dabei. „Im Januar 1991 habe ich auf den Barrikaden gegen die sowjetischen Besatzer hier in Vilnius Widerstand geleistet, aber jetzt wünsche ich mir, dass dieser Krieg zu Ende geht. Hier in Litauen wohnen Menschen, die mehrere Sprachen sprechen – Litauisch, Polnisch, Russisch … – und wir haben kein Problem miteinander. Das Problem ist unser Nachbar und seine expansionistischen Ideen“, fügt Etno hinzu.

Nahezu parallel zu Selenskis Auftritt im Zentrum der litauischen Hauptstadt äußert sich Nato-Generalsekretär Stoltenberg zum ersten Mal zur Abschlusserklärung der 31 Mitglieder – bald 32, mit Schweden. „Die Ukraine wird eine Einladung bekommen, Nato Mitglied zu werden, sobald die Bedingungen erfüllt werden“, so Stoltenberg. Die Ukraine kann nicht auf ewig warten: „Die Menschen sterben dort jeden Tag“, sagt Janina am zentralen litauischen Platz und zitiert empört den berühmten Satz „as long as it takes“ von Bundeskanzler Olaf Scholz und Stoltenberg. „Das ist einfach nicht genug. Russland ist eine Bedrohung, auch für uns“, sagt ihre Kollegin Danute. Auch die Jurastudentin Zuzana will Selenski live sehen, zeigt aber Verständnis für die Nato-Erklärung: „Der Krieg tobt noch, so ist es unmöglich, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Aber wir brauchen klare Zeichen dafür, dass es in einer näheren Zukunft doch klappen wird. Ohne die Nato wird die Ukraine nicht überleben.“

„As long as it takes“ – dieser Satz lässt sich an diesem Abend auch anders interpretieren. Ein junges litauisches Paar mit kleinem Kind und Säugling im Kinderwagen verlässt den Platz und kehrt langsam heim: „Wir haben Selenski gesehen, Papa!“, jubelt das Mädchen auf den Schultern des Vaters. Solidarität über Generationen hinweg.

Während Selenski Wut und Frust vor seiner Ankunft in Vilnius in die akademische Nato-Blase twittert, macht sein Verteidigungsminister Olexij Resnikow bereits den nächsten Waffendeal klar. 11 Bündnis-Staaten haben zugesagt, der Ukraine F-16 Kampfjets zu liefern. Die Niederlande und Dänemark leiten das Bündnis zur Ausbildung ukrainischer Kampfjet-Piloten. Bereits im August soll das Training in Rumänien beginnen. Dabei sind Großbritannien, Polen und Kanada. Deutschland hält sich noch raus.

Aber die Erwartungen an die Bundesregierung sind hoch. Deutschland habe sich gut in der Führungsrolle bei der Kampfpanzer-Koalition gemacht, sagt Resnikow. Warum also nicht dem Kampfjet-Bündnis beitreten? Bundeskanzler Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius reagieren ausweichend auf diese Anforderungen. Aber allen ist klar, dass die Kriegsgerät-Spirale sich weiterdrehen wird.

Mit einem Fünkchen mehr Stolz als bei Verteidigungsministern wohl üblich, verkündet Resnikow, gekleidet im olivgrünen Militäroutfit, dass seine Sol­da­t:in­nen – die Ukrai­ne­r:in­nen – mit ihrer Ausbildung an Panzern oder Patriots nur Wochen brauchten, anstatt der üblichen Zeit von mehreren Monaten. Also werde es bei den Kampfjets auch klappen. Über die umstrittene Streumunition aus den USA ist die Freude nach wie vor groß. Und vorauseilend beschwichtigt Resnikow umgehend die Kritiker:innen: „Wir werden sie nicht in besiedelten Gegenden einsetzen – und auch die Gebiete wieder räumen.“ Um sich gegen die brutalen Angriffe des Putin’schen Regimes zu wehren, bleibe der Ukraine aber keine andere Wahl.

Und Resnikow hofft auf mehr: ein Mehr an Waffen, an Flugabwehr, an Munition – und eine klare Perspektive für den Nato-Beitritt für die Ukraine. Von Frust und Wut über eine ukrainischen Gegenoffensive, die langsamer als erwartet verläuft, will Resnikow aber in Vilnius nicht sprechen. „Dieser Krieg ist keine Show. Er ist Realität.“

Die Brutalität des russischen Angriffskrieges: Daran lassen weder Scholz noch Baerbock und Pistorius Zweifel aufkommen. Und scheuen auch nicht den Realitätscheck im Diplomatiedschungel: „Wir können hier relativ entspannt auf jedes Komma in den Abschlussdokumenten schauen“, sagt Baerbock. Das kann ein Land im Krieg nun mal nicht. Dafür gibt es von den Staats- und Regierungschefs Empathie, Solidarität, Mitgefühl.

Das blau-gelbe Mitgefühl im Zentrum Vilnius, das von Tausenden von Po­li­zis­t:in­nen und Sol­da­t:inn­nen geschützt wird, hat seinen Preis. Die litauische Hauptstadt ist in eine Art Ausnahmezustand versetzt worden. In der Nähe des Messegeländes, wo der Nato-Gipfel stattfindet, herrscht teilweise Chaos. Ausgerechnet dann, als überschwänglich das von manchen gar als „historisch“ betitelte Abschlussdokument präsentiert wird, geht in der Stadt gar nichts mehr.

Über zwei Stunden stecken Jour­na­lis­t:in­nen und Di­plo­ma­t:in­nen am Verhandlungsort fest. Auch der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, wartet in der Sonne an der Bushaltestelle. Wasserflaschen werden von jungen Freiwilligen – natürlich gekleidet in blau-gelben T-Shirt mit der Aufschrift „trust us #wearenato“ – verteilt. Erst als US-Präsident Joe Biden das Gelände verlässt, und etliche andere Staats- und Regierungschefs auf dem Weg zum Gala-Dinner im Palast des litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda sind, sind die Straßen wieder frei.

Das Chaos, das solche Gipfeltage, die mit enormen Sicherheitsvorkehrungen verbunden sind, entschädigt Litauens Regierung mit kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln. Die rund 500.000 Ein­woh­ne­r:in­nen Vilnius tragen es mit Fassung. Dass der Nato-Gipfel stattfindet, ist überall zu spüren. Ukrainische, litauische, Nato-Flaggen hängen an den Bussen und offiziellen Gebäuden. Herzen für die Ukraine kleben an jeder Ecke. Mit Kunstaktionen, Fotoausstellungen und Videoperformances aus dem Krieg wollen die Li­taue­r:in­nen Hoffnung auf einen Beitritt der Ukraine schüren. Am Mittwochabend findet noch eine öffentliche Veranstaltung unter hohen Sicherheitsvorkehrungen an der Vilnius Universität statt: eine Rede des US-Präsidenten Biden.

Quelle         :          TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     On Saturday 25 February 2023, several thousand Peace Now demonstrators gathered in London to demand negotiations to bring about a peaceful resolution to the Ukraine war. PEACE TALKS NOW. Almost all the protesters agreed that their main demand was for a greater effort to end the horrific conflict in Ukraine, in which possibly as many as 200,000 may have already died and with the risk of escalation threatening the end of all human life on earth. WASHINGTON AND LONDON BLOCKED TALKS IN 2022 The evidence suggests that the United States and United Kingdom blocked Ukraine from carrying through with its proposed basis for a peace deal with Russia during negotiations in March-April 2022, with the Ukrainian newspaper Ukrayinska Pravda, citing sources close to Zelensky, claiming that Boris Johnson, on his visit to Kiev on 9 April, personally lobbied the Ukrainian president to abandon peace talks and continue the conflict. <a href=“https://peacenews.info/node/10287/liz-truss-helped-derail-chances-peace-ukraine-now-she-must-back-negotiations“ rel=“noreferrer nofollow“>peacenews.info/node/10287/liz-truss-helped-derail-chances…</a> The former Israeli prime minister, Naftali Bennett, also claimed that Washington blocked his attempts to negotiate a peace deal between Kiev and Moscow. <a href=“https://thegrayzone.com/2023/02/06/israeli-bennett-us-russia-ukraine-peace/“ rel=“noreferrer nofollow“>thegrayzone.com/2023/02/06/israeli-bennett-us-russia-ukra…</a> A VARIETY OF VIEWS ON SENDING ARMS Protesters had a greater variety of views on whether the West should send any arms to Ukraine at all, with many opposing any supply of arms that they believe will only prolong the conflict and suffering and risk further escalation, while others argued that sending some arms was morally justifiable to help Ukraine, but that the supply should be carefully calibrated so as not to make a wider and even more catastrophic world war more likely. JEREMY CORBYN’S SPEECH Jeremy Corbyn, as he concluded his brief speech, declared that ‚if all the protagonists in this conflict can come together to discuss the supply of grain to the world, and come to an agreement by which ships carrying the grain from Ukraine and Russia can go to feed other people in other parts of the world; if the US is capable of contacting Russia to say that president Biden is visiting Kiev, then it is obviously possible they could come together for serious talks and serious negotiations to stop the fighting, stop the killing, stop the conflict, and bring about peace and justice.“ WHY THE WEST NEEDS TO SUPPORT AND NOT BLOCK PEACE NEGOTIATIONS 1. Regardless of one’s opinions on the rights and wrongs of this conflict, it has already claimed at least 100,000 lives, possibly over 200,000, including more than 8,000 civilians <a href=“https://abcnews.go.com/International/russia-ukraine-war-tens-thousands-dead-1st-year/story?id=97247372“ rel=“noreferrer nofollow“>abcnews.go.com/International/russia-ukraine-war-tens-thou…</a> Its continuation also threatens global food supplies and energy prices, plunging thousands into food and fuel poverty across Europe and leading to widespread food shortages and hunger across Africa and parts of Asia. 2. Every day the war continues, and as NATO supplies of ever more powerful weaponry continue to increase, the risk of the war escalating into a terminal nuclear conflict continues to grow. Putin and much of the Russian military establishment will do almost anything to prevent a Ukrainian victory, especially one that might see Crimea, of huge strategic importance and with a clear majority Russian population, be returned to Ukraine. Many strategic analysts and Russia specialists believe that Moscow would be willing to consider using at least tactical nuclear weapons, and that this could quickly escalate into global conflict. The ongoing conflict is also jeopardising all the remaining arms control agreements which prevent another nuclear arms race, so that even if Ukraine is victorious, we risk entering a new cold war which is likely to end, soon rather than later, in a nuclear conflict that will terminate all organised human life on earth. 3. The Ukraine War has led to a huge increase in the consumption of fossil fuels, and the reversal of key policies in the fight against climate change. It also hinders crucial cooperation between Russia and the West on this urgent issue with regards measures to curb emissions, as well as cooperation between Russian and Western scientists, particularly as Russia occupies a large part of the arctic, where research findings are vital for our understanding of how rapidly climate change is occuring. 4. We have to acknowledge that some of the West’s recently declared war aims are highly questionable such as returning Crimea to Ukraine. Not only are the Russians unlikely to ever consider entering peace negotiations over its return, but over 60% of the population is Russian according to the last 2001 Ukrainian census and only 24% ( about 1 in 4) are Ukrainian. So it will be difficult to incorporate the territory back into Ukraine without at least some sort of referendum on Crimea’s status. It also has to be acknowledged that the millions of Russians who live within Ukraine have for years faced harsh discrimination with severe restrictions on the importation of books in the Russian language since 2017 (Russian books had previously accounted for 60% of all titles), restrictions on the use of Russian language in schools and Russophobic attacks in the streets. <a href=“https://en.wikipedia.org/wiki/Racism_in_Ukraine“ rel=“noreferrer nofollow“>en.wikipedia.org/wiki/Racism_in_Ukraine</a> The Russians in the Donbass area have also suffered from years of shelling during a prolonged war Ukrainian forces waged against them, with a total death toll up to December 2021 (including both Ukrainian and insurgent forces) of over 14,000, including over 3,000 civilians killed. Yes, there was an inflow of Russian arms which also stoked the conflict, but many Russians viewed this as legitimate support for a population which was under attack from the Ukrainian army. <a href=“https://ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-related civilian casualties as of 31 December 2021 (rev 27 January 2022) corr EN_0.pdf“ rel=“noreferrer nofollow“>ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-relat…</a> 5. Finally, whatever one’s views on the Ukrainian conflict, the evidence suggests that Western strategy is failing. Russian forces continue to gain ground in Ukraine on a daily basis, despite an enormous inflow of NATO arms. Russian industry is able to be fully mobilised on a war footing in a way that the West, with its just in time corporate controlled arms industry, can’t compete with. NATO has already acknowledged that by the summer of this year, Ukraine is likely to run out of artillery shells. What is brutally termed the „burn rate“ of NATO supplied military equipment (and indeed of Ukrainian young men) is far higher than its replenishment rate. At the same time, despite all the sanctions the Russian economy is predicted to grow faster this year than either Germany or the United Kingdom. <a href=“https://www.grid.news/story/global/2023/02/01/russias-economy-is-now-forecast-to-grow-faster-than-germanys-and-britains-in-2023-how-is-that-possible/“ rel=“noreferrer nofollow“>www.grid.news/story/global/2023/02/01/russias-economy-is-…</a> The ruble has actually gained slightly in strength against the US dollar, relative to its value a year ago in February 2022, <a href=“https://www.xe.com/currencycharts/?from=RUB&to=USD“ rel=“noreferrer nofollow“>www.xe.com/currencycharts/?from=RUB&to=USD</a> and Russian reserves remain impressively high. Much of the world, including China, India, South Africa and Brazil, remain more than willing to retain good relations with Russia and import its oil and other key commodities. Western strategy is failing to weaken Russia but the war strengthens the position of the nationalists within Russia, and gives the Russian government a pretext to clampdown on dissent. It also pushes Russia ever closer to China, while accelerating Europe’s relative economic decline. So whatever one’s moral view on the conflict, the lack of any coherent strategy to end this conflict and the West’s refusal even to consider peace negotiations appears to be a catastrophic mistake.

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Die Töne der Zeit

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Die Erderwärmung geht mit extremer Ungerechtigkeit einher

Ein Schlagloch von Illja Trojanow

Wenige Menschen richten viel Schaden an, den wiederum viele Menschen ertragen müssen. Würde Indien das Verbrauchs­niveau der EU erreichen, könnten wir hierzulande Spiegeleier im Schatten braten.

Am bisher heißesten Tag des Jahres wurde in Stuttgart die Oper „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen aufgeführt. Einige sangen, einige spielten Instrumente, alle anderen fächelten sich mit dem Programmheft Luft zu. Messiaens großartiges Werk vertont den spirituellen Weg des heiligen Franziskus in einer undogmatischen Musik ohne Grenzen. Vogelstimmen spielen eine wichtige Rolle, ebenso eine ganzheitliche Liebe zur Schöpfung.

Die Klimakrise wird als globales Problem diskutiert, deren Lösung eine kollektive Anstrengung aller Menschen erfordert. Ganz im Sinne der Umwelt-Enzyklika von Papst Franziskus, in der er zur Abkehr von unserem zerstörerischen Lebenswandel aufruft, der auf Kosten der Natur und der Menschen insbesondere in den ärmeren Ländern geht. Das gemeinsame Haus der Menschheit dürfe nicht zerstört werden. Die Bedeutung der Schöpfung und der Natur müsse in den Vordergrund gerückt werden. Ja, ja und ja, und doch ist dieses „globale“ Framing – wie der Climate Inequality Report 2023 aufzeigt – irreführend.

Denn die globale Klimakrise ist durch extreme Ungleichheit gekennzeichnet. Einfach gesagt: Die Leidtragenden sind jene, die am wenigsten zum Problem beigetragen und am wenigsten Geld haben, sich gegen die Folgen zu wappnen. Während jene, die sie hauptsächlich verursachen, am wenigsten von den Auswirkungen bedroht sind und zudem über finanzielle Möglichkeiten der Anpassung verfügen.

Die treibende Kraft des Klimawandels ist somit nicht die Menschheit im Allgemeinen, sondern es sind diejenigen, die vom Wirtschaftswachstum am meisten profitieren. Weltweit gehen 89 Prozent der Emissionen auf das Konto der 4 Milliarden wohlhabendsten Menschen. Knapp die Hälfte entfällt sogar auf die obersten 10 Prozent (800 Millionen). 17 Prozent aller Emissionen werden von nur 1 Prozent der Meschheit verursacht.

Anders gesagt: Die untere Hälfte der Weltbevölkerung verursacht 12 Prozent der globalen Emissionen, erleidet aber 3 Viertel der Einkommensverluste aufgrund des Klimawandels. Zugleich verfügen die oberen 10 Prozent über 76 Prozent des Wohlstands und können die Folgen entsprechend finanziell auffangen. Die Klimakrise wird also nicht von „uns Menschen“ verursacht, sondern ist Ausdruck globaler Ungleichheit in Folge der gesellschaftlichen und globalen Machtverhältnisse.

In der Oper von Messiaen klopft im vierten Bild ein Engel sanft an die Tür, aber für die Figuren wie auch für das Publikum klingt es wie Donnerhall. In der Realität ist es umgekehrt. Die ökologische Katastrophe dröhnt wuchtig, aber die Engel unserer besseren Einsicht hören es kaum. Eine der Figuren, Bruder Elie, kann nicht zuhören und findet nicht zur besinnlichen Ruhe, um das Wesentliche zu erkennen – eine zeitgemäße Figur.

Während sich das Publikum weiter Luft zufächelt. Es kann die Hitze nicht ertragen, die es selbst entfacht hat. Doch südlich des Breitengrads der Klimaanlagen müssen unsere Mitmenschen ganz andere Temperaturen ertragen: In Pakistan 49 Grad, im Niger 50 Grad Celsius, die Stigmata unserer Tage, verursacht durch heißes Quecksilber.

Die Klimakrise ist zwar eine globale Herausforderung, doch sie ist verursacht von einer kleinen Minderheit, die nicht nur auf Kosten anderer und der Natur lebt, sondern mit ihrem Vermögen und ihren Investitionsentscheidungen entscheidend dazu beiträgt, die herrschenden Verhältnisse zu zementieren. Bezahlen müssen viele, profitiert haben wenige. In diesem Zusammenhang offenbart sich nicht nur der Wahnsinn unserer destruktiven Raserei, sondern auch die Illusion einer Entkopplung von Verbrauch und Wachstum einerseits und Energie- und Ressourcenverbrauch sowie ökologischer Zerstörung andererseits.

Denn wir machen global betrachtet keine Fortschritte. 2022 wurde beim CO2-Ausstoß ein neuer Höchststand erreicht. In manchen Kommentaren wurde kritisch vermerkt, dass „in Indien die Emissionen um 6 Prozent zunehmen. Das Land stößt jetzt mehr Treibhausgase aus als die EU.“ Nun ja, es hat ja auch mehr als dreimal so viel Einwohner. Der einfachste aller ökologischen Gedanken kann nicht häufig genug wiederholt werden: Würde Indien das Verbrauchsniveau der EU erreichen, könnten wir hierzulande Spiegeleier selbst im Schatten braten.

Es gibt nur eine Lösung: Klimagerechtigkeit. Das Entscheidende wäre eine Praxis des global solidarischen Wirtschaftens und Konsumierens. Die Verantwortung für den Planeten müsste eine kritische Haltung gegenüber den eigenen Privilegien beinhalten. Mit handfester Empathie für die Verlierer der ökologischen Katastrophen.

Quelle           :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben        —       If the Paris Agreement can’t, what can? Join the Republic of Vanuatu, the UN and What On Earth!™ in asking the International Court of Justice how countries can be held accountable for the devastation their excessive emissions are causing? #ClimateJustice #PaleBlueDot

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Scheitern der Nichtigkeiten

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Revolten in Frankreich und ihre Ursachen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von :      pm

Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten. Wieder einmal wird ein Jugendlicher von einem französischen Polizisten bei einer Kontrolle erschossen.

Wie ein Brandsatz löst der Tod eine Welle des Vandalismus bis in die kleinsten Städte aus, die sich nicht nur gegen die Konsumtempel richtet, sondern auch gegen die politischen Instanzen. Diese Aufstände kehren seit Jahrzehnten immer wieder und haben dieselben Ursachen, ohne dass sich die Politik ändert. Einer der besten Kenner der Verhältnisse ist Alèssi Dell’Umbria, dessen Buch „Wut und Revolte“ 2017 herausgebracht wurde.Es hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat, weil auch 2005 schon die Polizei für den Tod arabisch-stämmiger Jugendlicher verantwortlich war, die in dritter oder vierter Generation Franzosen sind, aber in Gettos leben und diskriminiert werden. Alèssi nennt es eine Apartheitspolitik im Städtebau, die seit dem 19. Jahrhundert praktiziert wird. Eine wichtige Ursache ist die Kolonialherrschaft, die bis heute nicht beendet ist.

Alèssi Dell‘Umbria : Wut und Revolte

In Frankreichs jüngerer Geschichte war 2005 ein entscheidendes Jahr. Der Innen-minister Sarkozy wollte Präsident werden, indem er das Politikfeld des rassistischen Front National neu besetzte.

Die Vorstädte rebellierten, als wieder einmal „arabische“ Jugendliche von der Polizei in den Tod getrieben wurden. Die Wut über die gesellschaftliche Verachtung brach sich Bahn. Die Folge waren brennende Vorstädte. Anschliessend streikten Schüler und Studenten, weil ein neues Gesetz die schlechten Perspektiven der Jugend verschlimmern sollte.

Der Autor beschreibt, wie die Bewohner der Vorstädte in ein System der Segregation getrieben wurden und sich feindlich gegen diese Welt wendeten, die sie als Feinde behandelt. Dell‘Umbria zeichnet nach, wie sich schon seit dem 19. Jahrhundert die Politik durchsetzte, bestimmte Bevölkerungsschichten in eine Art Gettos weg zu sperren, so dass man von „Apartheitspolitik“ sprechen kann. Drogen einerseits und Fundamentalismus andererseits sind die Konsequenzen. Dell’Umbria’s Text liefert einen Schlüssel zur Erklärung islamistischer Attentate.

Alèssi Dell’Umbria ist in Marseille aufgewachsen, wo er bis heute lebt und politisch aktiv ist. Sein Interesse gilt der Stadtgeschichte von unten, insbesondere den Ausgeschlossenen.

2006 erschien von ihm im Marseiller Verlag Agone „Histoire universelle de Marseille, de l’an mille à l’an deux mille“ [Die universelle Geschichte Marseilles vom Jahr Tausend zum Jahr Zweitausend].

Als 2005 die Aufstände in den Vorstädten den französischen Präsidenten Sarkozy veranlassten, zur Säuberung mit dem ‚Kärscher‘ von der „Racaille“ [das Ausgekotzte, der Abschaum] aufzufordern, schrieb Dell’Umbria das Buch: „C’est de la racaille? Eh bien, j’en suis!“ [Das ist Abschaum? Na, dann gehöre ich dazu!]

Der Essay wurde sofort ins Italienische, Spanische und Griechische übersetzt. Aktualisiert und mit neuem Titel wurde er als „La Rage et la Révolte“ [Wut und Revolte] 2010 im Verlag Agone veröffentlicht.

Dell’Umbria hat sich auch für die Revolte der indigenen Bevölkerung von Oaxaca in Mexiko 2006 interessiert und darüber geschrieben. 2014 drehte er einen Dokumentarfilm über den „Wind der Revolte“ in Tehuantepec (im Staat Oaxaca), wo die indigene Kultur durch industrielle Windparks zerstört wurde.

Übersetzung aus dem Französischen von Elmar Schmeda.

Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten

„Ce soir, on vous met le feu !“ Das hätte der Hit des Herbstes 2005 sein können. Drei Wochen lang haben hunderte Jugendliche, in verschiedenen Banlieues Frankreichs, das leere Versprechen dieses Fussballfanliedchens in Praxis umgesetzt.

Die Beobachter sind sich allgemein darüber einig, dass etwa zehntausend Jugendliche, fünfzehntausend Maximum, irgendwie an diesen Zwischenfällen beteiligt waren, und vorwiegend in kleinen Gruppen von zehn bis fünfzehn Individuen gehandelt haben : Die Revolte erscheint als eine Erweiterung einer Lebensweise, die der Bande, des Stammes, des Posses.

Das erklärt auch dass, abgesehen von den drei Krawallnächten in Clichy-sous-Bois (Seine-Saint-Denis), die direkten Auseinandersetzungen mit der Polizei vereinzelt geblieben sind. Jedoch zwei Ausnahmen: in Evreux (Eure) hat, am Abend des Samstags dem 5. November 2005, eine Gruppe von zweihundert mit Hackenstielen, Boulekugeln und Molotow-Cocktails ausgerüsteten Jugendlichen, es geschafft ein Einkaufszentrum zu verwüsten und ist der Polizei direkt gegenübergetreten.

2020

Aber sind es nicht letztendlich die Bürger-innen welche sich ihren Arroganten Schrott der Politik wählen ?

Am Abend darauf, in der Hochhaussiedlung der Grande Borne in Grigny (Essonne), hat ein Angriff von zwei bis dreihundert Jugendlichen ungefähr dreissig verletzte CRS hinter sich gelassen. Diese Beispiele tendieren dazu zu beweisen dass, selbst auf dem ungünstigen Gelände der Banlieue, mit seinen freien Flächen, die für die Polizeiintervention geschaffen sind, Krawallmacher die Polizeikräfte erfolgreich angreifen können. Im Übrigen war es ein eher heisses Wochenende, da, in der Nacht vom 6. auf den 7. November, mit 1400 in ein paar Stunden in ganz Frankreich verbrannten Autos der Höhepunkt der Brände erreicht wurde : Die Revolte fand ihren Ausdruck viel mehr durch das Feuer, als durch die Auseinandersetzung mit einer Polizei, die in der Ausrüstung überlegen ist.

„Ziele waren vor allem die Symbole des Staates; die Post, die Postautos wurden verbrannt… Dann gab es die Auseinandersetzungen mit den Bullen… Ich weiss, dass die Leute bei jedem geworfenem Stein sagten, na ja : Das ist für Bouna und Zyed! Um nicht zu sterben“, erzählt ein Jugendlicher aus Clichy-sous-Bois, der klarstellt : „In Clichy waren es nicht die Moslems gegen etwas Anderes, es waren eher die Jugendlichen der Banlieue, die keinen Bock mehr hatten, keinen Bock mehr auf ihr Leben, die gegen die Regierung waren. Es waren nicht nur Moslems.“

Ein von einer Pariser Tageszeitung befragter Islamspezialist erklärte, dass es sich nicht um eine fundamentalistische Revolte handelte (man hätte es sich denken können… ), sondern um eine anarchistische. Er kam der Wahrheit ein wenig näher, aber ohne dabei einen entscheidenden Unterschied zu berücksichtigen : Die Anarchisten haben Propaganda durch die Tat betrieben und der Antagonismus mit dem Staat war durch eine Langzeitstrategie gekennzeichnet. Wohingegen der Antagonismus mit dem Staat in der Revolte des Herbstes 2005 unmittelbar war. Aber eine weitere wichtige Erläuterung ist nötig : Diese Revolte war nicht nur antagonistisch, sie war ebenfalls agonistisch. Die Brände bekamen in der Tat sehr schnell den Charakter einer gegenseitigen Herausforderung, eines Wettkampfes oder, wenn man so will, eines Wetteiferns zwischen den Jugendlichen verschiedener armer Vorstädte.

„Wir finden es cool im Fernsehen alles brennen zu sehen. Ich gehe fast nie aus meinem Viertel raus, ausser um ins Bled in Algerien zu fahren – aber wir kommunizieren mit den Typen aus Seine-Saint-Denis über den Bildschirm, alle Sender zeigen Bilder, sogar die arabischen Fernsehsender über Satellit.“ Wenn man dem den Gebrauch von SMS und E-Mails zufügt, hat man da eine komplette Verfremdung der Technologien, die missbräuchlicherweise als Kommunikationstechnologien bezeichnet werden. „Wir fordern uns auf Distanz heraus.“ Die Herausforderung, alle sogenannten primitiven Gesellschaften kennen das, ist der Akt, der die Kommunikation begründet: Hier läuft die Herausforderung über die Vermittlung der Tagesschau… „Es gibt keine Konkurrenz zwischen den Siedlungen, das ist reine Solidarität“, erklärten Jugendliche aus der Siedlung 112 von Aubervilliers.

Über den Protest gegen die polizeilichen Ausschreitungen hinaus, wollten die Brandstifter, die gewöhnlich durch den Banlieue-Urbanismus voneinander getrennt sind, sich untereinander wieder erkennen. Und somit gewinnen sie eine skandalöse Berühmtheit. Täglich von der Hogra geprägt, können sie von der Gesellschaft Anerkennung nur in Form des Skandals erwarten. Schon Marx bemerkte zu seiner Zeit, das es in Frankreich genügt Nichts zu sein um Alles sein zu wollen! Wenn die Jugendlichen nicht mehr als ihre Epoche sein können, so können sie doch ihrer Epoche gewachsen sein. Die Gesellschaft des Spektakels hat die Berühmtheit als einzige Kommunikationsform, als einzige öffentliche Form der Anerkennung durchgesetzt. Die Aussage dieses jungen Brandstifters, zufolge der sie über den Bildschirm kommunizierten, zeigt das gut. Der Skandal ist die negative Form der Berühmtheit.

Alèssi Dell‘Umbria : Wut und Revolte. Edition Contra-Bass 2017. 144 Seiten. ca. 15 SFr. ISBN 978-3-943446-29-6.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —      Marche blanche pour Nahel à Nanterre, le jeudi 29 juin 2023

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Bundesjugendspiele, Thüringen und Bundestag: – Ich reg‘ mich nicht auf!

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Lukas Wallraff

Je lauter man in den Thüringer Wald hineinruft: „Ihr seid scheiße“, desto mehr wählen dort erst recht rechts. Deshalb gilt: nur immer die Ruhe bewahren.

Am Ende dieser Woche ist mir eines klar geworden: Wir müssen uns abregen. Dringend. Alles andere führt ins Verderben. Die ständigen Empörungswellen von links und rechts scheinen ja nur Rechten Erfolg zu bringen. Weltweit, auch in Deutschland, ist die Tendenz eindeutig. Grüne und SPD verlieren, die Union liegt vorn. Die AfD steht bei 20, die Linke bei 4 (!) Prozent. Und je lauter man in den Thüringer Wald hineinruft: „Ihr seid scheiße“, desto mehr wählen dort erst recht rechts. So kann, so darf das nicht weitergehen.

Stopp! So weit, so einfach. Abregen ist leider schwieriger. Eine Möglichkeit, die ich erwogen habe, ist, auf Sahra Wagenknechts Parteiaustritt zu warten, weil dann die Linke vielleicht wieder für Linke wählbar wird, ein Linksruck im Land entstehen oder wenigstens ein paar AfD-Fans zu Wagenknechts neuer Partei abwandern könnten. Aber das dauert wohl noch etwas und scheint mir bei näherer Betrachtung auch keine hinreichende Perspektive, um die Weltlage oder wenigstens mich persönlich zu beruhigen.

Also habe ich versucht, mich in dieser Woche über gar nichts aufzuregen und alles gut zu finden. Zum Beispiel die neue Kindergrundsicherung, die endlich beschlossen wurde, um wenigstens den Kleinsten in diesen harten Zeiten beizustehen: Jedes Kind bekommt ab sofort garantiert eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen, ohne strenge Punktwertung, egal wie weit es genau gesprungen, gerannt oder gestolpert ist. Wenn das nichts ist!

Damit helfen die KultusministerInnen auch der Ampel, weil die armen Kleinen und ihre Familien jetzt sicher dankbar sind und gern auf das schnöde Geld verzichten, das die Regierung einst versprochen hatte, aber leider auch nach zwei Jahren noch nicht zusammenkratzen konnte, weil …, weil …, ja weil halt. Irgendwas Wichtigeres ist immer, und seien es Spionageschiffe. Immerhin bekommt das Prekariat als Inflationsausgleich 41 Cent mehr Mindestlohn! Wer will da noch klagen?

Einmal vorn sein

Trotzdem gab es auch in dieser Woche wieder einige Wutausbrüche. Viele JournalistInnen empörten sich, weil Eltern, die mehr als ein Jahresbrutto von 180.000 Euro verdienen, kein Elterngeld mehr bekommen! Soll keiner sagen, dass nicht über echte Not berichtet wird. Andere sahen das Vater-Jahn-Land in Gefahr, weil die Kleinen ohne knallharten Wettbewerb an der Sprunggrube ab der ersten Klasse nicht ausreichend auf die real existierende Leistungsgesellschaft vorbereitet werden.

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Die Sportnation Deutschland schafft sich ab! Echt jetzt? Ich gebe zu, ich schwanke noch, weil das mit der Gerechtigkeit auch hier leider nicht so einfach ist. Einerseits stellten die Bundesjugendspiele unsportliche Kinder vor eine Herausforderung und mögliche Blamage, die ihnen nun zum Glück erspart bleibt – auch wenn es für manche StreberInnen die einzige Pleite im Jahr war.

Andererseits bietet gerade dieser Wettkampf bisher den bildungshintergründlich Gehandicapten und deshalb schulisch Schwächsten eine Chance, wenigstens einmal im Jahr aufzutrumpfen. Aber der Kulturkampf wird hier sicher nicht entschieden, und ich will mich ja nicht aufregen!

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Schöne Worte reichen nicht

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Der Westen muss aufhören, die Brandstifter zu hofieren.

Wer in der Politik kein Pack hofiert – bleibt selber im dunkeln stehen !

Ein Debattenbeitrag von Manfred Dauster und Alexander Rhotert

28 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica schüren serbische Nationalisten alte Konflikte. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Verbrechen wohl in Vergessenheit geraten.

Am 11. Juli jährt sich der Genozid an 8.372 Bosniaken in Srebrenica zum 28. Mal. Obwohl es dank des ehemaligen Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, ein Gesetz gibt, das die Leugnung des Völkermords unter Strafe stellt, wird dieser vom bosnischen Serbenführer Milorad Dodik gebetsmühlenartig bestritten. Die fehlende Durchsetzung der Strafvorschriften des bosnischen Strafgesetzbuchs gegenüber denjenigen, die laut und deshalb auch vorsätzlich diese Vorschriften verletzen, legt deutlich die Defizite des Rechtsstaats offen.

Srebrenica steht exemplarisch für die von Serben begangenen Kriegsverbrechen. Warum verbeißt sich Dodik seit Jahren in Srebrenica und leugnet diesen ersten Völkermord in Europa nach 1945? Eben weil der Genozid ein Menschheitsverbrechen ist. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Gräueltaten wohl vergessen. Wer erinnert an die Belagerung Sarajevos – die längste Belagerung einer Hauptstadt in der Geschichte, bei der über 11.000 Bosniaken, Serben, Kroaten, Roma, Juden und Angehörige anderer Gruppen durch serbisches Artillerie- und Scharfschützenfeuer starben? Wer erinnert an die Zehntausenden zumeist bosniakischen Mädchen und Frauen, die in serbischen Vergewaltigungslagern in Foča, Višegrad und anderswo monatelang gefoltert wurden? Wer erinnert an die ausgemergelten Insassen der serbischen Konzentrationslager Trnopolje, Keraterm und Omarska, in denen Tausende Bosniaken und Kroaten ermordet wurden?

Was Dodik, aber auch den heutigen serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić bewegt, den Genozid immer wieder kleinzureden, ist die Tatsache, dass der Name Srebrenica für alle Zeiten mit der serbischen Geschichte verbunden sein wird – genau wie Auschwitz mit der deutschen Geschichte. Die Anerkennung dieser monströsen Verbrechen und der Schuld ist die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Aber daran ist der serbischen Führung nicht gelegen. Grund hierfür sind Pläne von Kumpanen des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, dessen großserbisches Projekt zu verwirklichen.

Vučić und sein Außenminister Ivica Dačić waren während der von Milošević angezettelten Kriege dessen Propagandisten. Vučić erklärte in einer Rede vor dem Parlament am 20. Juli 1995, dass man für jeden getöteten Serben 100 Bos­nia­ken umbringen werde. Gleichzeitig war der Genozid von Srebrenica in vollem Gange, unter Beteiligung von Spezialeinheiten des Belgrader Innenministeriums, die gefesselte Jugendliche mit Schüssen in den Rücken ermordeten.

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Trotz Vučić’und Dačić’Vergangenheit als Schergen Milošević’unterstützen die USA und weitere westliche Mächte die aktuelle serbische Regierung und betrachten sie Stabilitätsfaktor in der Region. Dabei hat erst Ende Mai das UN-Tribunal in Den Haag zwei Mitstreiter von Milošević, die ehemaligen Chefs des staatlichen serbischen Sicherheitsdienstes Jovica Stanišić und Franko Simatović, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz und für Bosnien von großer Bedeutung, denn die beiden wurden wegen ihrer Rolle während des Angriffskriegs Serbiens gegen Bosnien für schuldig befunden.

In Deutschland wird das kaum wahrgenommen. Erst vor Kurzem stellte ein Journalist einer deutschen Tageszeitung in Frage, ob Srebrenica tatsächlich das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Immerhin seien in Bleiburg im Mai 1945 mehrere Zehntausend Anhänger des faschistischen kroatischen Ustaša-Regimes von den kommunistischen Partisanen Josip Broz Titos umgebracht worden. Doch ein von der internationalen Strafjustiz anerkannter Völkermord wie der in Srebrenica ist nicht einfach mit anderen Kriegsverbrechen vergleichbar. Was der unwissenschaftliche und ahistorische Vergleich aber trotzdem bewirken kann, ist eine Retraumatisierung der Überlebenden des Genozids. Alle, die sich mit dem Thema Srebrenica beschäftigen, sollten sich mehr Zurückhaltung auferlegen und sensibler damit umgehen.

Vor einem Jahr, am 11. Juli 2022, hielt der Hohe Repräsentant Christian Schmidt eine „Nie wieder“-Rede in Srebrenica. Gleichzeitig beseitigten Serben im nur 15 Kilometer entfernten Kravica Spuren in einer Lagerhalle, in der serbische Soldaten im Juli 1995 über 1.300 Menschen ermordet hatten. Das UN-Tribunal hatte die Lagerhalle als Tatort deklariert. Diese Stätte des Grauens hätte Schmidt mit einer Unterschrift erhalten können.

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —   An exhumed mass grave in Potocari, Bosnia and Herzegovina, where key events in the July 1995 Srebrenica Massacre unfolded. July 2007.

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Hitze-Hotspot Deutschland

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen

Liegt Jordanien neuerdings am Main? Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber warf jedenfalls unlängst den Vergleich in den Raum und warnte davor, dass es klimatisch so weit kommen könnte. Und tatsächlich lassen die letzten Jahre Schlimmes befürchten.

Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen vertrocknetes Gras, dazu ein träger, aber unangenehm heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen? Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich nordwestlich von Würzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen.

Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland.

Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schipperten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären.

In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft.

Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem Main-Donau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung.

Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung.

Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren.

Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus

Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.[1] „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber.

Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt.

Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt.

Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer.

Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.[2]

Es ist spät, aber noch nicht zu spät

Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers, das diesem Text zugrunde lag, zentrale Punkte.

1. Die öffentliche Versorgung muss klaren Vorrang erhalten vor privatwirtschaftlichen Interessen

Der Vorrang der öffentlichen Trinkwasserversorgung vor allen anderen Nutzungen ist nicht klar und unmissverständlich festgeschrieben. Genau das muss aber sein. Es genügt nicht, den Grundsatz als allgemein und unverbindlichen Glaubenssatz unterschwellig zugrunde zu legen. Das war er nämlich bisher auch schon – und trotzdem bedienten sich Energieversorger und Industrie, Mineralwasserhersteller und Landwirtschaft reichlich ungeniert und mit dem Segen allzu sorgloser Behörden am Allgemeingut Wasser. Die Vorrangstellung der öffentlichen Trinkwasserversorgung muss daher bundesweit festgeschrieben werden. So, dass lokale Genehmigungsbehörden, aber auch Gerichte sich bei ihren Entscheidungen darauf stützen können. Wenn man so will, etwas Klares, Praktisches für den täglichen Gebrauch.

2. Die Wasserversorgung darf nicht privatisiert und dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden

Die Nationale Wasserstrategie beschäftigt sich mit der Zukunft. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Ihre Ziele sind auf 30 Jahre ausgelegt, und es ist richtig zu definieren, wohin man langfristig will. Die Verteilungskämpfe haben jedoch bereits begonnen. Folgerichtig braucht es auch kurzfristige Zielvorgaben und ein Instrumentarium, um sofort entscheiden und strategisch handeln zu können. Und nicht erst 2050.

Es ist an der Zeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Strommarkt wurde liberalisiert, also dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte unterworfen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und speziell die energiepolitischen Verwerfungen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führen jedoch die Schwächen des Systems vor Augen. Wenn es darum geht, Probleme im Sinne der Allgemeinheit zu lösen, ist von den Profiteuren der Liberalisierung nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann muss der Staat plötzlich eingreifen, mit Milliarden an Steuergeldern. Daraus leitet sich die banale, aber entscheidende Erkenntnis ab, dass Privatunternehmen nicht alles automatisch besser können als öffentliche Versorger.

Im Gegenteil: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo ein Privatinvestor im Bereich der Daseinsvorsorge Verantwortung übernommen hat, wenn ein System nicht mehr funktionierte. Die Energieriesen haben jahrzehntelang mit Gas aus Russland oder Atomstrom Milliardengewinne eingefahren. Den Umbau der Systeme, die Kosten für deren Versagen, finanziert jedoch der Staat, die Allgemeinheit. Bestes Beispiel ist das Milliardendrama um Uniper, jene börsennotierte Gesellschaft, die 2016 als Abspaltung des ebenfalls börsennotierten Energieriesen E.ON entstanden ist. Als Uniper im Zuge des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Lieferstopps von russischem Gas in die Bredouille geriet, musste der Bund das als systemrelevant eingestufte Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Steuersäckel stützen. Im Dezember 2022 wurde Uniper verstaatlicht.

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge, mindestens so sehr wie die Strom- und Energieversorgung. Man darf sie nicht dem freien Spiel privater Kräfte überlassen, nicht Investoren und profitmaximierenden Unternehmen. Wasser ist ein derart elementares Gut menschlichen Daseins, dass es nicht marktliberalen Mechanismen unterworfen werden darf. Nicht Wettbewerb, sondern funktionale Sicherheit müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen ein öffentliches, staatliches bzw. kommunal betriebenes Versorgungssystem für Trinkwasser, das auch im Krisenfall stabil und resilient ist. Vor allem die Städte und Gemeinden stehen hier in der Verantwortung. Sie müssen ihre eigene Wasserversorgung sicherstellen – bei Bedarf auch mit Nachbargemeinden zusammen; es gilt das Solidarprinzip.

3. Das Land braucht eine umfassende Wasserschutzagenda

Ressourcenschutz fängt nicht erst an, wenn es im konkreten Einzelfall darum geht, einen übermäßigen Wasserausbeuter in die Schranken zu weisen. Er beginnt viel früher. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, eine andere Herangehensweise mit dem Ziel, Wasser im Boden zu halten. Dafür zu sorgen, dass es nicht so schnell abfließt. Mit konsequentem Gewässerschutz, Investitionen in Leitungssysteme und Wasseraufbereitungsanlagen, aber auch, indem die Flächenversiegelung begrenzt, mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und insgesamt das Bewusstsein für sorgfältigeren Umgang mit der Ressource Wasser geschärft wird. Das Thema kommt einer Allensbach-Umfrage von 2022 zufolge immer mehr in der Bevölkerung an; drei von vier Deutschen gaben an, bewusster und sparsamer mit Wasser umzugehen als früher. Wassersparen hilft, aber das allein reicht nicht. Sümpfe, Moore und andere Feuchtgebiete müssen geschützt werden, die Versiegelung der Landschaft durch Wohn- und Gewerbegebiete, Straßen und andere Baumaßnahmen muss insgesamt reduziert werden. Wir brauchen im Einzelfall mehr Dachbegrünungen, aber auch Bauverbote in Gebieten mit Überschwemmungspotenzialen. Die Versickerung von Wasser an Ort und Stelle muss erleichtert werden.

Vielleicht sollten die Politiker-innen im Ausland von den roten Teppichen herunterkomme um sich die Wasserversorgung aus dem 12.Jahrhundert anzusehen, welche heute noch teilweise  funktionieren.

Auch der Grundwasserschutz muss verbessert werden. Experten der Vereinten Nationen sind überzeugt, dass aktuelle und künftige Wasserkrisen nur mit Hilfe des Grundwassers zu bewältigen sind. „Eine bessere Nutzung des Grundwassersystems könne zur Klimaanpassung beitragen“, heißt es im UNESCO-Weltwasserbericht 2022. So sei es etwa möglich, saisonale Überschüsse von Oberflächengewässern in Grundwasserleitern zu speichern. So könnten nämlich Verdunstungsverluste verringert werden, „wie sie etwa bei Stauseen auftreten“. Eine sinnvolle, umfassende Wasserschutzagenda beginnt schon bei der Erfassung aktueller Daten. Ferner muss eine Wasserschutzagenda schärfere Regelungen zum Schutz vor Verunreinigungen etwa durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel beinhalten. Das Herumlavieren, mit dem sich Deutschland in der beschriebenen Weise seit Jahren um die konsequente Einhaltung schärferer EU-Vorgaben drückt, muss ein Ende haben.

4. Privilegien für Großverbraucher abschaffen

Bayern, Hessen und Thüringen verzichten bislang auf ihn und in den anderen 13 Bundesländern ist er marginal bemessen. Die Rede ist vom Wassercent, im Behördendeutsch: dem Wasserentnahmeentgelt.

Richtigerweise muss es endlich jeder bezahlen, der sich am Allgemeingut bedient, um es für seine privatwirtschaftlichen Zwecke zu verwenden. Mineralwasserhersteller, Landwirte, Energieversorger, Industriebetriebe – bisher profitieren alle großen Schlucker von einer fatalen Nulltarif- oder Kostet-fast-nichts-Mentalität hierzulande. Geht es um die Bedürfnisse von Unternehmen, waren die Behörden, die Landesregierungen und die Kommunalpolitiker vor Ort stets sehr großzügig bei Entnahmemengen oder langfristigen Laufzeiten von Entnahmerechten. Das muss gestoppt werden. Behörden müssen die Mengen und die Laufzeiten begrenzen und unter den Vorbehalt stellen, dass sie in Dürrezeiten bei Bedarf auch unterbrochen oder stärker kontingentiert werden können. Und vor allem: Das jahrhunderte-, bisweilen sogar jahrtausendealte und besonders reine Tiefengrundwasser muss weitaus strenger geschützt werden. Übrigens nicht nur vor den Entnahmen gewerblicher, sondern auch öffentlicher Nutzer.

Ein probates Mittel ressourcenschonender Wasserbewirtschaftung wäre es, private und gewerbliche Nutzer gleichzustellen. Ihnen dieselben Gebühren abzuverlangen, wenn sie aus dem öffentlichen Netz schöpfen, und keine Rabatte für Großabnehmer mehr zu gewähren. Überdies müssen all jene spürbarer als bisher zur Kasse gebeten werden, die eigene Brunnen oder Wasserfassungen nutzen. Der Wassercent darf daher im Sinne der Allgemeinheit gerne ein Wassereuro werden.

Gewiss, die Wirtschaft im weitesten Sinne braucht Wasser und sie soll es auch in Zukunft bekommen. Dass Firmen für Wasser aber kaum oder fast nichts bezahlen, setzt jedoch keinerlei Anreize, um sich über Einsparungen, interne Wasserkreisläufe, Wasserrecycling oder Brauchwassersysteme Gedanken zu machen. Wir brauchen eine Gebührenpolitik, die genau solche Anreize schafft. Hier sind vor allem die Landespolitiker gefordert, bei denen das Thema bislang nicht angekommen ist. Geradezu unerträglich ist es, wenn, wie im Fall Tesla in Brandenburg, ein Unternehmen in einer trockenen Region angesiedelt wird und zig Mrd. Liter Wasser zugeteilt bekommt, während ringsum Gemeinden keine Wohngebiete und Schulen mehr planen können, weil das notwendige Wasser fehlt. Es kann auch nicht sein, dass einhergehend damit der Trinkwasserbedarf von Privatpersonen im Bedarfsfall eingeschränkt und Mehrbedarf finanziell sanktioniert wird, während die Versorgung der Großfabrik nebenan Priorität genießt.[3]

5. Wassertröpfchen für die Landwirtschaft

Quelle          :           Blätter-online          >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —      Talsperre Lehnmühle Oktober 2018 im Tal der Wilden Weißeritz im Erzgebirge. Sonst geflutete Brücke der Zinnstraße zum Erztransport von Altenberg nach Freiberg.

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Unten         —         The park in the Byzantine-era Cistern of Aspar in November 2013

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Ganz ohne Witwenrente

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Charmant in die Altersarmut

Wie ist es denn vielen Kriegerwitwen nach den letzten Krieg ergangangen – welche auf den Staat hoffen mussten? Wurden nicht viele Witwen in die Prostitution getrieben um die Kinder ernähren zu können? 

Von Ulrike Herrmann

Für viele ist die Hinterbliebenenrente eine Aufstockung für den Lebensunterhalt. Eine Kürzung würde nur eins bedeuten: verschärfte Altersarmut.

Über die Rente wird permanent diskutiert, aber ein Thema blieb bisher relativ unbeachtet: die Witwenrente. Doch nun hat die Chefin der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer eine Reform vorgeschlagen, die darauf hinauslaufen würde, die Witwenrenten langfristig zu kürzen.

Konkret stellt sich Schnitzer vor, dass es zu einem „Rentensplitting“ kommt. Dabei werden die Rentenansprüche der Ehepartner hälftig geteilt – und zwar nur die Ansprüche, die tatsächlich während der Ehe erworben wurden. Frühere Beiträge werden nicht berücksichtigt. Wenn dann ein Partner stirbt, erhält der Hinterbliebene diese Hälfte sowie die eigenen Ansprüche, die vor der Ehe entstanden sind.

Auch jetzt ist ein Rentensplitting schon möglich, aber Schnitzer schlägt vor, dass es verpflichtend wird. Faktisch würden damit die Witwenrenten gekürzt, denn bisher erhalten Hinterbliebene im Normalfall 55 bis 60 Prozent der Rente ihres verstorbenen Partners – plus die eigene Rente. Allerdings sind konkrete Berechnungen schwierig, wie groß die Nachtteile tatsächlich wären, weil derzeit das eigene Einkommen des Hinterbliebenen bei der Witwenrente berücksichtigt wird.

Nur eine Minderheit war nie erwerbstätig

Wie auch immer: Klar ist, wer garantiert verlieren würde. Dies wären alle Ehepartner, die selbst nicht arbeiten. Das ist gewollt. „Die jetzige Regelung reduziert die Anreize, eine eigene Beschäftigung aufzunehmen“, sagte Schnitzer dem Spiegel. „Außerdem tragen so alleinstehende Beitragszahlende zur Finanzierung von Rentenansprüchen für nicht erwerbstätige Partner bei, die selbst nicht in das System einzahlen.“

Selbst wenn es zu dieser Reform käme, würde sie nicht sofort greifen. Stattdessen soll es lange Übergangsfristen geben, damit sich alle Arbeitnehmer auf die künftigen Realitäten einstellen können. Die heutigen Rentner müssten also nicht fürchten, dass sie plötzlich ein Teil ihres Einkommens verlieren.

Auf den ersten Blick wirkt es charmant, wenn nicht alle Beitragszahler dafür aufkommen müssten, dass einzelne Ehepartner lieber zu Hause bleiben und nicht arbeiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass nur eine Minderheit der Hinterbliebenen nie erwerbstätig war. 2022 bezogen etwa 5,3 Millionen Menschen eine Witwenrente, wovon aber nur etwa 1,2 Millionen keine eigenen Rentenansprüche hatten. Der Rest hat früher gearbeitet – und erhält die Witwenrente zusätzlich.

Rentenkassen benötigen mehr Geld

Diese Zusatzgelder werden dringend gebraucht, damit die alten Menschen überhaupt über die Runden kommen: 2022 erhielten Männer, die auch eine Witwerrente erhielten, im Schnitt 1.717 Euro netto. Frauen mit eigener Rente und Witwenrente bekamen monatlich 1.573 Euro ausgezahlt.

Quelle          :          TAZ-online             >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Isaac Israëls – Military funeral – Google Art Project

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Putins Mann in Belarus

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Lukaschenko und Russlands Atomwaffen

Ein Debattenbeitrag von Alexander Friedmann

Lukaschenkos atomares Säbelrasseln ist unverantwortlich. Aber es ist nicht zuletzt auch ein vorsichtiges Gesprächsangebot an den Westen.

Seit Monaten schlägt Juri Felschtinski Alarm. Der amerikanisch-russische Historiker geht von einem düsteren Szenario aus: Um das Blatt im Ukrainekrieg doch zu seinen Gunsten zu wenden, bereite der Kreml einen Atomschlag auf Polen oder Litauen vor und würde dafür gezielt das Territorium des Satellitenstaates Belarus verwenden.

Putins perfides Kalkül, so Felschtinski, ist dieses: Im Ernstfall würden Washington, London und Paris einen atomaren Schlagabtausch nicht riskieren und ihre osteuropäischen Partner sowie vor allem die Ukraine im Stich lassen. Und sollten die USA doch mit Atomwaffen antworten, würden sie Belarus, nicht Russland treffen.

Diese apokalyptischen Thesen finden Gehör – in Osteuropa. In Westeuropa werden sie hingegen als Panikmache zurückgewiesen: Einerseits sind sie zu erschreckend; andererseits genießt Felschtinski einen ambivalenten Ruf, wobei ihm eine gewisse Neigung zu Verschwörungstheorien unterstellt wird.

Noch in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren hat er mit dem früheren Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Litwinenko, zusammengearbeitet, der 2006 in London mit Polonium-210 vergiftet wurde. Litwinenko und Felschtinski warfen damals dem FSB grausame Verbrechen vor, darunter auch die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau 1999.

Genüsslich als Haudegen inszeniert

Aber vielleicht hat der radikale Kreml-Kritiker recht und die westliche Politik agiert fahrlässig, indem sie den Faktor Belarus übersieht?

Inzwischen spricht tatsächlich einiges für Felschtinskis Theorie. Moskau hat die Stationierung seiner taktischen Atomwaffen im Nachbarland bereits verkündet. Die Atomdrohungen gehören längst zum Arsenal der russischen Propaganda. So stellt etwa der ehemalige Staatspräsident Dmitri Medwedew die Auslöschung Polens in Folge eines Atomkrieges in Aussicht. Der einflussreiche Politikwissenschaftler Sergei Karaganow fordert einen präventiven Atomangriff auf Europa.

Und da gibt es noch den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der beim Thema Atomwaffen immer häufiger im Vordergrund steht und sich dabei genüsslich als Haudegen inszeniert, der die taktischen russischen Atomwaffen bereits nach Belarus geholt habe und dort in Zukunft auch strategische Atomwaffen stationieren lassen könne.

Weiterhin behauptet Lukaschenko, an Entscheidungen über den Einsatz von Atomwaffen beteiligt zu sein, und lässt zudem die Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen im Westen wissen, seine Hand würde nicht dabei zittern, wenn er auf die „Atomknöpfe“ drücken müsse.

Lukaschenko ist zwar ein williger Vollstrecker des Kreml, agiert jedoch stets auf seine eigenen Interessen bedacht

Was spielt Lukaschenko da? Lange unterschätzt und belächelt, wird er von westlichen Po­li­ti­ke­r*in­nen und Be­ob­ach­te­r*in­nen eher als Marionette wahrgenommen, welche zwar keinerlei Einfluss habe, jedoch überzeugend die ihm vom Kreml zugewiesene Rolle eines unberechenbaren Diktators mit Atomwaffen verkörpere. Seine Eskapaden sollten helfen, die Nato im Vorfeld des Juli-Gipfels in Vilnius zusätzlich zu verunsichern und ihre Entscheidungen hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine zu beeinflussen.

Dass Lukaschenko seine Auftritte im Auftrag des Kremls oder zumindest in Absprache mit Putin macht, scheint naheliegend. Moskau betont zwar gelegentlich, dass Russland die Kontrolle über die Atomwaffen im Nachbarland obliege. Die russische Führung lässt Lukaschenko allerdings gewähren und macht gleichzeitig keinen Hehl daraus, dass Belarus als russische Einflusszone betrachtet wird.

Der „Retter Russlands“?

Juri Felschtinskis Grundannahme, Belarus solle von Moskau lediglich als Vorhang verwendet werden, erweist sich somit als nicht stichhaltig, denn Putin macht keinen Unterschied mehr zwischen Belarus und dem russischen Kerngebiet. Und auch der Westen betrachtet die Atomwaffen in Belarus als ein russisches Projekt, für das Moskau Verantwortung trägt.

Der Autokrat aus Minsk ist zwar ein williger Vollstrecker der Kreml-Politik. Jedoch agiert er stets auf seine eigenen Interessen bedacht. Die groteske Wagner-Meuterei kommt ihm zupass. Obschon die Rolle, welche Lukaschenko in Verhandlungen mit dem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin tatsächlich gespielt hat, nach wie vor unklar bleibt, wird er vom Kreml zum „Friedensstifter“, sogar zum „Retter Russlands“ stilisiert.

In der Russischen Föderation ohnehin beliebt, genießt der belarussische Machthaber nunmehr außergewöhnliche Anerkennung. In der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum gehört er sogar zur Spitze vertrauenswürdiger Politiker, vor Außenminister Sergei Lawrow und nicht weit hinter Putin.

Absicherung seiner Herrschaft

Dies, gepaart mit russischen Atomwaffen und der geplanten Stationierung der Wagner-Gruppe in Belarus, führte kurzfristig zu einer rasanten Aufwertung Lukaschenkos in der westlichen Presse. Manche Medien brachten ihn sogar als Putins Nachfolger ins Spiel.

Quelle          :        TAZ-online             >>>>>          weiterlesen

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Oben      —       Раис Республики Татарстан Рустам Минниханов встретился с Президентом Республики Беларусь Александром Лукашенко.

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Der Nahostkonflikt :

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Der Teufelskreis von Jenin

Quelle      :        INFOsperber CH.

Gudrun Harrer /   Die neuen bewaffneten palästinensischen Gruppen im Westjordanland sind ein Symptom für den Zusammenbruch der Palästinenserbehörde.

Jenin ist der Geburtsort der neuen palästinensischen «Banditen»: Diese Bezeichnung stammt nicht etwa von Israel, das nach eigenen Angaben seinen Militäreinsatz in der Stadt im Westjordanland am Mittwoch beendet hat, sondern von der Palästinensischen Behörde. Die neuen bewaffneten Gruppen, gegen die sich die israelische Militäraktion gerichtet hat, kämpfen gegen die israelische Armee und die Siedler – aber gleichzeitig sind sie eine Folge des Kontrollverlusts der Palästinenserführung.

Laut israelischer Armee waren alle zwölf getöteten Palästinenser Kämpfer, rund 300 «Terrorverdächtige» wurden festgenommen. Nominell sind die neuen bewaffneten Palästinenser von den «alten» bekannten radikalen Gruppen unabhängig, es wird jedoch immer wieder vermutet, dass etwa über den Islamischen Jihad iranische Unterstützung zu ihnen gelangt.

In Jenin ist eine solche Gruppe 2021 zum ersten Mal aufgetaucht, bezeichnenderweise nach der Absage der palästinensischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen: eine verpasste Chance, der palästinensischen Führung und Verwaltung wieder Legitimität zu verschaffen. Drei Viertel der Palästinenser und Palästinenserinnen sprechen sich bei Umfragen für einen Rücktritt von Präsident Mahmud Abbas aus. Er ist 87 und wurde 2005 auf vier Jahre ins Amt gewählt. Seinem eigenen Ansehensverlust sieht er in geistiger Versteinerung zu.

«Löwengrube» in Nablus

Neue bewaffnete Gruppen gibt es heute nicht nur in Jenin, sondern auch in anderen Städten, in Nablus – eine namens «Löwengrube» – oder etwa auch in Tulkarem und Jericho. Mit der Ankunft der Rechtsradikalen in der israelischen Regierung ergibt sich eine Art Teufelskreis. Siedlergewalt wird ermutigt, das Versagen der Palästinenserbehörde, für Sicherheit zu sorgen, wird immer offenkundiger, mehr junge Palästinenser radikalisieren und bewaffnen sich, und die israelische Armee verstärkt wiederum ihre Razzien – und zerstört den letzten Rest der Glaubwürdigkeit der Führung. Und so fort.

Die Palästinenserbehörde wurde 1994 im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses geschaffen, sie war als Übergangsverwaltung auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat gedacht. Der ist nicht in Sicht, und aus der aufgeblähten, durch Korruption und Nepotismus gekennzeichneten Behörde ist ein Dauerzustand geworden. Und nun gibt es eine israelische Regierung, zu deren Programm die «Anwendung von Souveränität» im Westjordanland gehört, was auf Annexion hinausläuft.

Schwere Finanzkrise

Die finanzielle Krise der Palästinenserbehörde wird durch israelische Schikanen und durch eigene Misswirtschaft dauerverschärft, dazu kamen zuletzt Covid und der internationale Anstieg von Energie- und Lebensmittelpreisen. Auf dem sogenannten C-Gebiet, das völlig unter israelischer Kontrolle steht und das laut Uno und EU die wirtschaftliche Entwicklung eines Palästinenserstaats ermöglichen sollte, dehnt sich Israel aus.

Die Behörde konnte ihre ureigenste Aufgabe nicht erfüllen, den Übergang von Besatzung zu einem freien Staat zu managen, aber sie scheitert auch dabei, die Bevölkerung mit Dienstleistungen zu versorgen. Dazu kommt ihre Unfähigkeit, die innerpalästinensische Spaltung mit der Hamas – die 2006 die Wahlen gewann und in der Folge den Gazastreifen unter ihre Herrschaft brachte – zu beenden.

Bei Umfragen stellt sich heraus, dass immer mehr Palästinenser und Palästinenserinnen der Meinung sind, ihr Leben würde sich nicht verschlechtern, sollte die Behörde zusammenbrechen. Genau das wird für den Fall befürchtet, dass es nach dem Tod von Mahmud Abbas Streit um die Nachfolge gibt.

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Abbas hat alle politischen Prozesse zur Klärung der Frage unterminiert, wer die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), die Fatah-Partei und die Präsidentschaft übernehmen sollte. Seit dem Machtkampf mit dem früheren Sicherheitschef von Gaza, Mohammed Dahlan, ersetzt Paranoia die Zukunftsplanung. Dass der israelischen Rechten, die einen Palästinenserstaat immer abgelehnt hat, diese politische Lähmung nicht unrecht kommt, liegt auf der Hand.

Alleinherrscher

Abbas übernahm nach dem Tod Yassir Arafats im November 2004 dessen Ämter, 2005 wurde er zum Präsidenten gewählt. Seine Herrschaft hat sich in den vergangenen Jahren zur Diktatur entwickelt. Die Gewaltenteilung ist de facto abgeschafft: 2016 wurde ein Verfassungsgerichtshof eingeführt, der Abbas‛ Entscheidungen scheinlegalisiert und 2018 das Parlament auflöste. Es gibt keine Medienfreiheit, Kritiker werden verfolgt, die Menschen leiden unter Repression und Menschenrechtsverletzungen.

Mehrere Personen werden als mögliche Nachfolger Abbas‛ genannt, wobei sich die Frage stellt, ob sie einen Konsens innerhalb von PLO und Fatah und danach eine Legitimation durch den Wählerwillen erreichen können: Da sind etwa PLO-Generalsekretär Hussein al-Sheikh oder Majed Faraj, der mächtige Geheimdienstchef, sowie einige andere. Alles Kaffeesatzleserei. Die Artikel über die «drohende palästinensische Nachfolgekrise» häufen sich, während die palästinensische Bevölkerung nie aus der Krise herausgekommen ist.

Dieser Artikel ist am 6. Juli im «Standard» erschienen.

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Oben      —   Jenin, West Bank, Palestine

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Sonne, Sommer,  –  Menschens Werk und Gottes Sohn vereinen sich aufs heißeste. Zuckerberg als kalifornischer Gegenpapst. –  Polizeigewalt und Recht vor Gnade.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: US-Streubomben für die Ukraine.

Und was wird besser in dieser?

Es hat gedauert, aber – endlich mal eine Waffe, die die Grünen nicht gut finden.

Der Bundestag konnte sich beim Thema Sterbehilfe nicht einigen. Wo stehen Sie in der Debatte?

Wer den Freitod wählt, „springt aus dem brennenden Haus“. Niemand weiß, wohin. Die gegenwärtige Qual wird als unerträglicher empfunden als alles, auch das Ungewisse. Das schürt die Sorge, dass Menschen „springen“, bevor wirklich final ausgelotet ist. Also ist kluge Beratung nötig, ein neu­tra­ler Blick auf die Lage. Wer an der Selbsttötung verdient, scheidet als Berater aus. Hier hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil pro „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ Recht vor Gnade ergehen lassen. Gibt es dann tatsächlich keinen Ausweg mehr, kommen Pflegende und ÄrztInnen in Not, weil ihnen das Strafrecht droht. Also: zwingende Beratungen, raus aus dem Strafrecht, kein Kommerz und das letzte Medikament in die Hände derer, die schon heute insgeheim viel auf ihr Gewissen nehmen.

Deutsche Haushalte mit einem Einkommen von 150.000 Euro sollen kein Elterngeld mehr bekommen. Halten Sie die Befürchtung für berechtigt, dass dies fatal für die Emanzipation in der Erziehung wäre?

Wenn es wirklich um Sozialpolitik und Kinderarmut ginge, würden wir diskutieren, warum Empfänger von Bürgergeld, formerly known as Hartz, weder Kinder- noch Elterngeld bekommen. Warum Alleinerziehende nach 14 Monaten kein Elterngeld mehr bekommen. Bei Spitzenverdienern dagegen – Paaren, die zusammen über 12.000 Euro im Monat kassieren – darf man schon fragen, ob ­monatlich 1.800 Euro Elterngeld bei denen große Lenkungswirkung entfalten. Männer, die so viel Kohle haben und sie nicht dazu nutzen, Zeit mit ihrem Kind zu verbringen, gehören bestraft. Was jetzt mustergültig erfüllt ist.

Für den französischen Polizisten, der den 17-jährigen ­Nahel M. erschossen hat, sind über eineinhalb Millionen Euro gesammelt worden. Die Spendenaktion für Nahels Familie hat weniger als 500.000 Euro eingebracht. Regiert Geld halt die Welt, oder steckt da Beunruhigenderes drin?

Was machen die mit der Kohle, wenn der Polizist straffrei davonkommt? Anzahlung auf den nächsten Schuss? In Frankreich sind Spendensammlungen für Straftäter verboten. Deshalb gelten beide Sammlungen formal den Familien von Täter und Opfer. Vor vier Jahren verprügelte ein Ex-Boxprofi als Gelbweste Polizisten, eine Spendensammlung für Anwaltskosten wurde unterbunden. Damals echauffierten sich ­Regierungsmitglieder: „Scheinbar zahlt es sich aus, Polizisten zu schlagen.“ Diesmal schimpfen Linkspolitiker: „Tötet einen Araber, und ihr werdet Millionär.“

Bis zur Frauen-WM sind Fußballfans auf Entzug gesetzt. Substituieren Sie eher mit Wimbledon oder mit der Tour de France?

Selber mal den Arsch bewegen. Im südmünsterländischen Selm – so weit bin ich mit dem Rad gekommen – gibt es einen schicken neuen ebenerdigen Flächenbrunnen. Rund 30 Düsen schießen aus dem Erdboden unberechenbar Wasser: ein Slalom der Freude.

Der vergangene Montag war der heißeste Tag seit Beginn der Aufzeichnungen. Greift der liebe Gott jetzt zur Brechstange?

Gott ist in der Tat verdächtig, weil sich des Menschen Werk und Gottes Sohn – El Niño, „der Knabe“ – aufs Heißeste vereinen. Es ist also das, was früher mal ein sehr heißer Sommer war, plus das, was heute ein sehr heißer Sommer ist.

Die Anzahl lesbarer Tweets wird eingeschränkt, Meta startet die Konkurrenz-App ­Threads – war’s das mit Twitter?

Quelle          :          TAZ-online           >>>>>      weiterlesen

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Oben     —   Bearbeitung durch User: Denis_Apel –

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Das ewige Bündnis

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Die ewige Nato und der russische Angriffskrieg

NATO Parliamentary Assembly London 2014.jpg

Eine immerwährende Angriffsmaschinerie der westlichen Welt

Nachdenkliches von Stefan Reinecke

Die russische Aggression macht die Nato wichtiger denn je. Und dennoch darf die Kritik am größten Militärbündnis aller Zeiten nicht vergessen werden.

Vilnius liegt 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Im Westen sind es keine 200 Kilometer bis zur russischen Enklave Kaliningrad. Die litauische Hauptstadt ist einer der Orte, an denen ad hoc einleuchtet, warum in Osteuropa viele die Nato für eine unverzichtbare Lebens­versicherung halten. Seit Putins Angriffskrieg gegen die ­Ukraine wirkt die gigantische US-Militärmaschine mit ihrer atomaren Overkillkapazität für jene, die in der Nähe russischer Grenzen leben, beruhigend.

Dass der Nato-Gipfel in der nächsten Woche in Vilnius stattfindet, ist ein Zeichen. Putin spekuliert darauf, dass die dekadenten Stimmungs­demokratien im Westen irgendwann die Lust verlieren, Kiew in einem Krieg zu unterstützen, der viel Geld kostet, in dem viel gestorben wird und bei dem kein Ende in Sicht ist. Die Nato wird in Litauen grimmig entschlossen demonstrieren, dass Putin falschliegt. Russland bleibt, auch wenn die wüsten atomaren Vernichtungsdrohungen aus Moskau abgenommen haben, eine Bedrohung über die Ukraine hinaus.

Auch wer kritisch auf die USA schaut, fürchtet derzeit weniger eine entfesselte aggressive US-Außenpolitik als einen isola­tio­nistisch gesinnten, rechten US-Präsidenten, der den atomaren Schutzschirm über Europa einklappen könnte. Die Daseinsbegründungen der Nato nach 1991 waren flüchtig, brüchig und vage. Mal war sie, wie in Bosnien und im Kosovo, ein Instrument, um Bürgerkriege mit zwiespältigem Erfolg zu befrieden. Mal war sie für die Europäer ein Medium des durchweg gescheiterten Versuchs, die brachiale Gewalt und Hybris der US-Politik nach 9/11 einzuhegen.

Alles vergangen und vergessen. Das Bündnis hat wieder einen Gegner und eine moralisch wie strategisch einleuchtende Aufgabe. Die kann man in Abwandlung einer berühmten Bemerkung von Lord Ismay aus den 1950er Jahren so skizzieren: „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen halten – und Osteuropa schützen“. Das ist seit dem 24. Februar 2022 so selbstverständlich, dass es kaum ausgesprochen werden muss. Die westliche Allianz verteidigt, glaubt man der Bundesregierung, „Frieden, Demokratie, Freiheit und die Herrschaft des Rechts“. Universalismus gegen Repression. Liberale Werte versus Autokratie. Gut gegen Böse. Ist das Bild so klar? Nur schwarz-weiß und ohne Grautöne? Oder hat der Blick von Vilnius aus auf die Welt Verkrümmungen und blinde Flecken?

Der Westen sollte vorsichtig mit Belehrungen sein

Ehe man die Nato allzu freudig als antiimperialistisches Bollwerk feiert, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die westlichen Truppen vor noch nicht mal zwei Jahren aus Afghanistan flohen und ein geschundenes, kriegsverwüstetes Land hinterließen. Das war nach 20 Jahren Erfahrung mit Isaf-Truppen, viel Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik noch gewalttätiger, grausamer, elender als zu Beginn der Intervention 2001.

Der Westen neigt dazu, die blutigen Verwüstungen, die er im Irak, in Afghanistan und Libyen angerichtet hat, leichthändig zu verdrängen. In den westlichen Regierungszentralen gibt man das Scheitern der Interventionen von 2001 bis 2021 zwar zu – aber nur nuschelnd und halbherzig. Die Rolle der Nato als globaler Ordnungsmacht wurde stillschweigend ins Regal geräumt – aber kaum selbstkritisch verarbeitet. Das bedeutet für die Zukunft: Falls es opportun erscheinen sollte, kann man mit völkerrechtlich windigen Begründungen und militärischer Gewalt wieder auf ­Regime-Change setzen.

Viele Staaten im Globalen Süden scheuen sich, im Ukrainekrieg Täter und Opfer klar zu benennen. Manche wollen den Import russischen Öls und russischer Waffen nicht gefährden. Andere halten eine dritte Position in dem aufziehenden Konflikt zwischen dem Westen und China/­Russland für günstiger als die Parteinahme für Kiew.

Das muss man kritisieren. Allerdings sollte der Westen Belehrungen in Richtung des Globalen Südens lieber vorsichtig dosieren. Der Westen, der für sich überlegene Moral reklamiert, weckt nicht nur Assoziationen an die koloniale Ära. Auch die Bomben auf Libyen, den Irak und Afghanistan fielen im Namen von Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten. Im Globalen Süden sind die Erinnerungen daran nicht so schnell ausgebleicht wie in London und Washington. Die Selbstinszenierung der Nato als Garantin von Freiheit und Frieden stößt von Brasilien bis Südafrika daher auf eine gewisse Skepsis.

Darüber aus der Höhe ethischer Überlegenheit den Kopf zu schütteln verdoppelt ein unbegriffenes Pro­blem. Die Erklärungen der Nato in Vilnius werden kristallklar und entschlossen klingen: dauerhafte Unterstützung für Kiew, Verteidigung von jedem Zentimeter der östlichen Staaten. Welche Rolle die Nato in der zerklüfteten, unübersichtlichen globalen Staatenwelt des 21. Jahrhundert spielen wird, ist weniger eindeutig. Ob die europäischen Nato-Staaten den Sidekick im Kampf der USA mit China um die globale Vorherrschaft geben werden, ist offen. Es ist auch möglich, dass sich eher Macrons Kurs einer von den USA weitgehend unabhängigen, auf eigene Interessen fokussierten, weicheren europäischen Chinapolitik durchsetzt.

Ernüchterndes Erbe der Friedensbewegung

Der Westen ist gut beraten, globale Konkurrenzen nicht reflexhaft in das Raster „Demokratie versus Diktatur“ zu pressen und moralisch aufzuladen. 71 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Autokratien. Kompromisse lassen sich leichter finden, wenn man Interessen abgleicht – und sich nicht als edler Ritter in Szene setzt.

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Welche Rolle spielt Deutschland dabei? Die Bundesrepublik ist heute mehr als in den letzten 30 Jahren auf die USA und die Nato angewiesen. Die Debatten über europäische Souveränität und Sicherheit ohne Washington sind, was sie immer waren: akademisch.

Eher ernüchternd fällt die Inspektion des Erbes der bundesdeutschen Friedensbewegung der 80er Jahre aus. Die war immer vielfältig und heterogen. Ende der 90er Jahre spaltete sie sich in zwei fundamental entgegengesetzte Teile. Angesichts der Massaker in den Jugoslawienkriegen bildeten die Grünen eine moralisch begründete Pro-Nato-Haltung heraus, die den Antimilitarismus abstreifte wie ein altes Hemd.

2023 unterstützen nur WählerInnen der Grünen mehrheitlich deutsche Kriegsbeteiligungen, wenn diese sinnvoll seien. Unter Anhängern der Union ist es nur ein Drittel, unter denen der SPD ein Viertel. Die grüne Klientel ist auch entschieden für eine wertegeleitete Außenpolitik. In der heraufziehenden internationalen „Wolfswelt“ (Marc Saxer) ist der Westen nur ein Player unter anderen. Ob die grüne Mixtur aus Moral und Militär da ein angemessenes Werkzeug ist, kann man bezweifeln. Es ist klug, Pragmatismus größer als Prinzipien zu schrei­ben.

Auf der anderen Seite existiert eine kleine, teils mit der Linkspartei verbundene Fraktion, die eisern an der linken US-Kritik der 70er und 80er Jahre festhält. Dieser Steinzeit-Antiimperialismus folgt dem Motto, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei, und hat Sympathien mit Regimen von Venezuela bis Moskau. Diese Gruppe würde Kiew ohne Wimpernzucken russischen Panzern überlassen. Seit dem 24. Februar 2022 ist diese Oldschool-Anti-Nato-Ideologie endgültig moralisch und politisch bankrott. Es ist kein Wunder, dass die Wagenknecht-Schwarzer-Demo ein One-Hit-Wonder war.

Die Interessensvertretung reicher Staaten

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>          weiterlesen 

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Grafikquellen     :

Oben           —     NATO Parliamentary Assembly Pre-Summit Conference in London, 2 September 2014.

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Unten          —       Antikriegsdemonstranten zur zweiten Amtseinführung von George W. Bush am 20. Januar 2005

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Die Degitalisierung:

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Das Hype-Gap

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Manchmal hat es auch einen Vorteil, dass die Verwaltung und das Gesundheitswesen in Deutschland so langsam sind, meint unsere Kolumnistin. Etwa, weil sie dann auch mal die Hypes verschlafen, auf die sonst jeder Dödel schon aufgesprungen ist. Ist das ausnahmsweise mal nicht der Fall, sind die Folgen nämlich verheerend.

Wir sollten mal über Hypes sprechen. Oder die Lücken, englisch Gap, die Hypes in ihrer Wirkung und Wahrnehmung in der digitalen Verwaltung oder dem Gesundheitswesen reißen können. Eigentlich generell bei allem, was einen Funken von Bedeutung im Sinne einer Infrastruktur haben kann.

Ganz im Sinne des Themas dieser Kolumne, der Degitalisierung, geht es dabei nicht um eine befürchtete Hypevergiftung, bei der dann am Ende doch wieder alles gut wird. Nein, hier wird erst mal nichts von alleine gut. Und besser wird es erst durch die Zuwendung auf die Probleme, die mit Hype-Technologien allzu gern überdeckt werden sollen. Aber der Reihe nach.

Der Hype-Zyklus

Bei der Betrachtung von Hypes ist es hilfreich, den sogenannten Hype Zyklus zu verstehen. Er wurde von Jackie Fenn geprägt, einer Analystin bei der Marktforschungsfirma Gartner, und beschreibt den Zusammenhang von zeitlicher Entwicklung und der Aufmerksamkeit für eine neue Technologie. Üblicherweise folgt die Aufmerksamkeit für neue Technologien dabei einer bestimmten Kurve: Nach einem extrem schnellen Anstieg der Aufmerksamkeit zu einem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ durchlaufen Technologien das „Tal der Enttäuschungen“ und kommen über einem „Pfad der Erleuchtung“ zu einem „Plateau der Produktivität“.

Anders gesagt: Auf eine Überschätzung von Technologien folgt nach etwas Frustration eine realistische Wahrnehmung und Einschätzung einer neuen Technologie. Damit in Beziehung steht auch der entsprechend sinnhafte Einsatz eben dieser neuen Technologie. Anfangs wird eine neue Technologie als Lösung aller Probleme gesehen. Nach Enttäuschungen bleibt am Ende zumeist nur ein Bruchteil an sinnvollen Anwendungen dieser neuen Technologie übrig.

Für Gesundheitswesen und Verwaltung gilt dieser Hype-Zyklus auch, nur sehen wir in diesen beiden Feldern meist eine stärkere zeitliche Verzögerung. Das passiert sowohl in der Wahrnehmung neuer Hype-Technologien als auch in der Anwendung. Ein Phänomen, das ich als Hype-Gap bezeichnen möchte und das mehrfach negativ wirkt.

Blockchain-KI-Hypermega-Tech

Um das Wirken von Hype-Gaps in Verwaltung und Gesundheitswesen genauer zu erklären, müssen wir uns leider zwei Technologien zuwenden, die wir entweder (hoffentlich) bereits verdrängt oder (hoffentlich) bereits richtig eingeschätzt haben in ihrer Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit. Ich spreche von Blockchains und sogenannter Künstlicher Intelligenz.

Es gibt in der öffentlichen Verwaltung nicht besonders viele Blockchain-Projekte. Eine Ausnahme: die Blockchain des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF. Die „Föderale Blockchain Infrastruktur Asyl“ (FLORA) ist eigentlich als „Blockchain-Lösung für die behördenübergreifende Zusammenarbeit im Asylprozess“ gedacht und verspricht eine „Verbesserung der Arbeitsabläufe“ und „eine Reduktion der Anfälligkeit für Prozessfehler“.

Das klingt jetzt erst mal toll. Lässt aber außer Acht, dass diese vermeintlichen Vorteile gar nicht durch den Einsatz von Blockchains allein entstehen oder nur wegen Blockchain allein möglich wären. Schlimmer noch: Durch die Unveränderlichkeit von verketteten Daten-Strukturen wie sie in Blockchains gehalten werden, ergeben sich durch den Einsatz eben jener Technologie Nachteile im praktischen Einsatz. Wie sieht es bei dieser für Geflüchtete relevanten Technologie aus mit einem Recht auf Vergessen? Recht auf Korrektur? In Blockchains ist beides nur mit Umwegen und davon losgelösten Techniken möglich.

Man könnte jetzt das verpönte Wort Datenschutz anbringen, würde dann aber eine Kaskade von Gegenrede à la „Datenschutz verhindert Innovationen“ auslösen. Und am Ende gäbe es zwei Seiten, die isoliert voneinander auf ihrem Standpunkt verharren. Daher zur Nichtsinnhaftigkeit von Blockchains für alles, was mit den Grundrechten von Menschen zu tun hat, nur kurz folgender Aspekt:

Auch bei den Daten von Geflüchteten geht es um die Daten von Menschen. Es mag verlockend klingen, für die Daten von Geflüchteten keine direkte Verantwortung übernehmen zu müssen. Weil die Daten in der Blockchain, also einer dezentralen Datenkette liegen, die rein physikalisch quasi überall und nirgendwo liegt. Am Ende geht es aber auch technologisch darum, Verantwortung für Menschen, deren Grundrechte und daraus abgeleitet Daten zu übernehmen. Eine Blockchain aber ist das genaue Gegenteil von digitaler Verantwortungsübernahme – Hype und damit verbundene vermeintliche Innovation hin oder her.

„Wir lösen das mit KI“

Auch im Kontext sogenannter Künstlicher Intelligenz können Hypes negativ wirken. Beispiel Gesundheitswesen. Hier mag der Eindruck entstehen, dass es durch den Einsatz von KI möglich wäre, analoge Arztbriefe oder Befunde „einfach mit KI“ zu digitalisieren. Dass eine elektronische Patientenakte mit PDFs von eingescannten Papieren und anderen nicht strukturierten Daten kein Problem mehr sei. Dass man einfach mit einer solchen Patientenakte starten könne, den Rest mache ja eine KI.

Nur ist hier abseits vom KI-Hype eines klar festzuhalten: Eine KI, die Texte von Ärzt*innen interpretiert und daraus Befunde mit einer gewissen Fehlerrate ableitet, ist die schlechtere Lösung im Vergleich zu einem klar definierten und von einem Menschen kodierten digitalen Befund. Vermeintliche Innovation und Hype hin oder her.

Der Hype-Gap-Zyklus

In diesen beiden Beispielen zeigt sich auch das Wirken des Hype-Gap. Digitales Gesundheitswesen und digitale Verwaltung in Deutschland möchten ihren technologischen Rückstand aufholen und jetzt am besten mit angesagten und gehypten Technologien auch noch innovativ sein. Dabei sind Verwaltung und Gesundheitswesen aber meistens spät dran im Erkennen von Technologietrends. Es ergibt sich analog zum Hype-Zyklus also meist Phase eins eines Hype-Gap-Zyklus: Verschlafen des Hypes.

Darauf folgt Phase zwei: eine verzerrte Einschätzung der Technologie, die ich als Gipfel der Verkennung bezeichnen möchte. „Die Technik wird das schon lösen.“ Sich bereits abzeichnende Probleme im Einsatz von Hypetechnologien werden oftmals nicht berücksichtigt. Es herrscht auch ein wenig die „Fear of missing out“, also Angst als einzige nicht bei etwas Coolem mit dabei zu sein. „Wenn wir jetzt nicht noch schnell auf den Hype-Zug mit aufspringen, verpassen wir was.“

Weil Projekte in Verwaltung und Gesundheitswesen meist langwierig sind und mehr Zeit in Anspruch nehmen, folgt das lange Tal der Umsetzung, gefolgt von einem Pfad von technischen Schulden. Einmal eingeführte Hype-Technologien in Verwaltung und Gesundheitswesen bleiben da leider oftmals länger als im Rest der digitalen Welt, weil die Laufzeiten von Verfahren länger sind und rechtliche Grundlagen diese Technologien darüber hinaus oft schützen.

Weil sich speziell die Verwaltung aber auch noch besonders schwer damit tut, Fehler nach außen zuzugeben, genießen falsch angewendete Hype-Technologien hier noch mal erhöhten Bestandsschutz. Auch wenn längst klar ist, dass diese Technologien anderswo die eigentlichen Probleme kaum lösen oder, noch schlimmer, mehr Probleme schaffen als sie lösen, lässt man sie nicht los. Sonst müsste man ja zugeben, dass die Idee schlecht war.

Löst eine Hype-Technologie dann das eigentliche Problem nicht und bringt darüber hinaus viele Nachteile mit sich, endet der Hype im Plateau des technischen Rückstands.

Selbstverstärkender Rückstand

Je mehr falsch eingesetzte Hype-Technologien auftreten, desto höher wird der technische Rückstand (und desto verlockender sind wiederum weitere Hype-Technologien). Und leider ist dieser sich selbst verstärkende technische Rückstand die eigentliche Konsequenz des Hype-Gaps. Weil Hype-Technologien auch noch zusätzlich Geld und Zeit binden, bleibt dann meist noch viel weniger Zeit für sinnvolle digitale Basistechnologien oder Infrastruktur.

Eigentlich könnte die etwas träge Art, wie Verwaltung und Gesundheitswesen mit technologischen Trends umgehen, dazu beitragen, Chancen und Risiken von Hypes richtig zu bewerten. Wenn andere Sektoren bereits die Probleme von Hype-Technologien in voller Breitseite abbekommen haben, wäre es töricht, diese Probleme noch einmal durchleben zu wollen. Hype hin oder her.

Vielleicht folgt so auf den Hype-Gap also nicht nur Negatives, sondern ausnahmsweise mal was Positives. Nicht immer muss das vermeintliche Verschlafen von Hypes etwas Schlechtes sein.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —        Ein alter Eisenriegel und ein verrostetes Vorhängeschloss auf wettergegerbten Türbrettern sichern die Türe einer verlassenen Fabrik in Dötlingen, Niedersachsen. Die Originalaufnahme entstand in Mai 1980 auf Kodachrome 25 Farb-Diafilm und wurde in Juni 2018 auf einer spiegellosen Kamera mit einem 42 Megapixel-Sensor digitalisiert.

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Die politischen Schleimer

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Wenn Milliarden locken, werden «westliche Werte» zur Makulatur

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Um Mohammed bin Salman versammeln sich viele westliche politusche Stinker.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von           :          Pascal Derungs / 

Saudi-Arabiens Herrscher Mohammed bin Salman entlarvt das Gesicht mancher westlicher Schönredner. Der Diktator ist salonfähig.

Der saudische Staatschef trotzt allen Drohungen, ihn zu isolieren. Kronprinz Mohammed bin Salman hat wiederholt den Reichtum und Einfluss Saudi-Arabiens genutzt, um die internationale Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen des Königreichs zu ignorieren. In seinem Artikel vom 10. Juni 2023 berichtet Ben Hubbard in der New York Times über die wundersame Verwandlung Bin Salmans vom «Paria» zum Partner.

Wie aus Moralisten Wendehälse wurden 

Bei seiner Kandidatur für das Weisse Haus hatte Joe Biden geschworen, den saudischen Kronprinzen wegen der Ermordung des Dissidenten Jamal Khashoggi zum «Paria» zu machen. Erst im vergangenen Herbst drohte er dem Prinzen erneut mit «Konsequenzen», sollte er sich den amerikanischen Wünschen in der Ölpolitik widersetzen. Der republikanische Senator Lindsey Graham nannte Prinz Mohammed eine «Abrissbirne», die «niemals eine Führungspersönlichkeit auf der Weltbühne sein» könne.

Jetzt klängen diese Worte hohl, schreibt Hubbard, Präsident Biden habe Prinz Mohammed bei seinem Besuch in Saudi-Arabien per Handschlag begrüsst und schicke regelmässig hohe Beamte zu ihm, einschliesslich seines Aussenministers Antony J. Blinken. Senator Graham habe neben dem Prinzen gegrinst während eines Treffens im April. «Daran sieht man, dass Geld eine grosse Rolle spielt, denn dieser Mann sitzt auf einer Ölquelle und hat so viel Geld, dass er sich im Grunde aus allem herauskaufen kann», zitiert Hubbard den entschiedenen Gegner der Monarchie Abdullah Alaoudh, den saudischen Direktor der «Freedom Initiative», einer in Washington ansässigen Menschenrechtsorganisation.

Der Kronprinz hat gelernt und das Machtspiel durchschaut 

Während seines achtjährigen Aufstiegs zur Macht, so die NYT, habe der 37-jährige Prinz Mohammed immer wieder den Erwartungen getrotzt, dass seine Herrschaft in Gefahr sei, und gleichzeitig den Reichtum des Königreichs, seinen Einfluss auf die Ölmärkte und seine Bedeutung in der arabischen und islamischen Welt genutzt, um wiederholten Drohungen, ihn mit internationaler Isolation zu bestrafen, zu entgehen.

Auf seinem Weg habe er nicht nur seine Vision für die Zukunft Saudi-Arabiens als selbstbewusste Regionalmacht mit einer wachsenden Wirtschaft und grösserem politischem Einfluss geschärft, sondern auch Lehren aus seinen Rückschlägen gezogen, um seine Methoden zur Erreichung seiner Ziele zu verfeinern, so Analysten und Beamte, die Hubbard befragte.

Zumindest im Moment scheine dem Kronprinzen alles gut zu gelingen, stellt Hubbard fest. Die starke Ölnachfrage der letzten Jahre hat die Kassen des Königreichs gefüllt. Es kaufte einen englischen Fussballverein, zahlte eine beachtliche Summe, um Cristiano Ronaldo in seine nationale Liga zu holen, und versucht, immer neue internationale Stars anzuwerben, um das saudische Image aufzuwerten.

Auch im Profi-Golfsport zeichne sich eine prestigeträchtige Partnerschaft ab zwischen der renommierten PGA und der neu gegründeten, von Saudi-Arabien unterstützten LIV Golf Liga, weiss Hubbard. Sollte dieser Golf-Deal zustande kommen, würde ein enger Vertrauter von Prinz Mohammed zu einer der mächtigsten Persönlichkeiten des Sports werden und Saudi-Arabien eine weitere wichtige Plattform bieten, um sein internationales Image zu verbessern.
[Red. Unterdessen ist der Deal zustandegekommen: Wie sich Saudi-Arabien ins Herz des Golfsports einkauft]

Aus dem «jungen Wilden» wurde ein besonnener Staatslenker

Das alles, so die NYT, seien bedeutende Fortschritte für einen jungen Prinzen, der weithin als gefährlicher Emporkömmling gegolten habe, als sein Vater 2015 König wurde. Noch im selben Jahr startete der Prinz eine Militärintervention im Jemen, die enorm viele zivile Opfer forderte und «in einem Sumpf versunken» sei. Später schockierte er die diplomatische Gemeinschaft mit der Entführung des libanesischen Premierministers und versetzte die Geschäftswelt in Schrecken, indem er Hunderte reicher Saudis im Rahmen einer angeblichen Korruptionsbekämpfungsaktion wochenlang in ein Luxushotel sperrte.

Sein internationales Ansehen ging 2018 stark zurück, nachdem ein saudisches Killerkommando den regimekritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat des Königreichs in Istanbul getötet und zerstückelt hatte. Prinz Mohammed bestritt, von dem Anschlag gewusst zu haben, aber die CIA kam zum Schluss, dass er die Operation wahrscheinlich angeordnet hatte.

Das sei vermutlich sein Tiefpunkt gewesen, schreibt Hubbard. Doch in den folgenden Jahren habe der Kronprinz dank des beträchtlichen Reichtums und der Macht seines Landes einen Grossteil seines Einflusses zurückgewonnen. Schon früh habe er interne Rivalen ausgeschaltet, um seine Kontrolle im eigenen Land zu festigen. Die von ihm angestossenen sozialen Veränderungen, wie die Erlaubnis für Frauen, Auto zu fahren, und die Ausweitung der Unterhaltungsmöglichkeiten in einem Land, in dem Kinos früher verboten waren, hätten ihm Fans unter der Jugend des Königreichs eingebracht.

Staatsoberhäupter von der Türkei bis zu den Vereinigten Staaten, die Prinz Mohammed einst verschmähten, hätten ihn in den letzten Jahren als die Zukunft Saudi-Arabiens akzeptiert, analysiert Hubbard. Der Kronprinz habe auch die Beziehungen des Königreichs zu China vertieft. So habe China Saudi-Arabien zu einem diplomatischen Durchbruch mit dem langjährigen regionalen Rivalen Iran verholfen.

Letztlich gewinnt der lange Atem des Autokraten

Bin Mohammed wisse genau, dass er als «König im Wartestand» in einer Monarchie mit viel Geduld spielen könne. Tatsächlich wird er sich nie zur Wiederwahl stellen müssen, und er hat es bereits mit dem dritten amerikanischen Präsidenten zu tun. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele weitere kommen und gehen werden, während er im Amt bleiben wird.

Seine «Genesung» von der Khashoggi-Affäre habe gezeigt, dass das Geld des Königreichs einen langen Weg zurücklegen könne und dass, egal wie sehr westliche Regierungen über Menschenrechte reden würden, andere Interessen schliesslich Vorrang hätten, bilanziert Hubbard.

Das Einfordern von Menschenrechten hielten die arabischen Golfstaaten «für einen Witz», zitiert Hubbard Dina Esfandiary, Senior-Beraterin für den Nahen Osten und Nordafrika bei der «International Crisis Group»: «Sie sind sich ihres Wertes für die westliche Welt bewusst, als Partner, als Energieproduzenten, als Länder mit wirtschaftlicher Macht. Also können sie mit dieser leeren Drohung leben, weil sie einfach zur Beziehung gehört.»

Ben Hubbard

Ben Hubbard ist der Leiter des Istanbuler Büros der New York Times. Er hat mehr als ein Dutzend Jahre in der arabischen Welt verbracht, darunter in Syrien, Irak, Libanon, Saudi-Arabien, Ägypten und Jemen. Er ist Autor des Buches «MBS: The Rise to Power of Mohammed bin Salman».

Big Business erringt Vorrang vor Moral und Ethik

Als der Dissident Khashoggi getötet wurde, verteidigte der damalige US-Präsident Trump den Kronprinzen nachdrücklich, indem er unter anderem herausstrich, dass die saudischen Waffenkäufe den Vereinigten Staaten zugutekämen. Auch der republikanische Senator Graham aus South Carolina, der damals sagte, Prinz Mohammed sei nicht geeignet, die Führung zu übernehmen, ist mittlerweile umgeschwenkt, indem er sich bei Bin Salman im April für den Kauf amerikanischer Flugzeuge bedankte: «Sie haben für 37 Milliarden Dollar Flugzeuge gekauft, die in meinem Staat und meinem Land hergestellt wurden», sagte der Senator dem saudi-arabischen Fernsehsender Al Arabiya. Und fügte an: «Als Senator der Vereinigten Staaten behalte ich mir das Recht vor, meine Meinung zu ändern.»

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Regierung Einzelheiten über die Ermordung Khashoggis an die Öffentlichkeit durchsickern liess, habe seine Einwände schliesslich fallen gelassen, schreibt Hubbard. «Letztes Jahr übertrug ein türkisches Gericht das Verfahren gegen Khashoggis Mörder an Saudi-Arabien und beendete damit den letzten Prozess, der die Verantwortlichkeit für das Verbrechen sicherstellen sollte». Und er ergänzt vielsagend: «Kurz darauf hat das Königreich der türkischen Zentralbank Einlagen in Höhe von 5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, um die türkischen Finanzen zu stützen.»

Die Einflusssphäre der USA schwindet zunehmend

Viele der Entscheidungen von Kronprinz Bin Salman in den letzten Jahren seien durch das wachsende Gefühl innerhalb des Königreichs beeinflusst worden, dass die USA ein unzuverlässiger Partner geworden seien, schreibt Hubbard in der NYT. Der Kronprinz habe es bereits mit drei US-Präsidenten beider Parteien zu tun gehabt, die alle das amerikanische Engagement im Nahen Osten zurückfahren wollten.

Die Risiken eines solchen Rückzugs für Saudi-Arabien seien 2019 deutlich zu Tage getreten, als Drohnen- und Raketenangriffe, deren Orchestrierung die USA dem Iran vorwarfen, saudische Öleinrichtungen trafen und fast die Hälfte der Produktion des Königreichs vorübergehend zum Erliegen brachten. Präsident Trump lehnte damals eine Intervention ab, woraufhin Prinz Mohammed und seine Amtskollegen in den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Schluss gekommen seien, dass die USA ihnen nicht mehr den Rücken freihielten und dass sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssten.

Seither sei es unwahrscheinlicher geworden, dass Saudi-Arabien automatisch auf amerikanische Forderungen eingehe, stellt Hubbard in der NYT fest. Bin Salman habe sich geweigert, die westlichen Sanktionen mitzutragen, mit denen der russische Präsident Putin nach der Ukraine-Invasion isoliert werden sollte. Stattdessen habe Saudi-Arabien die Importe von verbilligten russischen Ölprodukten sogar erhöht.

Abschlägig beschieden wurde auch die Forderung der Regierung Biden, die Ölproduktion hoch zu halten, um die Gaspreise in den Vereinigten Staaten vor den Zwischenwahlen im November zu senken. Im Gegenteil: Im Oktober einigte sich das Königreich mit den anderen Mitgliedern des Ölkartells OPEC Plusdarauf, die Produktion stattdessen zu drosseln, um die Preise hoch zu halten.

Doch die von Präsident Biden angedrohten «Konsequenzen» seien nie eingetreten. Das mache deutlich, dass selbst die USA ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Saudi-Arabien für zu wichtig hielten, um sie zu gefährden, analysiert Hubbard.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte

Die Wahrnehmung, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen, habe Prinz Mohammed dazu veranlasst, die diplomatischen Beziehungen Saudi-Arabiens auszuweiten, insbesondere zum grössten Rivalen der USA, zu China. China ist der wichtigste Handelspartner des Königreichs und der grösste Abnehmer saudischen Öls. Ben Hubbard schreibt, beim chinesisch-arabischen Gipfeltreffen in Riad im Dezember 2022 hätten die beiden Staatsoberhäupter darüber gesprochen, dass China als Vermittler fungieren könnte, um den Konflikt mit dem Iran zu entschärfen. Tatsächlich sei es bereits einige Monate später zu einem überraschenden diplomatischen Durchbruch gekommen, als Saudi-Arabien und Iran ankündigten, wieder normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Laut Hubbard ist dies ein doppelter Gewinn für Prinz Mohammed, der dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts mit seinem Hauptfeind in der Region verringert und gleichzeitig dem US-Rivalen China eine Vermittlerrolle zugespielt habe. Die USA seien aufgrund ihrer eigenen angespannten Beziehungen zu Teheran nicht in der Lage gewesen, eine iranisch-saudische Vereinbarung zu vermitteln.

Vom Saulus zum Paulus?

Mittlerweile würden selbst einige ehemalige Kritiker des Königreichs in Kronprinz Bin Salmans Bemühungen, die Region zu stabilisieren, positive Zeichen erkennen, schreibt Hubbard. Er zitiert Dennis Horak, einen ehemaligen kanadischen Botschafter, der 2018 wegen saudi-kritischen Twitter-Beiträgen von seinem Posten in Riad verwiesen wurde: «Riad baut wieder Brücken und versucht, die Hand auszustrecken und eine konstruktivere Kraft in der Region zu sein».

Die Frage sei nur, ob dies von Dauer sein könne, stellt Hubbard abschliessend fest.

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Grafikquellen        :

Oben      —   Arab leaders, U.S. president Joe Biden and Mohammed (fifth from right) at the GCC+3 summit in Jeddah, 16 July 2022

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Unten           —         Speaking with U.S. president Donald Trump in Washington, D.C., 14 March 2017

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Das Elterngeld, die Papaprämie für Gut-, Besser- und Bestverdiener

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Die Diskussion übers Elterngeld diese Woche war super. Kaum hatte Fami­lienministerin Lisa Paus – vom Finanzminister unter Kürzungsdruck gesetzt – vorgeschlagen, das Elterngeld für Sehrgut­verdiener abzuschaffen, hagelte es Stellungnahmen, Interviews, Kommentare, Zahlen, ­Daten. Es war ein Fest der allgemeinen Faktenfindung und Urteilsbildung.

Wenn schon gespart werden müsse, seien die obersten Einkommensprozente dafür nicht die schlechteste Adresse, meinten viele. Andere: Was für eine Idee, bei den Einkommen über 150.000 Euro zu kürzen! Genau dort werde doch der beabsichtigte Effekt gefährdet: Papa kümmert sich auch ums Kind! Und überhaupt: das Signal!

Mein Verhältnis zum Elterngeld ist leider dadurch belastet, dass ich seine Einführung ab 2005 relativ aufmerksam begleitet habe. Das war, bevor Twitter im Minutentakt neue Details zu Gesetzesvorschlägen ausspuckte und es Statistiken noch nicht so fix aus dem Netz zu fischen gab – im Vergleich zu heute waren Diskussionsprozesse geradezu bedächtig. Von Argument zu Gegenargument, das dauerte schon mal einen Monat oder zwei.

Ulrike-winkelmann-2013.jpg

Doch wartete ich damals vergeblich auf die empörten Familienpolitikerinnen, die endlich auf den ganz entscheidenden Haken an der Sache hinwiesen: Weil für das Elterngeld das Erziehungsgeld abgeschafft wurde, wurden die Leistungen für arme Familien einfach mal glatt halbiert. Sie bekamen bis dahin 300 Euro pro Monat für zwei Jahre, daraus wurde nun ein Jahr. Irgendwoher musste das Geld ja kommen, um die neue Lohnersatzleistung bis zu 1.800 Euro zu zahlen. Die Kurzfassung dieses Vorgangs lautet „Umverteilung von unten nach oben“.

Das Familienministerium unter Ursula von der Leyen rückte auch irgendwann die Zahlen dazu heraus, wer mit dem Elterngeld in die Röhre guckte: „155.000 Familien mit einem Einkommen unter 30.000 Euro netto erhalten weniger Elterngeld, als ihnen bisher für zwei Jahre Erziehungsgeld zustehen würde“, schrieb mir die Pressestelle im Mai 2006. Das war nicht die endgültige Größe. Unter anderem ging das mit den Hartz-IV-BezieherInnen auch noch alles durcheinander. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zeigte aber in den Folgejahren auf, wie die Armut unter alleinerziehenden Müttern zunahm, und verwies zur Erklärung trocken unter anderem aufs Elterngeld.

Quelle         :      TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —       Wilhelm Busch: Lehrer Lämpel (aus Max und Moritz)

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Krawalle in Frankreich

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der Zorn aus den Vorstädten

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Aus Paris von Christian Jakob

Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?

Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter schreien hört“, rappt Mari in dem Video.

Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte, kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste Opfer von Polizeigewalt in Frankreich: Nahel Merzouk, Sohn algerischer Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle in Nanterre erschossen.

Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem Mindestlohn einhalten.

Sie wusste, dass es ihr Kind war

Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen Netzwerken.

Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben. Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm. Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts mehr.“

Mornia Labssi, Einwohnerin von Nanterre

„Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.

Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.

Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi. „Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“

Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.

„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.

Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.

Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen

Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der Ban­lieue-Bewohner.

Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben schlechte Eltern und Delinquenten.“

In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das, allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“

Der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen sage „schon die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“ seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.

Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“ Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie gegen eine fremde Armee.“

Gefährliche Entwicklung

Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.

Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi überzeugt.

Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten. Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“

Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.

Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.

Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem

Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder Théo Luhaka von vier Polizisten der Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken angegriffen. Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.

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Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre – auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.

Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.

Sonst gab es nichts.

Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht werden.

Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.

Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem Haus vorbei. Wenn Sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“

Eine Drohung?

„Spott.“

Wie oft kommt das vor?

„Dauernd.“

Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.

Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen

Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land. Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“

Diskriminierung, sozialer Ausschluss, Polizeigewalt: Bürgermeister Bakthiari glaubt nicht an diese Erklärungen

Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle. Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen Labssi und Luhaka.

Quelle          :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —         Vorstadt Le Quartier de la Fauconnière in Gonesse im Norden von Paris

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DIE EINGEHEGTE STADT

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Unter dem Al-Sisi-Regime verschwindet in Kairo immer mehr öffentlicher Raum

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von Sophie Pommier

Früher traf man sich an der Corniche, um einfach mal frische Luft zu schnappen. Doch damit ist es vorbei, seit die Uferstraße am Nil vor vier Jahren umgestaltet wurde – ausgerechnet unter dem Slogan „Mamshaa Ahl Misr“ (Promenade für die Menschen Ägyptens).

Seitdem gibt es zwei Bereiche: Der eine ist der für alle zugängliche Bürgersteig neben der im Dauerstau vor sich hin stinkenden Autoschlange, vom Volksmund zahma (Marmelade) genannt. Der andere Bereich liegt direkt am Wasser: eine hölzerne Promenade mit Restaurants und Cafés, an der Privatjachten und Wassertaxis anlegen können.

Aber die Promenade ist nicht frei zugänglich. Der Zutritt kostet 20 ägyptische Pfund (60 Eurocent) pro Person – in einem Land, in dem der monatliche Mindestlohn im öffentlichen Dienst bei 3500 Pfund (106 Euro) und im Privatsektor bei 2700 Pfund (82 Euro) liegt. Alle 100 Meter steht ein Ticket­kiosk, und alle 20 Meter eine Überwachungskamera. Sobald man vom Bürgersteig auch nur an das Geländer herantritt, das die Welt der Reichen und Schönen vom gemeinen Volk trennt, wird man von einem Wachmann höflich, aber bestimmt auf Abstand verwiesen.

Vorbei sind die Abende, da man mit Freunden auf Plastikstühlen am Nil saß und den Feluken hinterhersah, die das Ufer mit ihren dröhnenden Musikboxen beschallten. Auch die hölzernen Partyboote sind fast ganz verschwunden, abgelöst durch einen gediegeneren – und exklusiveren – Bootsservice.

„Wegen der Neubauviertel, der Hochhäuser und jetzt auch noch der neuen Uferpromenade sieht man den Fluss überhaupt nicht mehr“, klagt Selim1 , der seine Stadt über alles liebt. Dabei sei der Nil ein Teil der ägyptischen Identität, abgesehen davon, dass er den ganzen Großraum Kairo strukturiere.

Mit dem Eintrittsgeld zur Promenade erwirbt man noch nicht das Recht, eines von den Happy Few frequentierten Restaurants zu betreten oder in einem Lokal ein Glas zu trinken. Auch an der Tür wird streng gesiebt. Selbst wer zur ägyptischen Mittelklasse gehört, wurde in bestimmten Lokalen schon abgewiesen. „Sie wollten mein Facebook-Konto sehen, um mein soziales Umfeld einzuschätzen“, ärgert sich Mona. Die junge Frau berichtet, dass sie um ein Haar nicht reingelassen worden wäre. Mona trägt einen eleganten Hi­dschab, damit wäre sie in einigen exklusiven Resorts an der Mittelmeerküste unerwünscht, in denen Bikinis und Alkoholkonsum die Norm und Kopftücher verboten sind.

Auch die von den Briten übernommene Klubtradition trägt dazu bei, dass die Segregation weiterlebt. In den zahlreichen Offiziersclubs der ägyptischen Armee gibt es seit Langem exklusive Zirkel wie den Klub der Grenzschützer, den Klub der Offiziere der Streitkräfte, den Klub der Sicherheitsoffiziere, den Klub der Polizeioffiziere.

Die hohen Zäune um die Armenviertel sind ebenfalls nichts Neues: Schon zu Mubaraks Zeiten sollte durch  Mauern um die informellen Siedlungen das Elend versteckt werden. Seitdem hat die so­zia­le Polarisierung noch zugenommen. Ägyptens Wirtschaft liegt am Boden, das Land braucht dringend Geld. Den Konsum stützen nur noch die Reichen, für die – nach dem Vorbild der Golfstaaten – immer mehr öffentliche Räume reserviert werden. So entstehen ständig neue Res­tau­rants und Boutiquen und Bankfilialen, für die der Staat, oft in Gestalt der Armee, Mietzahlungen und Gewerbesteuer kassiert.

Die neuen Bars und Restaurants setzen auf einen pseudokosmopolitischen Look. Vor dem London-Café stehen vier Wachen wie vor dem Buckingham-Palast, mit den bekannten roten Uniformen und den schwarzen Bärenfellmützen. Mit solchen Lokalitäten verliert Ägypten immer mehr von seinem einheimischen Kolorit, was langfristig sogar Einnahmen aus dem Tourismus kosten könnte. Doch bisher scheint sich das vom Golf übernommene Konsumkonzept noch zu rechnen.

Vor allem die Armee hat ein vitales Interesse an der neuen urbanen Entwicklung. Ihr gehören nicht nur die Baufirmen, die die Projekte umsetzen. Sie organisiert auch die Bewirtschaftung, was ihr satte Gewinne einbringt.2 In Kairo ist es ein offenes Geheimnis, dass das berühmte Restaurant Séquoia im Zamalek-Viertel an der Nordspitze der Gezira-Nilinsel geschlossen wurde, weil sich die Besitzer nicht mehr vom Militär erpressen lassen wollten. Die Lokalitäten, die an seiner Stelle aufmachten, führt die Armee.

Triumph des Autos über den Flaneur

Der Kairoer Zoo und der angrenzende Botanische Garten wurden dem Militär ebenfalls zur Sanierung überantwortet, inklusive des Nutzungsrechts mit einer Laufzeit von 25 Jahren. Die meisten ärmeren Familien, die hier am Wochenende auf den Wiesen picknicken, werden sich die Eintrittspreise nach der Wiedereröffnung bestimmt nicht mehr leisten können.

Dasselbe gilt für den mehr oder weniger erschwinglichen Teil des größten ägyptischen Freizeitparks: Der Gezira Sporting Club entstand 1882 auf dem Gelände eines Botanischen Gartens auf der Gezira-Insel. Vor allem an den Wochenenden wurden die Eintrittspreise drastisch angehoben.

Und selbst die archäologischen Stätten wurden teilweise privatisiert. Der koptische Medien- und Mobilfunk-Mogul Naguib Sawiris, einer der reichsten Männer Ägyptens, hat im Oktober 2020 ein Restaurant mit Blick auf die Pyramiden eröffnet.

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Da sind wir wieder in der Politik, wo fast alle den gleichen Gestank ausströmen

Auch die Bewohner des eleganten Stadtteils Heliopolis, benannt nach der nahegelegenen altägyptischen Stadt im Nordosten Kairos, sind verunsichert und fürchten um ihr Viertel. Die Gartenstadt wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auf Initiative des belgischen Eisenbahnunternehmers Édouard Empain auf 24 Quadratkilometern mitten in der Wüste angelegt, mit breiten Boulevards und modernster Infrastruktur.

Gegen den Bau einer Straße, die Heliopolis mit der zukünftigen ägyptischen Hauptstadt verbinden soll, die Präsident al-Sisi als Leuchtturmprojekt rund 50 Kilometer östlich von Kairo hochziehen lässt, haben hier viele protestiert. Zahlreiche alte Bäume wurden für die neue Trasse schon gefällt; an einigen Stellen wurde die Straße durch die Bauarbeiten völlig blockiert.3

„Meine Mutter ist schon ein bisschen älter, sie traut sich gar nicht mehr aus dem Haus“, erzählt Mahmud, ein Stadtentwicklungsexperte. „Die neue Schnellstraße verläuft direkt vor ihrer Haustür, und sie haben die Bürgersteige einfach entfernt.“ Die neuen Verkehrsachsen zementieren den Triumph des Autos über den Flaneur.4

Bei dieser urbanen „Entwicklung“ geht es aber auch um die sicherheitspolitische Kontrolle des öffentlichen Raums. Bereits nach dem Militärputsch im September 2013 hatte die Stadtverwaltung von Kairo angekündigt, die wichtigsten Plätze im Stadtzentrum umzugestalten. Damit sollte verhindert werden, dass die Versammlungsorte zu Stätten des Protests werden wie der Tahrir-Platz 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings.5

Die Reichen haben sich ohnehin längst in ihre privaten Gated Communities am Stadtrand zurückgezogen, wo man sich nur mit dem Auto fortbewegen kann. Und die Armen sollen möglichst in die noch weiter entfernten Vorstädte ziehen, damit man im Stadtzentrum die alten oder ungenehmigt errichteten Häuser abreißen kann.

In den neuen Vierteln, die sich endlos in eine wüstenähnliche Weite ausdehnen, stehen die Betonklötze reihenweise in der prallen Sonne. An der Hauptstraße gibt es ein paar Cafés, Supermärkte und Einkaufszentren – als Treffpunkt alles andere als attraktiv. Und so sitzen die meisten Leute in ihrer Freizeit zu Hause vor dem Fernseher mit seinem weitgehend staatlich kontrollierten Programm, oder sie chatten in den sozialen Netzwerken, in denen das Regime kaum weniger Einfluss hat.

Der gesamte Lebensstil hat sich verändert. In Ägypten hielten sich die Menschen früher, sobald es die Temperaturen zuließen, vorwiegend auf der Straße auf, vor allem während der Abende im Ramadan. In den neuen fernen Stadtvierteln sind die Mo­scheen mittlerweile fast der einzige Ort, an dem man sich noch versammeln kann. Aber auch sie unterliegen einer strengen Kontrolle, was man daran merkt, dass alle Predigten gleich klingen.

Ein Volkspark für die besseren Kreise

Quelle         :  LE  MONDE diplomatique          >>>>>         weiterlesen

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Oben        —         President Sisi speaking at the UK-Africa Investment Summit in London, 2020

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der politische Nutzen eines toten Teenagers

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Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Als Teenager reisten wir nach Frankreich, England und Deutschland, um zu arbeiten und um Sprachen zu lernen. Zu dieser Zeit fuhren die Bürger Mittel- und Osteuropas, die nur wenig Geld zur Verfügung hatten, meist mit dem Bus. Eine solche Reise dauerte viele Stunden inklusive eines langen, erzwungenen Halts an der polnisch-deutschen Grenze.

Zu dieser Zeit war Polen weder Mitglied der EU noch des Schengenraums, sodass man geduldig die Passkontrolle ertragen musste. Uns frustrierte es, dass wir nicht Teil dieses Europas waren. Zugleich waren wir überzeugt, dass es sich lohnt, an dieser Grenze zu warten.

Heute hingegen versuchen populistische Parteien zu beweisen, dass der Westen bestenfalls verachtenswert sei. Dass er die Freiheit, die er genießt, missverstehe. Mehr noch: Sogar die Gegner des Populismus übernehmen diese Rhetorik, um die Aufmerksamkeit der Wähler zu gewinnen. Die Frage ist, wie sich das auf die Gesellschaft auswirken wird.

Ein gutes Beispiel ist die Antimigrations­rhetorik. Nachdem in Frankreich ein Teenager von der Polizei erschossen wurde und daraufhin schwere Unruhen ausbrachen, reagierten die osteuropäischen Länder ziemlich seltsam. Die Unruhen in den französischen Vorstädten haben in die polnische Politik eingegriffen. Der demokratische Oppositionsführer ­Donald Tusk erklärte in den sozialen Medien: „Wir sehen schockierende Szenen von den gewalttätigen Unruhen in Frankreich.“ Und fügte hinzu, dass die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen eine Politik der Masseneinwanderung betreibe, in deren Rahmen Bürger aus muslimischen Ländern im vergangenen Jahr 135.000 Arbeitserlaubnisse erhalten hätten.

Unterdessen äußerten Vertreter der Regierungspartei unverhohlen Freude über die Krise, die die Menschen in Frankreich gerade durchleben. Es sei ein „unbestreitbares Fiasko der Migrationspolitik“, argumentierte Jan Dziedziczak, der Bevollmächtigte der polnischen Regierung im Ausland. „Frankreich steht in Flammen und leidet unter den Folgen einer fehlgeleiteten Politik der offenen Tür“, schrieb Regierungssprecher Rafał Bochenek. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass zumindest einige dieser Äußerungen eine besondere Art von Schadenfreude widerspiegeln. Hier ist endlich der Westen im Unrecht. Dieser große Westen, den wir einst anstrebten, macht endlich auch mal Fehler und muss nun die Konsequenzen tragen.

Es geht hier jedoch um etwas Tieferes. Niemand bezweifelt, dass Europa, sowohl im Osten wie auch im Westen, heute mit strukturellen Problemen konfrontiert ist, die den Wohnungsmarkt, den Arbeitsmarkt und verschiedene Formen der Ungleichheit betreffen; und dass allgemein die Befürchtung herrscht, dass wir nicht einer besseren, sondern einer schlechteren Zukunft entgegengehen.

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Die Hölle auf Erden

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Es gibt gute Gründe, Afghanistan zu helfen. 

Ein Debattenbeitrag von Theresa Breuer

Aber den Preis zahlen die Frauen und Mädchen. Für sie gibt es unter den Taliban keine Freiheit. Am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab und schlossen Mädchenschulen.

Kaum ein Land auf dieser Welt behandelt Frauen so schlecht wie das Taliban-Regime. In weniger als zwei Jahren haben die selbsternannten Gotteskrieger die Hölle auf Erden geschaffen. Nichts anderes hatten sie angekündigt. Die Taliban leben ihre menschenverachtende Geisteshaltung. Ihren Worten lassen sie Taten folgen – im Gegensatz zu unserer Bundesregierung.

Am Flughafen von Kabul spielten sich apokalyptische Szenen ab, als die Taliban im August 2021 in Kabul einmarschierten. Zehntausende Menschen versuchten zu fliehen, klammerten sich in ihrer Verzweiflung an Flugzeuge und stürzten in den Tod. Die Welt war entsetzt. Trotzdem mahnten konservative Politiker in Deutschland, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 kündigte Außenministerin Annalena Baerbock an: „Viele Menschen leben in täglicher Angst. Das gilt besonders für diejenigen, die mit uns für eine bessere Zukunft Afghanistans gearbeitet, daran geglaubt und sie gelebt haben. Am schwersten ist die Lage für die besonders gefährdeten Mädchen und Frauen. Gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung, und wir werden sie nicht im Stich lassen.“ Die Ampelregierung beschloss ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghaninnen und Afghanen. Es sollte gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgearbeitet werden. Die Zusammenarbeit war ein einziges Debakel.

Monatelang ließ das Innenministerium auf sich warten, bis Gefährdungskriterien für das Programm veröffentlicht wurden. Das Geschlecht allein hätte gereicht. Die Zeit raste. Schon am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab, schlossen Mädchenschulen und schlugen die anschließenden Proteste nieder.

Trotzdem hatten die Vereinten Nationen gehofft, die Taliban zur Einsicht bringen zu können. Ohne Erfolg. Im Mai verkündeten die Taliban die Burka-Pflicht. Frauen sollten ab sofort nur noch im Ganzkörperschleier das Haus verlassen dürfen. Das Gewand schränkt Sicht und Bewegungsfreiheit ein, es gleicht einem Gefängnis aus Stoff. Auf die Ankündigung folgte ein internationaler Aufschrei. Der Erlass war provokativ und völlig überflüssig. Die Burka ist keine Erfindung der Taliban. In vielen Teilen des Landes gehen Frauen ohne Burka nicht aus dem Haus – sofern es ihnen überhaupt erlaubt ist, das Haus zu verlassen. Warum ein Gesetz erlassen, das ungeschrieben seit Generationen gilt?

Ganz einfach, weil sie es können. Die selbsternannten Gotteskrieger haben eine Weltmacht gedemügt und bloßgestellt. Von den hehren Motiven, mit denen die USA und ihre Verbündeten den Krieg rechtfertigten, ist nicht viel übrig geblieben. Der überhastete Abzug ist zum Sinnbild westlicher Scheinheiligkeit geworden. Nun herrscht ein Terrorregime, mit dem der Westen nicht verhandeln will, es aber auch nicht ignorieren kann. Zu viel Elend würde die Aufmerksamkeit wieder auf Afghanistan lenken, Fragen von Schuld und Verantwortung aufwerfen. Niemand hat ein Interesse daran, Bilder von hungernden Kindern zu produzieren. Das ist verständlich, aber verschlimmert das Problem. Wir helfen dem Taliban-Regime zu überleben und opfern dafür die Frauen.

Das System der Taliban ist perfide. Indem der Erlass nicht Frauen selbst, sondern ihre männlichen Angehörigen bei Verstößen bestraft, macht es alle Männer in Afghanistan zu Komplizen der Taliban. Sie sind für das Verhalten ihrer Frauen verantwortlich, müssen dafür sorgen, dass die weiblichen Angehörigen die Regeln der Taliban befolgen. Der Erlass beraubt Frauen jeglicher Autonomie, gibt ihnen keine Chance mehr, sich gegen­ die Vorschriften aufzulehnen oder bei Widerstand ins Gefängnis zu gehen. Das Gesetz entmenschlicht Frauen, degradiert sie zu Eigentum ihrer männlichen Verwandten. Es schränkt nicht nur die Freiheit von Frauen ein, es gibt vor allem Männern in der Gesellschaft uneingeschränkte Macht.

Kaum eine Frau in Afghanistan wird sich einer Regel widersetzen, wenn am Ende nicht sie selbst, sondern ihr männlicher Vormund dafür bestraft wird. Wenn es doch eine Frau wagen sollte, wird sie wahrscheinlich keine Märtyrerin für Frauenrechte, sondern nur ein weiteres Opfer von häuslicher Gewalt. Afghanistan galt auch vor der Herrschaft der Taliban als eines der schlimmsten Länder für Frauen weltweit. Frauen werden von männlichen Angehörigen geschlagen, verstümmelt, mit Säure überschüttet und in Brand gesetzt. Als ein guter Ehemann gilt allein ein Mann, der seine Frau nicht grundlos schlägt.

Die Taliban machen es einem leicht, Afghanistan zu vergessen. Sie begehen keine Massaker und ziehen auch nicht plündernd oder vergewaltigend durch das Land. Sie schränken Rechte ein. Die internationale Staatengemeinschaft fordert, das zu unterlassen. Die Taliban unterlassen es, dieser Forderung nachzukommen.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben      —      Afghanistan collage, from left to right: 1. Bamyan province, 2. The Salang Pass between Parwan and Baghlan provinces, 3. Band-e Amir National Park in Bamyan province, 4. River in Nuristan province.

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Grün als Bedrohung :

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Warum die Klimapolitik die Arbeiter verliert

Von Klaus Dörre

In der April-Ausgabe analysierte der Soziologe Sighard Neckel, wie der Reichtum einer globalen Verschmutzerelite das Klima ruiniert. An die Gerechtigkeitsfrage anknüpfend beleuchtet sein Kollege Klaus Dörre, inwieweit der persönliche Klimafußabdruck von der jeweiligen Klassen- position abhängt und welche Resonanz die deutsche Klimapolitik in der Arbeiterschaft hervorruft.

Auf die Frage, wie er die Klimabewegung einschätze, antwortet ein Arbeiter und angehender Vertrauensmann der IG Metall: „Als gefährlich!“ Gefährlich, weil sie die dem Befragten eigene Vorstellung eines guten Lebens bedrohen – und so in eine harte Ablehnung ökologischer Politik umschlagen könne, wie wir sie momentan auch zum Beispiel in der Debatte um die Wärmepumpen erleben. Daran zeigt sich: Ohne eine echte Auseinandersetzung über Klimagerechtigkeit – und wie diese herzustellen sei – wird die Klimakrise nicht zu bewältigen sein.

Als demokratischen Klassenkampf hatte einst Ralf Dahrendorf tariflich und arbeitsrechtlich geregelte Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bezeichnet. Den institutionalisierten Kampf um die Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Mehrprodukts von Arbeit gibt es noch immer. Doch mit Blick auf Klimawandel, Artensterben und Ressourcenknappheit hatte er, so schien es, seine gesellschaftsprägende Kraft mehr und mehr verloren. „Not ist hierarchisch, Smog demokratisch“, hieß es vor jetzt bald 40 Jahren in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, sprich: Unter der Klimakrise leiden alle gleichermaßen. Doch das war schon damals eine Fehlannahme.[1]

Gewiss, ökologische Großgefahren wie die des Klimawandels betreffen alle, aber eben nicht in gleicher Weise und sie machen auch nicht alle gleich. Im Gegenteil: In Gesellschaften, in denen der demokratische Klassenkampf öffentlich marginalisiert wird, kann sich, so meine These, der ökologische Gesellschaftskonflikt in einen Modus ideologischer Beherrschung verwandeln – und zwar gerade, wenn auch nicht nur, der ökonomisch Schwachen. In Klassenlagen, die von den Zwängen des Lohns und der Lohnarbeit geprägt werden, löst das massive Widerständigkeiten aus, die als gewaltiger Bremsklotz für Nachhaltigkeit wirken und letztlich populistischen, antiökologischen Bewegungen Auftrieb verleihen.

Nehmen wir dafür ein Beispiel aus unseren laufenden Erhebungen in der Auto- und Zulieferindustrie, nämlich den oben bereits erwähnten Arbeiter, der die Klimabewegung als gefährlich einschätzt. Er bezeichnet sich selbst als „Autonarr“, der große Freude dabei empfindet, seinen PKW auf „weit über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen“. Sein Hobby kann er sich leisten, weil er bei Opel arbeitet. Das heißt für einen Beschäftigten, der in Gotha lebt: um 3:20 Uhr aufstehen, damit pünktlich zur Frühschicht um 5:30 Uhr gearbeitet werden kann; Tätigkeit in 50-Sekunden-Takten; die Arbeitszeit unterbrochen von zwei Neun-Minuten-Pausen und einer 23-Minuten-Mittagspause; eine Stunde vor der Mittagspause „ist man platt“.[2]

Warum ist der Befragte bereit, diese monotone, körperlich enorm belastende Arbeit jeden Tag auszuführen? Er nennt dafür drei Gründe – 3800 Euro brutto, für Arbeiter in Thüringen ein Spitzenverdienst; Kolleginnen und Kollegen, die für ihn „wie eine Familie“ sind und schließlich der Schutz durch einen Tarifvertrag und einen starken Betriebsrat – also aufgrund von Sozialeigentum, das im Osten der Republik alles andere als selbstverständlich ist. Kurzum: Die Zwänge des Arbeitslebens nimmt der Befragte letztlich vor allem deshalb in Kauf, um in seiner Freizeit, wie er sagt, wirklich frei zu sein. Wie er lebt, was er nach der Arbeit macht, will er sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Das ist der Grund, weshalb der angehende Vertrauensmann die Klimabewegung und vor allem die grüne Partei als Gegner betrachtet.

Hinzu kommt: Angehörige der Arbeiterklasse nehmen sich selbst häufig als – mehrfach abgewertete – Statusgruppe wahr. Arbeiter wird man nur, wenn man es muss; wer kann, „studiert oder geht ins Büro“. Lebt man im Osten, auf dem Land und ist ein Mann, wird die Abwertung und öffentliche Nichtbeachtung der eigenen Lebensweise umso schmerzlicher erfahren.

»Hauptursache für die steigende Emissionslast sind die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.«

All das sind Gründe dafür, weshalb die imaginäre Revolte einer radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens „normaler“ Arbeiter sich inzwischen selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern Gehör verschaffen kann. Man rebelliert dabei gegen einen Modus ideologischer Beherrschung, der sich in unterschiedlichen Facetten in zahlreichen Segmenten der neuen Arbeitswelt findet.

Dabei sind, wie unsere Untersuchungen ebenfalls belegen, Klimawandel, Artensterben und andere ökologische Großgefahren selbst in den untersten Klassensegmenten subjektiv durchaus relevant. Allerdings – und das ist das zentrale Problem – verschwindet die soziale Dimension von Nachhaltigkeit im öffentlichen Diskurs fast völlig.

Dabei hängt der persönliche Klimafußabdruck eindeutig von der jeweiligen Klassenposition ab, wie Lucas Chancel in seiner jüngsten Untersuchung über soziale Ungleichheit und klimaschädliche Emissionen gezeigt hat. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind zwischen 1990 und 2019 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Das heißt, die untere Hälfte der Einkommens-/Vermögensgruppen in Europa und Nordamerika hat Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und etwa fünf Tonnen in europäischen Ländern zumindest annähern oder diese gar erreichen. Die wohlhabendsten ein Prozent emittierten 2019 hingegen 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu.[3]

Hauptursache für die steigende Emissionslast sind dabei die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.[4] Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Produktions- und Investitionsentscheidungen in der Regel nur von Mitgliedern herrschender Klassenfraktionen, also von winzigen Minderheiten getroffen werden (nach unserer Heuristik 1,2 Prozent). Diese Entscheidungen beeinträchtigen jedoch das (Über-)Leben vor allem derjenigen Klassen, die zum Klimawandel am wenigsten beitragen und die unter den Folgen der Erderhitzung am stärksten leiden.

Die Autoindustrie liefert dafür glänzendes Anschauungsmaterial. So haben die in der Bundesrepublik ansässigen Endhersteller im Herbst 2022 trotz Inflation, Chipmangel und gestörter Lieferketten ein „Traumquartal“ erlebt. Ihre Gewinne machten sie hauptsächlich mit hochpreisigen, spritfressenden bzw. energieintensiven Luxuslimousinen und SUVs. Preissteigerungen können in diesem Segment problemlos an die Kunden weitergegeben werden. Da die Großgruppe der Reichen und Superreichen künftig noch wachse, sei es eine herausragende Leistung der deutschen Automobilhersteller, in diesem Bereich die Spitzenposition zu besetzten; so würden Arbeitsplätze gesichert, argumentiert das Vorstandsmitglied eines großen Endherstellers im Interview.

Die Realerfahrung vieler Beschäftigter in den Karbonbranchen ist jedoch eine völlig andere. Bereits jetzt gehen Arbeitsplätze in erheblichem Ausmaß verloren. Allein die Umstellung auf E-Motoren könnte in Deutschland mehr als 250 000 Jobs kosten. Ob neue Arbeitsplätze, die es in diesem Bereich zweifellos auch geben wird, hierzulande entstehen, ist hingegen eine offene Frage.

Quelle        :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben      —     9ª Expo de Carro Antigos – Porsche 911 Targa

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Der Mensch Heinrich Heine

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Heinrich Heine, Jude und Deutscher

(2) Grab Heines auf dem Nordfriedhof in Paris

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

von Hermann Engster

Von Heine wird gesagt, dass er ein in sich zerrissener Mensch gewesen sei. Heine war nicht zerrissen, sondern er wurde es, weil ihm das Verlangen, Jude und Deutscher zugleich zu sein, verwehrt wurde. Es war Deutschland, das ihn zerriss.

Düsseldorf, wo Heine 1797 geboren wird, ist eine beschauliche Stadt, in deren Kern 13.000 Menschen leben, Köln ist dreimal so groß, Hamburg zehnmal. Dort wächst er mit drei weiteren Geschwistern in einem bürgerlichen Milieu auf. Die Eltern erziehen ihre Kinder im jüdischen Glauben, orientiert an der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gleichwohl geprägt von tiefer Religiosität.

In Düsseldorf herrscht dank der französischen Besatzung ein liberales Klima, doch wird es mit dem Sieg über Napoleon erkalten. Das preußische Judenedikt von 1812 auf der Grundlage der Hardenberg’schen Reformen hat den Juden einige bürgerliche Freiheiten gebracht, doch haben die Behörden sie nur unwillig umgesetzt, und in der Bevölkerung ändert sich am Judenhass nichts.

Die Metternich’sche Restauration errichtet aufs Neue die alte Fürstenherrschaft. Auf der Grundlage der Karlsbader Beschlüsse wird der unter preußischer Vormacht stehende Deutsche Bund im Verein mit Österreich zu einem Polizeistaat, in dem Überwachung und Verfolgung herrschen. Von den sog. Demagogenverfolgungen sind viele Tausende betroffen, die sich für demokratische Rechte einsetzen: Künstler, Intellektuelle, Handwerker, Arbeiter; sie werden in den Kerker geworfen oder flüchten ins Exil, in das freiere Frankreich und in die Schweiz, unter ihnen auch Jüdinnen und Juden, die von der demokratischen Bewegung, die in Teilen sogar eine sozialistische ist, auch für sich Freiheitsrechte erhoffen. Das mobilisiert den Antisemitismus.

Das Ungeheuer regt sich

1819 erscheint das Pamphlet Der Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde aus alter und neuer Zeit von Hartwig von Hundt-Radowsky. Dieser bezeichnet Juden als „Untermenschen“ und „Ungeziefer“. Er empfiehlt, alle Juden als Sklaven an die Engländer zur Arbeit in deren Kolonien zu verkaufen, sie in Bergwerken zu vernutzen, sie zu kastrieren und die Jüdinnen als Prostituierte in Bordellen zu versklaven. Die Tötung eines Juden solle nicht als Mord, sondern als Polizeivergehen, also noch unterhalb eines Verbrechens eingestuft werden.

Im selben Jahr, als der Judenspiegel erscheint, gründen jüdische Hegelianer den „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“. Schlüsselbegriff ist der Hegel’sche Begriff der Vermittlung, dergestalt dass das Judentum sich vermitteln solle mit dem universalen Geist der Freiheit und Humanität. Sie glauben an die Macht des Geistes – und scheitern wie alle, die diesen Traum träumen.

Im August 1822 nimmt der preußische König die Hardenberg’schen Reformen zurück, die den Juden den Zugang zu öffentlichen Ämtern erlaubten. Im selben Monat tritt Heine dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ bei. Für seine berufliche Karriere ist das ein Hindernis. Die Heine-Biographin Kerstin Decker stellt fest: „Ein bloßer Aufsteiger verhielte sich anders, er würde alles verleugnen, was an seine Herkunft erinnert. Heine wird das nie tun. Im Gegenteil.“

1819 brechen die Hepp-Hepp-Krawalle aus, gewalttätige Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden. „Hepp-hepp!“ sind die Rufe der Viehtreiber. Der Mob macht daraus „Hepp-hepp! Jud verreck!“. Die Pogrome gehen aus von sog. braven Bürgern, von Handwerkern, Händlern, die sich zusammenrotten, jüdische Bürger beschimpfen und misshandeln, ihre Synagogen, Geschäfte und Wohnungen angreifen und verwüsten.

Aufschlussreich ist zu sehen, welches Motiv die Pogrome haben. Sie richten sich hauptsächlich gegen die jüdische Emanzipation, die seit der Französischen Revolution auch deutsche Gebiete erreicht hat. Damit waren Juden zu gleichberechtigten Konkurrenten von Christen geworden, was bei den christlichen Wutbürgern nun Konkurrenzneid entfacht, zudem noch legitimiert vom traditionellen christlichen Judenhass. Die Pogrome zielen auf die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden und drohen mit Massakern. In Heines Heimatstadt Düsseldorf werden im August 1819 an jüdischen Wohnhäusern Plakate angeschlagen, auf denen es heißt:

Schon zu lange hat die Herrschaft der Juden über den Betrieb des Handels gedauert. Mit ruhigen Augen haben die Christen diesem unerlaubten Unwesen zugesehen, die Zeiten haben sich geändert. Sind bis 26ten dieses Monats dem Handel und Moral verderbenden Volke nicht Schranken gesetzt, so soll ein Blutbad entstehen, das anstatt Bartholomäus-Nacht Salomoni-Nacht heißen soll.

Auswege, Schleichwege

Angesichts dieser Umstände hat, wer das Ghetto verlassen und an der deutschen Kultur teilhaben will, kaum eine andere Wahl, als sich taufen zu lassen, so z.B. Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Ludwig Börne, und eben auch Heine.

1826/27 studiert Heine in Göttingen, lässt sich dann 1827 in aller Stille in der Wohnung eines Pfarrers in Heiligenstadt, einem Städtchen nahe Göttingen, taufen. Die Taufe ist für ihn, wie er sagt, das „Entrébillet zur europäischen Kultur“. Er lässt sich protestantisch taufen, denn, so sagt er später: „Der Protestantismus war für mich nicht nur eine liberale Religion, sondern auch der Ausgangspunkt der deutschen Revolution“, und für ihn der Ursprung der Rechte der Vernunft und der Geistesfreiheit.

Doch bringt ihm die Taufe wenig Nutzen, denn, so stellt er resigniert fest:

Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab; ich seh noch gar nicht ein, dass es mir seitdem besser gegangen sei, im Gegenteil, ich habe seitdem nichts als Unglück.

Nach seiner Promotion zum Dr. jur. in Göttingen will ihm trotz der Konversion niemand eine Stelle geben. Ein Jahr nach der Taufe drängt es ihn, Deutschland zu verlassen. 1826 schreibt er in einem Brief:

Es ist … ganz bestimmt, dass es mich sehnlichst drängt, dem deutschen Vaterland Valet zu sagen. Minder die Lust des Wanderns als die Qual persönlicher Verhältnisse (z.B. der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen.

Heimat Sprache

Er bleibt aber zunächst im Land, weil er mit seinem Buch der Lieder großen Erfolg hat. Trotzdem ist es, so stellt Marcel Reich-Ranicki fest, ein Triumph „auf gefährlich schwankendem Boden … Man wollte den Juden, ob getauft oder nicht, als deutschen Dichter nicht gelten lassen“.

Zusätzlich zermürben Heine die Kämpfe mit der Zensur, bis dann 1833 in Preußen und 1835 im gesamten Deutschen Bund seine Schriften verboten werden. Aber mehr noch als diese Drangsalierungen ist es die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft, die ihn in die Emigration treibt. In Frankreich, wo es durchaus auch Antisemitismus gibt, sei, so Reich-Ranicki, Heine als Ausländer betrachtet worden, in Deutschland hingegen galt er immer als Jude und damit als Nicht-Dazugehöriger und Ausgestoßener.

Dennoch: Ein Zurück in den abgespaltenen Geborgenheitsraum einer jüdischen Gemeinschaft kommt für ihn nicht infrage. Er will als Deutscher anerkannt sein, wird aber von seinem „Vaterland“ zurückgestoßen. Als Reaktion auf die ständig zu ertragenden Demütigungen entwickelt er seinerseits einen Hass gegen das Deutsche und die deutsche Sprache selbst. Er schreibt er in einem Brief an einen Freund:

Alles was deutsch ist, ist mir zuwider … Alles Deutsche wirkt auf mich wie ein Brechpulver. Die deutsche Sprache zerreißt mir die Ohren. Die eigenen Gedichte ekeln mich zuweilen an, wenn ich sehe, dass sie auf Deutsch geschrieben sind. … “ (Erbittert wechselt er ins Französische, kehrt dann aber wieder ins Deutsche zurück.) „O Christian, wüsstest du, wie meine Seele nach Frieden lechzt, und wie sie doch täglich mehr und mehr zerrissen wird. Ich kann fast keine Nacht mehr schlafen.

Paper cut of Heinrich Heine on German stamp, 1956

Doch kommt er von Deutschland nicht los. Da ihn die Gesellschaft zurückweist, sucht er seine Heimat in der von ihm geliebten deutschen Sprache; denn das deutsche Wort sei, so schreibt er in einem Brief, „ein Vaterland selbst demjenigen, dem Torheit und Arglist ein Vaterland verweigern“. 1824 schreibt er:

Ich weiß nur zu gut, dass mir das Deutsche das ist, was dem Fisch das Wasser ist, dass ich aus diesem Lebenselement nicht heraus kann … Ich liebe sogar das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls.

Wie innig er der deutschen Sprache verbunden ist, zeigt der Beginn seines Versepos Deutschland, ein Wintermärchen. Als er nach zwölfjährigem Exil 1843 wieder nach Deutschland zu reisen wagt, übermannt ihn beim Überschreiten der Grenze die Wehmut, die er in bekannter Manier durch Ironie vor Abrutschen in Sentimentalität bewahrt:

Im traurigen Monat November wars,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist
 ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Das altertümlich gewordene Präteritum „begunnen“ gebraucht er ironisch-distanzierend, und im Vers, dass sein „Herz recht angenehm verblute“, mischt er den Schmerz mit Selbstironie.

Von der blauen Blume zur roten Fahne

Seine Tragik als romantischer Dichter ist, dass er ein Zu-spät-Gekommener ist. Denn als er 1797 geboren wird, bricht die romantische Dichtung gleichsam wie ein Vulkan aus und erreicht ihren ersten Höhepunkt mit Dichtern wie Brentano, Tieck, Novalis, Wackenroder.

Heine spielt zunächst virtuos auf der romantischen Klaviatur und schreibt Gedichte von unwiderstehlicher Schönheit (z.B. Der Tod, das ist die kühle Nacht). Doch wendet er sich bald ab von der Romantik und treibt sein ironisch-spöttisches Spiel mit ihr und seinen Dichterkollegen, die „Blümlein, Mondglanz, Sternlein und Äuglein“ besingen, und schließt mit den Worten: „Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht’s doch noch lang keine Welt“ (im Gedicht Wahrhaftig). Eichendorff schmäht ihn deswegen einen „Totengräber der Romantik“.

Aus dem romantischen Traumreich der Phantasie wendet Heine sich der Welt zu, wie sie wirklich ist, der gesellschaftlichen und politischen Realität. In Paris, genannt die Revolutionshauptstadt der deutschen Demokraten, weil sich hier Hunderte in Deutschland verfolgter Demokratinnen und Demokraten versammeln, nimmt Heine Verbindung zu ihren führenden Köpfen auf und wandelt sich zum politischen Dichter.

Anstoß dazu gibt der Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844. In der Konkurrenz mit billigerer Ware aus England und durch die Veränderung der Produktionsstruktur – die bis dahin selbständigen Handwerker werden zu Lohnarbeitern – geraten die Weber in eine Armut, die sogar zu Hungerrevolten führt. Der Aufstand wird vom preußischen Militär niedergeschlagen; viele Weber kommen ins Zuchthaus, andere wandern nach Amerika aus.

Zornbebend, nicht mit dem Florett, sondern mit dem Säbel schreibt Heine ein Gedicht, das später als Weberlied berühmt wird. Marx, mit dem Heine eng befreundet ist, sie sind sogar Cousins dritten Grades, veröffentlicht es im Pariser „Vorwärts“; 50.000 Flugblätter mit dem Gedicht werden in den Aufstandsgebieten verteilt. Der preußische Innenminister bezeichnet das Gedicht als „eine in aufrührerischem Ton gehaltene und mit verbrecherischen Äußerungen angefüllte Ansprache an die Armen im Volke“. Er hat Recht, das Gedicht ist staatsfeindlich und blasphemisch. Es wird verboten, einer, der es öffentlich rezitiert, landet im Zuchthaus, Heine ist in Paris und in Sicherheit.

Das ist der radikale politische Heine. Aber zurück nach Deutschland, zum jungen Heine!

Dichter in der Diaspora

Im Buch der Lieder, das ihn in Deutschland berühmt gemacht hat, steht ein rätselhaftes Gedicht, geschrieben um 1822:

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh’.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

Das Gedicht wird traditionell interpretiert als ein Gedicht über eine unerwiderte Liebe. Das ist es wohl, aber es ist viel mehr als eins der üblichen romantischen Liebesgedichte. Sehen wir es uns genauer an!

Es beginnt mit dem Bild eines Fichtenbaums, der „im Norden auf kahler Höh’“ steht und „einsam steht“, in lebensfeindlicher Kälte, umhüllt von Eis und Schnee. Er ist müde, Schlaf überkommt ihn, und er fängt an zu träumen. Im Traum reist er ins ferne Morgenland, er träumt von einer Palme, dem für den Orient charakteristischen Baum, und auch diese Palme steht einsam und trauert schweigend. Und während der nordische Fichtenbaum in der Kälte steht, umhüllt von Eis und Schnee, ist die morgenländische Palme von Feuer und Glut umgeben.

Ein Liebender und eine Geliebte verzehren sich in Sehnsucht zueinander. Welche Rolle spielt aber der Gegensatz von Norden und Osten, von Okzident und Orient? Ist das nur exotische poetische Dekoration? Nein, es ist viel mehr, und das rätselhafte Gedicht beginnt zu sprechen, wenn man es einordnet in die Tradition von jüdischen Liebesgedichten, die an das ferne und unerreichbare Jerusalem gerichtet sind.

Vorbild ist der von Heine verehrte sephardische Dichter Jehuda ben ha Levy. Dieser gilt als der bedeutendste hebräische Philosoph des Mittelalters, der zudem ein vielgestaltiges dichterisches Werk hinterlassen hat; und nicht nur Dichtungen in hebräischer Sprache, sondern auch in Altspanisch, sodass man sagen kann, dass er der erste namentlich bekannte Dichter in spanischer Sprache war. Hier ein Auszug aus seinen hebräischen Zionsliedern:

Ach, wie sitzt so einsam die Stadt, einst reich an Volk!
Wie ist sie zur Witwe geworden, die groß war unter den Völkern!
Die da Fürstin war unter den Städten, ist dienstbar geworden.
Sie weint und weint durch die Nacht, Tränen auf der Wange;
Keiner ist da, der sie tröste (…)

Mein Herz ist im Osten, doch ich bin am westlichsten Ende –
Was kann mir mein Brot da bedeuten, wie könnt’ ich es kosten mit Lust, (…)
Nichts bedeutet es mir, allen Reichtum Spaniens zu verlassen,
Aber alles bedeutet mir ein Blick nur auf den Staub des zerstörten Tempels.

Wenn man Heines Gedicht vom Fichtenbaum in dieser Tradition sieht, so erweist es sich durchaus als Liebesgedicht, aber als ein entschieden religiöses, ein Gedicht von einer Sehnsucht getragen, die sich in dem alten Abschiedsgruß ausdrückt: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Ein Gruß, der traditionell am Schluss des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen wurde und dessen Wunsch nach zweitausend Jahren verwirklicht worden ist.

Heines Lieblingspsalm ist der Psalm 137, wo es heißt:

An den Strömen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten … Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte! Es klebe meine Zunge am Gaumen!

In seinem Versepos Romanzero, geschrieben zwischen 1848 und 1851, gedenkt er im Dritten Buch, genannt Hebräische Melodien, des von ihm bewunderten Jehuda ben ha Levy:

Hebräische Melodien

Bei den Wassern Babels saßen
Wir und weinten, unsre Harfen
Lehnten an den Trauerweiden“ –
Kennst du noch das alte Lied?
(…)

Lechzend klebe mir die Zunge
An dem Gaumen, und es welke
Meine rechte Hand, vergäß’ ich
Jemals dein, Jerusalem – “

Wort und Weise, unaufhörlich
Schwirren sie mir heut im Kopfe,
Und mir ist, als hört’ ich Stimmen,
Psalmodierend, Männerstimmen –

Manchmal kommen auch zum Vorschein
Bärte, schattig lange Bärte –
Traumgestalten, wer von euch
Ist Jehuda ben Halevy?

Zurück zum Gedicht vom Fichtenbaum! Der von Eis und Schnee umhüllte Fichtenbaum träumt „von einer Palme, / Die, fern im Morgenland, / Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand“. Ist es zu verwegen interpretiert, wenn mit der Felsenwand der Felsenberg gemeint ist, auf dem der Tempel stand und der von den Römern zerstört wurde? Und dass die einsame Palme in ihrer Trauer der Zerstreuung der Juden in der Diaspora gilt, einer Zerstreuung, dessen Extremfigur der einsame Fichtenbaum in der Kälte des Nordens darstellt?

Im Innersten ist Heine immer Jude geblieben. Einmal bekennt er: „Ich bin zwar getauft, aber nicht bekehrt.“ Für seinen Herausgeber und Biographen Klaus Briegleb ist dieses Zitat und sind weitere Zitate Schlüsselbelege dafür, dass Heine als „genuin jüdischer Schriftsteller in der Diaspora“ (Briegleb) zu verstehen sei: ein Getaufter, der im Herzen jüdisch geblieben ist, und dass dieses jüdische Selbstverständnis prägend sei für seine Denk- und Schreibweise.

Verstoßen in die Freiheit

Heine ist, trotz allen Spotts über mancherlei religiöse Bizarrerien, tiefreligiös. Früh vom Judentum geprägt, schreibt er in seinem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834):

Bert Gerresheim: Heinrich Heine Monument 1981, Düsseldorf

Der Verfasser dieser Blätter ist sich einer solchen frühen ursprünglichen Religiosität aufs freudigste bewusst, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken.

Sein Bekenntnis zum Judentum ist aber nicht eine Rückkehr zum Judentum des Mittelalters; denn dieses erscheint für ihn ebenso überwunden wie das Christentum seiner Epoche. Schon 1834 schwebt ihm in einem Gedicht aus dem Zyklus Seraphine ein Drittes vor: ein drittes Testament, und er spielt an auf Jesu Wort zu Petrus, dass er auf ihm – „auf diesem Felsen“ (griech. pétros: Fels) – seine Gemeinde bauen wolle (Matthäus 16,18; nebenbei ein, wie die Bibelkritik festgestellt hat, erfundenes Jesus-Wort zur Legitimation von Kirche und Papsttum):

Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.

Vernichtet ist das Zweierlei*,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.

Hörst du den Gott im finstern Meer?
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter?

Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles, was da ist;
Er ist in unsern Küssen.

Diese Utopie erinnert an das Schiller’sche und Beethoven’sche Pathos der universalen Menschenliebe in der Ode an die Freude: „Alle Menschen werden Brüder … / Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Nur dass Heines Küsse durchaus sinnlicher imaginiert sind als die seiner strengen Vorgänger.

Dieses „dritte neue Testament“, das Heine erhofft, stellt nicht eine Abwendung vom Judentum dar, sondern ist die Vision eines modernen, welt- und geschichtsbewussten, zur Freiheit sich entfaltenden Judentums. Das stellt auch den alten Jehova-Gott infrage. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und ihren Weg ins Erdenleben zeichnet Heine in seinem Gedicht Adam der Erste von 1844 prophetisch als Weg des Judentums in die Freiheit. Adam I. bedeutet: Dieser Adam ist der erste wirkliche, weil freie Mensch. Der auf diesen Weg sich aufmachende Adam spricht zu Gott:

Adam I.

Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen,
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach andren Erdenländern;
Doch dass ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, dass ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig.
(…)

Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies –
Es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find ich die geringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies
In Hölle und Gefängnis.

Diese Frage nach dem Wesen Gottes ist für Heine zentral. Erkannt wird dieses Wesen, wenn die alte Aufspaltung von Leib und Seele, Geist und Materie aufgehoben und wenn der Mensch wieder in sein ursprüngliches Freiheitsrecht eingesetzt wird.

Schmerzensmann

Dem Atheismus seiner Freunde Marx, Feuerbach, Bauer ist Heine nicht gefolgt. Nach verschlungener philosophischer Wanderschaft bekennt er sich ab 1848 offener zum Gott der Juden. Sieben Jahre vor seinem Tod schreibt er:

Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn … Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik.

1833 lernt Heine in Paris die junge Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat kennen, die er Mathilde nennt. Sie ist attraktiv und temperamentvoll, er liebt sie sehr, sie heiraten, und sie steht ihm bis zu seinem Tode bei.

Seit 1845 quält ihn ein Nervenleiden, 1848, als in Paris die Revolution ausbricht, kommt es zu einem Zusammenbruch, der eine acht Jahre dauernde Erkrankung einleitet, die mit Schmerzen, Krämpfen, Sehstörungen, Lähmungen und Fieberanfällen einhergeht, sodass er ans Krankenlager gefesselt ist, das er sarkastisch seine „Matratzengruft“ nennt. Er bleibt aber geistig klar und literarisch produktiv – es ist eine ungeheure Willensanstrengung, mit der er diese Produktivität seiner Krankheit abringt.

Jedoch quälen ihn Zweifel ob seiner Konversion zum Christentum. In seinen späten Gedichten zwischen 1846 und 1856 findet sich unter dem Titel Lamentationes folgendes Gedicht, das wohl das bitterste ist, das Heine je geschrieben hat:

Nicht gedacht soll seiner werden!“
Aus dem Mund der armen alten
Esther Wolf hört
 ich die Worte,
Die ich treu im Sinn behalten.

Ausgelöscht sein aus der Menschen
Angedenken hier auf Erden,
(…)

Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche 

Dunkler Hund im dunkeln Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!

Selbst am Auferstehungstage,
Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen
Zum Gericht die Totenscharen,

Und alldort der Engel abliest
Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladnen 

Nicht gedacht soll seiner werden!

(Esther Wolf, eine unbekannte Jüdin.) Der Fluch „Nicht gedacht soll seiner werden“ ertönt refrainartig im Gedicht; er ist ein Zitat aus dem Buch Hesekiel (21,37). Im Namen des Herrn spricht Hesekiel den Fluch gegen die feindlichen Ammoniter aus:

Du sollst dem Feuer zur Nahrung werden, dein Blut soll im Land vergossen werden, und man wird deiner nicht mehr gedenken; denn ich der Herr habe es geredet.

Es ist ein vernichtender Fluch, denn selbst beim Jüngsten Gericht soll des Schuldigen nicht gedacht werden; es ist der wildeste Fluch, den ein Jude auszustoßen vermag.

Jedoch gibt es auch Gottes Zusage des immerwährenden Gedenkens, so beim Propheten Jesaja (49,14 f.):

Zion spricht: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ Gott spricht: „Kann auch eine Frau ihres Kindes vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und wenn sie auch seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“

Wir können kaum ermessen, was Heine durchgemacht hat. Religiös, wie er im Innern geblieben ist, sucht er Frieden mit Gott. Wir lesen Bekenntnisse eines über viele Jahre ans Bett gefesselten, zeitweise gelähmten, schmerzgepeinigten, geistig aufgewühlten, seelisch zerrissenen Menschen – menschliche Bekenntnisse, allzu menschliche. Nietzsche hat den Gedanken formuliert, dass wir aus Treue zu uns selbst zu Wanderern zwischen Extremen werden müssen:

Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer. (Menschliches, Allzumenschliches, I, 638)

 

Rebellische Resignation

Heines Todeskampf ist quälend. Den Tod vor Augen dichtet er:

Keine Messe wird man singen,
Keinen Kadosch wird man sagen,
Nichts gesagt und nichts gesungen
Wird an meinen Sterbetagen.

Doch vielleicht an solchem Tage,
Wenn das Wetter schön und milde,
Geht spazieren auf Montmartre
Mit Paulinen Frau Mathilde.

Mit dem Kranz von Immortellen
Kommt sie mir das Grab zu schmücken.
Und sie seufzet: „Pauvre homme!“
Feuchte Wehmut in den Blicken.

Als er im Sterben liegt, kniet seine Frau an seinem Bett und betet zu Gott, dass er ihm alle Sünden verzeihen möge. Daraufhin sagt Heine mit schwacher Stimme:

Ma chère, ne t’inquiète pas, Dieu me pardonnera, c’est son metier.
(Meine Liebe, mach dir keine Sorgen, Gott wird mir schon verzeihen, das ist sein Beruf.)

Begraben wird er auf dem Friedhof Montmartre. Kein Rabbi, kein Pastor, kein Priester darf ihn begleiten. Rebell bis zuletzt, hat er es so bestimmt.

Auf der Grabplatte ist ein Gedicht von ihm eingemeißelt:

Wo wird einst des Wandermüden
Letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?

(…)
Immerhin mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,
Und als Totenlampen schweben
Nachts die Sterne über mir.

Neben ihm liegen Hector Berlioz, Edgar Degas, Stendhal, Alexandre Dumas fils, Jacques Offenbach.

Jahre später schreibt Gustave Flaubert, ein enger Freund Heines, in einem Brief voller Grimm:

Ich denke mit Bitterkeit daran, dass bei Heinrich Heines Begräbnis nur neun Personen anwesend waren! O Publikum! O Bürger! O Lumpenpack!

(Vortrag im Jüdischen Lehrhaus zu Göttingen, Februar 2023)

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Grafikquellen          :

Oben     —     (2) Grab Heines auf dem Nordfriedhof in Paris

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Medien ist es egal:

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Hunderte Migranten hätte man retten können

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Für die EU sind nur tote Migranten – gute Migranten ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von                :          Urs P. Gasche /   

Viele Berichte über das Wie und Warum des U-Boot-Unglücks – Kaum Berichte über das Wer und Warum der über 500 Ertrunkenen.

Trotz des höchstwahrscheinlich vermeidbaren Unglücks mit über 500 toten Migrantinnen und Migranten vor der griechischen Küste recherchierten Medien in der Schweiz und in Deutschland nicht, welches die Ursachen und die Verantwortlichen waren. Dafür berichteten sie umfangreich über Hintergründe des U-Boot-Unfalls mit den fünf verunglückten Milliardären an Bord.

Fast nur online informierten unsere grossen Medien einzig darüber, dass die Grenzschutzagentur Frontex kritisierte, dass die «griechischen Behörden trotz Aufforderung keine zusätzliche Luftunterstützung gewährten».

Anders als europäische Medien beauftragte die «New York Times» ein ganzes Recherche-Team, um die Verantwortlichen des Bootunglücks ausfindig zu machen. Unter dem Titel «Das Schiff, das die Welt nicht wollte – Griechische Regierung schickt ein Polizeiboot der Küstenwache statt Rettungskräfte» entlarvte die Zeitung zuerst am 1. Juli und ergänzt am 3. Juli Angaben griechischer Behörden als Ausreden und Lügen.

Über diese NYT-Recherche informierte von den grossen Medien in Europa erst heute, am 6. Juli, die NZZ ausführlich.

Fazit der NYT: Die meisten Toten hätten gerettet werden können

Hier die wichtigsten der recherchierten Fakten:

  • Die Schlepper kassierten von den 750 auf dem Boote zusammengepferchten Migrantinnen und Migranten insgesamt 3,5 Millionen Dollar. Abgemachtes Ziel war Italien. Schon am zweiten Tag, so erinnerten sich Überlebende, machte der Motor Probleme.
  • Niemand an Bord trug eine Rettungsmaske.
  • Die griechischen Behörden behaupteten, das Boot sei weiter normal in Richtung nach Italien gefahren, weshalb sie nicht eingeschritten seien. Doch Satellitenbilder, welche die NYT beschaffen konnte, zeigen eindeutig, dass das Boot mit einem Motorschaden in den letzten sechseinhalb Stunden vor dem Kentern eine unkontrollierte Schleife rückwärts zog.
  • Die griechischen Behörden zitieren nur den 22-jährigen Ägypter, der das Boot steuerte und angab, die Fahrt in Richtung Italien fortsetzen zu wollen. Es entsprach seinen persönlichen Interessen. Denn die Schlepper zahlen Kapitäne meist erst im Nachhinein und nur, wenn sie ihr Ziel erreichen. Ein Helikopter der griechischen Küstenwache überflog das Boot und sah um Hilfe rufenden Migranten.
  • Die Küstenwache bat zwei vorbeifahrende Schiffen, das Migrantenboot mit Wasser, Nahrung und Benzin zu versorgen. Eines der Frachtschiffe meldete dem griechischen Kontrollzentrum, dass das Boot «bedrohlich schaukelt». Die griechischen Behörden sandten keine Hilfe.
  • Etwa drei Stunden, bevor das Migrantenboot kenterte, näherte sich ein kleines Polizeiboot der griechischen Küstenwache, nahm aber keine Migranten auf. Die maskierten Männer des Polizeiboots verursachten noch mehr Angst, nachdem auf dem Migrantenboot bereits Panik ausgebrochen war. Wenige Überlebende berichteten als Zeugen, wobei ihnen die griechischen Behörden die Handys als Beweismittel konfiszierten.
  • Nach dem Untergang des Bootes konnte eine Luxusjacht, die sich in der Nähe befand, etwa hundert Überlebende aus dem Wasser retten.

Die «New York Times» kommt zum Schluss:

«Griechenland als eine der führenden Seefahrernationen der Welt war in der Lage, eine Rettungsaktion durchzuführen. In den 13 Stunden nach dem Frontex-Alarm hätten Marineschiffe, einschliesslich solche mit medizinischer Ausrüstung, vor Ort sein können.»

Den genauen Zeitablauf hat die NYT zusammengestellt und ist hier beschrieben.

Schlepper verdienen Millionen mit verzweifelten Menschen voller Hoffnung

Insgesamt zahlten die rund 750 Migranten durchschnittlich je 4660 Dollar oder insgesamt rund 3,5 Millionen Dollar, um nach Italien geschleust zu werden. Sie wurden auf dem Kutter Adriana in einem Klassensystem zusammengepfercht: Pakistaner am unteren Ende, Frauen und Kinder in der Mitte und Syrer, Palästinenser und Ägypter oben.

Für etwa 50 Dollar mehr konnte man sich einen Platz an Deck sichern. Für einige war das der Unterschied zwischen Leben und Tod.

Mindestens 350 der Passagiere kamen nach Angaben der pakistanischen Regierung aus Pakistan. Die meisten befanden sich in den unteren Decks und im Laderaum des Schiffes. Von ihnen überlebten nur zwölf.

Die Frauen und kleinen Kinder gingen mit dem Schiff unter.

Der 17-jährige Teenager Kamiran Ahmad war mit der Hoffnung auf ein neues Leben in Tobruk, Libyen, per Flugzeug angekommen. Seine Eltern in Syrien verkauften Land, um Schmuggler zu bezahlen. Sie beteten, dass Kamiran es nach Deutschland schaffen würde, um zu studieren, zu arbeiten und vielleicht etwas Geld nach Hause zu schicken.

Doch als die Adriana im Morgengrauen des 9. Juni in See stach, war Kamiran besorgt. Sein Cousin Roghaayan Adil Ehmed, 24, der ihn begleitete, konnte nicht schwimmen. Und das Boot war mit fast doppelt so vielen Passagieren überfüllt, wie ihm gesagt worden war.

Da es keine Schwimmwesten gab, zahlte Roghaayan zusätzliche 600 Dollar, um sich selbst, Kamiran und einen Freund auf ein Oberdeck zu bringen.

Sie gehörten zu einer Gruppe von elf jungen Männern und Jungen aus Kobani, einer mehrheitlich kurdischen Stadt in Syrien, die von einem mehr als zehnjährigen Krieg verwüstet wurde. Die Gruppe wohnte in schäbigen, gemieteten Zimmern in Beirut, Libanon, und flog dann nach Ägypten und weiter nach Libyen.

Der Jüngste, Waleed Mohammad Qasem, 14, wollte Arzt werden. Als er hörte, dass sein Onkel Mohammad Fawzi Sheikhi nach Europa gehen würde, bettelte er darum, mitkommen zu dürfen. Auf dem Flug nach Ägypten lächelten die beiden für ein Selfie. Sie haben die Fahrt nicht überlebt.

Unruhen breiteten sich aus, als klar wurde, dass der Kapitän, der die meiste Zeit mit einem Satellitentelefon verbrachte, sich verfahren hatte.

Als die Pakistaner auf das Oberdeck drängten, schlugen ägyptische Männer, die mit dem Kapitän zusammenarbeiteten, laut Zeugenaussagen auf sie ein. Es kam zu Tumulten.

Überlebende der Adriana sagten in eidesstattlichen Erklärungen aus, dass etliche der neun Crewmitglieder die Passagiere brutal behandelt und erpresst haben.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Grafikquellen        :

Oben      —     Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne Menschen von einem überfüllten Boot, 15. Juni 2015

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Beobachter ausgeschlossen:

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Europarat wird Künstliche Intelligenz ohne Zivilgesellschaft regulieren

Was mag der wahre Grund sein, wenn freie Länder sich von ihren ehemaligen Hinterbänklern dirigieren lassen ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von          :     

Der Europarat will „Künstliche Intelligenz“ regulieren – allerdings ohne die Zivilgesellschaft. Überraschend hat er zivilgesellschaftlichen Organisationen den Beobachterstatus bei den Verhandlungen zu der KI-Konvention entzogen. Die Organisationen kritisieren die Entscheidung in einem offenen Brief.

Nicht nur die Europäische Union will „Künstliche Intelligenz“ (KI) regulieren, sondern auch der Europarat. Er hat vor mehr als einem Jahr Verhandlungen zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI-Konvention) aufgenommen. Der Europarat ist eine europäische internationale Organisation und kein institutionelles Organ der EU. Ihm gehören seit dem Ausschluss Russlands im vergangenen Jahr 46 Staaten an.

Die geplante KI-Konvention soll Staaten dazu verpflichten, keine Menschenrechte zu verletzen, wenn sie KI-Systeme entwickeln oder nutzen. Überraschenderweise hat der Europarat mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, die einen Beobachterstatus bei den Verhandlungen hatten, vor die Tür gesetzt. Das Vorgehen kritisieren zehn zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief (PDF), unter ihnen die Digitale Gesellschaft Schweiz und AlgorithmWatch.

Die Organisationen bedauern, „dass die verhandelnden Staaten beschlossen haben, sowohl Beobachter der Zivilgesellschaft als auch Mitglieder des Europarates von den formellen und informellen Sitzungen der Redaktionsgruppe des Übereinkommens auszuschließen.“ Damit untergrabe der Europarat seine Transparenz- und Rechenschaftspflichten. Außerdem stehe die Entscheidung im Widerspruch zur gängigen Praxis des Europarats und zum Mandat des CAI, wonach die Zivilgesellschaft zu dessen Arbeit beizutragen habe.

Die Digitale Gesellschaft Schweiz schreibt in einem Blogbeitrag über den Ausschluss:

Zu Beginn der Verhandlungen wurde die Wichtigkeit der Transparenz betont. Nun haben sich die aktuell verhandelnden Staaten jedoch dazu entschieden, insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen mit Beobachterstatus von den Diskussionen zur KI-Konvention auszuschließen. Auch die Mitgliedsorganisationen des Europarats, die derzeit nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt sind, wurden ausgeschlossen. Diskussionen und Entscheidungen sollen ohne die Anwesenheit von Beobachtern stattfinden. Sie sollen nur noch die Möglichkeit haben, gelegentlich Stellung zu nehmen. Beobachter sollen nicht mehr beobachten dürfen.

Bliebe es bei der Entscheidung, drohe die Konvention zu einem Papiertiger zu verkommen, so die Digitale Gesellschaft Schweiz weiter.

Transparenz untergraben

Trotz ihrer Enttäuschung unterstreichen die zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihrem offenen Brief die Notwendigkeit der KI-Konvention:

In den vergangenen Monaten haben sich die Standpunkte der einzelnen Länder dramatisch verändert. Das unterstreicht die Notwendigkeit, rasch ein globales Übereinkommen für den Umgang mit KI zu verabschieden. Sowohl die Gesellschaft als auch der öffentliche und private Sektor fordern nun weltweit neue Regeln für den Umgang mit KI.

Die Organisationen bekräftigen, den Verhandlungsprozess von außen weiter beobachten und kommentieren zu wollen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —      A picketer, David James Henry, carries a sign that reads „A.I.’s not taking your dumb notes!“

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Kultur. Kampf, oder was?

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Gerade verschwindet alles, was widerspenstig und aufregend ist

Die Uniform einer schlagenden und schießenden Einheit bringt jedes Eis zum schmelzen.

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Die Kultur geht unter, wenn sie rein marktwirtschaftlich geregelt wird. Wie aber steht es um eine Kultur, die sich aus lauter Angst vor ihren Mördern selbst abschafft?

Auch wenn immer irgendwas los ist, kommt man doch manchmal ins eher fundamentale Grübeln, mitten im Sommer. Zum Beispiel darüber, was eigentlich mit unserer Kultur los ist und was das überhaupt ist: Kultur. Wahrscheinlich gehört „Kultur“ zu den Worten, die nur funktionieren, wenn man akzeptiert, dass damit mehrere verschiedene, aber miteinander verbundene Dinge gemeint sind. Man könnte sich ja mal drei grundsätzliche Bereiche vorstellen, für die das Wort „Kultur“ irgendwie angemessen sein könnte. Das Erste kommt aus dem Feld der materialistischen Gesellschaftsforschung und behauptet: Kultur ist, wie der ganze Mensch lebt. Das heißt, Kultur ist die Art, wie wir in einer Supermarktkassenschlange anstehen, wie oft wir uns eine neue Zahnbürste leisten oder ganz allgemein, wie wir mit uns selbst und mit den anderen umgehen. Kultur ist, was uns dazu bringt, mit Würde, Respekt und Empathie miteinander zu leben.

Die zweite Vorstellung widerspricht oder ergänzt da, wie man es nimmt: Kultur ist gerade das, was über den Alltag und das Benehmen darin hinausgeht, ein Experimentieren mit dem, was nicht gewöhnlich ist, eine Erfahrung jenseits der Codes und der Riten, kurz gesagt: ein freier Raum der Möglichkeiten für Fantasien, für die Kritik des ­Bestehenden und die Sehnsucht nach dem Anderen.

Und mit der dritten Definition von Kultur wird man speziell. Kultur ist ein gesellschaftliches Subsystem wie die Wissenschaft, die Religion, die Medizin oder der Sport, in dem es professionelle Arbeit ebenso gibt wie öffentliche Debatten. Diese Kultur hat nicht nur eine Funktion, und sie ist nicht nur immer auch mit ihrer eigenen Erforschung beschäftigt, sie hat auch eine politische Ökonomie.

Kultur ist etwas, das wie die Luft zum Atmen, das Wasser zum Trinken und das Recht auf Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit niemals allein marktwirtschaftlich geregelt werden kann. Eine Gesellschaft, die an Kultur nur hervorbringt, was der Markt hergibt, darf getrost barbarisch genannt werden.

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Georg Seeßlen

ist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Corona­kontrolle, oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.

Die Schlagloch-Vorschau

12. 7. Ilija Trojanow

19. 7. Jagoda Marinić

26. 7. Mathias Greffrath

2. 8. Georg Diez

Für die Praxis hat August Everding einst ein schönes Beispiel angeführt: Ich, sagte er, bin in meinem ganzen Leben noch nicht in ein Freibad gegangen. Und trotzdem zahle ich mit Freuden meine Steuern, damit Menschen ins Freibad gehen­ können. Ist es deswegen nicht durchaus gerecht, dass diejenigen, denen ich mit einem Euro zum Besuch des Freibades verhelfe, mir mit fünf Cent ermöglichen, ins Theater zu gehen? Und wenn jemand, wie der Schreiber dieser Zeilen, sowohl ins Freibad als auch ins Theater gehen möchte, dann muss er es wohl sehr direkt spüren, dass Kultur in jeder Hinsicht eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist. Der Kulturkampf, wie ihn die Rechten wollen, beginnt, wenn die im Freibad glauben, dass die im Theater schuld daran sind, dass das Freibad so heruntergekommen ist, und wenn die im Theater glauben, die im Freibad seien schuld am Niedergang des Theaters.

Eine Gesellschaft kann man nicht nur anhand der versicherungspflichtigen Privatfahrzeuge oder der Anzahl häuslicher Unfälle, sondern auch an ihrer (dreifachen) Kultur messen. Beides ist nun aber auch wieder auf vertrackte Weise dialektisch miteinander verbunden: Kultur erzeugt Gesellschaft, so wie Gesellschaft Kultur erzeugt.

Vom harten Kern der Kultur, von den profes­sio­nell geführten Debatten, der demokratisch vermittelten Kunst, der verantwortungsvoll-freien Presse oder den selbstverwalteten Szenen aus, strahlt „Kultivierung“ auf alle anderen Lebensbereiche aus. Dann gibt es eine Kultur der Arbeit, eine Kultur der politischen Auseinandersetzung, eine Kultur der Geschlechterordnungen und der Sprachen des Begehrens, eine Kultur des Straßenverkehrs, eine Kultur des Freizeitverhaltens usw.

Oder es gibt sie eben nicht, denn so wie es die Anstrengungen der Kultivierung gibt, gibt es die Kräfte der Entkultivierung. Wer jetzt und hier die größte Kraft der Entkultivierung bildet, ist nicht zu übersehen: Es ist die Idee der radikalen Vermarktung und Selbstvermarktung, der wir den Namen „Neoliberalismus“ gegeben haben, und es ist der Rechtspopulismus, der ganz offen bereits einen „Kulturkampf“ ausgerufen hat, der für erstaunlich viele Menschen attraktiv scheint. Auch hier geht es um drei „Schlachtfelder“: die Eroberung kultureller Institutionen und Instanzen, die semantische und ideologische Hegemonie in den öffentlichen Medien und die Vernichtung des widerständigen, utopischen und queeren Geistes in der Kultur.

Quelle          :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Empfang der Berliner Teilnehmenden der Olympischen Winterspiele 2022 zur Gästebucheinzeichnung im Roten Rathaus

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Ein zukunftsfähige EU

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Marsch der Entschlossenen - Gräber vor dem Bundestag (18406716313).jpg

Eine freie EU kann  es nur ganz ohne Grenzen geben – sowohl nach Außen als nach Innen

Von Oleksandra Matwijtschuk

Der verstärkte Beschuss ziviler Ziele durch die russische Armee lenkt den Blick erneut auf die zahlreichen Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen in der Ukraine.

Eine der wichtigsten Organisationen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren, ist das Center for Civil Liberties aus Kiew. Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2007, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Mit Beginn der russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim 2014 begann sie zudem, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu dokumentieren. Im vergangenen Herbst erhielt die Organisation rund um ihre Vorsitzende, die Juristin Oleksandra Matwijtschuk, den Friedensnobelpreis.

Am 9. Mai hielt Oleksandra Matwijtschuk die diesjährige „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Das Format wurde vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der ERSTE Stiftung und den Wiener Festwochen ins Leben gerufen, um renommierten Intellektuellen die Möglichkeit zu bieten, einer breiten Öffentlichkeit originelle Denkanstöße zur Zukunft des europäischen Projekts zu geben. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Katharina Hasewend.

Die Geschichte kann nur schwerlich idealisiert werden, wenn man sie kennt. Das 20. Jahrhundert brachte zwei verheerende Weltkriege, schreckliche Kolonialkriege, Millionen von Toten und eine totale Entmenschlichung hervor, die ihre konkreteste Form im Holocaust und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten annahm. Diese schrecklichen Ereignisse machten entschlossenes Handeln nötig. Die Tatsache, dass man gewillt war, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kam im Mahnruf „Nie wieder!“ zum Ausdruck. Staats- und Regierungschefs schufen die Vereinten Nationen und unterzeichneten internationale Abkommen. Die Schuman-Erklärung markiert den Beginn des Projektes eines vereinten Europas. Getragen von der Auffassung, dass jeder Mensch frei und gleich an Würde und Rechten geboren ist, entstand in der Nachkriegszeit ein neuer Humanismus.

Aber das Böse lässt sich nicht für immer besiegen. Menschen müssen sich jeden Tag aufs Neue entscheiden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden nur in einem Teil Europas zur gelebten Praxis, und der totalitäre sowjetische Gulag wurde nie gerichtlich verurteilt. Und so kehrt das Böse immer wieder zurück: das Massaker von Srebrenica; die Zerstörung von Grosny, wo damals eine halbe Million Menschen lebte; die russische Bombardierung von Aleppo; die Brandbomben auf Mariupol; die Leichen der Ermordeten auf den Straßen von Butscha.

Wie können wir im 21. Jahrhundert Menschen, ihre Würde, ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigen? Können wir uns auf das Recht stützen – oder werden Waffen das Einzige sein, was zählt?

Ich stelle diese Fragen nicht nur als Bürgerin eines Landes, das sich gegen eine militärische Aggression Russlands verteidigt. Ich stelle diese Fragen als Bürgerin Europas. Europa muss auf die Herausforderungen der heutigen Zeit reagieren. Europa muss seine Rolle in einer globalen Welt wahrnehmen, in der Autoritarismus und Demokratie, Interessen und Werte, Macht und Recht, schnelle Gewinne und langfristige Perspektiven gegeneinanderstehen. Es ist die Entschlossenheit zum Handeln, die eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Das gelungene Europa…

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte nicht nur eine gemeinsame Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Vielmehr vertieften die Bemühungen für ein gemeinsames europäisches Projekt die Solidarität zwischen Ländern, deren Beziehungen jahrhundertelang durch blutige Auseinandersetzungen belastet waren. Der Europäischen Union ist es gelungen, dieses Erbe zu überwinden und Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die kontinuierlichen Bemühungen der Regierungen um die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ermöglichten über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Wachstum. Dies ist jenes Europa, dem es gelungen ist, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Dieses Europa befindet sich nach wie vor auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung. Auch wenn es sich heute mit neu entdeckten guten Absichten schmückt, kommt es nicht umhin, das verheerende Erbe seiner kolonialen Vergangenheit anzuerkennen. Europa steht vor der Herausforderung, eine Einheit zu erzeugen, ohne auf Uniformität zu drängen; Integration zu gewährleisten, ohne Homogenität zu erzwingen. Es muss lernen, seine Vielfalt als Quelle der Solidarität zu nutzen. Es darf nicht zulassen, dass Autoritarismus und Imperialismus in seinen Gesellschaften Wurzeln schlagen.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist fast vollständig von uns gegangen. Die nachfolgenden Generationen sahen sich nicht gezwungen, ihr Blut zu vergießen. Sie haben die Werte der Demokratie von ihren Eltern übernommen. Und sie begannen, Rechte und Freiheiten als selbstverständlich zu betrachten. Zunehmend verhielten sie sich weniger als Träger dieser Werte denn als deren Konsumenten. Sie verstanden Freiheit immer öfter bloß als die Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen Profit, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen. Es sollte nicht überraschen, dass populistische Kräfte in den entwickelten Demokratien an Boden gewinnen; Kräfte, die die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte infrage stellen.

Unsere heutige Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Verletzungen der Privatsphäre, wachsende Ungleichheit, die Entwertung von Wissen und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht im Rückgriff auf Vergangenes formuliert werden können. Jahrzehnte des relativen Wohlstands und das wachsende Verlangen nach einfachen Lösungen haben den Blickwinkel der entwickelten Demokratien verändert. Sie verstehen nicht mehr, dass der Frieden in Europa nicht ohne Anstrengungen erhalten werden kann, die dem Grad der Gefährdung angemessen sind.

…und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen

Die Europäische Union umfasst bei weitem nicht ganz Europa. Sie ist jener Teil Europas, der es geschafft hat, den Grundsatz zu verwirklichen, dass Frieden, Fortschritt und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dann sah sie sich der Gefahr der Stagnation gegenüber. Das gelungene Europa sollte die Bewegung anderer Länder in Richtung europäischer Werte unterstützen. In einer sich ständig verändernden Welt überleben nur offene Systeme und wandlungsfähige Kulturen. Mauern und Grenzen können nicht vor globalen Herausforderungen schützen. Wer aufhört, nach vorne zu schreiten, wird untergehen.

Die gegenwärtige Lage hängt nicht nur von den Entscheidungen und Handlungen des gelungenen Europas ab, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist das eine, von Ländern umgeben zu sein, die sich ebenfalls den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verschrieben haben. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man von Staaten umringt ist, die diese Werte ablehnen. Wenn solche Länder an Stärke gewinnen, werden sie versuchen, euch zu zerstören.

Das gelungene Europa hat sich lange Zeit geweigert, gegenüber anderen Ländern der Region Verantwortung zu übernehmen, und dadurch die Etablierung autoritärer Regime zugelassen. Dieses Europa hat vergessen, dass Länder, die Journalisten töten, Aktivisten inhaftieren und friedliche Proteste auflösen, nicht nur für ihre eigenen Bürger eine Gefahr darstellen. Solche Staaten sind eine Bedrohung für die gesamte Region, ja, für die ganze Welt. Aus diesem Grund hätte es einer Reaktion auf systematische Menschenrechtsverletzungen bedurft. Menschenrechte sollten bei politischen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie wirtschaftlicher Nutzen oder Sicherheitsfragen. Ein Ansatz, der diesem Imperativ Rechnung trägt, muss auch in der Außenpolitik verfolgt werden.

Das zeigt sich sehr deutlich im Fall Russlands, das seine eigene Zivilgesellschaft Schritt für Schritt zerstört hat. Doch die entwickelten Demokratien haben davor lange die Augen verschlossen. Sie schüttelten russischen Repräsentanten die Hände, bauten Gaspipelines und machten weiter wie bisher. In vielen Ländern begingen russische Streitkräfte über Jahrzehnte hinweg Verbrechen, die stets ungeahndet blieben. Sogar bei der Annexion der Krim, einem beispiellosen Vorgang im Europa der Nachkriegszeit, zeigte die Welt kaum eine Reaktion. Russland glaubte tun zu können, was ihm beliebt.

Das gescheiterte Europa

Im Februar 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine und besetzte die Halbinsel Krim sowie Teile der Oblaste Donezk und Luhansk. Zu diesem Zeitpunkt war die „Revolution der Würde“ in der Ukraine gerade zu einem Ende gekommen. Millionen von Menschen hatten sich mutig gegen ein autoritäres und korruptes Regime aufgelehnt. Im ganzen Land gingen sie auf die Straße und forderten eine weitere Annäherung an Europa und an wahrhaft demokratische Werte. Sie kämpften für das Recht, einen Staat aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden, in dem Behörden Rechenschaft ablegen müssen, Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht auf friedlich demonstrierende Studenten einprügeln darf.

Es sollten die Politiker-innen eingesperrt werden, welche den Menschen die Freiheit verwehren !

Einige von ihnen zahlten dafür den höchsten Preis. Im Herzen der Hauptstadt erschoss die Polizei mehr als hundert friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. Menschen starben unter den Bannern der Ukraine und der Europäischen Union.

Als das autoritäre Regime zusammenbrach, erhielt die Ukraine ihre Chance auf einen demokratischen Wandel. Um den Fortschritt der Ukraine zu einer wahren Demokratie aufzuhalten, begann Russland im Februar 2014 seinen Krieg. Im Februar 2022 weitete es diesen Krieg zu einer umfassenden Invasion aus. Nicht die Nato ist es, die Putin fürchtet; er hat Angst vor der Demokratie. Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit.

Nun versucht Russland, den Widerstand zu brechen und die Ukraine zu besetzen, indem es der Zivilbevölkerung größtmögliches Leid zufügt. Russische Streitkräfte zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Museen und Krankenhäuser; sie schießen auf Evakuierungskorridore; sie halten Menschen in Filtrationslagern gefangen; sie führen Zwangsdeportationen durch; sie entführen, foltern und töten Menschen in den besetzten Gebieten. Europa gelang es nicht, dem ein Ende zu setzen.

Dies ist nicht zuletzt ein Krieg der Werte. Russland versucht, die ukrainische Nation davon zu überzeugen, dass ihre Entscheidung für die europäische Integration ein Fehler war. Russland versucht, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein Betrug sind, dass sie falsche Werte sind. Denn in Kriegszeiten schützen sie niemanden. Russland will beweisen, dass ein Staat mit einem mächtigen Militär und Atomwaffen der gesamten internationalen Gemeinschaft die Spielregeln diktieren und sogar international anerkannte Grenzen verschieben kann. Es handelt sich also nicht um einen Krieg zwischen zwei Ländern, sondern um einen Krieg zwischen zwei Systemen – Tyrannei und Demokratie. Der Kampf wütet bereits. Die Menschen begreifen dies zwar erst, wenn ihnen die Bomben auf den Kopf fallen, aber dieser Krieg hat noch andere Dimensionen: Er ist ein Wirtschaftskrieg, ein Informationskrieg, ein Krieg der Werte. Ob wir den Mut haben, es einzugestehen oder nicht, dieser Krieg hat bereits die Grenzen zur Europäischen Union überschritten.

Russland hat Europa den Krieg erklärt. Russland kämpft gegen jene Werte, die Europa ausmachen. Europa muss also Verantwortung übernehmen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte können nicht ein für alle Mal erkämpft werden. Vielmehr müssen die Werte der modernen Zivilisation verteidigt werden. Wir müssen für sie kämpfen.

Das ängstliche Europa

Europa weiß nicht, wie es den Krieg beenden soll. Immer wieder fordern einzelne Stimmen die Ukraine dazu auf, Frieden zu schließen. Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainer. Aber es gibt keinen Frieden, wenn das angegriffene Land die Waffen streckt. Das ist kein Frieden, sondern eine Besatzung, und Besatzung ist lediglich Krieg in anderer Gestalt.

Quelle         :       Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Spontaneously errected grave at the Marsch der Entschlossenen demonstration in Berlin, Germany

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