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Das Haus brennt

Erstellt von Redaktion am 5. August 2023

Die Hitzerekorde und Waldbrände sind erst der Anfang.

Von Bernhard Pötter

In 20Jahren wird dieser Sommer als kühl gelten. Doch die Politik tut noch immer so, als würde ein bisschen mehr Öko helfen. Das Mittelmeer ist zu heiß für die Ferien? Dann fahren wir eben an die Ostsee. Wir gewöhnen uns an die Gefahr, anstatt die Gründe zu beseitigen.

Man stelle sich vor: Hinter den Bränden in der Mittelmeerregion steckt eine klandestine russische Aktion. Und die apokalyptischen Waldbrände in Kanada haben Brandstifter im Auftrag Chinas angefacht. Was wären die Folgen? Man würde erregt über nationale Sicherheit reden und eine radikale Umorientierung in Politik und Diplomatie fordern. Aufgeregte Debatten, mehr Geld für die Bekämpfung des Problems – ja, vielleicht würde eine „Zeitenwende“ ausgerufen. In Deutschland gäbe es angesichts der Bedrohung einen innenpolitischen Burgfrieden und entschlossenes, schnelles Handeln.

Nichts davon geschieht derzeit in der eskalierenden Klimakrise. In der deutschen Politik, im Europaparlament und im UN-Klimaprozess passiert wenig. SPD, FDP und Grüne entschärfen und verzögern das Klimaschutzgesetz. Die FDP feiert sich dafür, das Ende der fossilen Heizungen herauszuschieben und Scheinlösungen wie Wasserstoffheizungen zu propagieren. Der Kanzler mahnt, man dürfe beim Klimaschutz nichts überstürzen, und Oppositionsführer Merz behauptet, es sei ja noch genug Zeit. Währenddessen versuchen seine Unionskollegen im Europaparlament mit dem „Nature Restoration Law“ einen Eckpfeiler des Green Deal zu zerschießen. Und international setzen Öl- und Gasstaaten und ihre Konzerne darauf, die Klimaziele des Pariser Abkommens in Rauch aufgehen zu lassen.

Um die von allen angemahnte 1,5-Grad-Grenze zu halten, müssen wir in sechseinhalb Jahren die globalen Emissionen halbieren. Dafür müssen sie jährlich um sieben Prozent sinken. Bislang sind sie fast nur gewachsen. Wie kann man da davon sprechen, man dürfe nichts überstürzen? Das Haus brennt, aber statt zu löschen, sollen wir erst mal abwarten?

Diese törichte Entspanntheit gelingt uns nur mit einer Fehlleistung: Wir bilden uns ein, das gehe wieder weg. Das Gegenteil ist richtig. Was wir jetzt erleben, ist das neue Normal. Die Extreme von Hitze, Dürren und Wetter sind keine Ausreißer der Statistik, sondern der Anfang einer Entwicklung, die schneller und brutaler passiert als KlimaexpertInnen bisher vermuteten. Der Chef des Umweltbundesamtes mahnt: „Wir sind erst bei 1,1/1,2 Grad globaler Erwärmung. Jeder heiße Sommer, den wir jetzt erleben, wird – von 2030/40 aus betrachtet – ein kühler Sommer gewesen sein.“

Die Weigerung, nun endlich zu handeln, widerlegt auch eine geheime Hoffnung der Klimabewegung. Wenn die Auswirkungen der Klimakrise vor allem in den reichen Ländern direkt sichtbar und spürbar sind, so das Kalkül, dann würde Klimaschutz zum Selbstläufer – schon aus purem Eigeninteresse. Ökoparteien bekämen Zulauf, scharfe Gesetze würden akzeptiert, die Wirtschaft würde Regulierung nachfragen und mit nachhaltigen Produkten Wohlstand schaffen.

Diese Rechnung geht nicht auf. Wer sich die aktuellen Hitzewellen im Mittelmeerraum anschaut, die Waldbrände in Kanada, die New York City mit Smog überziehen, die Überhitzung der Ozeane und die eskalierenden Extremwetter in Indien und China, erkennt: Es gibt kein kollektives Erwachen. Die bisher nur von Experten vorausgesagte Eskalation ist nicht das Warnsignal, das alles ändert. Im Gegenteil: Mit jedem neuen Hitzerekord werden die Bedrohungen für Alte und Kranke „natürlicher“ und als normaler wahrgenommen. Wir ändern unser Denken und Verhalten nicht – wir gewöhnen uns an die Gefahr und suchen nach Angeboten für günstige Klimaanlagen. Am Mittelmeer ist es zu heiß für die Ferien? Dann fahren wir eben an die Ostsee.

Die Unfähigkeit, angemessen auf die Klimakrise zu reagieren, liegt an dem bekannten Dilemma, dass uns hier kein klar identifizierbarer Gegner bedroht, sondern „wir alle“ das Problem schaffen. Etwas tiefer geblickt erkennt man ein weiteres grundlegendes Problem: Die politischen Eliten begreifen die Klimakrise nicht und versagen daher bei ihrer effektiven Bekämpfung.

Die Erdüberhitzung ist anders als die meisten Krisen: Sie ist kumulativ. Das Problem wird immer größer, je länger wir warten. Wir müssen daher sofort handeln. Sie fordert jetzt Maßnahmen, die sich erst in der Zukunft auszahlen. Sie ist global und erfordert Kooperation in einer Weltlage, die derzeit auf Konfrontation setzt. Und vor allem: Sie ist nur mit neuen Strukturen zu lösen, mit disruptiven Entscheidungen. Schrittweise Lösungen, „weitermachen wie bisher, nur ein bisschen grüner“ wären vor 20 Jahren möglich gewesen. Heute nicht mehr. Heute kann es nicht mehr zu viel, sondern nur noch zu wenig Klimaschutz geben.

Die Idee, dass nur noch disruptive Lösungen helfen, kommt nicht von radikalen AktivistInnen, sondern vom Weltklimarat IPCC – einem Gremium, in dem die Regierungen der UN-Staaten gemeinsam mit der Wissenschaft den Stand der Dinge im Klimawandel festhalten.

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Für Deutschland bedeutet dieses Disruptive ernst zu nehmen einen rasanten, durchgreifenden Wandel des Bewusstseins von – nicht so schlimm zu Alarm. Ein erster kleiner Schritt dorthin wäre, dass die aktuelle IPCC- „Zusammenfassung für Entscheidungsträger“ Pflichtlektüre für alle politischen Mandatsträger, Aktionärsvertreter und Abiturklassen wird. Der nächste Schritt ist: Der Bundestag beschließt, dass jedes staatliche Handeln auf der Basis des 1,5-Grad-Pfads geschehen muss und den Klimaschutz nicht bremsen darf. Wer das zu radikal findet, sei daran erinnert, dass behördliches Handeln an das Recht gebunden ist. Demnach darf kein staatliches Handeln gegen Gesetze verstoßen und kann nur auf der Grundlage von Gesetzen geschehen. Analoges müsste für den Klimaschutz bei staatlichem Handeln gelten. Diesen „Klima-Check“ für alle Gesetze hat die Ampel schon in ihrem Koalitionsvertrag fixiert. Das war eine gute Idee, die seitdem sanft vor sich hin schlummert.

Nötig wäre, dass der Kanzler eine „Zeitenwende“ in der Klimapolitik ausruft und 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Klimasubventionen wie Gebäudeisolierung, eine Solarpflicht für alle Dächer und Speicherforschung lockermacht. Weil Klimaschutzpolitik nur gemeinsam geht und jede Partei dafür ver­antwortlich ist, müssten alle drei Regierungsparteien für sie schwierige Kompromisse eingehen. Die FDP akzeptiert Tempolimit und schuldenfinanzierte Klimahilfen, die Grünen den LNG-Ausbau und EU-Hilfen für Atomkraft in der EU, die SPD den Kohleausstieg auch im Osten Deutschlands 2030.

Damit endlich schnell und effizient gehandelt wird, müssen sich Gesellschaft und Politik in Deutschland von ein paar liebgewonnenen Erzählungen rund um Klimapolitik verabschieden. Dazu gehört das von fast allen verbreitete bequeme Versprechen, Klimaschutz werde „nichts kosten“. Das Gegenteil ist der Fall. Der CO2-Preis soll und muss das Verhalten von Verbrauchern steuern und Einnahmen für Klimaschutz generieren. Es gibt kein Menschenrecht auf Kreuzfahrten, Langstreckenflüge und Billigfleisch. Der Staat muss umweltschädliches Verhalten besteuern, nicht subventionieren – und über ein Klimageld diese Einnahmen sozial gerecht zurückverteilen.

Quelle       :             TAZ-online             >>>>>           weiterlesen

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Nigers Bodenschätze

Erstellt von Redaktion am 4. August 2023

In Niger geht es auch um Uran und Ausbeutung

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martin Sonneborn /  Red. Martin Sonneborn ist Mitglied des EU-Parlaments («Die Partei»).

Niger ist der siebtgrösste Uranproduzent, aber drei Viertel seiner Einwohner sind an kein Stromnetz angeschlossen.

In Frankreich gibt es keine einzige aktive Goldmine. Dennoch besitzt dieser ehemals verbrecherische Kolonialstaat mit 2’436 Tonnen die viertgrössten Goldreserven der Welt.

Die ehemals französische Kolonie Mali besitzt genau 0,0 Tonnen Gold, obwohl es mehrere Dutzend Minen, darunter 14 offiziell, im Land gibt. Es werden dort pro Jahr ganze 70 Tonnen davon abgebaut. Von den Einnahmen aus knapp 60 Tonnen Gold, die von (schätzungsweise) 600’000 Kindern in der ehemals französischen Kolonie Burkina Faso geschürft werden, gehen nur 10 Prozent an das Land, aber 90 Prozent an multinationale Goldgräberkonzerne.

Ähnlich wie beim Gold funktioniert es beim Uran: Die letzte seiner 210 Uranminen hat Frankreich im Jahr 2001 geschlossen. Seither werden alle mit dem umwelt- und gesundheitsschädlichen Uranabbau verbundenen Probleme, einschliesslich der Gefahren radioaktiver Verstrahlung, vorsorglich nach woanders exportiert.

Französischer Konzern hat in Niger das Sagen

Aus dem westafrikanischen Niger stammen etwa ein Viertel der europäischen und ein Drittel der Uranimporte Frankreichs, das mit 56 Kernkraftwerken einen ausbaufähigen Spitzenplatz unter den Atomstromexporteuren der Welt belegt. Beschafft wird deren betriebsnotwendiger Brennstoff vom staatlichen Nukleargiganten Orano (ehemals Areva), der den höchsten und (passenderweise auch) schwärzesten Granitbau unter den Wolkenkratzern des Pariser Kapitaldistrikts La Défense besitzt. Mit Geheimverträgen wird das Uran beispielsweise aus Niger importiert, wo der Konzern sich drei gewaltige Uranminen sowie die Mehrheitsbeteiligung an Nigers Staatsunternehmen für Uranaufbereitung (Somaïr) unter den Nagel gerissen hat.

Die ehemals französische Kolonie Niger verfügt über die hochwertigsten Uranerze Afrikas und ist der siebtgrösste Uranproduzent der Welt, aber der Weltbank zufolge sind drei Viertel seiner Bürger noch nicht einmal ans Stromnetz angeschlossen. 40 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, ein Drittel der Kinder ist untergewichtig, die Analphabetenquote liegt bei 63 Prozent. Nur die Hälfte der Einwohner hat Zugang zu sauberem Trinkwasser, nur 16 Prozent sind an eine angemessene Sanitärversorgung angeschlossen.

Das gesamte Staatsbudget Nigers, eines Landes mit der dreifachen Fläche der Bundesrepublik, ist mit rund 4,5 Milliarden Euro nicht grösser als der jährliche Umsatz des französischen Atomkonzerns Orano. Trotz seiner Uran- und Goldvorkommen lag der Niger im Entwicklungs-Index zuletzt auf Platz 189 von 191 erfassten Staaten.

Frankreich hat im Zuge der «Dekolonisierung» der 1960er Jahre seine vormaligen Kolonien zwar in die formale Unabhängigkeit entlassen, hinterliess ihnen allerdings Staats- und Rechtsordnungen, die – wie in der Kolonialzeit – darauf ausgelegt waren, die Bevölkerung einerseits mit möglichst geringem Aufwand zu kontrollieren und andererseits so viele Rohstoffe zu exportieren wie irgend möglich.

Vorkaufsrechte und an Euro gebundene Währung

Nicht genug, dass Frankreich sich über den sogenannten Kolonialpakt in Françafrique weiterhin das Vorkaufsrecht auf alle natürlichen Ressourcen und den privilegierten Zugriff auf Staatsaufträge gesichert hat, es zwingt den Staaten seither ebenso seine irrwitzige Kolonialwährung CFA-Franc auf, die jede autonome Geld-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik der nur formal souveränen Staaten nachhaltig verunmöglicht. Die vierzehn CFA-Staaten sind nicht nur durch einen festen Wechselkurs an den Euro gekettet, was ihnen 1994 eine Abwertung von fünfzig Prozent einbrachte, sondern haben auch jeden Zugriff auf 85 Prozent ihrer Währungsreserven verloren, die sie gezwungenermassen bei der Agence France Trésor hinterlegen müssen.

Alle CFA-Staaten sind in hohem Masse rohstoffreich und nicht weniger hochverschuldet. Burkina FasoMali und Niger gehören trotz ihrer immensen Bodenschätze zu den ärmsten Ländern der Welt. «Meine Generation versteht das nicht», sagt der 35-jährige Staatschef Burkina Fasos, Ibrahim Traoré. «Wie kann Afrika, das über so viel Reichtum verfügt, zum ärmsten Kontinent der Welt geworden sein?»

Nicht «unterentwickelt», sondern «überausgebeutet»

Ganz einfach, sagt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Michael Parenti. Arme Länder sind nicht «unterentwickelt», sondern «überausgebeutet» («not underdeveloped but overexploited»).

Es gib also Gründe dafür, dass in Niamey, der Hauptstadt Nigers, die französische Botschaft brennt.

Es gibt Gründe dafür, dass die Bürger in den Strassen west- und zentralafrikanischer Staaten nicht die französische Trikolore oder das kobaltblaue Europabanner, sondern die Flagge Russlands bei sich tragen.

Und ob es uns oder der EU nun gefällt oder nicht, sieht ein wachsender Teil der vor allem jüngeren afrikanischen Bevölkerung in Putin keineswegs einen Bösewicht, sondern den Vorkämpfer einer globalen Freiheitsbewegung, die gegen die – unter dem Deckmantel der «Demokratie» – von Akteuren des geopolitischen Westens aufrechterhaltene Ausbeutungs- und Unterwerfungsordnung in ihren Landstrichen gerichtet ist.

Rohstoffraub, Ausplünderung, Übervorteilung

All dies wird sich nicht mit guten – oder mit gut geheuchelten – Worten in Luft auflösen lassen, nicht durch die Streichung «verletzenden» Kinderromanvokabulars, nicht durch tolpatschige EU-«Informationskrieger» und noch weniger durch konzertiertes Bombengewitter, sondern nur dadurch, dass sich nach Jahrhunderten nun endlich einmal die realen Beziehungsverhältnisse des Westens zum Globalen Süden ändern. Und Unterdrückung, Bevormundung, Ausplünderung, Rohstoffraub und Übervorteilung durch mafiös ungleiche Handelsverträge ihr überfälliges Ende nehmen.

Die USA sind – in dieser und manch anderer Hinsicht – bekanntlich ein hoffnungsloser Fall, die EU vielleicht noch nicht. Je länger sie sich dem von ihr zu vollziehenden Paradigmenwechsel zu entziehen versucht oder ihm gar mit Gewalt begegnet, desto schlimmer wird es für sie ausgehen.

Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn die EU beim nächsten Gipfel mit Afrika oder Lateinamerika die angereisten Staatsoberhäupter einmal durch dasselbe Hauptportal ins Konferenzgebäude schreiten liesse, das sie selbst benutzt, anstatt ihre fremdkontinentalen Gäste immerfort durch den schmucklosen Seiteneingang zu schleusen.

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P.S.: Einen Ersteindruck ihrer intellektuellen Satisfaktionsfähigkeit gibt die nigrische Militärregierung übrigens selbst. Auf die Ankündigung der USA, jegliche Hilfsgeldzahlung an den Niger einzustellen, habe das Regime – afrikanischen Quellen zufolge – ausrichten lassen, der demokratische Weltmarktführer möchte seine Hilfe behalten und sie für die Millionen Obdachloser in den Vereinigten Staaten verwenden: «Nächstenliebe beginnt zu Hause.»

P.P.S.: Ibrahim Traoré ist nicht nur Staatschef von Burkina Faso, sondern als Absolvent der Universität Ouagadougou und der örtlichen Militärakademie auch Geologe und Offizier. Als jüngstes und smartestes Staatsoberhaupt der Welt droht der 35-Jährige daher völlig zu Recht zum Hoffnungsträger der westafrikanischen Erhebung gegen Neokolonialismus und westliche Dominanz zu werden. Auch Traoré hat die französischen Truppen vor die Tür gesetzt und den Export von Gold und Uran nach Frankreich und in die USA untersagt, während er eine regionale Allianz mit Niger, Guinea, Mali und Algerien schmiedet.

P.P.P.S.: Frankreich und die USA drohen – selbst und über ihre Mittelsleute von ECOWAS – mit einem gewaltsamen Eingriff zur Wiederherstellung der «demokratischen» Ausbeutungsordnung. Sieht aus, als hätten unsere kriegsbegeisterten Honks demnächst die Wahl, ob sie die westliche Welt lieber in der Ukraine (Team Blackrock) oder in Westafrika (Team Atomstrom) verteidigen wollen. Das ist das Schöne am Kapitalismus. Er sorgt stets für reichhaltige Auswahl.

Eine militärische Intervention der Achse USA-Frankreich-Grossbritannien-ECOWAS in Niger, so erklärten es Burkina Faso und Mali soeben, würden sie als «Kriegserklärung» gegen sich selbst auffassen. Eine deutliche Ansage, die der malische Regierungssprecher Abdoulaye Maïga für die traditionell etwas begriffsstutzigen Demokraten aus Nord-Nordwest ein weiteres Mal und – wohl um der Deutlichkeit willen –noch ein drittes Mal wortgleich wiederholt. Guinea sieht das ähnlich, und auch Algerien, das ein militärisches Kooperationsabkommen mit Niger unterhält, wird «im Falle einer ausländischen Intervention nicht untätig bleiben».

Das Letzte, was Westafrika braucht, ist zufälligerweise auch das Letzte, was wir und Sie, und ist zufälligerweise auch das Letzte, was der ganze Rest der Welt braucht: einen weiteren Krieg.

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Zwischentitel von der Redaktion. Hier zur Webseite von Martin Sonneborn.

Hilferuf von Swissaid

Red. «Die gegen Niger verhängten Sanktionen treffen die Notleidenden im ärmsten Land der Welt», erklärte der Leiter des Swissaid-Büros in Niger, Mahamane Rabilou Abdou, am 3. August im «Tages-Anzeiger». Das Land mit 26 Millionen Einwohnern sei auf den Import von Grundnahrungsmitteln, Benzin und Strom angewiesen. Trotzdem beschlossen die Westafrikanischen Staaten (Ecowas), die Grenzen zu Niger zu schliessen. In wenigen Tagen seien die Preise um einen Viertel angestiegen.

Bereits im letzten Jahr seien vier Millionen Menschen in Niger von Mangel- und Unterernährung betroffen gewesen. Wegen einer anhaltenden Dürre drohten auch dieses Jahr grössere Ernteverluste.

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Schlag um Schlag

Erstellt von Redaktion am 3. August 2023

Schlacht um die Bäume im Thüringer Wald

AUS GRUMBACH, SCHLEIZ UND TAUTENBURG HEIKE HOLDINGHAUSEN

Eine Bürgermeisterin in Thüringen will Fällarbeiten in einem Vogelschutzgebiet verhindern. Das Forstamt sagt, sie behindere damit sinnvollen Naturschutz. Aber wer kontrolliert, was das ist?

Wie schafft diese Frau das so schnell über den schlammigen Waldweg, ohne auszurutschen? Zielstrebig umkurvt sie Matsch und Pfützen, springt mal links, mal rechts auf den hohen Wegrand und ist schließlich am Ziel. „Jetzt schau’n Sie sich das an“, ruft sie mit ihrem breiten oberbayerischen Zungenschlag. Sie starrt auf die weite Fläche vor ihr. „Ich könnt heulen.“

Die weite Fläche, deren Anblick Daliah Natascha Bothner so bewegt, war mal ein Fichtenforst. Jetzt bilden Äste und Nadeln ein federndes, kniehohes Gewirr. Behende klettert Bothner, ehrenamtliche Bürgermeisterin von Grumbach, einem Ortsteil von Wurzbach ganz im Süden von Thüringen, darüber hinweg. Die Bürgermeisterin erklimmt einen breiten Baumstumpf und reckt ihren Kopf. Eine kleine, schlanke Frau, die schwarzen Haare elegant zurückgesteckt. So steht sie an einem eher trüben Tag im Juli auf dem Baumstumpf und späht wütend zum Waldrand.

Vor zehn Jahren ist Bothner vom Tegernsee nach Grumbach gekommen. Als Orientierungspunkt die nächstgrößere Stadt zu nennen ist schwierig. Grumbach liegt irgendwo im Grünen zwischen Hof, Jena und Suhl, an der Landesgrenze zu Bayern. Die Gegend ist sanft hügelig, waldreich und beschaulich. Für die Bergkuppe bei Grumbach gilt das allerdings nicht mehr.

Dort, im Blickfeld von Bothner, arbeitet ein Harvester, eine baggergroße Erntemaschine mit langen Greifarmen, die Baumstämme packen, abschneiden und umlegen können, als wären sie Grashalme. Sie schnappen sich eine Fichte, sie wackelt kurz, es staubt, es kracht, dann liegt sie. Brutal sieht das aus. Äste ab, Krone ab, in Sekundenschnelle wird aus dem Baum ein Stamm, der auf einem großen Stapel landet. Eine zweite Erntemaschine greift ihn und transportiert ihn schwankend über das Ast-Nadel-Dickicht zum Waldweg. Dort schichtet sie den Stapel auf einen noch größeren Stapel; in Lkw-Höhe säumt er den Waldweg. Dahinter noch einer und noch einer. „Das war mal ein Wanderweg“, sagt Bothner und bahnt sich hüpfend einen Weg zurück: „Den haben sie total zerstört.“

Seit März verwandeln Erntemaschinen den Fichtenforst auf der Bergkuppe nahe dem Örtchen in eine Reihe von harzig duftenden Holzstapeln. Sie arbeiten im Auftrag der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA), vor Ort vertreten durch ihren zuständigen Bundesforstbetrieb Thüringen-Erzgebirge – der Forst ist ein Staatswald. Er ist zugleich auch ein Vogelschutzgebiet nach europäischem Recht und entsprechend streng geschützt, der Schwarzstorch kommt hier vor.

Die Fällarbeiten in diesem Forst, ist Bothner deshalb überzeugt, sind illegal. Sie ist auch davon überzeugt, dass dort Windkraftanlagen gebaut werden sollen, am Willen der Bürger vorbei. Eine objektive Grundlage für Bothners Windkraft-Befürchtungen gibt es allerdings nicht, doch um Windkraftanlagen soll es hier auch nicht gehen. Seit März, seitdem die Holzfäller unterwegs sind, liegt Bothner nächtelang wach, sie schaltet frühmorgens um drei Uhr ihren Rechner an und googelt nach Möglichkeiten, die Erntemaschinen zu stoppen.

Sie hat sich an die Forstverwaltung gewandt, an Naturschutzverbände, an das Bundesamt für Naturschutz, an die Kriminalpolizei, das Bundesumwelt-, das Bundesjustiz- und das Landwirtschaftsministerium, und auch an die EU-Kommission. Es könne doch nicht sein, sagt sie, dass mitten in der Brutzeit ein streng geschütztes Vogelschutzgebiet abgeholzt wird: „Ich darf in der Zeit nicht mal meine Hecke schneiden, und die räumen hier den ganzen Wald ab?“

Tatsächlich erscheint Bothners Frage nicht abwegig. Weil der Zustand der Natur in Europa sich rapide verschlechtert, schreiben EU-Kommission, Parlament und Rat seit Anfang Juli am „Nature Restauration Law“, dem EU-Renaturierungsgesetz, das Schutzgebiete mit konkreten Vorgaben und Maßnahmen wieder in gute Lebensräume verwandeln soll. Wie kann es also sein, dass in einem Schutzgebiet die Harvester anrücken?

Zuständig für das Vogelschutzgebiet bei Grumbach sind, einige Ebenen unterhalb der EU-Kommission, zunächst mal: Heiko Günther und Veit Müller. Günther, 55, leitet den Fachdienst Umwelt des Landkreises Saale-Orla-Kreis und ist somit unter anderem auch Chef der unteren Naturschutzbehörde. Die muss den gesetzlichen Artenschutz im Landkreis überwachen und durchsetzen. Müller, 32, ist seit Anfang des Jahres stellvertretender Leiter des Forstamtes Schleiz. Günther hat sich im türkisfarbenen Poloshirt hinter den Besprechungstisch seines schmalen Büros im Land­rats­amt Schleiz gequetscht und erklärt geduldig, wie seine Behörde den Artenschutz bei Grumbach sicherstellt. Und dass die Fällmaßnahme den Wald nicht vernichten, sondern schützen soll.

Der zuständige Förster des Bundesforsts Thüringen-Erzgebirge hatte im Frühjahr das Gespräch mit dem Forstamt Schleiz gesucht. Wie an vielen Stellen in der Region hatte der Borkenkäfer die Fichten auch in den bundeseigenen Forsten bei Grumbach befallen. „Normalerweise würde sich eine gesunde Fichte gut gegen den Käfer wehren können“, schreibt die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben in Bonn auf Nachfrage. „Wenn er sich in die Rinde bohrt, sondert der Baum Harz ab und tötet so den Käfer. Nur wenige Exemplare schaffen es dann einzudringen und sich dort zu vermehren.“

Aufgrund der Trockenheit der vergangenen Jahre seien die Fichten jedoch häufig so geschwächt, dass sie nicht mehr ausreichend Harz produzieren könnten, der Borkenkäfer könne die Fichten ungehindert befallen, sich explosionsartig vermehren und so auch gesunde Bäume und ganze Forste vernichten. Deshalb sei es „dringend notwendig, befallene Bäume zu fällen und aus dem Wald zu entfernen, bevor sich die Borkenkäfer fertig entwickelt haben“, so die Bundesanstalt.

Im Fall Grumbach lief die Sache so ab, wie sie üblicherweise abläuft: Der Förster des Bundesforstes wandte sich an die Kollegen vom Forstamt Schleiz. Der Bundesforst fungiert als Überwachungsbehörde und übernimmt hoheitliche Aufgaben. Auf die Frage, ob man sich in Grumbach durch die behördlichen Maßnahmen überwacht fühle, lächelt Müller: „Wir besprechen sie“, sagt er.

Leuchten die Maßnahmen ein – und das sei in Grumbach der Fall gewesen, der Borkenkäfer müsse bekämpft werden, sagt Müller –, dann füllt der Bundesförster ein Formular aus, eine sogenannte Erheblichkeitsprüfung. In diesem Formular wird abgefragt, ob die Maßnahme einen „erheblichen Eingriff“ in das Schutzgebiet bedeutet. Die Einschätzung, ob ein Einschlag in einem Forst einen erheblichen Eingriff darstellt, nimmt also der Förster vor, der den Einschlag plant.

„Ein erheblicher Eingriff wäre etwa, wenn der Horst eines Schwarzstorches betroffen wäre“, sagt Müller. Wenn es Vorkommen von geschützten Tieren gebe, wie etwa Schwarzstorch oder Haselhuhn, dann lege man dort auch ein Augenmerk drauf, „wir gehen ja nicht mit geschlossenen Augen durchs Kreisgebiet“. Das Formular geht an die untere Naturschutzbehörde, dort wird es abgeheftet. Eine Prüfung erfolgt nur bei einem begründeten Verdacht auf eine erhebliche Beeinträchtigung. Ist der Eingriff nicht erheblich, kann die Maßnahme stattfinden. Ist er erheblich, wird weiter geprüft.

Bei der Maßnahme in Grumbach sei das nicht nötig gewesen, sagt Günther. Ein Kahlschlag, wie die Ortsbürgermeisterin kritisiere, werde dort auch gar nicht durchgeführt. Bei „Borkenkäfersanierungsmaßnahmen“ handele es sich aus rechtlicher Sicht auch nie um Rodungen und Kahlschläge, sagt Förster Müller. Der Waldbesitzer sei gar zu Fällarbeiten verpflichtet, weil umliegende Waldflächen gefährdet seien und eine weitere „rasante Verbreitung des Borkenkäfers dem Gemeinwohl der Gesellschaft“ entgegenstehe.

Also hat die untere Naturschutzbehörde die Sache zu den Akten gelegt – bis Bürgermeisterin Both­ner loslegte.

Eine einzelne Mitarbeiterin hat Günther in seiner unteren Naturschutzbehörde, die für den Artenschutz zuständig ist. „Sie macht den gesamten Artenschutz in den Biotopen, aber sie überwacht auch die Exoten, Vogelspinnen, Papageien, Schildkröten und so weiter“, sagt Günther. Die Mitarbeiterin kontrolliert also das Forstamt und stellt sicher, dass es den Artenschutz berücksichtigt? Günther und Müller lachen. „Ich würde nicht von kontrollieren, sondern vielmehr von einem Zusammenspiel sprechen“, sagt Günther. Es müsse ja nicht sein, dass die Verwaltung sich gegenseitig beschäftige, sagt Müller.

Ob die Mitarbeiterin regelmäßig ein Monitoring der Arten in den Schutzgebieten des Kreises durchführe? Günther guckt ungläubig. „Dazu kommt sie doch gar nicht“, sagt er, „das Monitoring macht das Land.“ Wie oft? Die Schutzgebiete würden auf jeden Fall gut gemanagt, sagt er. Und, fügt er hinzu, dass die Gesetzgeber in Berlin und Brüssel sich überlegen müssten, wer das vor Ort alles umsetzen solle, was sie so beschließen. Jede neue Bestimmung über Grenzwerte in Industrieanlagen, neue Vorschriften für Verpackungsabfälle, Gewässer- oder eben Artenschutz – all das müssten sie hier im Kreis überwachen und durchsetzen.

Quelle          :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Schwarze Löcher

Erstellt von Redaktion am 2. August 2023

Es fällt schwer, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden.

Ein Schlagloch von Georg Diez

Es gibt kein richtiges Morgen mehr, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit verlangt. Die Zeit ist nicht wirklich aus den Fugen, sie ist mehr wie der Regen – sie kehrt wieder, in immer neuen Schüben.

Wie finden wir eine neue Sprache für das Politische? Oder, weitergefasst, eine neue Sprache für das, was wir erleben? Wie drücken wir aus, dass wir Teil sind einer sich rapide und massiv verändernden Welt und Wirklichkeit? Weil die alten Worte diese neue Wirklichkeit nicht richtig erfassen.

Die Regentropfen schlagen hart gegen die Scheibe. Ich spüre die Präsenz meines Sohnes im Zimmer. Auch er schaut aus dem Fenster der Wohnung. Auch er sieht diesen Regensturz, den dritten oder vierten heute schon. Sie kommen in Wellen, die schwarzen Wolken schieben sich über die Stadt. Sie entladen sich heftig. Dann klart der Himmel auf, es scheint vorüber, das Blau tritt durch die Wolken. Bis sich von Neuem die Wolken verdichten, das Grau immer dunkler wird und der Regen wiederkehrt, als Menetekel einer Welt im Klimawandel. Ich spüre seine Angst und Verwunderung, oder vielleicht ist es auch das, was er bei mir sieht und nur spiegelt. Wir sprechen darüber, kurz nur, weil wir schon öfter darüber gesprochen haben; weil ich auch nicht weiß, wie sehr ich ihn überhaupt mit in diese Realität und Reflexionen einbeziehen soll. Er weiß es doch sowieso. Dieser verdammte Regen, sagt er, dieser verdammte Klimawandel. Er ist sieben. Er sagt das, was er fühlt, er sagt das, was er um sich sieht, er sagt das, was von ihm erwartet wird. Ich kann ihm nicht wirklich antworten, die Details verlieren sich, das Endspiel ist überwältigend.

Was bleibt, ist die Erfahrung. Wir stehen zusammen in unserer Ratlosigkeit. Wir warten darauf, dass der Regen vorübergeht. Wir sind verbunden in der Wortlosigkeit. Er hat Erwartungen, an mich, an den Vater. Ich will ihm helfen, diese Welt zu verstehen, aber ich muss erkennen, dass das schwerer und schwerer fällt, weil die Kategorien sich so verschoben haben. Die Zeit, zum Beispiel, sie ist nicht wirklich aus den Fugen, wie es Shakespeare schrieb, sie ist mehr wie der Regen, sie kehrt wieder und wieder, in immer neuen Schüben, leicht verändert, die gleiche Zeit, in unterschiedlichen Wellen.

Wie können wir uns in dieser neuen Zeit, der verschobenen Zeit zurechtfinden? Es gibt dieses Gestern, Heute, Morgen nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in der unschuldig erwartungsoffenen Klarheit. Es gibt auch kein Morgen, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit verlangt, weil sie uns festhält und fesselt; und es gibt nur noch das Morgen, das die Gegenwart überragt, als Rätsel, als Drohung, als Frage zumindest, was wird, in einer Entwicklung, die, ja, wie verlaufen wird? Linear, der Anstieg der Temperaturen weltweit? Zyklisch, die Wiederkehr biblisch bekannter Plagen? In Wellen, als Erkennen und Anpassen? Als Teilchen, punktuelle Erfahrung? Niels Bohr hat diesen Widerspruch so benannt, für den „Quanten-Moment“, das Licht als Welle und als Teilchen zugleich. Da ist die Erkenntnis, dass die Physik unserer Welt so ganz anders ist, als wir es in der Schule gelernt haben, als wir es uns seit Jahrhunderten vorgestellt haben: Das ist eine neue Welt, sagt er, gerade sehr eindrucksvoll im Kino zu sehen in dem Film „Oppenheimer“, der seine ganz eigene endzeitliche Aktualität menschlicher Hybris hat. Er sagt es aber auch zu uns: Die Paradoxie ist real, der Widerspruch ist der Schlüssel zum Wesen unserer Zeit.

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Das bedeutet, dass wir die Schwarzen Löcher unserer Gegenwart sehen und anerkennen. Aber was bedeutet es, Schwarze Löcher anzuerkennen, was bedeutet es, das überinformierte Nichtwissen zur Grundlage von Erkenntnis und Entscheidung zu machen? Was bedeutet es für Individuen, in ihrer Psychologie, was bedeutet es für Gesellschaften und die Politik, die dafür zuständig ist, gemeinsame Antworten zu finden?

Wie verändert sich dadurch das Wesen der Politik, die nicht mehr mit dem Versprechen von Lösungen oder Antworten hantiert, sondern den Zweifel in dem Mittelpunkt stellt? Wie kann eine Politik aussehen, die diese Offenheit in sich aufnimmt, verdeutlicht, selbst zum Teil ihres Versprechens macht? Wie kann man Wahlen mit dem Zweifel gewinnen? Und was bedeutet das für Wahlen, die zum Fetisch der Demokratie geworden sind, die ja aber nicht alles sind oder zumindest nur eine historisch kontingente Form der Demokratie?

Was bedeutet es aber für die Sprache selbst, das eigentliche Medium der demokratischen Politik? Wie benennen die Akteure das, was sie tun? Wie benennen aber auch die Bürger*innen, was sie wünschen, fordern, fühlen? Wie lassen sich Emotionen in ein, wenigstens der Theorie nach, rationales Konzept von demokratischer Politik einbauen? Wie ändert sich dieses Konzept dadurch, oder das Konzept von Rationalität? Wie kann, und das ist die Verbindung zum „Quanten-Moment“, die Theorie auf eine Ebene mit der Wirklichkeit gebracht werden, die sich radikal verändert hat?

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Klimawandel und Politik

Erstellt von Redaktion am 2. August 2023

Mehr Küstenstädte als bisher angenommen werden überflutet

File:Jakarta overstroming 2002.JPG

Jakarta ist regelmässig von Überschwemmungen betroffen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :       Daniela Gschweng /  

Radarmessungen der Küsten seien alt und ungenau, sagen zwei Forscher. Es sind mehr Küstenabschnitte gefährdet.

Prognosen darüber, wie schnell und wie stark der Meeresspiegel ansteigen wird, sind mittlerweile fester Bestandteil von Klima- und Zukunftsszenarien. Nicht ohne Grund – der Grossteil der Menschheit lebt an Küsten. Die Daten, auf denen Vorhersagen basieren, sind jedoch oft alt und ungenau, fanden zwei Forschende heraus. Einige Küstenhöhen müssen sehr wahrscheinlich nach unten korrigiert werden.

Viele Messungen sind so ungenau, dass man sie nicht verwenden könne, schrieben die Datenanalytiker Ronald Vernimmen and Aljosja Hooijer in einer im Januar publizierten Studie.

Das liegt vor allem an der verwendeten Messmethode. Höhenunterschiede an Land wurden früher ausschliesslich mit Radar gemessen. Bei der Messung wird ein Gebiet mit Radarwellen belegt. Anschliessend wird aufgenommen, wie lange die Reflexion auf sich warten lässt.

Viele Prognosen basieren auf ungenauen Radar-Daten von 2000

Dabei kommt es öfter zu Messfehlern. Ein Wäldchen oder einige Gebäude auf dem vermessenen Gebiet ergeben dann eine falsche Höhe. In tropischen Wäldern könne die Messung mehr als 20 Meter abweichen, sagte Vernimmen zum «Hakai Magazine».

Inzwischen ist man zu Lidar-Messungen übergegangen. Diese funktionieren nach dem gleichen Prinzip, arbeiten aber mit Laserstrahlen und sind weit präziser. Viele Studien und Prognosen über den Meeresspiegelanstieg verwenden SRTM-Daten, die das Space Shuttle vor 23 Jahren gesammelt hat (Shuttle Radar Topography Mission, SRTM). Noch genauer wird die Messung, wenn sie von Flugzeugen aus gemacht wird statt per Satellit. Solche Messungen sind aber teuer.

Viermal mehr Land betroffen als bisher angenommen

Die Neuberechnung der Wissenschaftler sagt voraus, dass insgesamt rund 482’000 Quadratkilometer Land untergehen könnten. Das heisst, bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter gegenüber 2020 würde fast viermal so viel Land überflutet wie bisher vorhergesagt.

Betroffen wären vor allem Länder mit grossen, dicht bevölkerten Flussdeltas, wie Bangladesch, Myanmar und Pakistan, oder solche mit flachen Küstenlinien wie die Niederlande. Bis wann genau, ist zwar schwer zu sagen. Es könnte aber schneller gehen als bisher angenommen.

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Zu den vom Meeresspiegelanstieg (mean sea level rise, MSL) besonders betroffenen Gebieten gehören zum Beispiel die Delta-Regionen grosser Flüsse. © Vernimmen, Hooijer

Genaue Prognosen sind komplexe Mathematik

Prognosen über den Meeresspiegelanstieg an einem bestimmten Ort sind eine komplexe Angelegenheit. Unter anderem, weil Küstenlinien unregelmässig sind und sich Wasser nicht gleichmässig über den Globus verteilt (Infosperber berichtete).

Auch das Ufer bewegt sich – im ungünstigen Fall nach unten. In der indonesischen Hauptstadt Jakarta beispielsweise sinkt der Boden ab. Deshalb ist die Stadt vom steigenden Wasserspiegel zusätzlich bedroht. Die Regierung hat bereits begonnen, die Hauptstadt auf die Insel Borneo zu verlegen.

Recht genau berechnen können Forschende, wie stark sich die Ozeane bei steigender Temperatur ausdehnen werden. Wie viel Eis in den kommenden Jahren und Jahrzehnten schmelzen wird, ist schon schwerer abzuschätzen.

Am wichtigsten ist, wie heftig und wie häufig extreme Wetterereignisse wie Stürme und Starkregen werden und wie hoch das Wasser in solchen Extremsituationen steigt. Der Weltklimarat IPCC rechnet bisher mit 60 bis 110 Zentimetern Meeresspiegelanstieg bis Ende des Jahrhunderts (IPCC AR6).

Forschende sprechen von «neuer Zeitachse»

Die Neueinschätzung ist ein Alarmsignal. In den Niederlanden, in Italien, im Senegal und in vielen anderen Ländern wird heute entschieden, wo in den kommenden Jahren Deiche verstärkt, Menschen umgesiedelt oder Bauvorhaben geplant werden. Für die betroffenen Länder und Städte geht es um Zentimeter. Bisher schätzte Indonesien beispielsweise, dass bis 2050 ein Drittel von Jakarta überflutet sein wird. Was, wenn es deutlich mehr ist?

Nach Vernimmens und Hooijers Berechnungen wären rund 132 Millionen Menschen direkt betroffen, wenn der Wasserspiegel um einen Meter steigt. Die beiden niederländischen Forscher haben ihre Daten öffentlich verfügbar gemacht. «In der Hoffnung, dass die betroffenen Regierungen die neue Zeitachse zur Kenntnis nehmen», zitiert das «Hakai Magazine».

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Grafikquellen        :

Oben      —      Jakarta ist regelmässig von Überschwemmungen betroffen

Author Hullie at Dutch Wikipedia
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Attribution: Hullie

 

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Wo ist der Gegenentwurf?

Erstellt von Redaktion am 31. Juli 2023

Die Protestbewegung muss solidarisch sein mit den Pa­läs­ti­nen­se­rn …

Aber die Angebote zur Befriedung müssen von der Macht ausgehen !

Ein Debattenbeitrag von Gil Shohat

…. aber auch mit dem legitimen Interesse der jüdischen Bürger an einem Leben in Sicherheit. Weiterhin braucht es eine Verbindung mit der im Land höchst virulenten sozialen Frage und dem Rassismus.

Es gab im israelischen Parlament, der Knesset, einen symbolischen Moment an diesem für die Geschichte Israels denkwürdigen 24. Juli 2023. In Live-Aufnahmen der Plenardebatte zur Abschaffung der sogenannten „Angemessenheitsklausel“, mit der das israelische Oberste Gericht bisher Regierungsentscheidungen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Interesse der Allgemeinheit kassieren konnte, ist zu sehen, wie Verteidigungsminister Yoav Gallant vehement auf Justizminister Yariv Levin, den Architekten dieser radikalen Schwächung des Justizsystems, einredet. Levin solle wenigstens eine der unzähligen Einwände der Opposition in den Gesetzestext aufzunehmen, um zumindest ein kleines Entgegenkommen zu signalisieren „Gib ihnen doch etwas!“, sagt Gallant mehrmals. Levin beharrt darauf, dass der Gesetzesentwurf genauso durchgehen werde. Zwischen den beiden sitzt Premierminister Benjamin Netanjahu, scheinbar geistig abwesend, als ob ihn das alles nichts angehen würde. Er lässt die beiden munter auf offener Bühne streiten, während er parallel einen weiteren Einwand der Opposition mit seiner Stimme ablehnt. Kurze Zeit später steht er kommentarlos von seinem Sitzplatz auf und verlässt den Plenarsaal.

Dieses Video lief am Abend nach der Abschaffung der „Angemessenheitsklausel“, die trotz monatelanger, bisher nie dagewesener Proteste der israelischen Bevölkerung durchgesetzt wurde, in allen Hauptnachrichtensendungen des Landes. Der Tenor: Netanjahu habe sein politisches Schicksal in die Hände der antidemokratischen Hardliner seiner Regierung gelegt. Es seien diese Kräfte, die den radikalen, unilateralen Umbau Israels von einer liberalen, funktionierenden Demokratie mit einer dynamischen Wirtschaft in eine Diktatur vorantreiben würden. Die zunehmend fassungslosen Jour­na­lis­t:in­nen sprachen von der „Verantwortungslosigkeit“ Netanjahus im Hinblick auf die nationale Sicherheit sowie die finanzielle Stabilität des Landes. Er sei bereit, Israel „in den Abgrund zu führen“ – trotz des Drucks der israelischen Armeereservisten, trotz drohender Herabstufungen durch internationale Ratingagenturen und vor allem trotz der deutlichen Kritik der US-Regierung.

Was in der gegenwärtigen liberalen Medienlandschaft (mit wenigen Ausnahmen) in Israel zu wenig Beachtung findet: die zentralen Akteure beim anvisierten Abbau der demokratischen Schranken des israelischen Staates sind ebenfalls treibende Kräfte der nationalreligiösen Siedler:innenbewegung. Sie übertragen dabei ihre antidemokratischen Überlegenheitsvorstellungen aus dem Westjordanland auf das israelische Kernland. Gleichzeitig eskaliert die Gewalt von Sied­le­r:in­nen gegenüber Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen in den besetzten Gebieten unter Duldung der israelischen Armee, wie etwa beim Überfall auf das Dorf Huwara im Frühjahr 2023 oder in Umm Safa im vergangenen Juni. Als Finanzminister ist der Siedler Smotrich zudem für die massive Umschichtung von Steuergeldern aus dem israelischen Kernland in die völkerrechtswidrigen Siedlungen verantwortlich, was dort unter anderem zu einem regelrechten Bauboom führt.

Es ist gleichzeitig wichtig zu betonen, dass es zahlreiche Interessengruppen in dieser Regierung gibt (etwa die Ultraorthodoxen, die Mizrachim), die aus unterschiedlichsten Gründen die radikale Schwächung des Justizsystems unterstützen. Doch keine Gruppe benötigt die Abschaffung der unabhängigen Gerichtsbarkeit für ihre Ziele so sehr wie die Siedler:innen-Bewegung.

The funeral of Rabbi Gershon Edelstein Chazon ish street

Wegen diesen Verknüpfungen sprechen Ak­teu­r:in­nen des „Blocks gegen die Besatzung“, darunter „Breaking the Silence“ und „Standing Together“, im Kontext der Antiregierungsproteste von der „Siedler-Revolution“. Ihr Ziel ist es, die Mehrheit der Protestbewegung davon zu überzeugen, dass es keine „Demokratiebewegung“ ohne die Auseinandersetzung mit der 56 Jahre andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete geben könne.

Die nächsten Monate werden entscheidend sein für die politisch heterogene Protestbewegung. Die zentrale Frage ist, ob es ihr gelingen wird, einen programmatischen Gegenentwurf zu den rechtsautoritären Plänen der Regierung zu entwickeln, der einerseits die Mehrheit der Bewegung hinter sich versammelt, andererseits aber auch mutig genug ist, um den oben beschriebenen ideologischen Ursprung dieser rechtsautoritären Agenda zu benennen. Bisher sieht es jedoch nicht danach aus: Erst am vergangenen Demo-Wochenende hat eine der Anführerinnen der Protestbewegung, Shikma Bressler, mit Verweis auf Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, der Türkei oder auch Iran öffentlich einen kausalen Zusammenhang zwischen Besatzungslogik und dem derzeit laufenden Umbau des Staates verneint. Dies ist taktisch und auch emotional verständlich.

Quelle         :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Demonstration against judicial reforms (Tel Aviv, 25 March 2023)

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Interviews mit Hitzetoten

Erstellt von Redaktion am 31. Juli 2023

Der Tod, der aus der Sonne kam

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Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Ob Radio, TV oder Print-Medien: Der Tod lauert überall. In ziemlicher Nähe zur Erde glüht die Sonne so vor sich hin. An der Oberfläche des Nachbarplaneten herrschen ungefähr 6.000 Grad Celsius, im Inneren überwiegen sogar Temperaturen von 15 Millionen Grad Celsius. Diese permanente Bedrohung schlägt sich primär in den Medien nieder.

Zum Thema wurden uns erfreulicherweise Interviews von SIERA zugesendet, die sie in einem ungenannten Medium entdeckte.

Interviewer: „Frau Braun, wann und warum sind Sie in diesem Monat gestorben?“

Frau Braun: „ Schon Ende Juni hatte ich das Gefühl, daß hier im Land etwas nicht stimmt. Von ungefähr März an bis Ende Juni wurde es immer wärmer – mir wurde immer unheimlicher zumute! Dazu kam, daß Bäume ausschlugen (!), Gräser aus dem Boden schossen(!) , manche Blumen begannen sogar schon zu blühen … es war nicht zum Aushalten!“

Interviewer: „ Aber das gab es doch schon immer!“

Frau Braun: „Aber doch nicht so! Doch noch nie in dieser Weise! Nie war es dermaßen bedrohlich! Zudem hörte ich in der Tagesschau, daß der Klimawandel immer näher kommt – und das konnte ich fühlen! Ich war oft erschöpft, verschwitzt, verängstigt…

Interviewer: „Wann begann das bei Ihnen?“

Frau Braun: „ Ich sagte ja schon … Ende Juni hatte ich dieses komische Gefühl… vielleicht auch schon früher … man achtet ja nicht dauernd auf sowas… ; aber als ich vom Klimawandel hörte, wurde mir alles klar!

Interviewer: „Was wurde Ihnen klar?“

Frau Braun: „Das habe ich doch schon gesagt! Das hier was nicht stimmt, wurde mir klar! Ich bekam furchtbare Angst vorm Juli… Der Juli stand vor mir wie eine drohende Wand! Ich recherchierte, ob in anderen Teilen der Welt auch Juli war; aber dann wurde mir klar, daß ich vor dem weltweiten Klimawandel nicht davonlaufen konnte – auch nicht davonfliegen! Denn mit meinem Flug hätte ich den Klimawandel ja forciert! Also blieb ich hier in der Stadt und hoffte auf ein Wunder! -Als das Thermometer auf 25° kletterte, habe ich mich überwiegend im Keller meiner Nachbarin aufgehalten – ich selbst habe ja leider keinen. Meine leichtsinnige Nachbarin brauchte ihn zu der Zeit nicht.- Als jedoch die Temperaturen gegen 30° anstiegen, drängte sie mich, ihren Keller zu verlassen, weil sie mit ihrer gesamten Familie den Platz brauchte – auch das Eingemachte hatte sie schon ins obere Stockwerk gestellt.

Interviewer: „Das hört sich schlimm an; was haben Sie dann gemacht?“

Frau Braun: „Zum Glück hatte ich ja noch meine Tiefkühltruhe! In der habe ich meine Tage verbracht – in den frühen Morgenstunden habe ich mir Lebensmittel gekauft, kalte natürlich! Also alle Sorten Speiseeis, Tiefkühlerbsen, eigentlich alle Tiefkühlgemüse und -fleischsorten. Ich habe alles so kalt wie möglich gegessen, um meinen Körper nicht zu erhitzen … Gegen Mittag bin ich wieder zurück in meine Tiefkühltruhe!

Interviewer: „Wie haben Sie das nur ausgehalten?“ Ohne soziale Kontakte?“

Frau Braun: „Ich hatte immer mein Handy dabei! Freundinnen von mir haben es so gemacht wie ich; so habe wir dann quasi von Truhe zu Truhe geplaudert- das war tröstlich.

Interviewer: „Ach, Freundinnen von Ihnen haben das genauso gemacht!? Da haben sie alle ja extrem viel Strom verbraucht mit ihren Truhen!“

Frau Braun: „ Ja, das hat uns alle belastet! Wir wußten, daß sich Putin über unseren Stromverbrauch freuen würde! Das hatten wir ja alle in den Nachrichten gehört… Aber unser Lebenswille war stärker als alle politischen Bedenken!

Interviewer: „ Frau Braun, wie ist es nun aber zu Ihrem ( er schaut auf seine Notizen ) frühzeitigen Exidus gekommen – Sie sind erst 61Jahre….?

Frau Braun: „Am 23. Juli fühlte ich mich morgens so elend, sodaß ich mich zu meinem Hausarzt schleppte. Nebenbei möchte ich betonen, daß ich auch nach der Entwarnung sicherheitshalber stets meine FFP2- Maske trug! Mein Arzt stellte bei mir eine extrem starke Unterkühlung fest; ich wurde in Aluminiumfolie gewickelt und in ein Krankenhaus transportiert – gegen meinen Willen! Denn ich wußte, daß es dort viel zu heiß ist; Zimmertemperaturen von teilweise 26°! Darüber regte ich mich entsetzlich auf und verstarb schon auf dem Weg ins Hospital!“

Interviewer: „Unverantwortlich von Ihrem Arzt! Mein Beileid! Was stand auf Ihrem Totenschein?“

Frau Braun: „Ich wundere mich über Ihre Frage! An extremer Hitze gestorben – was sonst?!“

Interviewer wendet sich nun Herrn Töpfer zu.

Interviewer: „ Seht geehrter Herr Töpfer, darf ich auch Sie fragen, wann und warum Sie in diesem Jahr gestorben sind?“

Herr Töpfer: „Darüber gebe ich Ihnen gern Auskunft. Als Karl Lauterbach vor der Hitzewelle in diesem Sommer warnte, hörte ich ihm -wie auch schon bei Corona – intensiv zu. Ich muß dazu bemerken, daß ich diesen Mann auch nach meinem Exidus sehr schätze, denn ohne die Impfungen – Sie müssen wissen, ich bin dreimal geboostert – wäre ich ja schon 2021 gestorben! So hoffte ich also auf die Spritze gegen die Hitze, die es, soviel ich weiß, immer noch nicht gibt! Eine Schande ist das!
Interviewer: „ Aber könnte nicht auch Ihr Gewicht ( Interviewer schaut auf seinen Zettel ), ähm 170 Kilo eine Rolle gespielt haben?

Herr Töpfer: „Nun kommen Sie mir mal nicht komisch, Herr… wie war doch Ihr Name? Bis zu dieser Hitzewelle ab Anfang Juli ging es mir sehr gut! Ich konnte problemlos vor dem Fernseher sitzen, ohne stark zu schwitzen! Trank gemütlich meine Bierchen, fiel gegen 22Uhr ins Bett und stand morgens ausgeruht auf. Anfang Juli dann mit Blick auf das Thermometer und den Informationen aus dem Radio ging mein Blutdruck hoch; denn ich wußte ja schon von Lauterbach, daß Menschen über sechzig in Gefahr sind, wenn das Thermometer über 20° klettert! Wenn ich mich sorge, esse ich – das beruhigt mich. Genauso ist es mit dem Trinken – mehr Bier , mehr Ruhe im Bau! – Ein Nachbar, mit dem ich an dem Tag verabredet war und der einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat, fand mich in der Küche auf dem Boden liegend und alarmierte den Notarzt. Der stellte dann meinen Hitzetod fest.

Interviewer: „Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Töpfer! Daß die Pharma die Hitzespritze noch immer nicht auf den Markt gebracht hat, ist ein großes Versäumnis.“

Interviewer wendet sich nun der dritten Person zu – einem jungen Mann, 36 Jahre.

Interviewer: „Herr Piet Müller oder darf ich Sie einfach Piet nennen? Wann und warum sind Sie so jung verstorben?

Piet: „Alles klar, Mann! Die Hitze hat mir eigentlich nie viel ausgemacht – im Gegenteil. War oft in Spanien und Griechenland, surfen und segeln. Klar, da weht dann auch noch ein Wind. – Als ich von der Hitzewelle in der Tagesschau hörte, lachte ich erst darüber…- aber dann wurde mir im Gespräch mit Freunden klar, daß ich den Klimawandel ernst nehmen sollte! Meine Freunde taten das schon: fuhren kaum noch mit ihren Autos herum , duschten seltener, verreisten weniger … alles easy. Klar, war schon blöd, Mädels mit dem Fahrrad abzuholen – auf Tandem standen die meisten nicht. Also kaufte ich mir ein Super-Elektro-Fahrrad ; das hat relativ viel Speed. Das war dann aber auch mein Pech: ein Lastwagenfahrer übersah mich beim Abbiegen – vermutlich wegen der Hitze – und schon auf der Straße stellte der Notarzt fest: Schon wieder ein Hitzetoter.“

Hitzetod? Meine Windräder sind die Hände – damit rede ich und fächel mir Luft zu.

Interviewer: „Das tut mir sehr leid, Herr Piet! Auch der Lastwagenfahrer hätte die Hitzewelle ernst nehmen müssen und gar nicht losfahren sollen!“

Auf seinem Zettel hat der Interviewer noch den Namen von Frau Jung stehen, an die er sich jetzt wendet.

Interviewer: „Frau Jung, könnten Sie -möglichst kurz, die Zeit rennt uns davon – beschreiben, wann und warum es bei Ihnen zum Exidus kam?“

Frau Jung: „Nun…, am 22.Juli hatten wir ca. 25°, also eine Affenhitze, wie ich sie in meinen fünfundfünzig Jahren noch nie erlebt hatte; aus irgendeinem Grund vergaß ich, an diesem Tag genügend zu trinken; ich hatte trotz der Hitze keinen Durst und entschloß mich, wie immer am Samstag in die Sauna zu gehen. Ich weiß nicht mehr, wieviel Grad dort eingestellt waren; jedenfalls fühlte ich mich zu schlapp, Wasser aufzugießen. Mein Kreislauf ist seit einigen Jahren nicht mehr top – hätte das Rauchen aufgeben sollen -; jedenfalls fand man mich ohnmächtig in der Sauna, bzw. tot. Ich hörte, daß man inzwischen die Sauna „Todeszelle“ nennt – das war mir früher nicht klar.“

Interviewer: „Ich danke für dieses Gespräch! Meines Wissens werden alle Saunen endlich geschlossen!“

Der Interviewer, der selbst auch unter der großen Hitze leidet – immerhin sind es während der Interviews 27° – wendet sich nun an den letzten Hitzetoten.

Interviewer, verschwitzt und etwas stammelnd: „Herr Löhmann, äh, Lehmann … Sie sind 97 Jahre alt geworden – warum nicht 100?“

Herr Lehmann: „ Gut, daß Sie diese Frage stellen! Ja, ich wollte einhundert Jahre schaffen – genauso wie meine liebe Frau, die leider 2021 gestorben ist. Sie war eine Anhängerin von Karl Lauterbach – ich nicht … Sie können sich vorstellen, wie unsere bis dahin harmonische Ehe – wir haben vier Kinder und elf Enkelkinder – ab 2020 verlief …“

Interviewer unterbricht: „ Lieber Herr Lö, ähm, Lehmann, könnten Sie sich bitte etwas kürzer fassen – ich muß gleich in die Redaktion…“

Herr Lehmann: „ Also, kurz gesagt, ich war gegen das Spritzen , meine Frau dafür – sie starb im Herbst 2021. Kurz genug?“

Interviewer, erschöpft: „ Nun zu Ihrer Geschichte , bitte. Wie Sie wissen, sammle ich Geschichten über Hitzetote im Rahmen der diesjährigen Hitzewelle!“

Herr Lehmann: „Hitzewelle, Klimawandel – wenn ich das schon höre! In meinem langen Leben habe ich immer wieder sehr heiße Sommer erlebt … und? Bin ich gestorben? Nein, keiner… ach ja – und auch keinE ist wegen der Hitze gestorben. Wenn man mal vom Getreide absieht, ja, schlechte Ernten gab es ab und zu, trockene Gärten , Flüsse, deren Wasserstand niedrig war…“
Interviewer unterbricht unwirsch: „Aber warum sind dann Sie in diesem Juli gestorben, verdammt noch mal?“

Herr Lehmann: „Weil mich dieser ganze Scheiß dermaßen aufgeregt hat, diese miese Propaganda tagtäglich in den Medien! Ich hatte keine Lust mehr auf weitere drei Jahre! Hundert werden unter diesen Umständen?!

Nicht mit mir! Ich legte mich ins Bett, aß nichts, trank nichts, und nach einer Woche hörte ich meinen Hausarzt sagen „Total dehydriert, wieder ein Hitzetoter!“

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Oben      —      Während einer Dürre verendete Oryxantilopen

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Vor uns der Abgrund

Erstellt von Redaktion am 31. Juli 2023

Der „Rechtsstaat“ in rasender Fahrt vom Autoland in die Klimakatastrophe

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :     Hans Christoph Stoodt

Mitten durch den Frankfurter Westen soll, so hat es die Bundesregierung beschlossen, die Autobahn A5 zehnspurig ausgebaut werden.

Wegen des „überragenden öffentlichen Interesses“ soll die Betonierung grosser weiterer Flächen, auf denen sich jetzt zum Teil noch Wiesen, Wald, Gärten und Wohnungen befinden, zu jenen 145 Teilprojekten des Bundesverkehrswegeplanes gehören, die im Eilverfahren mit reduzierten Naturschutz- und sonstigen Einspruchsmöglichkeiten durchgezogen werden sollen. Eine Machbarkeitsstudie zum zehnspurigen Ausbau der A5 liegt im Bundesverkehrsministerium seit Herbst 2022 vor, wird aber geheim gehalten und noch nicht einmal den Bundestagsabgeordneten der vom Ausbau bedrohten Stadtteile ausgehändigt.

Wenn man sich vor Ort die Konsequenzen eines solchen Vorhabens stellt (Überblick), kommt man sehr schnell an den Punkt, an dem man an der Zurechnungsfähigkeit der Verantwortlichen auf allen Ebenen zweifeln muss.

Das ist keine polemische Behauptung, sondern bitterer Ernst. Ausgehend von den Erfahrungen in einer Frankfurter Bürger*innen-Initiative, die sich mit Mut und Engagement seit etwas über einem Jahr mit der ihr drohenden Gefahr in Gestalt des von oben geplanten Betonmonsters quer durch den Stadtteil beschäftigt – hier einige grundsätzliche Überlegungen.

Sie geben mein Erleben und Überdenken der Situation wieder, für das ich allein verantwortlich bin. Keineswegs sind sie Konsens der Bürger:inneninitiative „Es ist zu laut“ (esistzulaut.org).

Seit langem sind immer wieder juristisch mehr als zweifelhafte Aktivitäten der Exekutive(n) in Deutschland zu beobachten, die von höchster politischer Stelle offenbar nicht nur akzeptiert, sondern massgeblich vorangetrieben werden. Krasse Beispiele dafür sind die bis heute nie völlig aufgeklärten Vorgänge rund um die Verwicklung staatlicher Stellen in den Oktoberfestanschlag 1980, die Morde des NSU, die ebenso wenig aufgeklärten Umstände, unter denen offenbar über Monate die Obama-Administration der USA via NSA und in Kooperation mit deutschen „Diensten“ auch deutsche Regierungskommunikation inklusive des Smartphones der damaligen Kanzlerin abhörte, die Vorgänge rund um die Mordanschläge auf Walther Lübcke und in Hanau sowie andere mehr. Ein laxer Umgang mit Recht im Regierungsamt ist wahrlich keine sensationell neue Erscheinung hierzulande.

Die derzeitige Ampelkoalition in Berlin geht aber derzeit einen Schritt weiter. Sie bricht ein von ihr selber verabschiedetes geltendes Gesetz und dessen Durchsetzung öffentlich und mit Ansage – und zwar nicht irgendein Gesetz, sondern das Klimaschutzgesetz. Sie bricht es, weil sie behauptet, es sei nicht einhaltbar, was offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht. Sie bricht es mit der Lüge, „die Menschen“ wollten es halt so, wie gern am Beispiel der obsessiven Bedeutung des Autofahrens (samt seiner klimapolitischen Konsequenzen) gezeigt werden soll: „Man steigt ein und fährt los – das bieten Bus, Bahn und Flugzeug in dieser Form nicht. Millionen Menschen wollen an diesem individuellen Freiheitsversprechen festhalten“, so Christian Lindner in einem bekenntnisartigen Artikel über die letzte IAA, die in Frankfurt stattfand.

Dass dieser Vorgang unter einem „Klimakanzler“ und mit den GRÜNEN in der Regierungskoalition stattfindet, zeigt den realen Status der Klimafrage für Regierungspolitik in Deutschland. Es ist billige Ablenkung, dass in der öffentlichen Wahrnehmung bis weit in die gesellschaftliche Linke hinein Verkehrsminister Wissing von der rechtsliberalen Splitterpartei FDP daran vor allem schuld sein soll. Das ist natürlich Unsinn. Die gesamte Ampel-Koalition hat bei einer Klausurtagung ihres Koalitionsausschusses Ende März 2023 in Meseberg verabredet, ihr eigenes und geltendes Klimaschutzgesetz zu sabotieren.

Damit begeht die gesamte Regierungskoalition mit Ankündigung einen Rechtsbruch – denn das Klimaschutzgesetz ist nach wie vor in Kraft.

Sie begeht zudem einen Verfassungsbruch – denn das aktuell geltende Klimaschutzgesetz wurde erst kurze Zeit vor seiner nun vereinbarten Aushöhlung aufgrund einer saftigen Rüge des Bundesverfassungsgerichts so formuliert, wie es nun offenbar als „Belastung“ empfunden wird – die Belastung besteht in der Rücksichtnahme auf die Möglichkeit nachfolgender Generationen, im Rahmen der Grundrechte der Verfassung leben zu können.

Sie begeht schliesslich einen Völkerrechtsbruch – denn ohne die drastische Reduzierung von Treibhausgasemissionen gerade auch im Verkehrsbereich wird die Grenze von 1,5 – maximal 2 Grad Celsius Erderwärmung bis 2100, verglichen mit dem Durchschnitt des vorindustriellen Zeitalters, nicht einzuhalten sein. Dieselbe Trias von Rechts-, Verfassungs- und Völkerrechtsbruch wurde bereits 2021 in Bezug auf den derzeit geltenden Bundesverkehrswegeplan festgestellt (Bündnis „Wald statt Asphalt“, hier auch Links zu Rechtsgutachten zur Frage der Verfassungsmässigkeit des Bundesverkehrswegeplans).

Zur Erinnerung: das derzeit weiterhin geltende Klimaschutzgesetz ist in seiner aktuellen Fassung das Ergebnis einer Ohrfeige, die das Bundesverfassungsgericht im April 2021 den Verfasserinnen und Verfassern des Vorgängergesetzes verpasst hatte:

„Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen … in ihren Freiheitsrechten verletzt. Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Dass Treibhausgasemissionen gemindert werden müssen, folgt auch aus dem Grundgesetz. Das verfassungsrechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur dem sogenannten „Paris-Ziel“ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern. Zu dem danach gebotenen rechtzeitigen Übergang zu Klimaneutralität reichen die gesetzlichen Massgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfads der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2031 nicht aus“.

Das auf diese Weise für zum Teil verfassungswidrig erklärte Gesetz war erst im Dezember 2019 von Kabinett und Bundestag verabschiedet worden. Nun musste es umgebaut werden. Erst im August 2021 wurden abrechenbare Sektorziele für Teilbereiche der treibhausgasverursachenden gesellschaftlichen Bereiche veröffentlicht: Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft / Sonstiges.

Für alle diese Teilbereiche waren Verfahren festgeschrieben worden, mittels deren die Umsetzung der Klimaziele überwacht werden und bei deren Grenzüberschreitung Sanktionen greifen sollten.

Ziel war es demzufolge, die im Pariser Klima-Abkommen von der Bundesrepublik völkerrechtlich verbindlich unterschriebenen Klimaschutz-Ziele im Rahmen des Pariser Klimaabkommens und der UNO-Strategie gegen die Klimakatastrophe auch nachvollziehbar umzusetzen: „Die Emissionen sollen bis 2030 um mind. 65 % und bis 2040 um mind. 88 % gesenkt werden (gegenüber 1990). Zudem gelten in einzelnen Sektoren bis 2030 zulässige Jahresemissionsmengen. Die deutsche Klimapolitik ist eingebettet in Klimaschutzprozesse der Europäischen Union sowie der UNO.“ (ebenda)

Der Bereich Verkehr (und auch der Bereich der Bauwirtschaft) verfehlte seine Sektorziele aber erheblich – sowohl 2021 als auch 2022. Zudem legte Wissing nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, entsprechende Berichte und Massnahmenplanungen zur Frage vor, wie im Bereich Verkehr künftig die CO2-Minderungsziele eingehalten werden könnte.

Dieses gesetzeswidrige Verhalten deckte und deckt offenbar „Klimakanzler“ Scholz. Es wurde einfach weitergebaut, weiterabgeholzt, weiterbetoniert und weitergefahren wie bisher – ein besonders abstossendes und gewalttätiges Beispiel war der Ausbau der A49 mitten durch ein Natur- und Trinkwasserschutzgebiet im Dannenröder Forst. Es fand nicht nur mit den GRÜNEN in der Bundesregierung, sondern auch in der mitverantwortlichen hessischen Landesregierung statt. Selbst ein so minimaler, europaweit ansonsten überall akzeptierter Schritt wie die Vereinbarung eines Tempolimits auf Autobahnen gilt in Deutschland amtlich als undurchsetzbar „ideologisch“ und „freiheitsfeindlich“, obwohl Umfragen immer wieder die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen Schritts dokumentieren.

Im März 2023 beschloss dann die Regierungskoalition ganz offiziell, sich nicht mehr an ihr eigenes Gesetz halten zu wollen: da es den Verkehrsminister ja sowieso nicht schere, könne man auch die unter anderem ihn betreffenden und alle anderen Sektorziele eigentlich gleich ganz abschaffen. Nach der Sitzung des Koalitionsausschusses in Meseberg blieb es wie so oft Klimaschutz-Minister Robert Habeck, vorbehalten, diesen U-Turn nachgerade lyrisch zu „begründen“: „In der grossen Koalition und auch in der Ampel-Regierung hat der Verkehrssektor nicht geliefert und es hat niemanden interessiert.

Es gab das Klimaschutzgesetz und es gab die politische Realität.“ Mit dem neuen Gesetz müsse die Zielverfehlung besonders durch die verfehlenden Ressorts aufgeholt werden, stellte er klar. Es sei zwar juristisch nicht mehr scharf, aber es gebe eine politische Verantwortung.“ Nichts anderes als schlechte politische Lyrik ist das insofern, als man mit gleicher Berechtigung auch genau das Gegenteil sagen könnte: bislang gab es immerhin rechtlich verbindliche Sektorziele. Nach deren Abschaffung, zu der auch Habeck loyal stehe, seien die Verantwortlichen in den einzelnen Sektoren nur mehr politisch solche – was auch immer das heisst. Derzeit: nichts.

Mit anderen Worten: nach Abschaffung der Sektorziele des Klimaschutzgesetzes ist genau der Zustand wieder hergestellt, den es bereits einmal gab, und den Habeck selber als den der zwei nebeneinander existierenden Realitäten von Klimaschutz und politischer Realität gekennzeichnet hatte.

Man muss nicht lange rätseln, wessen Interessen und Imperativen Verkehrsministerium und Bundesregierung mit ihrem Vorgehen sich unterwerfen: „Wirtschaft und Wohlstand“ würden schweren Schaden erleiden, wenn zB. ein als kritischer Gegenentwurf zu den Machenschaften der Ampelkoalition gemeinter Vorschlagskatalog zu klimagerechterer Verkehrspolitik von Fridays for Future umgesetzt würde, meinte Verkehrsminister Wissing.

Das geltende Klimaschutzgesetz ist bis zu seiner Novellierung im Sinn der Meseberger Beschlüsse in Kraft – was wahrscheinlich bis Herbst 2023 dauern wird. Es sieht auch weiterhin vor, dass die für die einzelnen, gekennzeichneten Sektoren verabschiedeten Reduktionsziele klimaschädlicher Emissionen nicht überschritten werden dürfen und was erfolgt, wenn ein solches Ziel nicht eingehalten wird.

Das Gegenteil davon wird in der Praxis nicht nur einfach getan, sondern auch noch politisch gerechtfertigt – vom Klimakanzler und von Habeck, von Lindner und von Wissing unisono: „Ich hätte das jetzt nicht gebraucht, diese Gesetzesänderung, aber sie ist verabredet worden und da sind wir natürlich vertragstreu – und ich auch“ erklärte Habeck nach vollbrachter Tat von Meseberg. Vertragstreue ist wichtiger als Rechtstreue, ein „Ehrenwort“ gilt mehr als Recht und Verfassung – das kennt man ja bereits aus früheren Zeiten der Republik.

So verständlich der hin und wieder zur Schau getragene Ärger über die ostentative Verachtung für eine klima- und sozialgerechtere Verkehrspolitik besonders der FDP-Vertreter im Ampelkabinett sind – niemand zwingt die beiden anderen und grösseren Parteien, sich dieses Verhalten länger bieten zu lassen. Niemand hindert sie, die Regierungskoalition aufzukündigen.

Sie tun es nicht und werden es auch in Zukunft nicht tun.

Die Frage ist ihnen also, wie soll man das anders verstehen, einfach nicht wichtig genug. Der kurzfristige Machterhalt ist ihnen wichtiger, als das, was mittel- und langfristig aus ihrer Politik mit eiserner Konsequenz folgt: eine weitere Eskalation der Klimaprobleme – die allerdings möglicherweise sehr viel schneller und umfassender Zusammenbrüchen der menschlichen Zivilisation führen wird, als gedacht: „Laut den besten Daten, die wir momentan haben, wird in den kommenden zehn Jahre das langfristige Schicksal unserer industriellen Zivilisation entschieden“.

Wir haben eine Bundesregierung, die die Zeichen der schnell verrinnenden Zeit nicht erkennt oder nicht erkennen will – man kann sich darüber streiten, welche der beiden Möglichkeiten schlimmer wäre – und wenn im vorangegangenen Zitat vom „Schicksal unserer industriellen Zivilisation“ geredet wird, so ist das natürlich ungenau ausgedrückt. Gemeint ist: das Schicksal der massgeblich global vom Kapitalismus bestimmten Art des gesellschaftlichen Lebens; unklar ist, was hier „unser“ heissen soll und das Wort „Schicksal“ hat den Klang unvorhersehbarer Kontingenz, was völlig falsch ist – siehe oben. Wir reden hier über die Ergebnisse absichtlichen Handelns oder auch Nichthandelns bis hin zum aktiven und öffentlich angekündigten Rechtsbruch.

Die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Politik allein in Deutschland sind nicht absehbar, sie werden aber, so viel weiss man schon jetzt, in die Hunderte Milliarden gehen. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Aber in einem Land, dessen Regierung ohne mit der Wimper zu zucken eine knappe halbe Milliarde für das bewusst rechtswidrige Verhalten eines ehemaligen Bundesverkehrsministers auf den Tisch zu legen bereit ist, ist es vermutlich auch egal, wie viele Milliarden an Schäden durch absichtliches Tun und Lassen aufgrund der Verkehrspolitik seines Nachfolgers im selben Amt verursacht werden.

Natürlich wäre es grundsätzlich möglich, auf diesem Planeten so zu wirtschaften und zu leben, dass dessen natürliche Grenzen respektiert werden und gleichzeitig allen Menschen – und nicht nur privilegierten Minderheiten – ein Leben in Würde möglich wäre. Eckpunkte, innerhalb deren sich ein solches Leben aller bewegen müsste, um aus naturwissenschaftlicher Sicht global zukunfts- und verallgemeinerungsfähig zu sein, beschreibt aktuell die Studie „Safe and just Earth system boundaries“ des Forscher:innenkreises um Johan Rockstroem. Einzig ein Modell gesellschaftlichen Lebens, das, anders als der globale Kapitalismus, wenigstens potentiell in der Lage wäre, die natürlichen planetarischen Grenzen allen Lebens zu schützen, wäre mit Art. 1(1) des Grundgesetzes in Übereinstimmung zu bringen (ganz zu schweigen von den viel weiter gehenden Forderungen der jüdisch-christlichen Selbstverpflichtung zur Nächsten-, Fernsten- und Feindesliebe).

Wer sich an die schlicht vernünftigen Vorgaben wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung innerhalb der einzuhaltenden planetaren Grenzen nicht halten möchte und auf perverse Weise die eigene „Freiheit“ in einem wodurch auch immer fantasierten Recht zu höherem Ressourcenverbrauch sieht, als es der übrigen Menschheit zusteht oder im Rahmen der planetaren Grenzen verantwortbar ist, ist im strikten Sinn des Wortes ein antisoziales und amoralisches Wesen, das dem Rest der Welt wissentlich schaden will. Ein solches Verhalten sollte justiziabel und strafbar sein.

Wie aber eine Form des Wirtschaftens und gesellschaftlichen Lebens durchsetzbar sein soll, die nicht den Partikularinteressen privilegierter Reicher, sondern dem Leben Aller dient, das ist die Frage, die innerhalb einer immer kürzer werdenden Zeit über Gelingen oder Misslingen des offenen Experiments der menschlichen Geschichte, wie wenigstens wir sie kennen, entscheidet.

Eine Betrachtung von „Wirtschaft und Wohlstand“ aus diesem einzig verantwortbaren Blickwinkel ist der Regierung schon deshalb fremd, weil es ihr offensichtlich mehr um das Privateigentum von Produktionsmittelbesitzern geht als um die Gesellschaft insgesamt, nicht um citoyens sondern um bourgeois.

Die Klimapolitik der Ampelkoalition vertritt nicht das Interesse der Gesellschaft, sondern das einer winzigen, partikularen Minderheit, das gerne „Weiter so!“ machen möchte, weil sie ahnt: jeder Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend anders, sozial und klimagerecht, zu organisieren wird sie für immer ihre mörderischen Privilegien kosten, die nicht etwa in der individuellen „Gier“ individueller Menschen (so sehr es die auch gibt), sondern in der objektiven Struktur der Bewegungsgesetze des Kapitals ihre Wurzel haben. Sinn und Aufgabe der historischen Epoche, in der wir uns befinden, besteht darin, dieses Problem grundsätzlich, das Übel an der Wurzel packend, also radikal zu lösen.

Im Unterschied zu dieser Aufgabe muss es der Gegenseite darum gehen, möglichst wenig an substantieller Änderung des status quo zuzulassen, also die anstehenden Aufgaben gesellschaftlichen Lebens eben nicht zu lösen. Zumindest, solange es irgendwie geht. Danach sollen dann wahrscheinlich andere zuständig sein. Von Wissing, Scholz, Merz, Söder, Habeck, Baerbock, Weidel und Höcke und wie sie alle heissen wird man dann vermutlich nichts mehr hören. Für den Rest der Menschheit gilt: „Die derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen eindeutig für beispiellose, dringende und ehrgeizige Klimaschutzmassnahmen, um die Risiken von Kipppunkten im Klimasystem zu begrenzen“.

Ob eine solche klimapolitische Wende im Rahmen der (fast) überall auf der Welt herrschenden Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion möglich und umsetzbar ist, scheint sehr fraglich.

Die aktuelle Bundesregierung jedenfalls tut alles, um den Beweis anzutreten, dass den ihr angehörigen Parteien und Politiker:innen die hiesige Verantwortung für die globale klimapolitische Entwicklung nicht so viel wert ist, als dass man dafür die Regierungsmacht riskieren wollte. Lieber beugt und bricht man das geltende Recht, die Verfassung und das Völkerrecht nicht an irgendeinem, sondern an dem für den Fortbestand der natürlichen Grundlagen menschlicher Zivilisation entscheidenden Punkt. Um „weiter so“ machen zu können.

Sollte dieses infame Verhalten der Regierung nicht durch die hiesige Rechtsprechung gestoppt werden, sollten die bislang doch nun wirklich absolut brav-systemkonform und gewaltfrei bleibenden Aktivitäten der Klimagerechtigkeitsbewegung wie Fridays For Future, Aufstand Last Generation, Extinction Rebellion, Ende Gelände usw. tendenziell auch noch zum Verstummen gebracht oder ins „terroristische“ Abseits manövriert werden – welche Mittel und Wege blieben dann noch, um das Schlimmste zu verhindern?

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —         Wegweisung für die Ausfahrt Karlsruhe-Nord in der Baustelle

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Unten     —       Bundesautobahn 5 (Europastraße 452) östlich des Farnkfurter Flughafens, in Höhe der Anschlussstelle Zeppelinheim (23)

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Brustimplantate :

Erstellt von Redaktion am 30. Juli 2023

 Eine Geschichte vom Versagen der Behörden

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Red. /   

Über die Gesundheitsschäden sei viel zu wenig bekannt, sagen zwei Wissenschaftler. Behörden hätten nicht oder zu spät reagiert.

Red. – Carl Heneghan ist Professor für evidenzbasierte Medizin an der englischen Universität Oxford und leitet dort das Zentrum für EBM. Tom Jefferson ist ein britischer Epidemiologe, der ebenfalls an der Universität Oxford lehrt und durch seine kritischen Analysen zum Grippemittel Tamiflu und zur Wirksamkeit von Grippeimpfungen sehr bekannt wurde. Beide wollen demnächst ein Buch veröffentlichen, das Gesundheitsschäden thematisiert, die von Medizinprodukten verursacht werden. Vorab publizierten sie in ihrem Blog «Trust the Evidence» auf «Substack» einen Auszug. Infosperber fasst das Wichtigste chronologisch zusammen.

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«Die Geschichte der Brustimplantate ist lang und traurig. Sie handelt von mangelnder Evidenz, kriminellen Machenschaften, nachlässigen Behörden und der Unfähigkeit, die Lehren daraus zu ziehen», stellen Heneghan und Jefferson fest und rekapitulieren diese Geschichte:

«In den 1890er Jahren wurde Paraffin injiziert, um die Brüste zu vergrössern. Aber das Paraffin lief aus, und das Verfahren wurde aufgegeben. In den 1920er und 1930er Jahren versuchten Chirurgen, Fett zu übertragen – ebenfalls keine gute Idee. In den 1950er Jahren wurden Knorpel, Holz und sogar Glaskugeln verwendet – die Nebenwirkungen waren katastrophal. 1962 liess sich Timmie Jean Lindsey, in Houston, Texas, als erste Frau weltweit die Brüste mit Silikonimplantaten vergrössern. Silikon ist eine Mischung aus verschiedenen Komponenten. Seine Eigenschaften variieren, je nach Belastung ist es mal mehr, mal weniger zäh oder starr. […] In den 1980er Jahren kamen Bedenken auf, dass Brustimplantate aus Silikon das Risiko für Krebs, Bindegewebserkrankungen und verschiedene Autoimmunerkrankungen erhöhen könnten. […] Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mehr als zwei Millionen US-Amerikanerinnen diese Implantate erhalten.»

1988 erhöhte die US-Arzneimittelbehörde (FDA) die Anforderungen an Silikonimplantate. Sie galten nun als Medizinprodukte der höchsten Risikoklasse. Das führte dazu, dass die Hersteller Studien vorlegen mussten, die bewiesen, dass ihre Brustimplantate sicher sind. Doch es gab ein Schlupfloch: «Im Widerspruch dazu blieben die Implantate weiterhin über das weniger strenge 510(k)-Verfahren zugelassen. Dieses Verfahren erlaubt kurz gesagt eine Äquivalenz: Wenn ein Produkt einem bereits auf dem Markt befindlichen sicheren Produkt ähnelt, darf es ebenfalls als sicher gelten. Damit sind klinische Studien nicht mehr nötig. Der Fokus liegt auf biologischen Labortests der Implantate.»

«Dreissig Jahre nach der Zulassung gibt es noch immer viele unbeantwortete Fragen»

Die Hersteller hätten bis 1991 die erforderlichen Nachweise erbringen müssen. Obwohl die Nachweise fehlten, «empfahl die FDA nach erneuter Beratung einstimmig, die Implantate bis zum Vorliegen weiterer Ergebnisse auf dem Markt zu lassen.» Heneghan und Jefferson zitieren den früheren FDA-Leiter David Kessler:

«‹Dreissig Jahre nach der Zulassung gibt es noch immer viele unbeantwortete Fragen zur Sicherheit von Silikonbrustimplantaten›», sagte Kessler. Es mangele an Daten zur Haltbarkeit der Implantate, zur Häufigkeit von Rissen und zu den Chemikalien, die in den Körper gelangen. Damit gab die FDA indirekt zu, zum Zeitpunkt der Zulassung wenig bis nichts über Brustimplantate gewusst zu haben.»

Im Dezember 1991 gewann eine Frau mit einer Bindegewebserkrankung in Kalifornien einen Gerichtsprozess gegen den Implantat-Hersteller Dow Corning. «Wie aus den Unterlagen hervorging, hatte der Hersteller Dow Corning gewusst, dass seine Implantate undicht waren, aber nichts unternommen, um die Sicherheit zu gewährleisten», berichten Heneghan und Jefferson. In Frankreich, Grossbritannien und den USA hätten die Behörden das Risiko, das von Silikonimplantaten ausging, unterschiedlich eingestuft, das Spektrum reichte von Verboten wie in den USA bis zu Genehmigungen.

Erster Fall von Lymphdrüsenkrebs

1997 berichtete ein US-Arzt erstmals von einer Patientin mit einer bestimmten Form von Lymphdrüsenkrebs, dem sogenannten «anaplastischen T-Zell-Lymphom», in unmittelbarer Nähe ihres Brustimplantats.

2006 wurden Implantate mit Silikongel in den USA wieder zugelassen: «Damit war das 14-jährige Zulassungsverbot beendet. Die Folge war ein dramatischer Anstieg der Brustvergrösserungen, die sich 2006 zur häufigsten Schönheitsoperation entwickelten. Der Anteil der Silikonimplantate an allen Implantaten stieg von 35 Prozent im Jahr 2007 auf mehr als 75 Prozent 2014. Für die Zulassung verlangte die FDA nun Daten aus mindestens drei Jahren für Silikonimplantate […] Frauen, die ein Implantat erhalten hatten, sollten zehn Jahre lang im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie begleitet werden.»

Alle paar Jahre, so riet die FDA, sollten die Frauen untersucht werden. Doch weil die Krankenversicherungen das nicht bezahlten, hätten diese Untersuchungen nicht stattgefunden.

Dann kam es zum Skandal mit dem «PIP-Implantat». «PIP» ist die Abkürzung für das Unternehmen «Poly Implant Prothese», das 1991 von einem ehemaligen Metzger und einem plastischen Chirurgen gegründet wurde. Über zwei Millionen Silikonimplantate habe PIP in den Jahren danach produziert. Im Mai 2000 inspizierte die FDA die Produktionsanlage in La Seyne Sur Mer in Frankreich, stellte viele Mängel fest und warnte vor dem Produkt. Der Verlust der Einnahmen aus den USA habe dazu geführt, dass das Unternehmen auf ein nicht zugelassenes, fast 90 Prozent preiswerteres Industriesilikon auswich und so enorm Kosten sparte. Auch bei der Aussenhülle der Implantate sei gespart worden. Die Folge: Die «PIP»-Implantate platzten «mehr als doppelt so oft wie im Branchendurchschnitt», berichten Heneghan und Jefferson. Die französische Behörde legte 30’000 Frauen in Frankreich nahe, ihre Implantate entfernen zu lassen. «PIP» wurde dicht gemacht, der Firmenchef zu vier Jahren Haft und einer Geldbusse von 75’000 Euro verurteilt.

Heneghan und Jefferson zufolge hatte «PIP» über 300’000 Silikonimplantate in 65 Länder verkauft. «Wie viele Personen sie eingesetzt bekamen, wird man wohl nie erfahren.»

Unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von Rissen

In Frankreich habe es geheissen, die Rissquote betrage fünf Prozent. In Grossbritannien sprach die Aufsichtsbehörde von nur einem Prozent – und Medien berichteten von bis zu acht Prozent Rissen, so Heneghan und Jefferson.

Es gehe aber nicht nur um Risse, sondern auch um sogenannte «Gel-Blutungen», bei denen Silikon-Mikroteilchen durch die Implantathülle hindurch in den Körper gelangen: «Bei Autopsien fand man Silikon in Blutgefässen, verschiedenen Geweben und Gehirnproben.» Erst 2010 seien die «PIP»-Implantate vom Markt genommen worden. In der Schweiz bekamen rund 280 Frauen ein «PIP»-Implantat, Swissmedic berichtete 2011 von einer Nebenwirkungsrate von «unter ein Prozent».

Wichtige Tests fehlten

Noch im gleichen Jahr 2011 warnten die Aufsichtsbehördem Grossbritanniens und der USA, nachdem mehrere Fälle von anaplastischen Lymphomen (ALCL) im Zusammenhang mit Brustimplantaten bekannt geworden waren – jener Krebserkrankung, von der ein US-Arzt schon 1997 berichtet hatte.

2016 gab die niederländische Aufsichtsbehörde für das Gesundheits- und Jugendwesen eine Studie zu Silikon-Brustimplantaten in Auftrag, «die Mängel bei den von den Herstellern durchgeführten Labortests feststellte. Die Studie bewertete zehn technische Dossiers der Hersteller. Zwar waren in allen Fällen mechanische Tests durchgeführt worden. Auch in Biokompatibilitäts- und Zytotoxizitätstests waren keine Probleme festgestellt worden – eine gute Nachricht also. Aber Tests zu Reizung, Sensibilisierung und Implantationstests fehlten – alles Anforderungen für die Zulassung», schreiben die beiden Autoren.

Seit 2016 erachte die WHO Brustimplantate mit strukturierter respektive texturierter Oberfläche als möglichen Auslöser für die Lymphome vom Typ ALCL.

Ebenfalls im Jahr 2016 führte Grossbritannien ein nationales Register für Brust- und kosmetische Implantate ein – versprochen worden war es 23 Jahre vorher.

Zusammenhang mit rheumatischen Erkrankungen

2018 zeigte eine israelische Studie «einen Zusammenhang zwischen silikonhaltigen Implantaten und Autoimmun- und rheumatischen Erkrankungen. 24’651 Frauen mit und 98’604 Frauen ohne Brustimplantate waren verglichen worden. Unter Berücksichtigung von Alter, sozioökonomischem Status, Rauchen und Brustkrebsvorgeschichte hatten die Frauen mit Implantaten ein um 45 Prozent höheres Risiko, an mindestens einer Autoimmun- oder rheumatischen Erkrankung zu erkranken […] Zudem fand sich in einer systematischen Analyse von 32 Studien ein möglicher Zusammenhang von Silikonimplantaten zu rheumatoider Arthritis und dem Sjögren-Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die besonders Tränen- und Speicheldrüsen angreift.», berichten Heneghan und Jefferson.

2019 riet die FDA, Brustimplantate mit einem Warnhinweis zu möglichen Risiken und Komplikationen zu versehen, zu denen Operationen und ein seltener, manchmal tödlicher Krebs gehören könnten. Im gleichen Jahr «meldete die Amerikanische Gesellschaft der plastischen Chirurgen 779 Fälle und 33 Todesfälle» durch die Lymphdrüsenkrebserkrankung ALCL.» Seit 1997 nehme diese seltene Erkrankung zu, so Heneghan und Jefferson.

Im Juli 2020 sei der Firma Allergan in Europa die Sicherheitslizenz für ihre texturierten Implantate entzogen worden. «Die französische Aufsichtsbehörde hatte eine Warnung ausgesprochen und die CE-Sicherheitskennzeichnung verweigert. Die amerikanische FDA hingegen liess einige der Implantate auf dem Markt – nicht die erste Unstimmigkeit zwischen den Behörden», wie die beiden Autoren bemerken. Betroffen vom BIA-ALCL – dem Brustimplantat-assoziierten anaplastischen grosszelligen Lymphom – sind aber nicht allein Trägerinnen eines Allergan-Implantats, sondern auch Frauen mit Implantaten von anderen Firmen.

Bis April 2023 erhielten weltweit 1363 Patientinnen in 48 Ländern die Diagnose BIA-ALCL, 59 starben daran. Diese Zahlen berichtete das «British Medical Journal» jüngst.

Die Erkrankungen traten im Durchschnitt acht bis zehn Jahre nach dem Einsetzen eines Implantats mit texturierter Oberfläche auf. Es gab aber auch Fälle, bei denen es erst 44 Jahre später zu dieser Krebserkrankung kam, oder bei denen sich das BIA-ALCL entwickelte, obwohl das Implantat schon entfernt worden war.

«Da es etwa zehn Jahre dauert, bis sich die Probleme zeigen, werden wir 2026 vielleicht die Schäden erkennen und für mehr Sicherheit sorgen. Aber grosse Hoffnungen machen wir uns da nicht», bilanzieren Heneghan und Jefferson mit Blick auf das britische Implantatregister und weisen noch auf Folgendes hin: «Bis 2030 wird der weltweite Markt für kosmetische Implantate voraussichtlich die Marke von 20 Milliarden Dollar überschreiten – der Anteil der Brustimplantate an diesem Markt wird wahrscheinlich drei Milliarden Dollar betragen.»

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Übersetzung aus dem Englischen: Antje Brunnabend, www.deepl.com

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Ganz schön dünne Luft

Erstellt von Redaktion am 29. Juli 2023

Auch Flugreisen werden Teil des EU-Emissionshandels.

Steht nicht für jede-n Politiker-in eine Maschine zur Verfügung, um aller Welt das dumme einschleimde Grinsen zu zeigen ? 

Von Tim Kemmerling

Doch ausgerechnet die besonders klimaschädlichen Langstreckenflüge sind davon ausgenommen. Wie konnten sich die großen Airlines damit durchsetzen? Am Vorabend der Abstimmung im EU-Parlament gab es ein „closed-door dinner event“ der Lobby-Organisation Aviation For Europe mit Abgeordneten.

Michael O’Leary, der Chef von Ryanair, bekommt nicht oft die Möglichkeit, sich als Klassenkämpfer und Klimaschützer zu inszenieren. Im Dezember 2022 nutzte er sie und veröffentlichte sein Statement auf der firmeneigenen Website: „Ein weiteres Mal lässt Ursula von der Leyen Europas Bürger und die Umwelt im Stich“. Damit hatte er nicht unbedingt Unrecht. Kurz zuvor hatte die EU-Kommission die neuen Luftfahrt-Klimaschutzregeln verabschiedet, auf die sich EU-Rat und -Parlament schon einige Monate zuvor geeinigt hatten. Diese betreffen vor allem den Emissionshandel. Doch die neuen Regeln gelten nur für Flüge innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), also den Ländern der EU plus Liechtenstein, Norwegen und Island, sowie für Flüge aus dem EWR in die Schweiz und nach Großbritannien. Was auch O’Learys plötzliches Umweltbewusstsein erklärt, denn das ist im Wesentlichen der Markt, auf dem Ryan­air agiert. Alle anderen Flüge von den in der EU ansässigen Airlines sind hingegen von den Regeln ausgenommen. Das betrifft also sämtliche Interkontinentalflüge und damit eben auch alle Langstreckenflüge, die je nach Definiton ab einer Distanz von 3.000 Kilometern beginnen.

Doppelt schädlich für das Klima

Die seien jedoch deutlich schädlicher für die Umwelt als Kurzstreckenflüge, sagt Thomas Peter, emeritierter Professor der ETH Zürich und einer der weltweit führenden Experten zur Physik der Atmosphäre. Nicht nur wegen des Kohlenstoffdioxids, sondern auch wegen der am Himmel entstehenden Kondensstreifen. „Wie eine Plane“, sagt Peter, wirken diese in den höheren Schichten der Atmosphäre. Sie verhindern, dass Wärmestrahlung die Atmosphäre verlassen kann. Laut Peter sind diese sogenannten Non-CO2-Effekte des Flugverkehrs sogar noch schädlicher für die Atmosphäre als der CO2-Ausstoß selbst. Langstreckenflüge sollten deshalb „erheblich teurer werden, anstatt sie billiger zu machen“, sagt Peter. Dass ausgerechnet sie von den neuen Klimaschutzregeln ausgenommen sind, kann er nicht nachvollziehen: „Da wird die Rechnung gemacht, ohne auf zukünftige Generationen Rücksicht zu nehmen.“

Um die Tragweite des Ausklammerns von Interkontinental- und Langstreckenflügen zu begreifen, lohnt sich ein Blick auf eine Statistik der Europäischen Organisation zur Sicherung der Luftfahrt, der 41 europäische Staaten angehören. Von deren Flughäfen waren im Jahr 2020 nur 6,2 Prozent der Abflüge Flüge mit mehr als 4.000 Kilometern Distanz – doch diese waren für 51,9 Prozent der Emissionen verantwortlich. Weitere 19,2 Prozent der Flüge hatten eine Distanz von 1.500 bis 4.000 Kilometern, was in Europa in den allermeisten Fällen bedeutet, dass man den Kontinent verlässt. Auf sie entfielen weitere 23,2 Prozent des Kerosinverbrauchs. Auch wenn die Zahlen nicht mit dem EWR-Raum deckungsgleich sind, wird klar: Ein bedeutender Anteil des Kerosinverbrauchs bleibt vorerst ausgenommen vom EU-Emissionshandel-System (EHS), dessen verstärkte Version im kommenden Jahr in Kraft tritt. Airlines dürfen dann schrittweise weniger und ab 2026 gar kein CO2 mehr gratis emittieren. Die Fluggesellschaften müssen stattdessen Rechte für den CO2-Ausstoß ersteigern. Die EU will so den Ausstoß von Treibhausgasen auch im Flugverkehr verringern, denn die Menge an Emissionsrechten ist begrenzt, und so steigt auf Dauer der Preis dieser Rechte. Den Fluggesellschaften soll das Anreiz sein, in CO2-ärmere Technologien zu investieren, weil sie so Geld sparen können. Und die Kunden sollen weniger fliegen, weil die Tickets teurer werden. Das ist die Idee.

Das EHS bringe „unser Ziel, die verkehrsbedingten Emissionen bis 2050 um 90 Prozent zu senken, in greifbare Nähe“, behauptet entsprechend Tschechiens Umweltminister Marian Jurečka. Der Emissionshandel sei das „Herzstück der Klimapolitik“, sagte kürzlich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Der CO2-Ausstoß muss einen Preis haben. Die Natur kann ihn nicht mehr zahlen.“

Und doch hat die EU Langstreckenflüge und Privatjets von der neuen EU-Klimaschutzauflage ausgenommen. Für die Umwelt-NGO Robin Wood ist das „eine Folge der Lobbyarbeit der Industrie“. Denn die habe für die Ausnahmen gesorgt – allen voran die Lufthansa und der von ihr dominierte Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL).

Kurz nachdem die EU im Juni 2021 ihr ambitioniertes Klimaschutzpaket „Fit for 55“ vorlegte, erklärte der BDL, die Vorschläge für den Emissionshandel gehörten „zurückgewiesen“, jene für die Beimischung sauberer, klimafreundlicher Kraftstoffe müssten „vermieden“ werden. Ansonsten drohe „Wettbewerbsverzerrung“: Airlines von außerhalb der EU könnten die Langstreckenflüge billiger anbieten, der CO2-Ausstoß werde nicht reduziert, sondern nur verschoben. Ein Jahr später hatten die Airlines sich mit dieser Linie durchgesetzt.

Während sich Fluggesellschaften wie die Lufthansa öffentlichkeitswirksam zur Klimaneutralität verpflichtet haben, lobbyieren sie also auf politischer Ebene gegen Maßnahmen wie den Emissionshandel. Dafür schicken sie Dachverbände wie den BDL oder die International Air Transport Association (IATA) vor. Bewaffnet mit Positionspapieren, voll mit ökonomischen Argumenten warnen die Verbände die EU-Kommission und das Parlament vor Wettbewerbsverzerrung und Marktungleichgewichten. Es ist eine klassisch liberale Argumentation, wenn es um Klimaschutz durch Marktregulierung geht. Um progressiver zu klingen, ist dann die Rede von einer bloßen Verschiebung der Emissionen – genannt „Carbon Leakage“. Wer so argumentiert, kommt als Klimaschützer daher – und bläst weiter nach Kräften CO2 in die Luft.

Die Lösung der Luftverkehrsindustrie für den CO2-Ausstoß auf Langstreckenflügen lautet indes: CORSIA. Das steht für Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation und ist ein CO2-Kompensationssystem, das von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO aufgezogen wurde. Demnach sollen Fluggesellschaften ab 2024 freiwillig ihren CO2-Ausstoß auf maximal 85 Prozent des Basisjahres 2019 begrenzen.

Selbstverpflichtung oder Greenwashing?

CORSIA verlangt von den Airlines, den Ausstoß an Treibhausgas zu reduzieren – oder diesen auszugleichen, indem sie Klimaschutzprojekte finanzieren. Verpflichtend wird es erst ab 2027. Dass sich Firmen von ihren Emissionen freikaufen können, sehen jedoch nicht nur Klimaschützer kritisch. Selbst der Chef von United Airlines, Scott Kirby, bezeichnete das System als „Greenwashing“ – Etikettenschwindel.

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CORSIA ist zu schwach, um Fliegen klimaneutral zu machen. Es gibt kein CO2-Limit vor, ist nicht verpflichtend, große Luftverkehrsmärkte wie Russland, China und Brasilien sind nicht dabei. So werden laut einer Studie von T&E, dem europäischen Dachverband von NGOs, die sich für nachhaltigen Verkehr einsetzen, nur rund 35 Prozent der weltweiten, durch Luftverkehr entstehenden Emissionen durch das CORSIA-System abgedeckt werden.

Eine EU-eigene Studie von 2022 kommt zu dem Schluss, dass CORSIA „die direkten Klimaauswirkungen des Luftverkehrs nicht wesentlich verändern wird“. Es gebe „keine ausreichenden Anreize“ für die Airlines, „ihre Emissionen wesentlich zu reduzieren.“ Die EU hielt die Studie monatelang zurück – und ignorierte sie am Ende.

Denn für die Luftverkehrswirtschaft hat die europäische Politik ein offenes Ohr. Eine Studie der Londoner NGO InfluenceMap ergab, dass EU-Politiker*innen bis zum Entscheidungszeitraum des EU-Parlaments über das EHS im Juni 2022 43-mal Ve­tre­te­r*in­nen der Luftfahrtindustrie empfingen. Umweltverbände hingegen genießen so einen einfachen Zugang zur Politik nicht.

Und die Lobbyisten leisteten in Brüssel ganze Arbeit. So kam es am 6. Juni 2022 zu einem „closed-door dinner event“ mit EU-Parlamentariern und der Lobbyorganisation Aviation For Europe, die in Brüssel sitzt und der auch Lufthansa und KLM angehören. Direkt am nächsten Tag stand im EU-Parlament die Abstimmung zum Emissionshandelssystem für die Luftfahrt an, bei dem eine Ausweitung der Klimaschutzmaßnahmen keine Mehrheit fand.

Quelle       :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       A C-130 spraying Mosquitoes at Grand Forks AFB, ND. Conspiracy theorists use photos like this to support the idea that the government is secretly poisoning the populace with chemicals being sprayed from aircraft.

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Kolumne – In Rente

Erstellt von Redaktion am 27. Juli 2023

Wenn Arbeit nie endet

VON BARBARA DRIBBUSCH

Die einen sind gesund und jobben aus Spaß. Anderen müssen trotz schlechter Gesundheit arbeiten, weil die Rente nicht reicht. Ein unfaires System.

Es ist nicht mehr so wie früher, als man abgemeiert war mit kurz vor 70. Neuerdings werden wir Alten wiederentdeckt, angebettelt, angefleht. Gabriele zum Beispiel, 68, Ex-Lehrerin an einer Sekundarschule, hat den Bittbrief neulich im Briefkasten gefunden. Die Behörde fragte an: Ob sie nicht, bitte, bitte, wenigstens ein paar Stunden wieder zurückkommen wolle in den Unterricht? Freie Wahl der Schule! Es herrsche akuter Lehrkräftemangel.

„Bloß nicht“, sagt Gabriele, „nichts Pädagogisches mehr! Da grille ich lieber Sandwiches.“ Im Bistro einer Bekannten hilft Gabriele in der Woche ein paar Stunden aus, kennt sich jetzt aus mit laktosefreien Milchsorten und neuerdings auch ein bisschen mit Kneipenbuchhaltung.

Stefan, pensionierter Englischlehrer, 70, gibt wieder Unterricht. An einem Gymnasium, sechs Schulstunden in der Woche. Das ist ein Tausender im Monat obendrauf auf seine Beamtenpension. „Super“, schwärmt Stefan, „seitdem ich arbeite, habe ich das Gefühl, mein Kurzzeitgedächtnis hat sich wieder verbessert“.

Arbeiten wollen, können oder müssen

So gut läuft es nicht für jeden. Das Leben ist nicht fair und im Alter wird es noch ein bisschen unfairer. Abgesehen von den Faktoren Erbschaft, Vermögen und Co hängt das finanzielle Glück oder Unglück an den Komponenten Rente, Nebenjob und Gesundheit. Arbeiten wollen, können oder müssen? Das ist die Frage.

Super ist die Kombi aus guter Rente oder Pension plus freiwilligem anregendem Zusatzjob plus stabiler Gesundheit: Hauptgewinn. Wer dann Mitte oder Ende 70 mit dem Arbeiten ganz aufhört, steht immer noch finanziell gut da, weil die Altersversorgung ausreicht. Weniger toll ist das „Modell Zeitbombe“: Kleine Rente plus nicht mehr freiwilliger Teilzeitjob plus angeknackste Gesundheit. Was passiert, wenn es nicht mehr geht mit dem Jobben jenseits der 75?

Werner zum Beispiel, 69, Diabetes, kaputte Bandscheiben, studiert, früher mal Semiprofi­musiker und gescheiterter Kneipier, hat nur 200 Euro an gesetzlicher Rente und seine kleine Mietwohnung in Berlin-Moabit. Er arbeitet über eine Zeitarbeitsfirma im Wachdienst in Kultureinrichtungen, Teilzeit. Wir sprachen darüber, ob man besser auf Sohlen aus „Memory Foam“ oder „Masai-Barfuß-Technologie“ vier Stunden lang auf Steinböden durchhalten kann.

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben      —       Mann an der Führleine

Wikipedia – Author Leemclaughlin
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Das sind im übrigen Schauspieler welche sich dort präsentieren.

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Hilfe für Obdachlose

Erstellt von Redaktion am 25. Juli 2023

Wohnung first!

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Ein Debattenbeitrag von Sonja Norgall

Obdachlosigkeit lässt sich nicht mit Platzverweisen lösen. Um Lebensprobleme zu lösen, braucht es Ruhe. Ein Projekt in Hamburg macht Hoffnung.

Es sind 28 Grad, die Sonne strahlt über die glitzernden Bürgersteige der Einkaufsmeilen in der Hamburger Innenstadt. Der Himmel ist blau, keine Wolken in Sicht. Vor den Schaufenstern eines Juweliergeschäfts liegen ein leerer Schlafsack und Pappkartons. Die Überbleibsel einer Nacht auf der Straße.

Meine Kollegin Teresa Jakobs ist auf dem Jungfernstieg unterwegs und sucht Andreas. Sie sind verabredet, um beim Jobcenter einen neuen Antrag auf Bürgergeld zu stellen. Die Straßensozialarbeiterin der Diakonie Hamburg kreuzt die mehrspurige Straße, die für Fahrzeuge gesperrt ist, schaut an den Arkaden am Alsterfleet entlang, dann in den Seitenstraßen rund um das Rathaus.

Hier sind mehrere Platten, wie die Schlafplätze der obdachlosen Menschen genannt werden, im Eingang von Geschäften und Tiefgaragen, aber Andreas ist nicht da. „Es passiert immer häufiger, dass wir Klient*innen, mit denen wir verabredet sind, nicht an ihren Plätzen antreffen“, sagt sie. Andreas hat auch kein Handy, um einen neuen Termin auszumachen.

In Hamburg sind nach Schätzungen der Stadt circa 2000 Menschen obdachlos. Das Überleben auf der Straße ist seit dem Ausbruch der Pandemie schwieriger geworden. Die Innenstadt ist leerer, viele Büroangestellte arbeiten im Homeoffice und erledigen ihre Einkäufe im Internet. Große Kaufhäuser haben Insolvenz angemeldet und die Türen geschlossen. Vor und in den leeren Gebäuden und Garagen können obdachlose Menschen nun zwar einfacher liegen und sich aufhalten, aber es kommen weniger Passanten, die sie um ein paar Münzen bitten können.

Polizei will gegen „aggressives Betteln“ vorgehen

Stattdessen schaut inzwischen fast täglich die Polizei vorbei. Es gab wohl Beschwerden von Bürger*innen, die sich unwohl fühlten, wenn sie nach Geld gefragt wurden. Vor allem die Habseligkeiten der obdachlosen Menschen wirken in ihren Augen oft störend. Rucksäcke, Decken und Plastiktüten, die auf dem Bürgersteig liegen. Die Polizei soll laut der Stadt vor allem die sogenannten „negativen Auswirkungen von Obdachlosigkeit und aggressives Betteln“ unterbinden und erteilt nun Platzverweise.

Was genau aggressives Betteln ist, bleibt dabei unklar – in unseren Augen verhalten sich die Menschen meistens unauffällig. Oft scheint es willkürlich, wer angesprochen wird. Die Po­li­zis­t*in­nen weisen zwar auch auf Tagesaufenthaltsstätten in der Umgebung hin. Allerdings können sich die Menschen dort nur für wenige Stunden aufhalten. Die Räume sind beengt und es gibt oft Streit. Außerdem sind die Menschen darauf angewiesen, an Geld zu kommen. Deswegen ziehen die meisten obdachlosen Menschen lieber ein paar Straßen weiter, wenn die Polizei kommt.

Das Leben auf der Straße macht müde und körperlich krank. Dazu kommt neben der Kälte im Winter nun auch die Hitze im Sommer, die den Kreislauf sehr belastet. Die Zahl der öffentlichen Wasserspender ist in den vergangenen Monaten zwar ausgebaut worden. Trotzdem ist die Trinkwasserversorgung für Menschen, die auf der Straße leben, immer noch eine tägliche Herausforderung.

File:Armut Bettler Obdachlos (12269249596).jpg

Hilfemobile wie der Mitternachtsbus fahren durch die Innenstadt und haben Wasser, weitere Lebensmittel und Hilfen zum Überleben an Bord. Jede Nacht verteilen unsere Ehrenamtlichen dazu Decken und Schlafsäcke und kommen mit den Menschen auf der Straße ins Gespräch. Ziel ist es, auf weiterführende Hilfeeinrichtungen zu verweisen und die Menschen nicht allein in ihrem Schicksal zu lassen. Überflüssig konnten wir uns seit der Gründung 1996 nicht machen – die Menschen leben immer noch auf der Straße. Täglich kommen neue hinzu, auch aus EU-Staaten wie Bulgarien, Polen und Rumänien. Es fehlt an weiterführenden Hilfeangeboten und an Wohnraum.

Obdachlose stehen auf dem Wohnungsmarkt hinten an

Der Wohnungsmarkt ist angespannt. Auch wenn es in Hamburg das „Bündnis für das Wohnen“ gibt, werden zu wenig neue Wohnungen gebaut und fertig gestellt. Gleichzeitig fallen jedes Jahr viele §5-Schein-Wohnungen aus der Preisbindung heraus, so dass die Schere zwischen Nachfrage und Angebot im preisgünstigen Bereich immer größer wird.

Welcher private Vermieter gibt seine Wohnung an Menschen ohne Obdach und Arbeit, dafür aber mit Schulden?

Obdachlose Menschen stehen ganz hinten in der Schlange an. Welcher private Vermieter gibt seine Wohnung an Menschen ohne Obdach, dafür aber mit Schulden, ohne Arbeit und geregelten Tagesablauf? Die öffentlich-rechtlichen Unterkünfte sind in der Regel voll und es gibt Wartelisten. Oft passen sie auch nicht zu den Bedarfen der Menschen. Sie können ihr Haustier genauso wenig mitnehmen wie den Partner oder die Partnerin.

Viele kommen dazu nicht mit großen Unterkünften zurecht. Die Suche nach einer Bleibe ist daher mühsam und ein langer Weg. Viele Menschen versuchen es gar nicht erst oder geben mittendrin auf und schlafen dann doch wieder unter den Brücken der Stadt. Die Menschen können ihr Leben aber erst wieder neu regeln, wenn sie zur Ruhe kommen. Von Ruhe kann beim Leben auf der Straße allerdings keine Rede sein – es ist ein täglicher Überlebenskampf.

Quelle          :            TAZ.online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Homeless person, Hamburg City.

Author/Photographer: Hendrike, 1997

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Unten      — 

Description Armut Bettler Obdachlos
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Source Armut Bettler Obdachlos

Author blu-news.org
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Gewalt im Schwimmbad

Erstellt von Redaktion am 23. Juli 2023

Krasse Welle durch die Republik

Von Sabina Zollner und Plutonia Plarre

In Berliner Freibädern gibt es immer wieder Randale – und sofort diskutiert halb Deutschland über Jugendgewalt. Eine Reportage vom Beckenrand.

Samstag, 8.52 Uhr, 22 Grad: „Ausweis bitte“, fordert ein breitschultriger, korpulenter Security am Eingang des Berliner Prinzenbads, ein schneller Blick, das war’s. Vor dem Eingang des besucherstärksten Schwimmbad Berlins warten Frühschwimmer:innen, Hipster und junge Familien in einer etwa 30 Meter langen Schlange auf eine Abkühlung. Es sollen heute 35 Grad werden, Wartezeit schon jetzt knapp 20 Minuten.

Drinnen herrscht morgendliche Freibadidylle. Am Kiosk sitzt ein Pärchen im Schatten der roten Sonnenschirme, Weißbrot mit Rührei vor ihnen auf dem Teller. Das türkisblaue Wasser des Sportbeckens glitzert in der Sonne, während Menschen ordentlich ihre Bahnen ziehen. Im danebenliegenden Kinder- und Nichtschwimmerbecken ist noch wenig los. Und auch im Terrassenbecken mit abgesperrtem Sprungbereich sind lediglich ein paar Mor­gen­schwim­me­r:in­nen zu sehen.

Hat man die Medienberichte der vergangenen Woche verfolgt, könnte man meinen, in Berliner Schwimmbädern herrschen anarchistische Zustände. Von einer “Welle der Gewalt“ war dort die Rede, weshalb sich viele Familien nicht mehr ins Freibad trauten. Wiederholt hatte es in diesem Sommer in dem nur drei Kilometer vom Kreuzberger Prinzenbad entfernten Columbiabad in Berlin-Neukölln gewaltsame Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit dem Badpersonal und Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gegeben.

In der vergangenen Woche wurde das Bad geräumt und blieb anschließend wegen Krankmeldungen des Personals erst mal geschlossen. Und das genau zu Ferienbeginn im strukturschwachen und multikulturellen Bezirk Neukölln, wo sich viele Familien keine Urlaubsreise leisten können. Als dann noch ein Brandbrief der Belegschaft, bereits Mitte Juni an die kommunalen Berliner Bäderbetriebe (BBB) geschickt, die Öffentlichkeit erreichte, war der Skandal perfekt. Sogar die Bundespolitik stieg in die Diskussion darüber ein, wie man in den Berliner Freibädern durchgreifen soll.

In dem Brandbrief ist von einem „untragbaren Ausmaß der Umstände“ die Rede. Mitarbeitern, Frauen, Minderheiten, besonders trans und queeren Menschen werde immer häufiger Gewalt angedroht. Verbale Attacken, Pöbeleien und Spucken seien üblich. Meist seien es Jugendliche, die sich von Bademeistern nichts sagen ließen, die „als Mob“ aufträten. Seit Samstag gelten deshalb in allen Berliner Freibädern neue Sicherheitsmaßnahmen. Be­su­che­r:in­nen müssen ihren Ausweis am Eingang zeigen, es gibt mehr Securities und einen Einlassstopp, wenn es zu voll wird. An sogenannten Konfliktbädern wie dem Prinzen- und Columbiabad sind mobile Wachen der Polizei stationiert.

Mit etwas Abstand betrachtet nach der überhitzt geführten Debatte: Wie sinnvoll sind diese Maßnahmen?

Schlägerei unter Jungs mit Migrationshintergrund? Steilvorlage für einen sommerlichen Kulturkampf

11.33 Uhr, 27 Grad: Das Planschbecken füllt sich langsam, am Beckenrand stellen einige Frauen mit Kopftuch ihre Gartenstühle auf. Ein paar Meter weiter sitzen zwei Frauen im Schatten. Die beiden Mütter wollen ihren Namen nicht nennen, in der Sorge, dass sie nur „Quatsch“ erzählen. „Schreib einfach: eine türkische und eine arabische Mutter“, sagen sie. Von ihrem Platz blickt man direkt auf das Nichtschwimmerbecken mit sprudelnden Wasserpilzen, in dem die Kinder der beiden planschen. Die beiden Mütter sind heute extra früh gekommen, nachmittags wird es ihnen zu voll im Bad.

Was sagen sie zu der Situation in den Freibädern? „Das wird schon schlimmer dargestellt, als es ist“, sagt eine der Mütter, die im Sommer regelmäßig ins Prinzenbad kommt und in der Nähe wohnt. „Und die Medien schlachten das schon aus, weil es um Jungs mit Migrationshintergrund geht“, ergänzt sie. Ihre Freundin kontert: „Ja, aber ich mache mir manchmal schon auch Sorgen um die Sicherheit meiner Tochter hier.“

Woher die Gewalt kommt? Pubertät, kommt die Antwort schnell. Da beleidige der eine die Mutter oder Schwester des anderen, der fühle sich angegriffen in seinem „männlichen“ Stolz und prompt eskaliere es. „Aber man darf nicht vergessen, das sind Kinder, man weiß nie, was bei denen zu Hause los ist“, sagt die Kreuzberger Mutter.

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Die Nutzergruppen im Kreuzberger Prinzenbad sind ähnlich wie die im Neuköllner Columbia­bad, dem am zweitstärksten frequentierten Freibad in Berlin. Aber das Bad ist anders aufgebaut. Dort gibt es ein Becken mit einem zehn Meter hohen Sprungturm sowie einer 83 Meter langen Rutsche – die längste in Berlins Freibädern. Damit zieht das Columbiabad Jugendliche und junge Männer magisch an.

Auf dem Sprungturm können sie ihre Kräfte messen und auch die Rutsche hat die nötige Länge für Spinnereien. Das ist wohl mit der Hauptgrund, warum das Columbiabad deutlich öfter als das Prinzenbad in die Schlagzeilen gerät. Jugendgangs blockieren die Rutsche, lassen sich nichts sagen, wenn das Personal einschreitet, werden körperlich übergriffig. Es kommt zum Polizeieinsatz – und, wenn alle Stricke reißen, zur Räumung des Bades. Seit dem 22. Juni sind deshalb Rutsche und Sprungturm gesperrt. Die Maßnahme konnte die Randale im Juli jedoch nicht verhindern. Die Sinn-Frage dieser Maßnahme steht also im Raum.

Mit der Schließung des Columbiabads vergangene Woche begann dann eine Mediendebatte. Eine Schlägerei unter Jugendlichen mit Migra­tionshintergrund? Eine Steilvorlage für konservative Medien und Po­li­ti­ke­r:in­nen, um einen sommerlichen Kulturkampf anzuzetteln.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte die konsequente Bestrafung von Gewalttätern noch am Tattag, mittels Schnellverfahren. Und die AfD wusste sofort: „Wer seine Grenze nicht schützen mag, muss später Freibäder schließen.“

Am Freitag packte der frisch gekürte Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) die Gelegenheit beim Schopfe, um sich als Mann der Tat zu inszenieren, und verkündete vor Ort die neuen Maßnahmen. Der innenpolitische Sprecher der Linken, Niklas Schrader, warf Wegner daraufhin „billigen Aktivismus“ vor. Wenn eine kleine Minderheit in den Bädern aus der Rolle falle, „warum sollen dann alle bestraft werden?“, sagte er.

12.30 Uhr, 30 Grad: „Ausweiskontrolle? So ein Scheiß, der hat nicht mal richtig auf meinen geguckt“, sagt ein junger Mann auf der Liegewiese. Er ist mit seinen Freunden hier, sie kicken gerade mit einem Fußball hin und her, drehen gemütlich einen Joint, während im Hintergrund Stromae mit „Let’s dance“ aus den Boxen dröhnt. In der Entfernung sind mehrere Security-Mitarbeiter:innen zu sehen, die im Doppelpack das Freibad ablaufen. Die Journalistin wird anfangs eher skeptisch empfangen. Einer fragt: „Für welche Zeitung schreibst du?“ Als sie „taz“ hören, wirkt die Gruppe etwas offener. „Ihr schreibt nicht so scheiße über Ausländer,“ sagt einer der Jungs.

Ein Mädchen im Prinzenbad„Mein Cousin hat letzte Woche Hausverbot bekommen und ist jetzt wieder da“

Ob sie über die Situation in den Freibädern reden wollen? Ja, eigentlich schon, aber lass uns erst noch rauchen. Dann kommt ein anderer Freund aus der Entfernung angerannt und redet auf Türkisch auf die Gruppe ein, er will die Gruppe davon abhalten, mit der Journalistin zu reden. Einer ist dann doch bereit zu sprechen, will aber auch anonym bleiben.

Der 22-Jährige ist regelmäßig im Prinzenbad, sagt er. Columbiabad? Eher nicht, da gebe es immer Stress. „Das ist so ein Sehen und Gesehenwerden dort“, sagt er. Und warum es da immer so eskaliert? „Manche Leute lassen sich einfach schneller provozieren als andere, die reagieren dann über.“ Was hält er von der ganzen Mediendebatte rund um die Herkunft der Jugendlichen? „Hat mich nicht überrascht, die Medien sind schon länger in ihrem Klischeefilm, die machen ja auch Geld damit“, sagt er.

Das Freibad ist ein Ort, an dem man sich gegenseitig aushalten muss. Hier kommen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, Milieus und sozialen Schichten zusammen. Dass es hier zu Konflikten kommt, ist naheliegend. Menschen werden mit steigenden Temperaturen aggressiver, Hitze ist anstrengend. Deshalb ist das Freibad ein Ort, der nur mit Regeln funktioniert. Werden diese gebrochen, kann ein Hausverbot erteilt werden oder im schlimmsten Fall eine Strafanzeige.

Wirft man einen Blick auf die Zahlen für Berlin, sieht man jedoch, dass die Gewalt in Freibädern abnimmt. Insgesamt gab es 2022 laut Berliner Polizeistatistik 77.859 Gewaltdelikte – davon 57 in Freibädern. 2019, dem Sommer vor der Coronapandemie, waren es noch 71 Freibad-Vorfälle.

Die Ausweiskontrolle soll nun unter anderem ermöglichen, dass die Hausverbote besser durchgesetzt werden können. Laut der Bäderbetriebe werden Hausverbote bisher nur kontrolliert, wenn die Person nochmals auffällig wird. Erst dann wird eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch erstattet. Wie es in den Bädern ohne Datenabgleichgerät gelingen soll, mit Hausverbot belegte Gewalttäter schon am Eingang herauszufischen, ist völlig offen.

Die Ausweise händisch mit einer Liste abzugleichen wäre realitätsfremd. „Das könnte man auch nicht allen zumuten, dass die Ausweise am Eingang kontrolliert werden“, sagt Soziologe Albert Scherr, der zu sozialer Arbeit und Jugend forscht. Denn es gehe auch darum, über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nachzudenken. Was macht das mit dem Ort Freibad, wenn jeder am Eingang seinen Ausweis zeigen muss, überall Securities herumlaufen und eine Polizeiwache vor der Tür steht? Wirkt das überhaupt deeskalierend? Und fühlen sich Leute dadurch sicherer?

14 Uhr, 33 Grad, im Sprungbereich des Prinzenbads: „Junge, mach mal Arschbombe“, ruft einer seinem Freund entgegen. Dieser sprintet auf das Becken zu, und platsch, landet er im Wasser. Ein anderer taucht am Beckenrand auf, spuckt ins Gitter. Etwas abseits eine Gruppe von Teenagerinnen, alle ungefähr zwischen 12 und 15 Jahren alt. „Es gibt hier immer Stress. Mein Cousin hat letzte Woche Hausverbot bekommen und ist jetzt wieder da“, sagt eine. Was sie von den vielen Securities halten? „Die helfen eh nicht.“ Warum? „Die Jungs hören nicht auf sie – und können ja eh wieder ins Bad, auch wenn sie sich prügeln.“ Was die Streite auslöst? „Wenn jemand die Schwester oder die Mutter beleidigt, dies, das, dann rasten die aus.“ Die Kreuzberger, sagt ein Mädchen, seien „einfach stressgeil“. Die Gruppe verabschiedet sich. Im Sprungbereich wird es immer voller.

Es ist lange her, aber auch das Prinzenbad galt früher als Krawallbad. Massenschlägereien habe es Ende der 80er-Jahre „ständig“ gegeben, erzählte Bademeister Simon K. der taz einmal 2003 in einem Interview. In seiner ersten Saison habe er gleich ein Messer in den Rücken bekommen. „Zeitweise haben wir mit 25 Zivilpolizisten Dienst gemacht“. Befriedet habe man das Bad durch „massenhafte Anzeigen und Hausverbote“.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     A large wave towering astern of the NOAA Ship DELAWARE II. Atlantic Ocean, New England Seamount Chain. 2005.

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Für sich selbst sorgen

Erstellt von Redaktion am 23. Juli 2023

Für sich sorgen – eine Aufgabe oder eine Schimäre?

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Die fünf Sinne
Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Ilse Bindseil

Ich möchte einen Gedanken überprüfen, der mir, so wie er mir durch den Kopf schoss, überaus schlüssig erschien. Eine solche Überprüfung ist schon deshalb nötig, weil Einfall, Idee oder Erleuchtung Schlüssigkeit als Formmoment haben – schlüssig sind sie per Natur −, so dass man ihren Inhalt womöglich überschätzt.

Ich möchte daher prüfen, ob der Gedanke sich entfalten lässt oder ob er so punktförmig ist wie der Moment, in dem er mir durch den Kopf schoss, im Kontinuum der Zeit. Der Gedanke: Das Unglückselige, Fatale und Verhängnisvolle unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation, vor allen anderen Komplikationen, sei dem Widerspruch geschuldet zwischen dem unmittelbaren Dasein der Menschen als Individuen und den überaus mittelbaren Bedingungen ihrer Existenzsicherung.

Dieser Widerspruch verkehrt die Sorge für sich selbst in das Gegenteil eines umfassenden versorgt Seins mit der praktischen Konsequenz, dass die Individuen, wenn sie nicht mehr versorgt werden, zugrunde gehen, und der logischen Implikation, dass versorgt werden und leben sowie nicht versorgt werden und tot sein zusammenfallen; beides eine ängstigende, eine bizarre Vorstellung, fehlt doch alles, was mit dem Menschen als Subjekt assoziiert wird.

Unsicherheit als Lebensgefühl

Für sich sorgen können – eine Formel, die kaum noch ohne das beschwörende „selbst“ benutzt wird − ist als praktische Funktion und als Reflex der eigenen Konstitution gedacht. Die praktische Funktion wäre die Möglichkeit, den Gürtel enger zu schnallen und sich zu arrangieren, wenn die gesellschaftliche Versorgung zusammenbricht, sich im Garten zu versorgen, wenn es kein Gemüse mehr zu kaufen gibt, oder mit der Hand zu schreiben, wenn der PC nicht funktioniert, den Herd zu schüren, wenn Gas und Strom abgeschaltet sind, etwas einzutauschen, wenn fürs Bezahlen der Geldverkehr fehlt, sich auf sein Verhandlungsgeschick, notfalls auf seine Körperkräfte zu besinnen, wenn die Rechtsprechung nicht mehr existiert. Die Souveränität ist eine Frage der formalen Selbstschätzung: Die Einzelnen müssen ein Bewusstsein von sich haben, sie müssen eine Person oder ein Individuum sein. Können sie ungeachtet ihrer formalen Souveränität nicht für sich sorgen, sind auf Versorgung vielmehr angewiesen, stellt sich als Lebensgefühl eine Unsicherheit ein, die passive Erwartungen, Sicherheitsbedürfnisse und Versorgungsansprüche, steigert, die ihrerseits nur noch stärker in die Abspaltung führen der tätigen Wesen von sich selbst.

Der gesamtgesellschaftliche Befund einer umfassenden Versorgung hat etwas bedrückend Widersprüchliches, da sie einerseits als Fortschritt, Befreiung von lästiger Unmittelbarkeit, Gewinn zusätzlicher Entfaltungsmöglichkeit, andererseits als Enteignung und Verunsicherung empfunden wird. Auch wenn Fortschritt sich Schritt um Schritt, gewissermaßen von Erfindung zu Erfindung zu entwickeln scheint, ist er doch nicht in einem Kontinuum angesiedelt, dergestalt dass das Individuum im Notfall auf das ältere Modell zurückgreifen und das Leben auf einem niedrigeren Niveau, aber in vergleichbarer Vollständigkeit fortsetzen kann.

Was als Stufe in der persönlichen Entwicklung empfunden werden mag, entpuppt sich, auf die gesellschaftliche übertragen, vielmehr als Sprung. Ihm ist nicht die graduelle Verringerung oder Verminderung korreliert, sondern der Absturz: Wer nicht gepflegt wird, geht zugrunde, wer nicht ernährt wird, verhungert. Wenn das im Fortschritt Etablierte versagt, stellt sich heraus, dass der Zustand, der ihm vorherging, den es abgelöst, den es hinter sich gelassen hat, in Gänze nicht mehr existiert, fehlen doch die Voraussetzungen. Aus dem Stoffwechselwesen, das auf ingeniöse Weise seinen Stoff wechselt, wird ein recht eigentlich „gestoffwechseltes“ Wesen, dem zur Selbstversorgung nicht nur die materiellen, auch die geistigen Voraussetzungen abhandengekommen sind. Es sieht so aus, als wären sie in den Fortschritt, die sich selbst entwickelnde Entwicklung, hinübergewandert und im Wechsel von Aufschwung und Absturz recht eigentlich bei sich.

Überflüssige Erzeugnisse oder überflüssige Arbeitskräfte

Die Aufgabe und Fähigkeit der Person, sich in jenem engen Zirkel zu erhalten, der als Gegenstand der Erhaltung das Sich und als Ziel die pure Fortsetzung des Lebens hat, scheint mit dem Fortschritt tatsächlich unvereinbar, und das gilt auf der ganzen Welt und in den gegensätzlichsten gesellschaftlichen Formationen. Ob in den sprichwörtlich ärmsten Ländern Afrikas, wo die Menschen in solcher Armut gehalten werden, dass sie nur durch Gaben der Weltgemeinschaft überleben können, oder in den reichen Zentren Europas, wo an die Stelle der einfachen Selbsterhaltung eine hochkomplexe Versorgung getreten ist, deren mögliche Störung von kaum einem der Versorgten behoben werden kann; oder im fernen China, wo in einer sonderbaren Verdrehung die physische Versorgung der Menschen von der politischen Partei erwartet und, umgekehrt, das politische Überleben der Partei an das physische Wohlergehen der Menschen geheftet wird: Überall klaffen das formal zugestandene Recht auf Selbstbestimmung und die tatsächliche Möglichkeit zur Selbstorganisation in verstörender Weise auseinander. Speziell in den hoch entwickelten Ländern des reichen Nordens springen Utopien vom Einzelnen als Einzelkämpfer in die Lücke. Wenn etwas als Einzelnes existiert, müsse es sich als Einzelnes erhalten, dokumentieren sie, seine Einzelheit müsse sich abspiegeln können. Die inhaltlichen Elemente ihres Daseins gewinnen sie aus der Perspektive der Verteidigung.

Über die politischen, die psychologischen und moralischen Folgen des Verschwindens der einfachen Reproduktion als natürlichem Modell der Selbsterhaltung kann nachgedacht, über die ökonomische Bewegung, die es motiviert und befördert, braucht nicht groß gestritten zu werden. Eine These lautet, dass nicht länger Produktion, sondern Konsumtion der entscheidende Faktor ist, auch nicht Not, sondern Überfluss, der hat sein Maß im „ungebremsten Steigen des Produktivkraftniveaus“ (Emmerich Nyikos, panem et circenses), nicht in den ehemals so genannten Bedürfnissen der Menschen. Ob angesichts der „totalen Automatisierung und Robotisierung der Produktion“, die „die Lohnarbeit als Basis der Revenue breitester Schichten […] wegfallen lässt“ (ebd.), die Freistellung der Arbeiter oder die faktische Überproduktion das größere Problem ist, ob man also, wie Nyikos formuliert, die „überflüssigen ‚Hände‘ über die Runden bringen“ oder die Freistellung der Arbeitenden mit der Koppelung an eine forcierte Konsumtion begründen sollte, wäre eine scholastische Frage.

Je nachdem, ob die Sorge mehr der Überflüssigkeit der Arbeitskraft oder dem Überfluss an Erzeugnissen gilt, wird die eine oder die andere Begründung angeführt werden, und ist die Trennung einmal vollzogen, ist das Verhältnis ohnehin nicht mehr ins Gleichgewicht zu kriegen. Um ihrer Aufgabe, die Überschüsse zu verbrauchen, gerecht werden zu können, müssen Massen sowohl freigestellt als auch an der Selbstversorgung gehindert werden. Das Individuum gerät darüber ins Wanken. Es möchte sich auf seine Kräfte besinnen und kann nicht. In die entfremdete Konsumtion wird es so gepresst wie anno dazumal in die entfremdende Produktion. So wie es im Schema der industriellen Fertigung zum Produzenten wurde, so wird es im Schema der Verteilung zum Empfänger, der sich erhalten will, wobei die Maschinerie ihren eigenen Hunger entwickelt. Inbegriff eines produktiven versorgt Seins, ist sie dem Kreis der Empfänger nicht nur zugeordnet, sondern genießt eine Vorzugsstellung vor denen, die nichts leisten, nur leben wollen. Ihr wird als erste zugeteilt, „und das ist gut so“, denn wer das zu Verteilende bereits bei der Verteilung verbraucht, braucht am Ende nichts mehr zu verteilen.

Das verinnerlichte Gefängnis der Souveränität

Die elegante These vom Abstieg des emanzipierten Arbeiters zum entmündigten Konsumenten beinhaltet nicht nur den Schluss auf seine existentielle Entfremdung, sie lässt ebenso den gegenteiligen auf eine vom Widerspruch befreite Gesellschaftlichkeit zu, die ihr eigenes Telos und ihre eigenen Spielregeln hat. In der Tat, pfiffig muss man sein, will man von dem, was verteilt wird, noch etwas abkriegen, nicht zu denen gehören, die am Ende verhungern, während andere leben. Aber der darwinistisch verteidigte Platz an der Mutterbrust ist von hoffnungsloser Immanenz. Er stiftet kein Modell, über das sich nachdenken lässt, schreibt die Entwicklung lediglich fort und entleert sie zusätzlich von Sinn. Gegen den gesellschaftlichen Antagonismus, der mit einer Vielfalt dramatischer Befunde belohnt, aber den Widerspruch, der er selbst ist, nicht in den Blick zu kriegen erlaubt, wäre dagegen die Einheit des geistigen Vermögens zu halten. Ob als personaler Verstand oder abstrakter gesellschaftlicher Mechanismus, als philosophische Reflexion, Geist in der Flasche oder bare Münze auf die Hand, es ist ein und dasselbe und muss nur als solches wahrgenommen werden.

Das erfordert Übung, es erfordert Umzentrierung, vom emphatischen bei sich Sein des Subjekts hin zu seinem Sein als Gesellschaft. Solche Umzentrierung geschieht im Kopf, sie arbeitet an den Vorstellungen. Dabei gilt es, den in allen seinen Erscheinungen wirksamen Irrtum aufzulösen, der dem Individuum als seine Verwirklichung zugeschriebene Fortschritt habe es – und sei von ihm – hervorgebracht, er sei, kurz gesagt, Ursprung, Modus und Ziel jener erweiterten Form von Reproduktion, die im technischen Fortschritt als Emanzipation und Freiheit erfahren wird, leider auch als Entfremdung, wachsende Entmündigung und daraus resultierende Bedrohung. Um aus der Doppeldeutigkeit herauszukommen, reicht es nicht, den Irrtum zu durchschauen, er muss abgetragen, das verinnerlichte Gefängnis der Souveränität muss verlassen werden, die Gewissheit, zu kurz zu kommen und betrogen worden zu sein, muss sich in nichts auflösen. Dass an der Grenze, wo Freiheit winkte, Konsumzwang wartete, ist bloß ein Irrtum wie viele andere, keine Tragödie. Schuf die Industriegesellschaft im ersten Schritt entrechtete Arbeitskräfte, die „Sklaven der Fabrik“, während sie im zweiten bloß noch geschmeichelte Ansprechpartner formte, um im dritten, zynisch vermittelnden Schritt bei den entmündigten „Berechtigten“ zu enden, die das ihnen Zugedachte verdrossen in Empfang nehmen, so sollte die Steigerung als ein Darstellungsprinzip durchschaut und durch ein anderes Prinzip ersetzt werden. Das Subjekt in Kategorien des Verlusts und der Entfremdung zu fassen, ist in seiner Schonungslosigkeit zwar bestechend, erzeugt aber als Doppelbild eine Eigentlichkeit, die der Kritik enthoben ist. Eine Darstellung, die sich am Wittgensteinschen „wie es ist“ orientiert, hat ein solches Doppelbild nicht nötig.

Die Gesellschaft, besorgt um ihr Bestehen, ahnungslos, was sie ist

Über Selbsterhaltung nachzudenken könnte in diesem Kontext sogar von Nutzen sein, kann sie doch als ein gesellschaftliches Modell im Miniaturformat gelesen werden. Nicht zufällig besticht der humanistische, der goethesche Traum von der individuellen Selbstverwirklichung, durch sein hartnäckiges Bemühen um Realismus. Gefasst als Kreativität gegenüber der Mechanik der Gesellschaft, verstellt er aber, dass es nicht um Perfektibilität, sondern um die basics geht. Diese sind nicht leicht zu fassen. Sie ergeben sich nicht von selbst. „Nachhaltigkeit“, zum Beispiel, drückt die Schwierigkeit treffend aus. Zugleich scharf und verschwommen, altbacken und modern, ist der Begriff – oder soll man sagen das Wort? − wie aus einem anderen Zusammenhang hineingesprengt, recht eigentlich ein „Zwiebelfisch“ im Diskurs. Ursprünglich ein Synonym bloß für anhaltende Wirkung − gleichgültig gegenüber der Frage, ob der Boden nachhaltig verbessert oder das Immunsystem nachhaltig geschädigt wird −, wird Nachhaltigkeit zum Inbegriff einer Gesellschaft, die sich um ihr Bestehen sorgt, aber keine Ahnung hat, was sie ist.

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Wie ist unter diesen Prämissen der fatale Eindruck zu gewichten, zwar um die Bedingungen der Selbsterhaltung gebracht, aber nicht aus der Selbstverantwortung entlassen zu sein? Ist die Verantwortung realistisch oder apodiktisch? Ist sie der existentielle Grund für „das Unbehagen in der Kultur“, das Freud diagnostizierte? Oder etwa, wiederum mit Freud, bloß ein „begleitendes Gefühl“, das sich nicht zuletzt aus der Beschönigung früherer Lebensverhältnisse speist, die sich nicht durch geringeres Risiko, allenfalls durch eine geringere Sicherheitserwartung auszeichneten? Spiegelt sich in der Verklammerung von Subjekt und Fortschritt gar eine Anmaßung, die für den Abgrund zwischen Optimismus und Ohnmacht verantwortlich wäre, der zu einem Gefühl ständiger Bedrohung führt, dem Gefühl, dass „der Schuss nach hinten losging“, da der dem Subjekt zugedachte Fortschritt sein Maß nicht am Subjekt hat, dieser auf das Subjekt auch keine Rücksicht nehmen muss? Den Eindruck des „Unglückseligen, Fatalen und Verhängnisvollen“ (s. o.) zu bestätigen, genügt es jedenfalls nicht festzustellen, dass man, „am Arsch“ ist, ein Urteil, dessen Ungeschöntes die Halluzination der Souveränität lediglich bekräftigen könnte. Das alte Bedürfnis, sich der Gesellschaft gegenüber zu positionieren, behauptet sich darin; die eher passiven, auf den Zusammenhang fokussierten Konnotationen des Erkennens bleiben ausgeschaltet, jene, die in der Lage wären, die Einheit des Gegensätzlichen wahrzunehmen.

Die Vorstellung vom Subjekt überdenken

Dabei muss das Schema nicht erfunden werden, steckt Abhängigkeit, wie es lyrisch heißt, doch in allem. „Klein“ oder „alt“ sein, das organische Modell des Lebens ist ohne Abhängigkeit nicht zu denken. Desintegriert, wird sie zur besonderen Aufgabe, gesellschaftlich zum Projekt. Zum Schibboleth der postmodernen Gesellschaft aufgerüstet, ist sie ein Fake wie alles, was die Gesellschaft auf das Subjekt hin konstruiert. Hilflosigkeit, ein Produkt nicht zuletzt der gedanklichen Bearbeitung, zeugt von Zuspitzung und Abspaltung.

Im Bild der Menschen im fernen Afrika, die sich um die wie aus dem Nichts aufgetauchten Getreidesäcke scharen, scheint auf, was Freud im Auge hatte, als er das „Weg-Da“-Spiel analysierte. Die Pointe besteht in der Gleichheit der antagonistischen Alternativen: Auch wenn die Lieferung stattfindet, könnte sie ebenso gut ausbleiben. Nicht anders ist es mit dem Strom, der in den entwickelten Ländern aus der Steckdose kommt. Im Gegenteil, je automatisierter die Versorgung, desto plausibler die Vorstellung, dass sie jederzeit unterbrochen werden kann. Durchtrennte Kabelbündel dokumentieren die Hinfälligkeit ausgerechnet jenes Unterschieds, der der sprichwörtliche Unterschied ums Ganze ist.

Im „Weg-Da“-Spiel des Kindes, das das Verschwinden der Mutter nachstellt, wird der von allen Bezügen getrennte Vorgang zum Rätsel. So kann er endlos nachgespielt werden. Erwachsen wäre es, der Rätselbildung entgegenzuwirken. Wenn kontingente Verhältnisse über Sein und Nichtsein eben jenes Subjekts entscheiden, das über Sein und Nichtsein der Verhältnisse entscheiden müsste, dann bietet es sich an, die Vorstellung vom Subjekt zu überdenken. Will es nicht bloß ein durch Empörung oder Bedauern geadelter Teil der Verhältnisse sein, bleibt ihm nur, sich entschlossen in die gesellschaftliche Beschaffenheit, aus der es herausragen möchte, hinein- und zurückzudenken. Die Verkleinerung der eigenen Position wird mit der Erweiterung des Blickwinkels belohnt werden.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Grafikquellen          :

Oben     —   Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken

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Linke Rackete Zwei

Erstellt von Redaktion am 21. Juli 2023

„Wir alle haben Verantwortung“

Interview von Tobias Bachmann

Die Aktivistin Carola Rackete kandidiert bei der Europawahl 2024 für die Linke. Die Partei müsse wieder einen „Gebrauchswert“ bekommen für die Menschen, sagt sie.

taz: Frau Rackete, Sie kandidieren auf dem Ticket der Linkspartei für die Europawahl 2024. Warum wechseln Sie die Seiten, von der Bewegung in die Politik?

Carola Rackete: In der Situation, in der wir hier in Deutschland sind, fehlt der Bewegung auf der Straße die Verknüpfung zu einer starken parlamentarischen linken Kraft. Zum Beispiel im Bereich Klimagerechtigkeit: Historisch und global gesehen hat Deutschland die viertmeisten Emissionen und damit eine besondere Verantwortung für die Klimakrise. Wir müssen wirklich etwas tun. Und gleichzeitig haben wir dieses eklatante Versagen der jetzigen Bundesregierung. Das ist Arbeitsverweigerung auf allen Ebenen, besonders auch von den Grünen. Warum sie damit durchkommen, hat auch sehr viel damit zu tun, dass es keine starke linke Opposition im Bundestag gibt. Die aktuelle linke Fraktion dort macht leider oft keine gute Arbeit beim Thema Klimagerechtigkeit. Das liegt nicht am Programm, das ist wirklich stabil. Aber die guten Kli­ma­po­li­ti­ke­r*in­nen, die es in der Linken gibt, sind dort kaum vertreten.

Sie zieht es ins EU-Parlament.

Ich denke, ich kann auf EU-Ebene mehr bewirken. Aber es ist wichtig, sich auch dafür einzusetzen, dass die Richtung der Linken auch im Bundestag klar vertreten wird. Dass sozial gerechte Klimamaßnahmen nicht mehr gegen andere Ungerechtigkeiten oder gegen die Armut der Menschen ausgespielt werden. Das würde auch die Bewegung stärken. In dem, was Bewegung alles tun kann, ist die parlamentarische Kraft ein wichtiger Baustein. Natürlich müssen die Bewegungsakteure aber auch wirklich stark auf der Straße bleiben.

Sie haben mal gesagt, Sie würden sich aus einem Verantwortungsgefühl heraus politisch engagieren. Wie viel von diesem Gefühl steckt in Ihrer Kandidatur?

Wir haben alle eine Teilverantwortung an dem, was gesellschaftlich passiert. Anfangs war ich von der Kandidatur weniger überzeugt. Dann hatte ich einige interessante Gespräche, gerade mit Leuten, die keinen europäischen Pass haben, aber trotzdem von der EU-Politik betroffen sind. Die haben gesagt: „Naja, du hast diesen Pass, das ist ein Privileg. Du kannst kandidieren.“ Und das stimmt, das ist ein Privileg. Wenn wir zudem sehen, wie stark rechte, teilweise faschistische Parteien in Europa gerade sind, dann finde ich das total besorgniserregend.

Natürlich kann man sich auch Zivilgesellschaftlich gegen Rechts oder antirassistisch engagieren. In Deutschland haben wir aber gerade eine ganz spezifische Situation. Es besteht das Risiko, dass wir mit der Linken die einzige antikapitalistische Partei, und auch die einzige Partei, die jetzt gegen GEAS gestimmt hat, aus dem Bundestag verlieren könnten. Ich finde, das wäre tatsächlich ein großes gesellschaftliches Problem. Auch deshalb habe ich mich zur Kandidatur entschieden, als die Parteivorsitzenden auf mich zukamen.

Einige Stimmen in der Linkspartei tun sich schwer mit einer klaren Haltung gegen den russischen Angriffskrieg. Wie stehen Sie dazu?

Ich wünsche mir natürlich, dass die Partei eine ganz klare antiimperiale Haltung einnimmt. Ich war nicht nur schon mehrfach in der Ukraine, sondern auch in Georgien, wo Russland in den letzten 15 Jahren auch zweimal einmarschiert ist und jedes Mal ein Stück vom Land behalten hat. Für mich ist es vollkommen klar, dass eine linke Partei sich generell auf die Seite der jeweils Unterdrückten stellen muss. Und dass wir nicht aus irgendwelchen historischen Zusammenhängen Autokraten und Diktatoren verteidigen dürfen, nur weil sie vielleicht eine linke Geschichte haben. Ob das jetzt in China, in Weißrussland oder in Russland ist. Da müssen wir die Position der Zivilgesellschaft einnehmen und die antiimperialistische Perspektive als verbindendes Thema haben.

Eine andere Debatte, die die Linkspartei gerade spaltet, ist der Umgang mit Sahra Wagenknecht und ihre Ankündigung, eine eigene Partei zu gründen.

Dass der Parteivorstand sich einstimmig dazu geäußert hat, dass sie ihr Mandat zurückgeben soll, finde ich sehr gut. Und jetzt ist es wichtig, als Bewegungsakteure zu überlegen, was wir beitragen können, um die Linkspartei in eine neue Richtung zu bringen. Sodass sie wieder einen Gebrauchswert für die Menschen auf der Straße bekommt – sowohl für Geringverdiener mit deutschem Pass als auch für Migrant*innen. Und dass wir diese Frage wirklich von unten, also letztlich als ökologische Klassenpolitik aufmachen und dabei eine klare antirassistische Haltung haben.

Wie kann die Neuausrichtung der Linken gelingen?

Wir brauchen einerseits ein Verständnis dafür, wie fundamental die Probleme der Partei sind, warum sie Wäh­le­r*in­nen und Un­ter­stüt­ze­r*in­nen verloren hat – und einen Plan, wie es nun wieder vorwärtsgeht. Dazu braucht es einen starken Veränderungswillen, also mehr als nur Worte.

Das heißt konkret?

Die Linke muss beide mitnehmen: sowohl die Leute, die sich schon lange in der Partei engagieren, als auch diejenigen, die ein Interesse an einer linken Partei haben, aber sich eher der linken Zivilgesellschaft zuordnen. Ich glaube, nur wenn diese zusammenkommen, kann die Linke eine gute neue Richtung und eine klare Haltung gewinnen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Es braucht einen Beteiligungsprozess, der öffentlich und nicht nur nach innen gerichtet ist. Dazu sollten auch Leute außerhalb der Partei eingeladen sein, darüber zu diskutieren, wie die Partei wieder einen Gebrauchswert erreichen kann und zu welchen, auch konfliktreichen, Themen sie sich klar positionieren sollte.

Sie sagen, Ihr mögliches Mandat im EU-Parlament wäre ein „Bewegungsmandat“. Planen Sie dafür auch einen öffentlichen Beteiligungsprozess?

Quelle           :       TAZ-online            >>>>>>          weiterlesen

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Lebendige Dystopie

Erstellt von Redaktion am 20. Juli 2023

Brasilien: Was verbrennt den Amazonas?

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von          :     crimethinc

Ein Plädoyer von brasilianischen Anarchist*innen. Während die Brände im Amazonas-Regenwald im Jahr 2019 loderten, haben uns Genoss:innen in Brasilien diese Analyse der Ursachen der Katastrophe geschickt und beschreiben wie sie unsere Vision der Zukunft beeinflussen sollte.

Die Szenerie ist düster. Am 19. August 2019 liegt Rauch über den Städten des Bundesstaates São Paulo und macht um 15 Uhr den Tag zur Nacht. Am Tag zuvor haben die Menschen in Island die erste Beerdigung eines für tot erklärten Gletschers organisiert, mit einem Grabstein und einer Schweigeminute. Der Rauch, der São Paulo einhüllte, wird durch Waldbrände im Amazonaswald weit im Norden Brasiliens verursacht; der Gletscher ist aufgrund der steigenden Temperaturen, die mit dem sich in der Atmosphäre ansammelnden Kohlendioxid zusammenhängen, verschwunden.Diese tragischen Szenen – fast malerisch, fast absurd – könnten komisch wirken, wenn sie nicht real wären. Sie sind so extrem, dass sie uns an fiktive Szenarien erinnern, wie sie in dem Roman Und noch immer die Erde beschrieben werden, einer brasilianischen Umweltdystopie von Ignácio de Loyloa Brandão. Das in den 1970er Jahren während der Militärdiktatur in Brasilien geschriebene Buch beschreibt ein fiktives diktatorisches Regime namens »Civiltar«, das die Abholzung des letzten Baumes im Amazonasgebiet mit der chauvinistischen Erklärung feiert, dass es »eine Wüste grösser als die Sahara« geschaffen habe. In dieser Geschichte sind alle brasilianischen Flüsse tot; Krüge mit Wasser aus jedem der erloschenen Flüsse werden in einem hydrographischen Museum ausgestellt. Dünen aus Aluminiumdosen und Autobahnen, die ständig durch die Karossen verlassener Autos blockiert sind, bilden die Kulisse von São Paulo. Die Stadt selbst leidet unter plötzlichen Hitzewallungen, die jeden ahnungslosen Menschen töten können; mysteriöse Krankheiten suchen die Bürger*innen, insbesondere die Obdachlosen, heim.

Der Autor behauptet, er habe sich von realen Ereignissen inspirieren lassen, die damals absurd und ungewöhnlich erschienen. Heute werden sie immer alltäglicher.

Die Nachricht von der zunehmenden Verbrennung im Amazonasgebiet hat weltweit für Erschütterungen gesorgt. Laut dem Nationalen Institut für Weltraumforschung ist die Zahl der Brände in Brasilien im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 82% gestiegen, und während wir diese Zeilen schreiben, werden immer noch neue Ausbrüche von Bränden gemeldet. Die katastrophalen Bilder der Zerstörung haben die Empörung von Menschen auf der ganzen Welt geschürt, die sich Sorgen um die Zukunft des Lebens auf der Erde machen, da sie wissen, wie wichtig der Amazonas-Regenwald für die Klimaregulierung und die globale Artenvielfalt ist. Die Bilder der Brände veranlassten den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, das Thema auf dem G7-Gipfel anzusprechen und sich in den Medien einen Schlagabtausch mit Präsident Jair Bolsonaro zu liefern, nachdem Frankreich Millionen von Dollar für die Bekämpfung der Waldbrände bereitgestellt hatte.

Seit Ende 2018 wurden in vier brasilianischen Bundesstaaten eine halbe Milliarde Bienen tot aufgefunden. Das Sterben dieser Insekten, die für die Befruchtung von 75% des Gemüses, das wir essen, unerlässlich sind, wird mit dem Einsatz von Pestiziden in Verbindung gebracht, die in Europa verboten, in Brasilien aber erlaubt sind. Im August 2019 wies das Gericht die Anklage gegen einen Landwirt ab, der im Jahr 2015 aus einem Flugzeug abgeworfene Pestizide als chemische Waffe gegen die indigene Gemeinschaft Guyra Kambi’y in Mato Grosso do Sul eingesetzt hatte. Im selben Monat koordinierten Gruppen von Landwirten, »Landräubern« (Personen, die Dokumente fälschen, um sich Land anzueignen), Gewerkschaftsmitgliedern und Händlern über eine WhatsApp-Gruppe das Legen von Bränden in der Gemeinde Altamira in Pará, dem Epizentrum der Brände im Amazonas-Regenwald. Wie in Folha do Progresso berichtet, wurde der »Tag des Feuers« von Menschen organisiert, die durch die Worte von Jair Bolsonaro ermutigt wurden: »Das Ziel«, so einer der Anführer, der anonym sprach, »ist es, dem Präsidenten zu zeigen, dass sie arbeiten wollen.«

Die jüngste Welle von Bränden, die die Politik von Präsident Jair Bolsonaro mit Angriffen auf Wälder, Kleinbäuer*innen und indigene Bevölkerungen in Verbindung bringt, ist eine Intensivierung eines Prozesses, der so alt ist wie die Kolonialisierung Amerikas. Als die Arbeiterpartei (PT) noch an der Macht war, wurden zahlreiche Projekte zur Ausweitung und Beschleunigung des Wachstums eingeleitet, darunter der Bau des Kraftwerks Belo Monte, durch den indigene Gemeinschaften und Tausende andere Landbewohner*innen vertrieben wurden oder auf andere Art davon betroffen waren. Die Verabschiedung des Forstgesetzes im Jahr 2012 ermöglichte es den Landwirt*innen, ungestraft in indigene Gebiete und Naturschutzgebiete vorzudringen, während die Ausweisung neuer Schutzgebiete ausgesetzt wurde.

Sowohl linke als auch rechte Regierungen sehen die Natur und das menschliche Leben in erster Linie als Ressourcen für die Produktion von Gütern und für den Profit. Die Regierung Bolsonaro, ein erklärter Feind der einfachen Leute, der Frauen und der indigenen Gruppen, droht uns nicht nur mit der physischen Gewalt der polizeilichen Unterdrückung. Mit seiner Ankündigung, kein indigenes Land mehr anzuerkennen, verschärft Bolsonaro einen Krieg gegen die Ökosysteme, die das menschliche Leben ermöglichen – einen Krieg, der ihm lange vorausgeht.

Eine seit 500 Jahren andauernde Katastrophe

Seit Jahrhunderten kämpfen wir darum, die grösste Katastrophe unserer Zeit zu überleben, eine Katastrophe, die die Nachhaltigkeit aller Biome und Gemeinschaften auf diesem Planeten bedroht. Ihr Name ist Kapitalismus – das grausamste, ungerechteste und zerstörerische Wirtschaftssystem der Geschichte. Diese Bedrohung ist nicht das Ergebnis unausweichlicher Naturgewalten. Der Mensch hat sie geschaffen, und der Mensch kann sie beseitigen.

In Brasilien haben wir aus erster Hand erfahren, wie dieses System Menschen ausbeutet, Genozid fördert und die Erde, das Wasser und die Luft degradiert und verschmutzt. Selbst wenn wir es letztendlich schaffen, es abzuschaffen, werden wir immer noch mit den Folgen leben müssen, die sich daraus ergeben, dass wir es so lange haben weiterlaufen lassen. Die Zerstörung ganzer Ökosysteme, die Gifte in den Flüssen und in unserem eigenen Körper, die ausgestorbenen Arten, die verschwundenen Gletscher, die abgeholzten und zugepflasterten Wälder – diese Folgen werden noch viele Jahre lang zu spüren sein. In Zukunft werden wir überleben müssen, indem wir uns aus den Ruinen und Abfällen, die dieses System hinterlassen hat, das holen, was wir brauchen. All das Material, das dem Boden entrissen wurde, um über die Erdoberfläche verstreut und in die Meere gekippt zu werden, wird nicht über Nacht in die Tiefen zurückkehren, aus denen es kam.

Wenn wir dies erkennen, sollten wir unsere revolutionären Aussichten entsprechend gestalten. Es ist töricht, sich vorzustellen, dass die Abschaffung des Kapitalismus die Konsumaktivitäten, die der globalen Bourgeoisie derzeit zur Verfügung stehen, auf die gesamte Menschheit ausweiten wird; wir müssen aufhören, von einer regulierten post-kapitalistischen Welt mit unendlichen Ressourcen zu phantasieren, um die Art von Waren zu erzeugen, die uns die kapitalistische Propaganda vorgaukelt. Vielmehr müssen wir experimentieren, wie wir die Selbstverwaltung unseres Lebens inmitten der Wiederherstellung unserer Biome, unserer Beziehungen und unserer Körper nach Jahrhunderten der Aggression und Ausbeutung teilen können – indem wir das Leben in Regionen organisieren, die ihm feindlich gesonnen sind.

Die Art und Weise, wie wir heute unseren Widerstand organisieren, sollte von der Tatsache geprägt sein, dass unsere revolutionären Experimente nicht in einer Welt des Friedens, der Stabilität und des Gleichgewichts stattfinden werden. Wir werden inmitten der Folgen von jahrhundertelanger Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung ums Überleben kämpfen müssen. Im besten Fall wird die Zukunft so aussehen wie die Situation in Kobanê im Jahr 2015: eine siegreiche Revolution in einer zerbombten Stadt voller Minen.

Niemand muss sich eine Apokalypse ausmalen, wenn die schlimmsten Dystopien bereits Teil der Realität sind. In den Städten Mariana und Brumadinho im Bundesstaat Minas Gerais sind die von den Bergbauunternehmen Samarco und Vale betriebenen Dämme wegen mangelnder Wartung und Vernachlässigung von Mensch, Tier und Umwelt zusammengebrochen. In Mariana kamen bei einem Unfall im Jahr 2015 19 Menschen ums Leben; in Brumadinho sind nach einer Katastrophe im Januar 2019 mindestens 248 Menschen ums Leben gekommen und Dutzende werden noch vermisst. Um des Profits willen haben diese Unternehmen und ihre Manager*innen eine der schlimmsten Umweltkatastrophen des Landes verursacht, von der Tausende betroffen sind, von den Angehörigen der Toten bis hin zu den indigenen und ländlichen Gemeinschaften, die von den Flüssen abhängen, die durch den giftigen Schlamm, der in den Dämmen eingeschlossen wurde, verwüstet wurden.

An solchen Beispielen lässt sich leicht erkennen, dass die schlimmste Tragödie nicht das Ende der kapitalistischen Ordnung ist, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt existiert. Wie Buenaventura Durruti in einem Interview während des spanischen Bürgerkriegs sagte:

»Wir, die Arbeiter, können andere bauen, die ihren Platz einnehmen, und zwar bessere! Wir haben nicht die geringste Angst vor Ruinen. Wir werden die Erde erben, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Die Bourgeoisie könnte ihre eigene Welt sprengen und zerstören, bevor sie die Bühne der Geschichte verlässt. Wir tragen hier eine neue Welt in unseren Herzen. Diese Welt wächst in dieser Minute.«

Was also brennt im Amazonas?

Wissenschaftler*innen, staatliche Institutionen, soziale Bewegungen und die Land- und Stadtbevölkerung sind sich einig über die Auswirkungen und Risiken der globalen Erwärmung und der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung. Einige dieser Folgen sind im Begriff, unumkehrbar zu werden. Die Abholzung des Amazonas selbst könnte irreparabel werden, wenn sie 40% seiner Gesamtfläche erreicht.

Es hat noch nie funktioniert, von Regierungen zu verlangen, dass sie diese Probleme für uns lösen – und wird es auch nie. Das ist besonders töricht, wenn es um die Umweltkatastrophen geht, die durch ihre eigene Politik verursacht werden. Die Beschlagnahmung von Land und die Abholzung des Amazonas sind untrennbar mit den organisierten kriminellen Unternehmen verbunden, die auf dem Lande schmuggeln und töten. Ganze 90% des geernteten Holzes sind Schmuggelware, die von einem riesigen Apparat des illegalen Kapitalismus unterstützt wird, an dem bewaffnete Milizen und der Staat selbst beteiligt sind.

Populistische Führer*innen wie Bolsonaro versuchen, von der sich abzeichnenden ökologischen Katastrophe zu profitieren, während sie gleichzeitig leugnen, dass sie stattfindet. Einerseits behaupten sie, dass kein Handlungsbedarf besteht, um die globale Erwärmung einzudämmen – neben Trump war Bolsonaro der einzige andere Führer, der damit drohte, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, und behauptete, die globale Erwärmung sei eine »Fabel für Umweltschützer«. Dies trägt dazu bei, die rechtsextreme Basis zu mobilisieren, die offenkundige Unehrlichkeit als Demonstration politischer Macht bewundert und zelebriert. Andererseits werden diese Führer*innen, wenn die Folgen des Klimachaos und der ökologischen Ungleichgewichte zu offensichtlichen, unbestreitbaren Tatsachen werden, Umweltkrisen, Produktknappheit, Flüchtlingsströme und Klimakatastrophen wie Wirbelstürme opportunistisch als Vorwand nutzen, um die Umsetzung von immer autoritäreren Massnahmen in den Bereichen Gesundheit, Verkehr und Sicherheit zu beschleunigen. Der Einsatz autoritärer und militarisierter Mittel, um zu bestimmen, wer Zugang zu den Ressourcen hat, die er zum Überleben in einem Kontext weit verbreiteter Knappheit benötigt, wird von vielen Theoretiker*innen als Ökofaschismus bezeichnet.

Das Eingreifen ausländischer Staaten in die Wälder des Amazonasgebiets nach ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen ist lediglich die Fortsetzung des Kolonialismus, der 1492 begann. Keine Regierung wird das Problem der Brände und der Entwaldung lösen. Bestenfalls können sie die Auswirkungen der Ausbeutung, an der sie schon immer beteiligt waren, verlangsamen. Der neoliberale Kapitalismus fordert endloses Wachstum und verlangt die Umwandlung von Wäldern und Böden in konkurrenzfähige Konsumgüter auf dem Weltmarkt.

Was also verbrennt den Amazonas – und den gesamten Planeten? Die Antwort ist klar: das Streben nach Land, Profit (legal oder nicht) und Privateigentum. Nichts davon wird von einer gewählten oder aufgezwungenen Regierung geändert werden. Die einzige wirklich ökologische Perspektive ist eine revolutionäre Perspektive, die das Ende des Kapitalismus und des Staates selbst anstrebt.

Unsere Fähigkeit zur Vorstellungskraft trainieren

Die dystopischen Bilder in And Still the Earth und George Orwells Roman 1984 waren als Warnungen gedacht: übertriebene Projektionen des Schlimmsten, was passieren kann, wenn wir den Lauf der Geschichte nicht ändern. Heute, wo Kameras an jeder Ecke stehen und unsere eigenen Fernseher und Handys uns überwachen, scheint es, als würden diese dystopischen Romane als Handbuch für Regierungen und Unternehmen dienen, um unsere schlimmsten Albträume Wirklichkeit werden zu lassen.

Dystopien sind Warnungen, aber Utopien stellen per Definition Orte dar, die es nicht gibt. Wir brauchen andere Orte, Orte, die möglich sind. Wir müssen in der Lage sein, uns eine andere Welt vorzustellen – und uns selbst, unsere Wünsche und unsere Beziehungen ebenfalls anders zu gestalten.

Wir sollten die Kreativität, die uns befähigt, uns Zombie-Apokalypsen und andere literarische oder filmische Katastrophen vorzustellen, nutzen, um uns eine Realität jenseits des Kapitalismus vorzustellen und sie aufzubauen. Heute, da die Realität die Fiktion übertrifft, sind unsere Aktivitäten weitgehend von Unglauben und Passivität geprägt. Aber mensch kann in einem fahrenden Zug nicht neutral sein – schon gar nicht in einem, der auf einem Gleis in den Abgrund rast. Wer die Arme verschränkt, macht sich mitschuldig. Ebenso ist individuelles Handeln unzureichend, weil es die Logik aufrechterhält, die uns hierher gebracht hat.

Wir müssen revolutionäre Bezugspunkte für ein selbstorganisiertes und egalitäres kollektives Leben wiederentdecken. Wir müssen Beispiele für reale Gesellschaften, die sich dem Staat und dem Kapitalismus widersetzt haben, wie die anarchistischen Experimente während der russischen und ukrainischen Revolutionen von 1917 und der spanischen Revolution von 1936, mit anderen teilen. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass alle diese Versuche letztlich von der bolschewistischen Partei und der ihr folgenden stalinistischen Diktatur, die eine beispiellose Industrialisierung und die Massenvertreibung der Landbevölkerung durchführte, verraten und niedergeschlagen wurden, oder mit deren Duldung. Dies verdeutlicht, warum es so wichtig ist, eine Vorstellungswelt zu entwickeln, die nicht einfach die Visionen des kapitalistischen Industrialismus reproduziert.

Wir können auch auf zeitgenössische Beispiele wie den zapatistischen Aufstand in Mexiko seit 1994 und die laufende Revolution in Rojava in Nordsyrien schauen. Aber zusätzlich zu den Beispielen, die von Anarchist*innen oder Menschen, die von anarchistischen Prinzipien beeinflusst sind, angeboten werden, sollten wir von den vielen indigenen Völkern um uns herum lernen: Guaranis, Mundurukus, Tapajós, Krenaks und viele andere, die der europäischen und kapitalistischen kolonialen Expansion fünf Jahrhunderte lang unaufhörlich Widerstand geleistet haben. Sie alle sind lebende Beispiele, von denen Anarchist*innen über das Leben, die Organisation und den Widerstand ohne und gegen den Staat lernen können.

Wenn es eine grundlegende Basis für Solidarität als Antwort auf den Angriff auf die Grundlage allen Lebens im Amazonasgebiet gibt, dann ist es das Potenzial, dass wir Verbindungen zwischen den sozialen Bewegungen, den Armen und Ausgegrenzten der Welt und der indigenen und bäuerlichen Bevölkerung ganz Lateinamerikas herstellen können. Um der Abholzung im Amazonasgebiet und zahllosen ähnlichen Formen der Zerstörung auf dem ganzen Planeten Einhalt zu gebieten, müssen wir Basisbewegungen stärken, die die neoliberale Ressourcenbewirtschaftung von Böden, Wäldern, Gewässern und Menschen ablehnen.

Für eine Solidarität zwischen allen Bevölkerungsgruppen und ausgebeuteten Klassen, nicht zwischen Paternalismus und dem Kolonialismus der Regierungen! Die einzige Möglichkeit, die Umweltkrise und den globalen Klimawandel zu bewältigen, ist die Abschaffung des Kapitalismus!

Ein anderes Ende der Welt ist möglich!

Übersetzung aus dem Buch Das Gebot der Ordnung. Die Wahl 2022 in Brasilien. Immergrün Verlag 2022. 132 Seiten. ca. CHF 12.00. SKU 01-194-9783910281073.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —     Brigadistas do Prevfogo/Ibama participam de operação conjunta para combater incêndios na Amazônia Foto: Vinícius Mendonça/Ibama

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Vollbremsung oder Crash?

Erstellt von Redaktion am 19. Juli 2023

Das Zeitfenster zur Begrenzung der Klimakatastrophe schließt sich

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Jürgen Tallig

Die Menschheit befindet sich in einer Vielfachkrise. Sie bewegt sich mit weit offenen Augen immer schneller auf einen großen Krieg, möglicherweise einen Weltkrieg, also einen Atomkrieg zu. Die Welt teilt sich offenbar erneut in Blöcke, die sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen. Zig Milliarden werden für eine sich ausweitende Spirale der Zerstörung und des Tötens ausgegeben und fehlen woanders, um Leben zu retten und zu schützen und die eskalierende Klimakatastrophe einzudämmen.

Wissenschaftler sprechen längst von Alarmstufe Rot, vom „Klima-Endspiel“, einem beispiellosen Artensterben, einem globalen Notstand, vom vielfachen Überschreiten planetarer Grenzen, von drohenden Kippprozessen und fordern einen sofortigen Kurswechsel, um die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens und des Artenschutz-abkommens einzuhalten und eine weitere Eskalation der globalen Katastrophe zu verhindern.

Doch die zukunftsbedrohende Vielfachkrise der Menschheit verschwindet hinter einem Schleier von symbolischer Politik und Nebensächlichkeiten. Die Klimaschreckensmeldungen aus aller Welt und die immer ernsteren Mahnungen und Warnungen der Wissenschaft und der Klimaberichte erreichen immer nur kurz die mediale Oberfläche, um sofort wieder in einem Meer von populistischer Manipulierung und kunterbunter Abstumpfung zu versinken. Optimismus beruht bekanntlich auf Mangel an Information und auf dem Übermaß an nicht relevanten Informationen.

Weder die Gesellschaft, noch die Politik haben scheinbar den wirklichen Ernst der Lage begriffen, siehe die Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur Räumung von Lützerath,

http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/umsp1215.html

geschweige denn, dass man zu einem wirklichen Kurswechsel bereit wäre.

Die Stimmen des fossilen „Weiter so!“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossillobby scheint ungebrochen.

Darauf angesprochen, dass die derzeitige Politik die Klimaziele missachte und daher rechtswidrig sei, äußerte Minister Habeck, dass es dann künftig höhere negative Emissionen geben müsse und offenbarte damit eine fahrlässige Unkenntnis der naturwissenschaftlichen und juristischen Faktenlage.

Defizite der Klimapolitik

Es ist ja leider so, dass das überlebenswichtige Klimathema in den letzten drei Jahren in der Politik und auch in der Öffentlichkeit durch andere Themen in den Hintergrund gedrängt wurde. Erst durch die Corona-Pandemie und jetzt durch den Krieg, die vermeintliche Energiekrise und die Aufrüstungsdebatte. Das führte zu einem klimapolitischen Rollback und dazu, dass die Klimaverpflichtungen des Pariser Klimavertrages international aber auch national nicht eingehalten werden und somit eine völlig ungebremste weitere Eskalation der Klimakatastrophe droht.

Es ist notwendig, auf dieses Defizit der Klimapolitik und auf die drohende Gefahr einer nicht mehr rückholbaren Klimakatastrophe hinzuweisen und die Öffentlichkeit zu mobilisieren, um die Politik endlich zu problemadäquatem Handeln zu bewegen.

Die Aktivisten der Letzten Generation, mit denen wir solidarisch sein sollten (obwohl ich die Beschädigung von Kunst ablehne) weisen mit ihren spektakulären Aktionen besonders auf die Fortführung einer rechtswidrigen, unverantwortlichen Verkehrspolitik hin, die fortwährend gegen die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes verstößt.

Das führte dazu, dass mittlerweile der BUND, der größte Umweltverband Deutschlands, Klage gegen die Bundesregierung beim Oberverwaltungsgericht eingelegt hat, – wegen Nichteinhaltung des Klimaschutzgesetzes. Es ist aber auch höchste Zeit, zu klären, wer denn eigentlich die Gesetzesverletzer sind. Die Reaktion der Bundesregierung war eine Änderung des Klimagesetzes, als Bewertungsgrundlage ist jetzt das Gesamtbudget zu betrachten, so dass einzelne Bereiche nun nicht mehr angreifbar sind. Das sind Taschenspielertricks!

Es gilt unverändert die Taktik: Ausweichen und auf die lange Bank schieben.

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Morgen, Morgen nur nicht Heute, sagen alle faulen Leute und die sehen wir hier!

Gleichzeitig spekuliert man über massive Subventionen für energieintensive Industrien.

Wir sind die letzte Generation

die die Klimakatastrophe noch begrenzen kann. Der Klimaschutz muss endlich den Vorrang erhalten, der ihm auf Grund des Ernstes der Lage, also der Gefahr einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung durch das Überschreiten von Kipppunkten gebührt.

Hier hat die „Letzte Generation“, in letzter Zeit den Staffelstab übernommen und sehr mutig und phantasievoll das Thema wieder nach vorne gebracht. Und keinesfalls nur mit Klebeaktionen, wie uns die bürgerlichen Medien weismachen wollen, sondern mit einer Vielzahl unterschiedlichster Aktionsformen.

Sei es die Besetzung des „Adlon“ und das Entrollen eines großen Transparentes „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“, die Blockade des Hamburger Hafens, die „Verschönerung“ der RWE-Filiale mit roter Farbe, die Teilnahme an Protesten gegen ein Straßenbauprojekt in der Wuhlheide, das symbolische Abdrehen des Gashahnes in der Raffinerie Schwedt, – das geht schon alles in die richtige Richtung, wird aber gerne totgeschwiegen. Unterstützung kommt von Bürgermeistern, Museumsdirektoren, Wissenschaftlern. So manche altkluge Kritik sollte hier nicht an die Aktivisten gehen,

sondern an die Besserwisser, die sich lieber zurücklehnen und zuschauen, obwohl sie doch auch die Letzte Generation sind.

„Es rettet uns kein höheres Wesen“ und auch kein imaginäres Subjekt der ökologischen Wende aus dem Süden. Von dort werden sogar bald Dutzende und hunderte Millionen Klimaflüchtlinge nach Norden aufbrechen, weil ihre Heimat unbewohnbar geworden ist.

Die Zeit wird knapp und die Klimawende muss vor allem und zuerst im Norden stattfinden.

Die Erderhitzung beschleunigt sich

Die Erderhitzung und der Klimawandel beschleunigen sich immer weiter.

Die neuesten Entwicklungen sind erschreckend. So gibt es einen erneuten Negativrekord beim Schwund des Antarktischen Meereises. Das Tempo des Meeresspiegelanstiegs hat sich seit 1993 verdoppelt. Voriges Jahr erreichte die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur bereits 1,26 Grad und sie nimmt mittlerweile bereits um über 0,2 Grad pro Jahrzehnt zu und all dies beschleunigt sich immer weiter.

https://www.energiezukunft.eu/klimawandel/erde-erwaermt-sich-schneller/

Asien ächzt dieses Jahr unter einer Hitzewelle (in Indien 45-50 Grad Celsius) und leidet unter zunehmendem Wassermangel. Die Gletscher des Himalaya schmelzen rasant.

Doch auch Südeuropa, Nordafrika und die südlichen USA (etwa 100 Millionen Menschen) sind von extremer Hitze betroffen, die teilweise schon wochenlang anhält.

Das führte auch zu verheerenden Waldbränden,- die in Kanada sind nicht zu löschen. Sie nebeln nicht nur New York und die Ostküste der USA ein, sondern haben inzwischen auch Europa und höhere Luftschichten erreicht, wo der Rauch die Wolkenbildung verändert und die Ozonschicht schädigt.

Es wird zudem vielfach eine extreme Erwärmung der Meere und Ozeane beobachtet. Darüber hinaus wird inzwischen mit 80%iger Wahrscheinlichkeit mit einer El Nino- Phase gerechnet, einer periodisch wiederkehrenden Wetteranomalie, die die Temperaturen zusätzlich nach oben treibt und für zusätzliche Wetterextreme sorgt.

Während sich Deutschland in diesem Frühjahr und Frühsommer sehr häufig unter dem Einfluss kalter Luft aus dem Norden befand und es häufigere Niederschläge gab, ist Südeuropa von Hitze und Dürre extrem betroffen. Austrocknende Seen und Flüsse, eine weiter erhöhte Waldbrandgefahr und eine massive Beeinträchtigung der Wasserversorgung und der Landwirtschaft stellen für viele heute schon die Existenzfrage,- doch auch Deutschland ist keine Insel der Seligen.

Längst ist das Wetter zum „Un“-Wetter geworden. Wir haben die atmosphärische Zirkulation über Europa grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt, das uns im Wechsel arktische Polarluft oder subtropische Warmluft beschert und die Niederschläge verschoben hat. In Europa hat sich zudem zwischen 1991 und 2021 die Oberflächentemperatur um unglaubliche 0,5 Grad pro Jahrzehnt erhöht. Die Erwärmung über Land ist viel stärker als über den Ozeanen und Europa ist der Kontinent, der sich am schnellsten erwärmt.

Wir haben jetzt „erst“ eine um etwa 1,2 Grad Celsius erhöhte globale Mitteltemperatur erreicht. Was passiert dann aber bei den zu erwartenden globalen 2,7 oder 3,2 Grad, oder gar bei 4 oder 5 Grad globaler Temperaturerhöhung?

»Wenn wir global bei 3 Grad landen, drohen Deutschland etwa 6 Grad«

Der bekannte Klimawissenschaftler Stefan Rahmstorf hat sich jüngst in einem Interview mit Spektrum der Wissenschaften geäußert:

https://www.spektrum.de/news/klimakrise-stefan-rahmstorf-im-interview/2121369

„Wenn wir global tatsächlich bei drei Grad landen werden, drohen Deutschland etwa sechs Grad Erwärmung.“ sagt Prof. Rahmstorf.

„Landgebiete erwärmen sich etwa doppelt so rasch wie der globale Mittelwert, der zu 70 Prozent aus Meerestemperaturen gebildet wird. Hier zu Lande ist in der Vergangenheit die Temperatur daher etwa doppelt so stark gestiegen wie im globalen Mittelwert von 1,1 Grad. Wir sind in Deutschland inzwischen bei rund 2,3 Grad Erwärmung angelangt.…“

Seine größte Sorge ist, „Dass wir unumkehrbare Dinge in Gang setzen. Nicht nur die berühmten Kipppunkte, sondern ganze Kaskaden von Kipppunkten, die dann zum unaufhaltsamen Selbstläufer werden. …“

Abschließend stellt der Professor etwas resigniert die polemische Frage, ob denn die Entscheidungsträger, wenigstens die Zusammenfassungen der Berichte des Weltklimarates lesen würden… Er stelle immer wieder fest, dass das Wissen bei den Entscheidern unvorstellbar begrenzt ist.

Lizenz zum Klimakillen

Eine neue Studie namhafter Klimawissenschaftler, mit der IPCC-Methodik, aber unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse

https://www.energiezukunft.eu/klimawandel/erde-erwaermt-sich-schneller/

, kommt zu dem Ergebnis, dass das CO?- Budget nur noch halb so hoch ist, wie bisher angenommen. Dazu muss man wissen, dass die IPCC-Berichte des Weltklimarates nur alle sechs Jahre erscheinen und wesentlich auf konservativen Forschungsergebnissen des zurückliegenden Zeitraums beruhen, die aber durch das Tempo der Veränderungen oftmals schon überholt sind.

Weiterhin muss man wissen, dass das in den IPCC- Berichten ermittelte CO?- Budget, Grundlage der internationalen und nationalen Klimapolitik ist und die Höhe der tolerierbaren Restemissionen vorgibt. Kritiker dieser fragwürdigen und teils höchst spekulativen Berechnungen, nennen dies die Erteilung der „Lizenz zum Klimakillen“.

Nicht zu Unrecht. Hier wird die Möglichkeit zur CO?- Rückholung in großem Stil fest einkalkuliert, obwohl diese rein spekulativ und kaum umsetzbar ist.

Nach den neuesten Forschungsergebnissen müsste eigentlich bei der nächsten UN-Weltklimakonferenz, der COP 28 im November, ein neues, strengeres CO?- Budget beschlossen werden. Auch die Bundesregierung müsste dann, bei einem nur noch halb so hohen Budget, laut Klimaschutzgesetz ihre Klimaziele- und Maßnahmen erheblich verschärfen. Doch sie hält ja nicht einmal die derzeitigen, völlig ungenügenden Verpflichtungen ein, da Wirtschaftswachstum und Profit absoluten Vorrang haben.

Die Subventionierung der Klimakatastrophe

Fossile Energie und klimazerstörender Verkehr werden nachwievor hoch subventioniert, laut Umweltbundesamt mit über 65 Milliarden Euro pro Jahr,- was nicht länger hinnehmbar ist.

Diese umweltschädlichen Subventionen sind insgesamt weit höher als die Ausgaben für den Klimaschutz. Dazu gehören zum Beispiel:

8,4 Milliarden Euro für die Befreiung des Luftverkehrs von der Energiesteuer,

8,2 Milliarden Steuernachlass für Dieselkraftstoff,

6.0 Milliarden für die Pendlerpauschale,

5,2 Milliarden Steuernachlässe für tierische Lebensmittel,

2,1 Milliarden für kostenlose CO2-Emissionsrechte an Unternehmen,

1,9 Milliarden Energiesteuerbefreiung für energieintensive Industrien.

Dieses viele Geld müsste in den öffentlichen Verkehr und in sonstigen Klimaschutz umgeleitet werden. Auch eine wirksame CO2-Steuer könnte direkt zur Finanzierung des ÖPNV und z.B. zur Einführung von 100% Ökologischer Landwirtschaft beitragen, um unsere Insekten und Vögel zu retten. Klima- und Naturschutz und die massive Subventionierung fossiler Energie und von Autoverkehr sind nicht vereinbar.

Die Bundesregierung will das Energieproblem perspektivisch mit dem beschleunigten Ausbau Erneuerbarer Energien lösen, doch die können maximal ein Drittel des derzeitigen viel zu hohen Energieverbrauchs abdecken. Zudem werden gleichzeitig weiterhin kostenlose CO2- Emissionszertifikate ausgegeben, bis mindestens 2034, deren Menge sich nur allmählich reduzieren soll, so dass der Emissionshandel erst mal zahnlos bleibt und nicht die nötige Lenkungswirkung entfalten kann, zumal viel zu viele Zertifikate auf dem Markt sind (EU-Emissionshandel verschärft, Kostenlose Zuteilung fällt und CO2-Grenzausgleich kommt – pv magazine Deutschland).

https://www.pv-magazine.de/2022/12/19/eu-emissionshandel-verschaerft-kostenlose-zuteilung-faellt-und-co2-grenzausgleich-kommt/

Missachtung des Vorsorgeprinzips

Die einzig hinreichend regulierungsfähige Macht, der Staat, befindet sich offenbar in allen großen westlichen Ländern nachwievor fest in der Hand kapitalhöriger Kräfte, die nicht die Interessen der Bürger und der Umwelt, sondern eben vor allem die Interessen des Großkapitals und der fossil-mobilen Großkonzerne vertreten,- woran in Deutschland bisher auch die Regierungsbeteiligung der GRÜNEN nichts ändern konnte. Klimaschutz zu realisieren, bedeutet eben auch Schutz und Ausbau der Demokratie gegen den illegitimen Zugriff mächtiger Minderheiten. Klimaschutz und Demokratie werden im Moment zusehends als Wachstumshemmnisse betrachtet, die in der allgemeinen Mobilmachung für den globalen Konkurrenzkampf stören, wie die zunehmende mediale Hetze gegen die „Letzte Generation“ und ihre verschärfte juristische Verfolgung zeigen.

Es ist unübersehbar, dass die aktuelle Politik vorrangig zugunsten der Interessen einer kleinen, reichen Minderheit handelt und die Interessen der kommenden Generationen missachtet. Damit wird aber die Lage weiter eskaliert zu einer Klimakatastrophe die nicht mehr gestoppt oder rückgängig gemacht werden kann. Hier wird weder „Schaden vom deutschen Volke abgewendet“ und auch die Lebensgrundlagen werden nicht gesichert, sondern das Vorsorgeprinzip wird aus aktuellen Macht- und Profitinteressen sträflich missachtet, – insofern ist dieses (Nicht)Handeln nicht nur verantwortungslos, sondern rechtswidrig.

Diese fahrlässige Politik zu Lasten der kommenden Generationen missachtet aber nicht nur das Vorsorgeprinzip sondern beruht außerdem auf der weit verbreiteten, völlig spekulativen Annahme, dass künftig riesige Mengen CO2 aus der Atmosphäre zurückgeholt und die Temperaturen wieder gesenkt werden können. Die Inkaufnahme des Überschreitens der Temperaturgrenzen, die ja gar nicht zeitweilig sein kann, ist unverantwortlich und kommt einem Todesurteil für hunderte Millionen Menschen gleich. Im Bereich von Kipppunkten und einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung gibt es kein Zurück.

Klimaungerechtigkeit

Inzwischen können wir die Klimakatastrophe nicht mehr verhindern sondern nur noch verlangsamen und begrenzen, – doch wir beschleunigen sie immer weiter.

Weshalb zeigen sich die EU und Deutschland (selbst mit grüner Regierungsbeteiligung) unfähig und unwillig die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, obwohl man doch gleichzeitig hunderte von Milliarden Euro für dubiose Corona-„Wiederaufbauprogramme“, für Aufrüstung und für Energiesubventionen ausgibt, die man offenbar als systemrelevant betrachtet? Die rechtlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz missachtet man hingegen und macht sich damit sogar strafbar. In der Logik des kapitalistischen Wachstumssystems ist Klimaschutz offenbar nicht „systemrelevant“, sondern systembedrohend, da er ein schnelles „Weniger“, statt des beständigen „Immer mehr“ erfordert, das ja die Grundlage für das Funktionieren des ganzen Systems ist.

Es gibt offenbar einen antagonistischen Widerspruch zwischen den dominanten Gegenwartsinteressen, die vorwiegend Wachstums, Profit- und Konsuminteressen sind und den Interessen der jungen Generation, der Ärmeren, der Bauern, des Südens und der kommenden Generationen an der Sicherung der Lebensgrundlagen und der Zukunft. Siehe hierzu das bemerkenswerte „Manifest der Völker des Südens – Für eine ökosoziale Energiewende“, https://infobuero-nicaragua.org

das unbedingt diskutiert und weiterverbreitet werden sollte.

Der Klimakonflikt ist natürlich auch ein nationaler und globaler Konflikt zwischen Arm und Reich, da die reichen 10 % in Deutschland und Europa in etwa genauso viele Treibhausgase verursachen, wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung (Klaus Dörre, Die Linke muss sich neu erfinden- aber wie?, LUXEMBURG 1/2022, Seite 119.und weltweit verursachen: „Die reichsten 1 % der Weltbevölkerung doppelt so viel Emissionen, wie die ärmeren 50 %, oder die reichsten 0,5 % so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung!“ (Quelle: Stockholm Environment Institut 2020). Was für eine ungerechte Welt! Um Klimagerechtigkeit herzustellen, müssten die reichen 10 % in Deutschland Ihre Emissionen übrigens auf ein Dreißigstel reduzieren.“ (Quelle: Dörre, 2022).

Beim derzeitigen „Endspiel um die Zukunft“ (Der Rabe Ralf April/Mai 2023, S.16-17)

https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/endspiel/

geht es von daher nicht nur ums Klima, sondern um reale Macht, es geht um Gerechtigkeit und Gestaltungsmacht für die kommenden Generationen, um eine dauerhaft mögliche, zukunfts- und friedensfähige Gesellschaft.

Die derzeitige Zukunftsblockade spaltet die Gesellschaft und wird durch die Klimakrise, die Aufrüstung, aber auch durch die nur vermeintlich klimafreundliche „grüne“ Modernisierung ständig weiter verschärft und ist in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen offenbar nicht auflösbar.

Vollbremsung oder Klimacrash

Wir werden jetzt die Klimakatastrophe begrenzen oder wir werden sie überhaupt nicht mehr begrenzen können, weil sie sich dann verselbständigt hat und selbst verstärkt.

Das meint ganz konkret den auftauenden Permafrost, das schwindende Meereis, die brennenden Wälder, -alles Verstärkungen der Erderhitzung, die bereits in vollem Gange sind, aber in diesen Budgetzahlenspielereien gar nicht berücksichtigt werden.
Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO, https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0
könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

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Die weitere Verschärfung der Klimakatastrophe bedroht direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen. Jede Tonne CO? die ausgestoßen wird, führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Extremwetter, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden. 2022 gab es in Europa bereits 60000 Hitzetote, in Deutschland waren es 8000 und das ist erst der Anfang. Jede weitere Tonne CO? destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter, – deshalb muss Schluss sein mit dem Kohle-und Autowahnsinn,- das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Man kann eine sich aufschaukelnde Klimakatastrophe nicht später wieder rückgängig machen, genauso wenig wie den Tod. Deshalb müssen wir uns heute für das Leben entscheiden.

Trägheit der Herzen und Strukturen

Ein „Weiter so“ scheint aber vielen immer noch das geringere Übel. Groß sind die interessegeleiteten Trägheitskräfte in der Gesellschaft und bei jedem Einzelnen, eingeübte Routinen von Pflichterfüllung und vorauseilendem Gehorsam.

Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.“ wie der französische Philosoph Baudrillard treffend formulierte. Unsere derzeitige Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht nur imperial, sondern zerstörerisch und bedeutet faktisch einen permanenten Krieg gegen das Klima, die Biosphäre und andere Kulturen, wird aber nachwievor als fortschrittlich, rational und alternativlos dargestellt und verteidigt. Doch wir sind nicht die Vernünftigen,

-wir Biedermänner sind die Brandstifter. . .

Und so werden wir wahnsinnig Vernünftigen die Welt in den Abgrund der Klimahölle befördern, nicht aus böser Absicht, sondern aus Trägheit und Bequemlichkeit, aus Gewohnheit und Pflichtgefühl, weil wir nicht bereit sind unsere gewohnte Komfortzone zu verlassen,- auch wenn wir schon den Rauch und die Hitze des großen Feuers spüren.

Wie man die Trägheit der Herzen und Strukturen noch rechtzeitig überwinden kann, ist inzwischen eine Überlebensfrage…“ schrieb ich bereits 2017.

Jeder Krieg geht vorbei, jedoch die Klimakatastrophe beginnt gerade erst und wird eine lebensbedrohliche Dynamik entfalten, die das Überleben der Menschheit gefährdet.

Das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen und endlich entsprechend handeln.

Krieg oder Frieden?

Sei es gegen eine klimafeindliche Energiepolitik (Lützerath), eine rechtswidrige Verkehrspolitik (Letzte Generation und FfF), gegen Aufrüstung und Waffenexporte, wie jüngst in Berlin,- es regt sich Widerstand, die Menschen werden aktiv, bekennen Farbe und fordern eine andere Politik. Die Friedenstaube war auf der Friedensdemo der 50000 auf vielen Transparenten, Plakaten und Ansteckern unübersehbar.

Das macht Mut und war zwar kein „Aufstand“, aber ein Aufbruch ganz gewiss, in dem viele den Beginn einer neuen Friedens- und Bürgerbewegung sahen. Höchste Zeit wäre es. Auch dass sich Friedens- und Klimabewegung zusammenfinden und viele andere Initiativen, um den verpassten „Aufbruch21“ doch noch nachzuholen (siehe Der Rabe Ralf, Februar/März 2021, Seite 15). So zeigte der gemeinsame Klimastreik von Fridays for Future und VERDI am 03.03.2023 mit über 220000 Teilnehmern, was schon alles möglich ist.

Frieden (auch mit der Natur), Klimaschutz, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit könnten und sollten dabei die verbindenden Gemeinsamkeiten sein, denn nur eine Gesellschaft, die sich in diese Richtung verändert, wird den Herausforderungen der Gegenwart gewachsen sein und Lösungen und nicht Probleme produzieren.

Eine Politik des Friedens

Eine wirksame, globale Klimapolitik ist nicht möglich, wenn jede Regierung nur den gegenwärtigen Vorteil ihres Landes sucht und vor allem der reiche Westen seine Gewinnerposition mit allen Mitteln bewahren will.

Früher oder später prallen die Interessen auch militärisch aufeinander, wenn man sich nicht beschränken und verständigen will, wie wir gerade erleben müssen. Es ist höchste Zeit, zu erkennen, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt auf die irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen hinausläuft und nur Frieden untereinander und Frieden mit der Natur eine dauerhaft mögliche Lösung sind.

Wir entscheiden jetzt über Leben und Tod, über die Zukunft der vielen Milliarden Menschen, die noch nach uns auf der Erde leben wollen.

Um das Feuer der Klimakatstrophe zu löschen, ist ein wirklicher Machtwechsel und ein grundlegender Um-Rück- und Neubau der Gesellschaften weltweit notwendig. Es geht um den Aufbau von Gesellschaften und stationären Ökonomien, deren zentrales Paradigma nicht Wachstum um jeden Preis, sondern der Fortbestand des Lebens und der Menschheit ist, wobei die westlichen Industriegesellschaften voran gehen müssen. Hier noch einmal die

Konturen einer sozial-ökologischen Transformation

(zuerst in Tarantel 93, Auszug aus „Die Freiheit der Anderen“)

https://www.oekologische-plattform.de/2022/02/tarantel-nr-93-ii-2021/

* Grundlegender Umbau des Steuersystems, ökologische Steuerreform: Belastung des Energie- und Rohstoffverbrauchs, Entlastung der lebendigen Arbeit, regenerativer Energien und des öffentlichen Verkehrs, Reichensteuer. Preisreform: Verteuerung von Energie und Rohstoffen, ein progressiv schnell steigender CO?-Preis von mindestens 60 Euro pro Tonne, nicht gedeckelt und subventioniert, aber natürlich sozial abgepuffert für Geringverdiener und kleinere Unternehmen. Abschaffung des Bruttosozialprodukts zugunsten eines Ökosozialprodukts, Bilanzierung und Besteuerung der Unternehmen nicht nur nach ökonomischen Kennzahlen, sondern ebenso nach ökologischen und sozialen Kriterien.

* Einführung einer möglichst globalen, stetig steigenden Transportsteuer zur Eindämmung der Globalisierung und des ausufernden Verkehrs.

* Grundlegender Umbau der Finanzordnung: Geld als reines Tauschmittel, Abschaffung des Kapitalzinses und der leistungslosen Spekulations- und Aktiengewinne, Bankensystem als reine Dienstleistung in öffentlicher Hand, Geldmengenbegrenzung und friedliche Kapitalvernichtung.

* Sofortprogramm-Nahziele: sofortiger Kohleausstieg, sofortige Abschaffung und Umlenkung der Subventionen für fossile Energien, Einführung einer hohen Kerosinsteuer, Ausstieg aus dem motorisierten Individualverkehr, Tempolimit, kostenloser ÖPNV, 100 Prozent ökologische Landwirtschaft, Wiederaufforstung, Wiedervernässung von Mooren, Verbot von Einwegflaschen und -verpackungen, Verbot von Werbung für Umwelt- und gesundheitsschädliche Produkte, Zerschlagung unkontrollierbarer Konzern- und Kartellstrukturen.

Es gilt weltweit, die Debatte über eine gesellschaftliche Alternative jenseits des Wachstums wiederzubeleben, über eine sozial gerechte, lebensdienliche Ökonomie und Gesellschaft, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört. Es gilt eine breite Öffentlichkeit zu überzeugen, dass eine andere Welt nicht nur immer dringender nötig, sondern auch möglich ist und wie diese andere Welt und die Wege dahin aussehen könnten.

Entscheidung für das Leben

Aktuell geht es natürlich zuallererst um Frieden, um den Stopp von Aufrüstung und Waffenlieferungen und die Verhinderung eines neuen Wettrüstens.

Fossile Brennstoffe werden nach jüngsten Schätzungen (2022) mit jährlich 554 Milliarden Dollar subventioniert und in ihr Militär stecken die Länder der Welt pro Jahr rund zwei Billionen Dollar. Beide Zahlen haben sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine noch einmal erheblich erhöht. Um das ins Verhältnis zu setzen, der Weltklimarat IPCC erachtet als nötig: Es müssten alljährlich 1,6 bis 3,8 Billionen Dollar ausgegeben werden, um eine Klimaerwärmung um mehr als 1,5 Grad Celsius zu verhindern.

Weiter „Öl“ ins Feuer der Klimakrise zu gießen (egal woher es kommt), ist genauso unsinnig und unverantwortlich, wie die Lieferung von immer mehr Waffen in Krisengebiete und das dadurch bedingte weitere Anheizen kriegerischer Konflikte.

Es gilt militärisch, aber auch energetisch und ökonomisch abzurüsten und eine gerechte, global wirksame neue Sicherheits- und Kooperationsstruktur zu schaffen und die freiwerdenden Mittel in die Sicherung der Lebensgrundlagen und die Verhinderung der Klimakatastrophe umzulenken. Wir brauchen die Friedensdividende für die globale Klimawende. Insofern ist Friedenspolitik die beste Klimapolitik und Voraussetzung und Schlüssel für die Bewältigung der sich zuspitzenden Existenzkrise der Menschheit.

Der Autor war 1989 Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig

Weitere Informationen unter:

www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

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Grafikquellen      :

Oben      —     Folgen der globalen Erwärmung: Anstieg des Meeresspiegels auf den Marshallinseln (Luftaufnahme aus dem Dokumentarfilm One Word von 2020)

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Streik in Prato – Florenz

Erstellt von Redaktion am 16. Juli 2023

Italien: Die Ciompi in Florenz – Den Aufstand denken

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von               :      Anonymous

Zu Besuch an den Toren der Mondo Convenienza. Die roten Fahnen der Basisgewerkschaft Si Cobas zieren die Allee.

In der Via Gatinella in Prato, einem Industrievorort von Florenz, haben sich Streikposten vor dem Warenlager des Küchenlieferanten Mondo Convenienza eingerichtet. Das Haupttor ist für den Lieferverkehr gesperrt. Ein Seitentor wird aufgeworfen. Bei Einbruch der Dämmerung verlassen die Chefs und Manager in Kolonne das Grundstück. Ein paar Tage vorher reisten die Oberen des Küchen- und Möbellieferanten aus ganz Italien nach Bologna. Ein Manager aus Florenz steuerte einen Lieferwagen in die dortige Mahnwache der SI Cobas und verletzte einen 50-jährigen Kollegen schwer. 12 weitere Chefs prügelten dann auf die ArbeiterInnen ein und verteilten Morddrohungen.Vor dem Tor wird ein weisses Tuch als Sitzgelegenheit für das Abendessen ausgebreitet. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite wird unterdessen ein Open-Air-Kino aufgebaut. Dort treffe ich Agnès Perrais und Alessandro Stella. Agnès Perrais ist eine Filmkünstlerin aus Paris. Ihr neuer Dokumentarfilm über den Ciompi-Aufstand des 14. Jahrhunderts aus dem benachbarten Florenz hat an diesem Abend seine Premiere in Italien. Die grosse anarchistische Mystikerin des 20. Jahrhunderts, Simone Weil, nannte diesen Aufstand aus dem Jahr 1378 den ersten veritablen Arbeiteraufstand der Geschichte.

Alessandro Stella war aktiv in der Arbeiterautonomie, einer Bewegung von Dissidenten, die sich in den 70er Jahren bis in die kleinsten Dörfer um freie Radiosendungen und schicke Zeitschriften herum organisierte. Hinter dem Begriff der Autonomia steht die Einsicht, dass die Befreiung das Werk der ArbeiterInnen selbst sein muss. Im Jahr 1976 traf er die Entscheidung für den bewaffneten Kampf. Über Mexiko ging er Anfang der 80er Jahre ins Exil nach Frankreich. Heute arbeitet Stella als Historiker und ist Forschungsdirektor am CNRS in Paris.

Es geht los. Die Mannschaft hat sich vor der Leinwand versammelt. Die Zikaden halten den Atem an. Popcorn wird gereicht. Die Blätter der Bäume rahmen das Bild. – Ciompi – Es ist ein Film über die Stadt. Ein Film über die harte Arbeit einer rechtlosen Unterschicht. Gedreht wurde der Film mit einer Super-8- und einer 16-mm-Kamera. Der Blick von Agnès Perrais auf die urbane Landschaft ist lyrisch und zart. In sorgfältig komponierten Montagen wechselt die emotionale Intensität florentinischer Fresken mit Strassenszenen aus dem Florenz des 21. Jahrhunderts. Schlachtrufe kämpfender ArbeiterInnen wehen durch die Gassen. Der Rhythmus der Maschinen in einer Textilfabrik folgt mit seinem strengen Takt.

Im Hintergrund führt die rauchige Stimme von Alessandro Stella chronologisch durch die Geschichte des Aufstands. In für zeitgenössischen Film langsam anmutenden Sequenzen zeigt uns der Film die zeitgerechte Schönheit von Florenz. Kontrastiert wird die Geschichte der Ciompi – der Florentiner Arbeiter in der Kleidungsindustrie – mit Aufnahmen des 9-monatigen erfolgreichen Streiks der Si Cobas aus dem Jahr 2021 bei Textprint, einer Textilfabrik in Prato. Im gleichen Jahr wurde die Textilarbeiterin Luana D’Orazio aus Prato, Mutter von 5 Kindern, mit 22 Jahren von einer Maschine bei der Arbeit in den Tod gerissen. Ich lausche und werde unmerklich an Walter Benjamins Betrachtung „Der Erzähler“ erinnert. Ich schaue über meine Schulter. Ich sitze inmitten der Streikenden. Männer mit muskulösen Oberarmen in der hintersten Reihe.

Alle Augen sind auf die Leinwand gerichtet. Hier wird eine Geschichte erzählt. „Immer häufiger verbreitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn der Wunsch nach einer Geschichte laut wird“, schreibt Walter Benjamin. „Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräusserlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.“

Die historische Erfahrung, die der Film vermittelt, wird gesprochen von einem Alten des Aufstands, vor kämpfenden ArbeiterInnen. Doch es sind unsere eigenen weltlichen Erfahrungen als ArbeiterInnen, die hier durch den Abstand der Geschichte hindurch mit sanftem Pathos in die Perspektiven der Stadt eingewoben werden. Das Unterste, die Klassenkämpfe in der Stadt, die Mühsal der Arbeit, wird dabei nach oben gekehrt. Die ArbeiterInnen kommen zum Vorschein und beleben mit ihren Schreien und Aktionen die historische Landschaft. Es wird klar, dass das hier, was erzählt wird, ist unsere Zeit.

In traumhaften Sequenzen entsteht mit der Erzählung des erfolgreichen Streiks der Si Cobas eine Utopie zur Zukunft hin. Und Utopie, das ist der Traum einer Sache, dem nur das Bewusstsein fehlt, um sie wirklich zu haben. Mit die schönsten Aufnahmen gelingt – Ciompi – von der Piazza Tasso in Florenz und den umliegenden Strassen. Die typischen Häuser der Ciompi mit zwei bis drei Stockwerken und einem kleinen Hinterhof finden sich dort. Gleich neben der Piazza Tasso liegt der Landschaftsgarten Torrigiani aus dem 18. Jahrhundert im englischen Stil. Damals wie heute ist der Besuch des Gartens den reichen Familien der Florentiner Hierarchie gestattet. Oder man hat das Glück, eingeladen zu werden. Florenz wird von der Sozialdemokratie regiert.

Die Aufnahmen von Florenz sind teilweise bis zu 5 Jahre alt. Mittlerweile hat sich das Stadtbild jedoch weiter verändert. Das ehemalige Arbeiterviertel um die Piazza Tasso wurde innerhalb weniger Jahre gentrifiziert. Es gibt kaum noch eine Ecke in der Innenstad, in der nicht irgendetwas verkauft oder gehandelt wird. Noch vor Covid sammelten sich Jugendliche auf zentralen Plätzen in der Innenstadt, um gemeinsame Abenteuer auszuhecken. Das ist weitgehend Vergangenheit. Restaurants und Absperrungen prägen heute das Bild.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist zwar mit 20% noch hoch, doch kein Vergleich zu den 30% von vor 5 Jahren. Zudem hat die faschistische Regierungschefin Meloni kürzlich einen während Covid aufgelegten Sozialfonds für arbeitslose Jugendliche gestrichen. Die Jugend leidet gerade wohl am meisten unter der faschistischen Rhetorik, die das gesamte Land von Links bis Rechts in einer Art Erziehungsanstalt für die Werte von Arbeit und Familie verwandelt. Doch dass der Kapitalismus in Italien durch Repression und Moralpredigten wieder an Dynamik gewinnt, ist unwahrscheinlich.

Der italienische Staat hat zusammen mit Griechenland die höchste Verschuldung in der Eurozone. Gleichzeitig ist das Vermögen italienischer Haushalte gestützt auf den Immobilienbesitz und damit weitgehend fiktiv. Mit dem Anstieg der Zinsen für Hypotheken wird es schwieriger für ArbeiterInnen der sogenannten Mittelschicht, Schulden gegen das eigene Haus aufzunehmen, um flüssig zu bleiben. Es gibt Inflation und stagnierende Löhne. Ein „guter“ brutto-Arbeiterlohn steht bei 1600 Euro pro Monat. Ein gutes Gehalt der oberen Mittelschicht bei 3000 Euro. Die Steuerbelastung beträgt gut 60%. Die Mieten steigen.

Die streikenden ArbeiterInnen von Mondo Convenienza schleppen Küchen 6 Tage die Woche für bis zu 14 Stunden am Tag bei einem Stundenlohn von 6 Euro. Sie verdienen dabei 1149 Euro pro Monat. Ohne angemessene Ausrüstung, bezahlte Überstunden und ohne Beachtung des Arbeitsschutzes. Die Löhne der TextilarbeiterInnen von Textprint lagen bei 3 Euro pro Stunde. Sie arbeiteten 7 Tage die Woche. Drogen, um durchzuhalten, gibt es bisweilen frei Haus.

Als die Bosse das Gelände von Mondo Convenienza verliessen, standen wir aufrecht und schwiegen. Ein junger Arbeiter wandte sich ab. Ich sehe Hass, Abscheu. Im Jahr 2021 wurde der Gewerkschaftler Adil Belakhdim bei einer Blockade von einem durchbrechenden Lkw in einem Industriegebiet der Stadt Novara im Norden von Italien getötet. Im Jahr 2022 wurden die Arbeitskämpfe der SI Cobas des Terrorismus angeklagt und Gewerkschafter aus Piacenza unter Hausarrest gestellt. Dabei fordern die SI Cobas nur, was ohnehin schon ein Mindeststandard im nationalen Arbeitsgesetz ist. Doch das Arbeitsgesetz wird systematisch umgangen. Die Wirtschaftsmacht Italiens basiert auf kleinen und mittelständischen Unternehmen, die vor allem in der Mitte und im Süden Italiens und konzentriert in bestimmten Branchen, wie der Logistik und der Landwirtschaft, mit informeller Beschäftigung konkurrieren. Ein reguläres Lohnniveau können sich viele dieser Firmen nicht leisten.

Angesichts des ganzen Schlamassels denken sich manche Rezensenten der Dokumentation im bürgerlichen Kulturbetrieb eine Welt ohne Arbeit, und vor allem bitte ohne Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie rutschen auf den Stühlen und finden, sie hätten keine Zeit für diese Geschichte. Andere sind der Meinung, der Ciompi-Aufstand solle für den Tourismus aufgearbeitet werden. Wieder andere warnen vor der im Film porträtierten Gewalt. Doch mit – Ciompi – hat Agnès Perrais ein intellektuell stimulierendes Werk geschaffen, das uns dazu ermutigt, den Aufstand in der Jetztzeit neu zu denken.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —       Il tumulto dei ciompi by Giuseppe Lorenzo Gatteri (18 September 1829 – 1 December 1884)

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Streit: Krankenhausreform

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Gemeinwohl wäre besser

Von Gesa von Leesen

Ob die nun beschlossene Krankenhausreform etwas rettet oder die Versorgung noch schlechter macht, ist umstritten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) behauptet, eine Revolution einzuleiten. Verdi und viele Beschäftigte glauben das nicht und protestieren in Friedrichshafen.

Als der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) ans Mikrofon tritt, schallt ihm ein Pfeifkonzert entgegen. Hinter Lucha aufgereiht stehen seine Amtskolleg:innen und versuchen, neutral zu gucken. Vor Lucha, auf der Wiese am Bodenseeufer, stehen 600 Frauen und Männer, die im Gesundheitswesen arbeiten. Und die genug haben von zu wenig Kolleg:innen, von zu geringer Bezahlung, von einem System, das Krankenhäuser auf Gewinnerzielung trimmt anstatt aufs Heilen. Deshalb pfeifen sie.

Es ist Gesundheitsministerkonferenz (GMK) in Friedrichshafen, Lucha ist gerade deren Vorsitzender und verhandelt im Graf-Zeppelin-Haus mit seinen Länderkolleg:innen über die geplante Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der bezeichnet sie als Revolution. Warum, ist unklar. Denn eine Revolution wäre ja ein Systemwechsel, doch den sieht die Reform nicht vor. Grob zusammengefasst sollen Kliniken sich nur noch zum Teil über Fallpauschalen finanzieren, zudem sollen sie Geld bekommen für Leistungen, die sie vorhalten. Wie viel das sein wird, soll sich wiederum nach Versorgungsstufen richten, in die die Kliniken eingeteilt werden.

Im Rahmen der Prüfung, welche Kiniken welche Leistungen anbieten sollen, lässt sich dann feststellen, welches Haus geschlossen werden soll. Dass dies notwendig ist, davon sind viele Minister:innen – auch Manfred Lucha – und liberale Ökonomen seit Jahren fest überzeugt: Sie meinen, Deutschland ist mit Krankenhäusern überversorgt.

Überversorgt sehen sich Beschäftigte (und wahrscheinlich auch die meisten Patient:innen) derzeit eher nicht. Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft gibt es 30.000 unbesetzte Pflegestellen, auch Ärzt:innen fehlen zunehmend. Beschäftigte in outgesourcten Abteilungen wie Hauswirtschaft, Putzen, Therapie verdienen schlecht. Und wer als Patient:in ins Krankenhaus muss, kann vielfältige Geschichten erzählen von Ärzt:innen, die nicht zuhören, Pfleger:innen, die sehr lange auf sich warten lassen, und vom Krankenhauskeim sowieso.

Das Gesundheitswesen ist Teil der Lieferkette

Also hat Verdi seine Mitglieder im Gesundheitswesen aufgerufen, nach Friedrichshafen zu kommen, um der GMK ihre Forderungen mit auf den Weg zu geben. Zentral: ein Gesundheitssystem, das alle Patient:innen optimal versorgt, den Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen bietet, sich nicht rechnen muss und das kein Spielball von privaten Betreibern mit Renditeerwartungen sein darf. Auf der Wiese vor dem Graf-Zeppelin-Haus lauschen die Demonstrierenden den Reden von Betriebsrät:innen und hauptamtlichen Verdianer:innen, begrüßen einen Trupp Radfahrer:innen aus Dresden, der bei seiner fünf Tage dauernden Anreise gegen ein gewinnorientiertes Gesundheitssystem protestiert hat, sie gehen mit Protesttransparenten ins Wasser und genießen die Sonne am See.

Die drei von der Ampel 

Besonders gut an kommt die Rede von Achim Dietrich, Betriebsratsvorsitzender von ZF in Friedrichshafen, dem größten Industriestandort in der Region. Die Politik rege sich über ein paar fehlende Halbleiter auf, die die Lieferkette unterbrechen, sagt er. „Warum aber nimmt man hin, dass Patient:innen keine ausreichende Versorgung bekommen? Auch dieser Teil der Lieferkette muss funktionieren.“ Wenn Arbeitnehmer:innen keine Termine beim Facharzt bekommen, mit Schmerzen zur Arbeit gehen und lange krank sind, schade auch das der Wirtschaft. „Wenn die Kapitalisten keine Menschlichkeit kennen, dann müssen wir sie bei dem packen, was sie interessiert: dem Profit.“ Steige bei ZF der Krankenstand um ein Prozent mehr als vorausgesehen, koste das den Konzern vier Millionen Euro im Jahr. „Das Geld wäre besser im Gesundheitssystem angelegt als in der Krankenverwaltung“, findet Dietrich, der als Gesamtbetriebsratsvorsitzender 50.000 Patient:innen vertrete, wie er sagt.

Autos bauen lohnt sich mehr

Wieder zur Lieferkette gehören, also arbeiten, möchten manche Klient:innen von Torsten Lang. Der Sozialarbeiter schafft im Gemeindepsychiatrischen Zentrum des Klinikums Stuttgart und betreut psychisch kranke Menschen. „Manche lernen, trotz Ängsten wieder einkaufen zu gehen, andere unterstützen wir, eine Tagesstruktur einzuhalten“, sagt er. Psychosen, Depressionen, Borderline, Messiesyndrom – die Krankheiten, mit denen Menschen zu ihm und seinen Kolleg:innen kommen, sind vielfältig. Lang mag seinen Beruf, aber dabei selbst gesund zu bleiben, sei schwierig, sagt der 56-Jährige. Da wünscht er sich mehr Bemühungen von den Arbeitgeber:innen und auch mehr Anerkennung. „Monetäre.“ Der Beruf sei belastend, Klient:innen seien oft aggressiv. „Da frage ich mich schon, wie das im Verhältnis steht zu Arbeitern bei VW am Band. Die verdienen mehr als wir.“ Was allerdings mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad zusammenhängen könnte, der bei VW sehr hoch und im Gesundheitswesen eher niedrig ist.

Arbeiten wie am Fließband kennt Anna Gioftsirou. Die 47-Jährige ist Altenpflegerin – ursprünglich aus Überzeugung. „Weil ich mit meinen Großeltern aufgewachsen bin. Da fühlt man sich wie ein Baum mit ganz starken Wurzeln.“ Doch der Job hat sie gesundheitlich ausgelaugt. „Geteilte Schichten sind sehr anstrengend. Dann diese Minutenpflege wie am Band – das ist nicht gut“, sagt sie. Zudem gehe die Arbeit auf die Knochen: „Ich hatte einen Patienten, der wog sehr viel und war querschnittsgelähmt. Aus dem Bett heben, in die Dusche, wieder in den Rollstuhl, anziehen …“ Irgendwann brach sie zusammen. Burnout, und zwei Lendenwirbel „liegen quasi aufeinander“. Lange war sie krank, der Wiedereinstieg schwierig. Nun arbeitet sie im sozialen Dienst im Krankenhaus mit geregelten Arbeitszeiten. Auf ihrem ganzen Weg – Krankheit, neuer Job, Fortbildung – habe Verdi ihr stets geholfen. „Das vergesse ich nicht. Ich bin bei jeder Aktion dabei.“ Außerdem würde sie gerne Lauterbach treffen. „Ich möchte ihm sagen, wie schlimm das in der Pflege ist!“

Das gelingt ihr nicht. Zwar kommt der Bundesgesundheitsminister später überraschend doch noch, nachdem es zunächst hieß, ihn halten die Haushaltsverhandlungen in Berlin. Doch sein Auftritt ist kurz. Dafür souveräner als der von Manfred Lucha. Der zeigt deutlichen Widerwillen vor der Menge, die ihm nicht freundlich gesonnen ist, auch weil Baden-Württemberg das Land mit den meisten Krankenhausschließungen in den vergangenen Jahren ist. Wie bei jeder Verdi-Demo betont er, dass er Gewerkschaftsmitglied ist. „Hau ab!“, hört er aus der Menge. Er versucht, zu erklären, dass die Gesundheitsminister:innen gerade eine historische Gelegenheit hätten, „Kliniken, die am Markt am Start sind, gut auszustatten“. „Buh!“ Als er noch sagt: „Wir waren noch nie so nah an einer bedarfsgerechten Versorgung bei besten Bedingungen fürs Personal“, ist die Menge kurz vor dem Explodieren. „Auch du wirst mal alt!“, ruft einer.

Die Gefahr des wilden Kliniksterbens

Quelle         :         KONTEXT: Wochentzeitng-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben      —   Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von Redaktion am 15. Juli 2023

Sportfunktionäre sitzen Proteste der Frauen aus

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Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Mit Helden ist das so eine Sache: Sie können immer scheitern. Einige junge Wrestlerinnen wurden gar von der Polizei geschlagen.

Aber was geschieht, wenn wir sie im Stich lassen und sie zu Opfern eines toxischen Systems machen? Schauen wir auf Vinesh Phogat, eine erfolgreiche indische Wrestlerin, die mehrere Gold- und Silbermedaillen bei den Weltmeisterschaften, den Commonwealth Games und den Asian Games gewonnen hat. Doch im Mai twitterte sie: „Vom Siegertreppchen auf die Straße, um Mitternacht unter freiem Himmel, in der Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Mit ihr demonstriert Sakshi Malik auf den Straßen Neu-Delhis. Sie war 2016 die erste olympische Bronzemedaillengewinnerin im Wrestling aus Indien. Seit Januar protestieren diese jungen Sportlerinnen gegen Brij Mohan Charan Singh, den Vorsitzenden des indischen Wrestlingverbandes WFI. Sie und weitere junge Wrestlerinnen werfen dem Funktionär sexuelle Belästigung vor. Er wird auch der Selbstherrlichkeit, des Mobbings und der Veruntreuung von Geldern bezichtigt. Als Politiker der regierenden BJP wurden ihm noch weitere schwere Straftaten vorgeworfen.

Als die Sportlerinnen mit ihrem Protest begannen, versprach man ihnen eine Untersuchung ihrer Vorwürfe. Die Polizei nahm sogar Ermittlungen auf. Wenn Athletinnen zusätzlich zu ihrem anstrengenden Training die mentale Stärke für einen öffentlichen Protest aufbringen, sollten sie aber nicht erleben müssen, dass Männer ihre Macht missbrauchen und den Frauen drohen, deren sportliche Karrieren zu beenden.

Für viele indische Sportlerinnen geht es nicht nur um einen persönlichen Lebenstraum und den Ruhm für ihr Heimatland, sondern schlicht um ihren Lebensunterhalt. Wer beruflich Sport treibt, mit Kollegen und Trainern zu tun hat und sich auch in Trainingscamps aufhält, muss immer wieder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erleben. Der gesetzlich vorgeschriebene Ausschuss gegen sexuelle Belästigung existiert bei der WFI nur auf dem Papier.

Wirklich wie ein Keulenschlag trifft uns aber, dass diese Wrestlerinnen keinerlei Rückhalt aus der übrigen Welt des Sports erhalten. Sie ernten entweder dröhnendes Schweigen – oder sogar Vorhaltungen, weil sie sich beklagt haben. Einige von ihnen wurden gar von der Polizei geschlagen und festgenommen. Und dann geschahen seltsame Dinge, um die Proteste in Verruf zu bringen: Manipulierte Bilder der Ath­le­t:in­nen zeigten sie mit höhnischem Grinsen, als ob man zeigen wollte, dass sie einen heimtückischen Plan ausgeheckt hätten, das politische Aus des WFI-Vorsitzenden herbeizuführen.

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Unter NATO Kommando

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2023

Himmelsabwehr als Himmelfahrtskommando

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von              :        Franz Schandl

Der Druck des kollektiven Westens ist anscheinend zu groß geworden. Österreich und die Schweiz schaffen sukzessive ihre Neutralität ab.

Die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) ist eines der größten und ambitioniertesten Rüstungsprojekte in Europa. 19 Staaten wollen gemeinsam einen flächendeckenden Luftabwehr-Schutzschirm über weite Teile des Kontinents spannen. Ein entsprechendes Dokument wurde letzten Freitag in Bern unterzeichnet. Sky Shield soll eine Art Einkaufsplattform sein. Als Kollektiv mehrerer europäischer Länder trete man an die Verteidigungsindustrie heran, um Infrastruktur zu einem guten Preis zu bekommen, erklärte etwa der Militärexperte Franz-Stefan Gady auf Ö1. Bis zur Etablierung dieser Systeme wird es freilich noch einige Zeit dauern.

„Die neuen Mittel, die vollständig interoperabel und nahtlos in die Luft- und Raketenabwehr der NATO integriert sind, würden unsere Fähigkeit zur Verteidigung des Bündnisses gegen alle Luft- und Raketenbedrohungen erheblich verbessern“, hieß es dazu schon im Herbst 2022 auf der Website der NATO. Interoperabilität, so sagt uns das schlaue Netz, ist die Fähigkeit verschiedener Systeme, Geräte, Anwendungen oder Produkte, sich zu verbinden und auf koordinierte Weise zu kommunizieren, ohne dass der Endnutzer etwas dafür tun muss. Im Ernstfall braucht es somit keiner besonderen Genehmigung seitens der Mitglieder. Nicht spezifisch soll auf etwaige Herausforderungen reagiert werden, sondern das vom NATO-Hauptquartier vorgegebene Programm wird für alle, auch für die Neutralen verbindlich. Nicht nur das Zustandekommen ist ein bedeutender Erfolg des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius, sondern auch dass er Österreich und die Schweiz da gleich en passant einkassiert hat. Zweifellos handelt es sich um eine Art Superbooster der Allianz.

Es war Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), der bereits vor Jahren die österreichische Neutralität, Resultat eines Staatsvertrags zwischen der Zweiten Republik und den Besatzungsmächten aus dem Jahr 1955, zu einem „Element der Selbstdefinition“ degradierte. Laut solcher Selbstdefinitionen erklären nun auch die beigezogenen Experten, dass dieser Beitritt zu Sky Shield mit der Neutralität vereinbar sei. Man hätte es nicht anders erwartet. Es handelt sich um einen akkordierten Schritt, der, um vollendete Tatsachen zu schaffen, rasch vollzogen werden muss. Speed kills. Letztlich werden damit Österreich und die Schweiz in die NATO integriert ohne beitreten zu müssen. Man erspart sich lästige Grundsatzdebatten, während die Anbindung an das westliche Militärbündnis stracks um einen Zacken weitergedreht wird. Alte Neutralitäten flutschen ins Nichts.

Zu diskutieren wäre wenig, schließlich geht es um den Schutz vor äußeren Aggressoren. Wer die sind, ist klar. Sky Shield soll vor russischen Luftangriffen schützen. Denn dort, und nur dort, haust und lauert das Böse. Man selber sei ein unschuldiges, rein defensives Bündnis von Freiheit und Demokratie. Dieses imaginierte Europa geht immer davon aus, keine Bedrohung zu sein, sondern allenfalls bedroht zu werden. „Die Neutralität verteidigt uns nicht und sie schützt uns nicht“, sagt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Der bestechende aber beschränkte Gedanke, dass ausschließlich Waffen schützen und nicht Verhaltensweisen scheint einer solchen Denke gar nicht zu kommen. Selbst die Diplomatie ist inzwischen auf dem Abstellgleis gelandet. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation.

Auch die Militärs spüren wieder Oberwasser. Endlich werden sie nicht mehr ausgehungert, endlich dürfen sie teure Waffensysteme anschaffen. Endlich das haben und tun dürfen, was man immer schon gewollt hat. Verteidigungspolitisch spricht man ebenfalls von „Zeitenwende“, und ist hoch erfreut. Abrüsung (oder gar Armeeabschaffung) wird zu einer Idee von vorgestern, die Zukunft gehört der Aufrüstung. Erstmals seit langem steht das Bundesheer nicht zur Disposition, erstmals seit langem wird seinen Forderungen weitgehend entsprochen. In den militärischen Sektoren knallen die Sektkorken. Auf jeden Fall verdanken wir die geplante Aufrüstung fast ausschließlich dem Krieg in der Ukraine und den eigenartigen Schlussfolgerungen, die gezogen werden.

Anders als in Finnland (oder bald Schweden) wird man zwar der NATO noch nicht beitreten, aber irgendwann in nicht so fernen Tagen wohl meinen, dass die materielle Zugehörigkeit auch nach einer formellen Ratifizierung schreit. „Warum bekennen wir uns nicht endlich zu einer Vollmitgliedschaft in der NATO?“, fragt nicht nur ein Poster in irgendeiner Tageszeitung. Barbara Toth, Redakteurin des linksliberalen Falter, nennt die Neutralität „nur mehr eine ‚Chimäre‘ und wir das endlich aussprechen sollten.“ Eine offene Kampagne für den NATO-Beitritt ist allerdings nach wie vor heikel, daher wird man sie vorerst unterlassen. Es geht auch so.

Das Massaker von Mỹ Lai

Was man aber nicht lassen wird, ist, dass dezidierte Kritik fortan den sogenannten radikalen Rändern der Gesellschaft zugeordnet wird, sprich Extremisten von Rechts und Links. Die Hufeisenhypothese ist en vogue. Einmal mehr gerät die ganze Debatte auf eine obskure Ebene. Sämtliche Einwände werden zu einem ungenießbaren Brei verrührt, um sie kollektiv zu erledigen. Weil die FPÖ gegen die Eliminierung der Neutralität ist, sind alle anderen, die auch dagegen sind, irgendwie mit den Freiheitlichen kompatibel. Proteste werden als populistisch punziert, wenn nicht gar als rechtsextrem diskreditiert. Zuschreibungen werden redundant vorgetragen.

Aktuell geht es um Framinig und Wording. Die Identitätsspirale dreht vorhersehbare Windungen: USA = NATO = EU = Europa = globaler Norden = unsere Werte. Man müsse wissen, wohin man gehöre und man müsse dabei und dafür sein. Das Imperium gibt vor. Der Westen soll zu einem Westblock werden. Militärische Kompetenzen sollen letztlich nur noch in den entsprechenden Kommandozentralen des Bündnis konzentriert sein. „Interoperabel und nahtlos“ schreiten wir der Zukunft entgegen. Mit der angestrebten Beteiligung an Sky Shield wird man jedenfalls zum Glied der neuen NATO-Luftabwehr, auch wenn man gar nicht NATO-Mitglied ist. Natürlich wurde bei der Unterzeichnung eine nichtssagende neutralitätsrechtliche Zusatzerklärung beigegeben, festgehalten wurde, dass Österreichs „besondere verfassungsrechtlichen Gegebenheiten berücksichtigt werden“. Dass die Österreicher puncto Neutralität schummeln, ist nicht neu, für die Schweiz hingegen ist das durchaus ein Novum.

Es ist relativ einfach: Wer sich einem militärisches System der NATO unterwirft, ist nicht mehr neutral. Durch solch einen Schritt haben sich die Neutralen entschieden, dass sie auf Perspektive nichts mehr zu entscheiden haben. Für die Neutralität stellt die europäische Himmelsabwehr ein Himmelfahrtskommando dar.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —     Ein Eurofighter Typhoon und eine Mirage 2000N üben ihren Formationsflug

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Mitwelt Stiftung Oberrhein

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2023

Am 19.7.1973 (vor 50 Jahren) wurde Wyhl zum Standort für das später verhinderte Atomkraftwerk

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Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein Venusberg 4, 79346 Endingen

Von         :         Axel Mayer

Vor 50 Jahren hatte die Umweltbewegung am Oberrhein einen ersten, großen Erfolg. Die Verantwortlichen des Energiekonzerns Badenwerk (heute EnBW) und die Landesregierung erkannten, dass der Atomkraftwerksstandort Breisach politisch nicht durchsetzbar war. Zu stark war der Protest der mehrheitlich konservativen Bevölkerung am Kaiserstuhl. Kurzerhand wurde die Planung 13 Kilometer nach Norden verschoben. Am 19. Juli 1973 wurde erstmals der neue Standort eines Atomkraftwerkes in Wyhl bekannt.

Es war eine spannende Zeit des Umbruchs in einer Phase extremer Umweltverschmutzung in Nachkriegsdeutschland und Europa. Nach den noch eher zaghaften Protesten gegen die Verschmutzung der Wutach und gegen die AKW in Breisach und Schwörstadt verstärkte sich der Protest. Der Nachkriegsglaube an das unbegrenzte Wachstum bekam erste Risse. Aus konservativen Nur-Naturschutzverbänden wurden politische Umweltverbände und im Elsass, in der Nordschweiz und Südbaden schwoll der Protest gegen umweltvergiftende Industrieanlagen und geplante Atomkraftwerke zu einer massiven Protestbewegung an.
Die heutigen (Teil-)Erfolge für Mensch und Umwelt in Sachen Luft- und Wasserqualität sind auch diesen frühen Kämpfen zu verdanken.

Es ging den Menschen nicht nur um die Bedrohung durch das AKW in Wyhl sondern auch um ein, im benachbarten Marckolsheim (F) geplantes, extrem umweltbelastendes Bleichemiewerk. Bei einem vergleichbaren Bleiwerk in Nordenham waren damals gerade sechzehn Kühe an Bleivergiftung gestorben, 69 Rinder mussten notgeschlachtet werden …
Die Menschen auf beiden Seiten des Rheins begannen erstmals nach dem Krieg in einer kleinen, alemannischen Internationale grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. Sie träumten und realisierten den Traum vom grenzenlosen Europa der Menschen und der verzweifelte Kampf gegen Blei und Atom begann.

Ein „Fenster der Möglichkeiten“ öffnete sich und beherzte Menschen aus dem Elsass und Baden begannen mit Informationsarbeit, Demonstrationen und der Vorbereitung der beiden Bauplatzbesetzungen in Wyhl und Marckolsheim(F). Aus den frühen erfolgreichen Kämpfen für Luftreinhaltung 1974 auf dem besetzten Platz in Marckolsheim entwickelte sich der Kampf gegen das Waldsterben 1.0. Langfristig gesehen liegen auch wichtige Wurzeln der heutigen Klimaschutzbewegung in diesen frühen Konflikten.

Die erfolgreiche AKW-Bauplatzbesetzung in Wyhl 1975 war ein wichtiger Impuls für die Besetzungen in Kaiseraugst(CH) und Gerstheim(F). Auch der Traum von einem schlagbaumlosen Europa der Menschen und von den kommenden erneuerbaren Energien wurde geträumt und angegangen. Doch nach kurzer Seit schloss sich das „window of opportunity“ und in Grohnde und Brokdorf war eine Wiederholung der Erfolge von Ober- und Hochrhein nicht mehr möglich.

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5 Jahrzehnte nach diesen trinationalen Umwelt-Konflikten, nach dem Streit um Gorleben und Wackersdorf und den Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima wurden in Deutschland die letzten Atomkraftwerke abgestellt. In diesen 50 Jahren gab es (gerade auch beim aktuellen Atomausstieg) immer ein zentrales Hintergrund-Thema, das bei den Konflikten um Kohle und Atom und beim Streit für die erneuerbaren Energien in der öffentlichen Debatte selten erwähnt wurde. Der Streit der Lobbyisten für Atom, Gas, Öl- und Kohle und ihr jahrzehntelanger Kampf gegen die Erneuerbaren war immer ein Konflikt um das Energieerzeugungsmonopol und um die Gewinne der mächtigen Energiekonzerne.

Die Verhinderung des AKW in Wyhl, des Bleiwerks in Marckolsheim und der Atomausstieg am 15.4.23 waren schon erstaunlich. Seit wann setzen sich in a »rich man´s world« die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Der Autor war Sprecher der ehemaligen BI Riegel, (alt-)Bauplatzbesetzer und dreißig Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg

Mehr Infos: https://www.mitwelt.org/kein-akw-in-wyhl.html

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Oben      —        Die Kritik am KKW Wyhl war Ende der 1970er Jahre noch subtil: unter dem Schild „Mafia“ ist „Kraft“ eingemeißelt

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Unten      —     Aufkleber gegen den Bau des Kernkraftwerkes Wyhl, 1975

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Die Töne der Zeit

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Die Erderwärmung geht mit extremer Ungerechtigkeit einher

Ein Schlagloch von Illja Trojanow

Wenige Menschen richten viel Schaden an, den wiederum viele Menschen ertragen müssen. Würde Indien das Verbrauchs­niveau der EU erreichen, könnten wir hierzulande Spiegeleier im Schatten braten.

Am bisher heißesten Tag des Jahres wurde in Stuttgart die Oper „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen aufgeführt. Einige sangen, einige spielten Instrumente, alle anderen fächelten sich mit dem Programmheft Luft zu. Messiaens großartiges Werk vertont den spirituellen Weg des heiligen Franziskus in einer undogmatischen Musik ohne Grenzen. Vogelstimmen spielen eine wichtige Rolle, ebenso eine ganzheitliche Liebe zur Schöpfung.

Die Klimakrise wird als globales Problem diskutiert, deren Lösung eine kollektive Anstrengung aller Menschen erfordert. Ganz im Sinne der Umwelt-Enzyklika von Papst Franziskus, in der er zur Abkehr von unserem zerstörerischen Lebenswandel aufruft, der auf Kosten der Natur und der Menschen insbesondere in den ärmeren Ländern geht. Das gemeinsame Haus der Menschheit dürfe nicht zerstört werden. Die Bedeutung der Schöpfung und der Natur müsse in den Vordergrund gerückt werden. Ja, ja und ja, und doch ist dieses „globale“ Framing – wie der Climate Inequality Report 2023 aufzeigt – irreführend.

Denn die globale Klimakrise ist durch extreme Ungleichheit gekennzeichnet. Einfach gesagt: Die Leidtragenden sind jene, die am wenigsten zum Problem beigetragen und am wenigsten Geld haben, sich gegen die Folgen zu wappnen. Während jene, die sie hauptsächlich verursachen, am wenigsten von den Auswirkungen bedroht sind und zudem über finanzielle Möglichkeiten der Anpassung verfügen.

Die treibende Kraft des Klimawandels ist somit nicht die Menschheit im Allgemeinen, sondern es sind diejenigen, die vom Wirtschaftswachstum am meisten profitieren. Weltweit gehen 89 Prozent der Emissionen auf das Konto der 4 Milliarden wohlhabendsten Menschen. Knapp die Hälfte entfällt sogar auf die obersten 10 Prozent (800 Millionen). 17 Prozent aller Emissionen werden von nur 1 Prozent der Meschheit verursacht.

Anders gesagt: Die untere Hälfte der Weltbevölkerung verursacht 12 Prozent der globalen Emissionen, erleidet aber 3 Viertel der Einkommensverluste aufgrund des Klimawandels. Zugleich verfügen die oberen 10 Prozent über 76 Prozent des Wohlstands und können die Folgen entsprechend finanziell auffangen. Die Klimakrise wird also nicht von „uns Menschen“ verursacht, sondern ist Ausdruck globaler Ungleichheit in Folge der gesellschaftlichen und globalen Machtverhältnisse.

In der Oper von Messiaen klopft im vierten Bild ein Engel sanft an die Tür, aber für die Figuren wie auch für das Publikum klingt es wie Donnerhall. In der Realität ist es umgekehrt. Die ökologische Katastrophe dröhnt wuchtig, aber die Engel unserer besseren Einsicht hören es kaum. Eine der Figuren, Bruder Elie, kann nicht zuhören und findet nicht zur besinnlichen Ruhe, um das Wesentliche zu erkennen – eine zeitgemäße Figur.

Während sich das Publikum weiter Luft zufächelt. Es kann die Hitze nicht ertragen, die es selbst entfacht hat. Doch südlich des Breitengrads der Klimaanlagen müssen unsere Mitmenschen ganz andere Temperaturen ertragen: In Pakistan 49 Grad, im Niger 50 Grad Celsius, die Stigmata unserer Tage, verursacht durch heißes Quecksilber.

Die Klimakrise ist zwar eine globale Herausforderung, doch sie ist verursacht von einer kleinen Minderheit, die nicht nur auf Kosten anderer und der Natur lebt, sondern mit ihrem Vermögen und ihren Investitionsentscheidungen entscheidend dazu beiträgt, die herrschenden Verhältnisse zu zementieren. Bezahlen müssen viele, profitiert haben wenige. In diesem Zusammenhang offenbart sich nicht nur der Wahnsinn unserer destruktiven Raserei, sondern auch die Illusion einer Entkopplung von Verbrauch und Wachstum einerseits und Energie- und Ressourcenverbrauch sowie ökologischer Zerstörung andererseits.

Denn wir machen global betrachtet keine Fortschritte. 2022 wurde beim CO2-Ausstoß ein neuer Höchststand erreicht. In manchen Kommentaren wurde kritisch vermerkt, dass „in Indien die Emissionen um 6 Prozent zunehmen. Das Land stößt jetzt mehr Treibhausgase aus als die EU.“ Nun ja, es hat ja auch mehr als dreimal so viel Einwohner. Der einfachste aller ökologischen Gedanken kann nicht häufig genug wiederholt werden: Würde Indien das Verbrauchsniveau der EU erreichen, könnten wir hierzulande Spiegeleier selbst im Schatten braten.

Es gibt nur eine Lösung: Klimagerechtigkeit. Das Entscheidende wäre eine Praxis des global solidarischen Wirtschaftens und Konsumierens. Die Verantwortung für den Planeten müsste eine kritische Haltung gegenüber den eigenen Privilegien beinhalten. Mit handfester Empathie für die Verlierer der ökologischen Katastrophen.

Quelle           :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben        —       If the Paris Agreement can’t, what can? Join the Republic of Vanuatu, the UN and What On Earth!™ in asking the International Court of Justice how countries can be held accountable for the devastation their excessive emissions are causing? #ClimateJustice #PaleBlueDot

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Hitze-Hotspot Deutschland

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen

Liegt Jordanien neuerdings am Main? Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber warf jedenfalls unlängst den Vergleich in den Raum und warnte davor, dass es klimatisch so weit kommen könnte. Und tatsächlich lassen die letzten Jahre Schlimmes befürchten.

Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen vertrocknetes Gras, dazu ein träger, aber unangenehm heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen? Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich nordwestlich von Würzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen.

Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland.

Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schipperten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären.

In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft.

Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem Main-Donau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung.

Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung.

Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren.

Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus

Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.[1] „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber.

Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt.

Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt.

Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer.

Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.[2]

Es ist spät, aber noch nicht zu spät

Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers, das diesem Text zugrunde lag, zentrale Punkte.

1. Die öffentliche Versorgung muss klaren Vorrang erhalten vor privatwirtschaftlichen Interessen

Der Vorrang der öffentlichen Trinkwasserversorgung vor allen anderen Nutzungen ist nicht klar und unmissverständlich festgeschrieben. Genau das muss aber sein. Es genügt nicht, den Grundsatz als allgemein und unverbindlichen Glaubenssatz unterschwellig zugrunde zu legen. Das war er nämlich bisher auch schon – und trotzdem bedienten sich Energieversorger und Industrie, Mineralwasserhersteller und Landwirtschaft reichlich ungeniert und mit dem Segen allzu sorgloser Behörden am Allgemeingut Wasser. Die Vorrangstellung der öffentlichen Trinkwasserversorgung muss daher bundesweit festgeschrieben werden. So, dass lokale Genehmigungsbehörden, aber auch Gerichte sich bei ihren Entscheidungen darauf stützen können. Wenn man so will, etwas Klares, Praktisches für den täglichen Gebrauch.

2. Die Wasserversorgung darf nicht privatisiert und dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden

Die Nationale Wasserstrategie beschäftigt sich mit der Zukunft. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Ihre Ziele sind auf 30 Jahre ausgelegt, und es ist richtig zu definieren, wohin man langfristig will. Die Verteilungskämpfe haben jedoch bereits begonnen. Folgerichtig braucht es auch kurzfristige Zielvorgaben und ein Instrumentarium, um sofort entscheiden und strategisch handeln zu können. Und nicht erst 2050.

Es ist an der Zeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Strommarkt wurde liberalisiert, also dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte unterworfen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und speziell die energiepolitischen Verwerfungen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führen jedoch die Schwächen des Systems vor Augen. Wenn es darum geht, Probleme im Sinne der Allgemeinheit zu lösen, ist von den Profiteuren der Liberalisierung nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann muss der Staat plötzlich eingreifen, mit Milliarden an Steuergeldern. Daraus leitet sich die banale, aber entscheidende Erkenntnis ab, dass Privatunternehmen nicht alles automatisch besser können als öffentliche Versorger.

Im Gegenteil: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo ein Privatinvestor im Bereich der Daseinsvorsorge Verantwortung übernommen hat, wenn ein System nicht mehr funktionierte. Die Energieriesen haben jahrzehntelang mit Gas aus Russland oder Atomstrom Milliardengewinne eingefahren. Den Umbau der Systeme, die Kosten für deren Versagen, finanziert jedoch der Staat, die Allgemeinheit. Bestes Beispiel ist das Milliardendrama um Uniper, jene börsennotierte Gesellschaft, die 2016 als Abspaltung des ebenfalls börsennotierten Energieriesen E.ON entstanden ist. Als Uniper im Zuge des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Lieferstopps von russischem Gas in die Bredouille geriet, musste der Bund das als systemrelevant eingestufte Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Steuersäckel stützen. Im Dezember 2022 wurde Uniper verstaatlicht.

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge, mindestens so sehr wie die Strom- und Energieversorgung. Man darf sie nicht dem freien Spiel privater Kräfte überlassen, nicht Investoren und profitmaximierenden Unternehmen. Wasser ist ein derart elementares Gut menschlichen Daseins, dass es nicht marktliberalen Mechanismen unterworfen werden darf. Nicht Wettbewerb, sondern funktionale Sicherheit müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen ein öffentliches, staatliches bzw. kommunal betriebenes Versorgungssystem für Trinkwasser, das auch im Krisenfall stabil und resilient ist. Vor allem die Städte und Gemeinden stehen hier in der Verantwortung. Sie müssen ihre eigene Wasserversorgung sicherstellen – bei Bedarf auch mit Nachbargemeinden zusammen; es gilt das Solidarprinzip.

3. Das Land braucht eine umfassende Wasserschutzagenda

Ressourcenschutz fängt nicht erst an, wenn es im konkreten Einzelfall darum geht, einen übermäßigen Wasserausbeuter in die Schranken zu weisen. Er beginnt viel früher. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, eine andere Herangehensweise mit dem Ziel, Wasser im Boden zu halten. Dafür zu sorgen, dass es nicht so schnell abfließt. Mit konsequentem Gewässerschutz, Investitionen in Leitungssysteme und Wasseraufbereitungsanlagen, aber auch, indem die Flächenversiegelung begrenzt, mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und insgesamt das Bewusstsein für sorgfältigeren Umgang mit der Ressource Wasser geschärft wird. Das Thema kommt einer Allensbach-Umfrage von 2022 zufolge immer mehr in der Bevölkerung an; drei von vier Deutschen gaben an, bewusster und sparsamer mit Wasser umzugehen als früher. Wassersparen hilft, aber das allein reicht nicht. Sümpfe, Moore und andere Feuchtgebiete müssen geschützt werden, die Versiegelung der Landschaft durch Wohn- und Gewerbegebiete, Straßen und andere Baumaßnahmen muss insgesamt reduziert werden. Wir brauchen im Einzelfall mehr Dachbegrünungen, aber auch Bauverbote in Gebieten mit Überschwemmungspotenzialen. Die Versickerung von Wasser an Ort und Stelle muss erleichtert werden.

Vielleicht sollten die Politiker-innen im Ausland von den roten Teppichen herunterkomme um sich die Wasserversorgung aus dem 12.Jahrhundert anzusehen, welche heute noch teilweise  funktionieren.

Auch der Grundwasserschutz muss verbessert werden. Experten der Vereinten Nationen sind überzeugt, dass aktuelle und künftige Wasserkrisen nur mit Hilfe des Grundwassers zu bewältigen sind. „Eine bessere Nutzung des Grundwassersystems könne zur Klimaanpassung beitragen“, heißt es im UNESCO-Weltwasserbericht 2022. So sei es etwa möglich, saisonale Überschüsse von Oberflächengewässern in Grundwasserleitern zu speichern. So könnten nämlich Verdunstungsverluste verringert werden, „wie sie etwa bei Stauseen auftreten“. Eine sinnvolle, umfassende Wasserschutzagenda beginnt schon bei der Erfassung aktueller Daten. Ferner muss eine Wasserschutzagenda schärfere Regelungen zum Schutz vor Verunreinigungen etwa durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel beinhalten. Das Herumlavieren, mit dem sich Deutschland in der beschriebenen Weise seit Jahren um die konsequente Einhaltung schärferer EU-Vorgaben drückt, muss ein Ende haben.

4. Privilegien für Großverbraucher abschaffen

Bayern, Hessen und Thüringen verzichten bislang auf ihn und in den anderen 13 Bundesländern ist er marginal bemessen. Die Rede ist vom Wassercent, im Behördendeutsch: dem Wasserentnahmeentgelt.

Richtigerweise muss es endlich jeder bezahlen, der sich am Allgemeingut bedient, um es für seine privatwirtschaftlichen Zwecke zu verwenden. Mineralwasserhersteller, Landwirte, Energieversorger, Industriebetriebe – bisher profitieren alle großen Schlucker von einer fatalen Nulltarif- oder Kostet-fast-nichts-Mentalität hierzulande. Geht es um die Bedürfnisse von Unternehmen, waren die Behörden, die Landesregierungen und die Kommunalpolitiker vor Ort stets sehr großzügig bei Entnahmemengen oder langfristigen Laufzeiten von Entnahmerechten. Das muss gestoppt werden. Behörden müssen die Mengen und die Laufzeiten begrenzen und unter den Vorbehalt stellen, dass sie in Dürrezeiten bei Bedarf auch unterbrochen oder stärker kontingentiert werden können. Und vor allem: Das jahrhunderte-, bisweilen sogar jahrtausendealte und besonders reine Tiefengrundwasser muss weitaus strenger geschützt werden. Übrigens nicht nur vor den Entnahmen gewerblicher, sondern auch öffentlicher Nutzer.

Ein probates Mittel ressourcenschonender Wasserbewirtschaftung wäre es, private und gewerbliche Nutzer gleichzustellen. Ihnen dieselben Gebühren abzuverlangen, wenn sie aus dem öffentlichen Netz schöpfen, und keine Rabatte für Großabnehmer mehr zu gewähren. Überdies müssen all jene spürbarer als bisher zur Kasse gebeten werden, die eigene Brunnen oder Wasserfassungen nutzen. Der Wassercent darf daher im Sinne der Allgemeinheit gerne ein Wassereuro werden.

Gewiss, die Wirtschaft im weitesten Sinne braucht Wasser und sie soll es auch in Zukunft bekommen. Dass Firmen für Wasser aber kaum oder fast nichts bezahlen, setzt jedoch keinerlei Anreize, um sich über Einsparungen, interne Wasserkreisläufe, Wasserrecycling oder Brauchwassersysteme Gedanken zu machen. Wir brauchen eine Gebührenpolitik, die genau solche Anreize schafft. Hier sind vor allem die Landespolitiker gefordert, bei denen das Thema bislang nicht angekommen ist. Geradezu unerträglich ist es, wenn, wie im Fall Tesla in Brandenburg, ein Unternehmen in einer trockenen Region angesiedelt wird und zig Mrd. Liter Wasser zugeteilt bekommt, während ringsum Gemeinden keine Wohngebiete und Schulen mehr planen können, weil das notwendige Wasser fehlt. Es kann auch nicht sein, dass einhergehend damit der Trinkwasserbedarf von Privatpersonen im Bedarfsfall eingeschränkt und Mehrbedarf finanziell sanktioniert wird, während die Versorgung der Großfabrik nebenan Priorität genießt.[3]

5. Wassertröpfchen für die Landwirtschaft

Quelle          :           Blätter-online          >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —      Talsperre Lehnmühle Oktober 2018 im Tal der Wilden Weißeritz im Erzgebirge. Sonst geflutete Brücke der Zinnstraße zum Erztransport von Altenberg nach Freiberg.

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Unten         —         The park in the Byzantine-era Cistern of Aspar in November 2013

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Ganz ohne Witwenrente

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Charmant in die Altersarmut

Wie ist es denn vielen Kriegerwitwen nach den letzten Krieg ergangangen – welche auf den Staat hoffen mussten? Wurden nicht viele Witwen in die Prostitution getrieben um die Kinder ernähren zu können? 

Von Ulrike Herrmann

Für viele ist die Hinterbliebenenrente eine Aufstockung für den Lebensunterhalt. Eine Kürzung würde nur eins bedeuten: verschärfte Altersarmut.

Über die Rente wird permanent diskutiert, aber ein Thema blieb bisher relativ unbeachtet: die Witwenrente. Doch nun hat die Chefin der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer eine Reform vorgeschlagen, die darauf hinauslaufen würde, die Witwenrenten langfristig zu kürzen.

Konkret stellt sich Schnitzer vor, dass es zu einem „Rentensplitting“ kommt. Dabei werden die Rentenansprüche der Ehepartner hälftig geteilt – und zwar nur die Ansprüche, die tatsächlich während der Ehe erworben wurden. Frühere Beiträge werden nicht berücksichtigt. Wenn dann ein Partner stirbt, erhält der Hinterbliebene diese Hälfte sowie die eigenen Ansprüche, die vor der Ehe entstanden sind.

Auch jetzt ist ein Rentensplitting schon möglich, aber Schnitzer schlägt vor, dass es verpflichtend wird. Faktisch würden damit die Witwenrenten gekürzt, denn bisher erhalten Hinterbliebene im Normalfall 55 bis 60 Prozent der Rente ihres verstorbenen Partners – plus die eigene Rente. Allerdings sind konkrete Berechnungen schwierig, wie groß die Nachtteile tatsächlich wären, weil derzeit das eigene Einkommen des Hinterbliebenen bei der Witwenrente berücksichtigt wird.

Nur eine Minderheit war nie erwerbstätig

Wie auch immer: Klar ist, wer garantiert verlieren würde. Dies wären alle Ehepartner, die selbst nicht arbeiten. Das ist gewollt. „Die jetzige Regelung reduziert die Anreize, eine eigene Beschäftigung aufzunehmen“, sagte Schnitzer dem Spiegel. „Außerdem tragen so alleinstehende Beitragszahlende zur Finanzierung von Rentenansprüchen für nicht erwerbstätige Partner bei, die selbst nicht in das System einzahlen.“

Selbst wenn es zu dieser Reform käme, würde sie nicht sofort greifen. Stattdessen soll es lange Übergangsfristen geben, damit sich alle Arbeitnehmer auf die künftigen Realitäten einstellen können. Die heutigen Rentner müssten also nicht fürchten, dass sie plötzlich ein Teil ihres Einkommens verlieren.

Auf den ersten Blick wirkt es charmant, wenn nicht alle Beitragszahler dafür aufkommen müssten, dass einzelne Ehepartner lieber zu Hause bleiben und nicht arbeiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass nur eine Minderheit der Hinterbliebenen nie erwerbstätig war. 2022 bezogen etwa 5,3 Millionen Menschen eine Witwenrente, wovon aber nur etwa 1,2 Millionen keine eigenen Rentenansprüche hatten. Der Rest hat früher gearbeitet – und erhält die Witwenrente zusätzlich.

Rentenkassen benötigen mehr Geld

Diese Zusatzgelder werden dringend gebraucht, damit die alten Menschen überhaupt über die Runden kommen: 2022 erhielten Männer, die auch eine Witwerrente erhielten, im Schnitt 1.717 Euro netto. Frauen mit eigener Rente und Witwenrente bekamen monatlich 1.573 Euro ausgezahlt.

Quelle          :          TAZ-online             >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Isaac Israëls – Military funeral – Google Art Project

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Die Degitalisierung:

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Das Hype-Gap

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Manchmal hat es auch einen Vorteil, dass die Verwaltung und das Gesundheitswesen in Deutschland so langsam sind, meint unsere Kolumnistin. Etwa, weil sie dann auch mal die Hypes verschlafen, auf die sonst jeder Dödel schon aufgesprungen ist. Ist das ausnahmsweise mal nicht der Fall, sind die Folgen nämlich verheerend.

Wir sollten mal über Hypes sprechen. Oder die Lücken, englisch Gap, die Hypes in ihrer Wirkung und Wahrnehmung in der digitalen Verwaltung oder dem Gesundheitswesen reißen können. Eigentlich generell bei allem, was einen Funken von Bedeutung im Sinne einer Infrastruktur haben kann.

Ganz im Sinne des Themas dieser Kolumne, der Degitalisierung, geht es dabei nicht um eine befürchtete Hypevergiftung, bei der dann am Ende doch wieder alles gut wird. Nein, hier wird erst mal nichts von alleine gut. Und besser wird es erst durch die Zuwendung auf die Probleme, die mit Hype-Technologien allzu gern überdeckt werden sollen. Aber der Reihe nach.

Der Hype-Zyklus

Bei der Betrachtung von Hypes ist es hilfreich, den sogenannten Hype Zyklus zu verstehen. Er wurde von Jackie Fenn geprägt, einer Analystin bei der Marktforschungsfirma Gartner, und beschreibt den Zusammenhang von zeitlicher Entwicklung und der Aufmerksamkeit für eine neue Technologie. Üblicherweise folgt die Aufmerksamkeit für neue Technologien dabei einer bestimmten Kurve: Nach einem extrem schnellen Anstieg der Aufmerksamkeit zu einem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ durchlaufen Technologien das „Tal der Enttäuschungen“ und kommen über einem „Pfad der Erleuchtung“ zu einem „Plateau der Produktivität“.

Anders gesagt: Auf eine Überschätzung von Technologien folgt nach etwas Frustration eine realistische Wahrnehmung und Einschätzung einer neuen Technologie. Damit in Beziehung steht auch der entsprechend sinnhafte Einsatz eben dieser neuen Technologie. Anfangs wird eine neue Technologie als Lösung aller Probleme gesehen. Nach Enttäuschungen bleibt am Ende zumeist nur ein Bruchteil an sinnvollen Anwendungen dieser neuen Technologie übrig.

Für Gesundheitswesen und Verwaltung gilt dieser Hype-Zyklus auch, nur sehen wir in diesen beiden Feldern meist eine stärkere zeitliche Verzögerung. Das passiert sowohl in der Wahrnehmung neuer Hype-Technologien als auch in der Anwendung. Ein Phänomen, das ich als Hype-Gap bezeichnen möchte und das mehrfach negativ wirkt.

Blockchain-KI-Hypermega-Tech

Um das Wirken von Hype-Gaps in Verwaltung und Gesundheitswesen genauer zu erklären, müssen wir uns leider zwei Technologien zuwenden, die wir entweder (hoffentlich) bereits verdrängt oder (hoffentlich) bereits richtig eingeschätzt haben in ihrer Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit. Ich spreche von Blockchains und sogenannter Künstlicher Intelligenz.

Es gibt in der öffentlichen Verwaltung nicht besonders viele Blockchain-Projekte. Eine Ausnahme: die Blockchain des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF. Die „Föderale Blockchain Infrastruktur Asyl“ (FLORA) ist eigentlich als „Blockchain-Lösung für die behördenübergreifende Zusammenarbeit im Asylprozess“ gedacht und verspricht eine „Verbesserung der Arbeitsabläufe“ und „eine Reduktion der Anfälligkeit für Prozessfehler“.

Das klingt jetzt erst mal toll. Lässt aber außer Acht, dass diese vermeintlichen Vorteile gar nicht durch den Einsatz von Blockchains allein entstehen oder nur wegen Blockchain allein möglich wären. Schlimmer noch: Durch die Unveränderlichkeit von verketteten Daten-Strukturen wie sie in Blockchains gehalten werden, ergeben sich durch den Einsatz eben jener Technologie Nachteile im praktischen Einsatz. Wie sieht es bei dieser für Geflüchtete relevanten Technologie aus mit einem Recht auf Vergessen? Recht auf Korrektur? In Blockchains ist beides nur mit Umwegen und davon losgelösten Techniken möglich.

Man könnte jetzt das verpönte Wort Datenschutz anbringen, würde dann aber eine Kaskade von Gegenrede à la „Datenschutz verhindert Innovationen“ auslösen. Und am Ende gäbe es zwei Seiten, die isoliert voneinander auf ihrem Standpunkt verharren. Daher zur Nichtsinnhaftigkeit von Blockchains für alles, was mit den Grundrechten von Menschen zu tun hat, nur kurz folgender Aspekt:

Auch bei den Daten von Geflüchteten geht es um die Daten von Menschen. Es mag verlockend klingen, für die Daten von Geflüchteten keine direkte Verantwortung übernehmen zu müssen. Weil die Daten in der Blockchain, also einer dezentralen Datenkette liegen, die rein physikalisch quasi überall und nirgendwo liegt. Am Ende geht es aber auch technologisch darum, Verantwortung für Menschen, deren Grundrechte und daraus abgeleitet Daten zu übernehmen. Eine Blockchain aber ist das genaue Gegenteil von digitaler Verantwortungsübernahme – Hype und damit verbundene vermeintliche Innovation hin oder her.

„Wir lösen das mit KI“

Auch im Kontext sogenannter Künstlicher Intelligenz können Hypes negativ wirken. Beispiel Gesundheitswesen. Hier mag der Eindruck entstehen, dass es durch den Einsatz von KI möglich wäre, analoge Arztbriefe oder Befunde „einfach mit KI“ zu digitalisieren. Dass eine elektronische Patientenakte mit PDFs von eingescannten Papieren und anderen nicht strukturierten Daten kein Problem mehr sei. Dass man einfach mit einer solchen Patientenakte starten könne, den Rest mache ja eine KI.

Nur ist hier abseits vom KI-Hype eines klar festzuhalten: Eine KI, die Texte von Ärzt*innen interpretiert und daraus Befunde mit einer gewissen Fehlerrate ableitet, ist die schlechtere Lösung im Vergleich zu einem klar definierten und von einem Menschen kodierten digitalen Befund. Vermeintliche Innovation und Hype hin oder her.

Der Hype-Gap-Zyklus

In diesen beiden Beispielen zeigt sich auch das Wirken des Hype-Gap. Digitales Gesundheitswesen und digitale Verwaltung in Deutschland möchten ihren technologischen Rückstand aufholen und jetzt am besten mit angesagten und gehypten Technologien auch noch innovativ sein. Dabei sind Verwaltung und Gesundheitswesen aber meistens spät dran im Erkennen von Technologietrends. Es ergibt sich analog zum Hype-Zyklus also meist Phase eins eines Hype-Gap-Zyklus: Verschlafen des Hypes.

Darauf folgt Phase zwei: eine verzerrte Einschätzung der Technologie, die ich als Gipfel der Verkennung bezeichnen möchte. „Die Technik wird das schon lösen.“ Sich bereits abzeichnende Probleme im Einsatz von Hypetechnologien werden oftmals nicht berücksichtigt. Es herrscht auch ein wenig die „Fear of missing out“, also Angst als einzige nicht bei etwas Coolem mit dabei zu sein. „Wenn wir jetzt nicht noch schnell auf den Hype-Zug mit aufspringen, verpassen wir was.“

Weil Projekte in Verwaltung und Gesundheitswesen meist langwierig sind und mehr Zeit in Anspruch nehmen, folgt das lange Tal der Umsetzung, gefolgt von einem Pfad von technischen Schulden. Einmal eingeführte Hype-Technologien in Verwaltung und Gesundheitswesen bleiben da leider oftmals länger als im Rest der digitalen Welt, weil die Laufzeiten von Verfahren länger sind und rechtliche Grundlagen diese Technologien darüber hinaus oft schützen.

Weil sich speziell die Verwaltung aber auch noch besonders schwer damit tut, Fehler nach außen zuzugeben, genießen falsch angewendete Hype-Technologien hier noch mal erhöhten Bestandsschutz. Auch wenn längst klar ist, dass diese Technologien anderswo die eigentlichen Probleme kaum lösen oder, noch schlimmer, mehr Probleme schaffen als sie lösen, lässt man sie nicht los. Sonst müsste man ja zugeben, dass die Idee schlecht war.

Löst eine Hype-Technologie dann das eigentliche Problem nicht und bringt darüber hinaus viele Nachteile mit sich, endet der Hype im Plateau des technischen Rückstands.

Selbstverstärkender Rückstand

Je mehr falsch eingesetzte Hype-Technologien auftreten, desto höher wird der technische Rückstand (und desto verlockender sind wiederum weitere Hype-Technologien). Und leider ist dieser sich selbst verstärkende technische Rückstand die eigentliche Konsequenz des Hype-Gaps. Weil Hype-Technologien auch noch zusätzlich Geld und Zeit binden, bleibt dann meist noch viel weniger Zeit für sinnvolle digitale Basistechnologien oder Infrastruktur.

Eigentlich könnte die etwas träge Art, wie Verwaltung und Gesundheitswesen mit technologischen Trends umgehen, dazu beitragen, Chancen und Risiken von Hypes richtig zu bewerten. Wenn andere Sektoren bereits die Probleme von Hype-Technologien in voller Breitseite abbekommen haben, wäre es töricht, diese Probleme noch einmal durchleben zu wollen. Hype hin oder her.

Vielleicht folgt so auf den Hype-Gap also nicht nur Negatives, sondern ausnahmsweise mal was Positives. Nicht immer muss das vermeintliche Verschlafen von Hypes etwas Schlechtes sein.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —        Ein alter Eisenriegel und ein verrostetes Vorhängeschloss auf wettergegerbten Türbrettern sichern die Türe einer verlassenen Fabrik in Dötlingen, Niedersachsen. Die Originalaufnahme entstand in Mai 1980 auf Kodachrome 25 Farb-Diafilm und wurde in Juni 2018 auf einer spiegellosen Kamera mit einem 42 Megapixel-Sensor digitalisiert.

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Krawalle in Frankreich

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der Zorn aus den Vorstädten

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Aus Paris von Christian Jakob

Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?

Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter schreien hört“, rappt Mari in dem Video.

Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte, kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste Opfer von Polizeigewalt in Frankreich: Nahel Merzouk, Sohn algerischer Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle in Nanterre erschossen.

Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem Mindestlohn einhalten.

Sie wusste, dass es ihr Kind war

Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen Netzwerken.

Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben. Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm. Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts mehr.“

Mornia Labssi, Einwohnerin von Nanterre

„Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.

Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.

Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi. „Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“

Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.

„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.

Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.

Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen

Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der Ban­lieue-Bewohner.

Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben schlechte Eltern und Delinquenten.“

In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das, allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“

Der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen sage „schon die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“ seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.

Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“ Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie gegen eine fremde Armee.“

Gefährliche Entwicklung

Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.

Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi überzeugt.

Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten. Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“

Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.

Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.

Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem

Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder Théo Luhaka von vier Polizisten der Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken angegriffen. Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.

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Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre – auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.

Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.

Sonst gab es nichts.

Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht werden.

Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.

Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem Haus vorbei. Wenn Sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“

Eine Drohung?

„Spott.“

Wie oft kommt das vor?

„Dauernd.“

Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.

Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen

Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land. Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“

Diskriminierung, sozialer Ausschluss, Polizeigewalt: Bürgermeister Bakthiari glaubt nicht an diese Erklärungen

Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle. Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen Labssi und Luhaka.

Quelle          :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —         Vorstadt Le Quartier de la Fauconnière in Gonesse im Norden von Paris

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der politische Nutzen eines toten Teenagers

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Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Als Teenager reisten wir nach Frankreich, England und Deutschland, um zu arbeiten und um Sprachen zu lernen. Zu dieser Zeit fuhren die Bürger Mittel- und Osteuropas, die nur wenig Geld zur Verfügung hatten, meist mit dem Bus. Eine solche Reise dauerte viele Stunden inklusive eines langen, erzwungenen Halts an der polnisch-deutschen Grenze.

Zu dieser Zeit war Polen weder Mitglied der EU noch des Schengenraums, sodass man geduldig die Passkontrolle ertragen musste. Uns frustrierte es, dass wir nicht Teil dieses Europas waren. Zugleich waren wir überzeugt, dass es sich lohnt, an dieser Grenze zu warten.

Heute hingegen versuchen populistische Parteien zu beweisen, dass der Westen bestenfalls verachtenswert sei. Dass er die Freiheit, die er genießt, missverstehe. Mehr noch: Sogar die Gegner des Populismus übernehmen diese Rhetorik, um die Aufmerksamkeit der Wähler zu gewinnen. Die Frage ist, wie sich das auf die Gesellschaft auswirken wird.

Ein gutes Beispiel ist die Antimigrations­rhetorik. Nachdem in Frankreich ein Teenager von der Polizei erschossen wurde und daraufhin schwere Unruhen ausbrachen, reagierten die osteuropäischen Länder ziemlich seltsam. Die Unruhen in den französischen Vorstädten haben in die polnische Politik eingegriffen. Der demokratische Oppositionsführer ­Donald Tusk erklärte in den sozialen Medien: „Wir sehen schockierende Szenen von den gewalttätigen Unruhen in Frankreich.“ Und fügte hinzu, dass die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen eine Politik der Masseneinwanderung betreibe, in deren Rahmen Bürger aus muslimischen Ländern im vergangenen Jahr 135.000 Arbeitserlaubnisse erhalten hätten.

Unterdessen äußerten Vertreter der Regierungspartei unverhohlen Freude über die Krise, die die Menschen in Frankreich gerade durchleben. Es sei ein „unbestreitbares Fiasko der Migrationspolitik“, argumentierte Jan Dziedziczak, der Bevollmächtigte der polnischen Regierung im Ausland. „Frankreich steht in Flammen und leidet unter den Folgen einer fehlgeleiteten Politik der offenen Tür“, schrieb Regierungssprecher Rafał Bochenek. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass zumindest einige dieser Äußerungen eine besondere Art von Schadenfreude widerspiegeln. Hier ist endlich der Westen im Unrecht. Dieser große Westen, den wir einst anstrebten, macht endlich auch mal Fehler und muss nun die Konsequenzen tragen.

Es geht hier jedoch um etwas Tieferes. Niemand bezweifelt, dass Europa, sowohl im Osten wie auch im Westen, heute mit strukturellen Problemen konfrontiert ist, die den Wohnungsmarkt, den Arbeitsmarkt und verschiedene Formen der Ungleichheit betreffen; und dass allgemein die Befürchtung herrscht, dass wir nicht einer besseren, sondern einer schlechteren Zukunft entgegengehen.

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Grün als Bedrohung :

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Warum die Klimapolitik die Arbeiter verliert

Von Klaus Dörre

In der April-Ausgabe analysierte der Soziologe Sighard Neckel, wie der Reichtum einer globalen Verschmutzerelite das Klima ruiniert. An die Gerechtigkeitsfrage anknüpfend beleuchtet sein Kollege Klaus Dörre, inwieweit der persönliche Klimafußabdruck von der jeweiligen Klassen- position abhängt und welche Resonanz die deutsche Klimapolitik in der Arbeiterschaft hervorruft.

Auf die Frage, wie er die Klimabewegung einschätze, antwortet ein Arbeiter und angehender Vertrauensmann der IG Metall: „Als gefährlich!“ Gefährlich, weil sie die dem Befragten eigene Vorstellung eines guten Lebens bedrohen – und so in eine harte Ablehnung ökologischer Politik umschlagen könne, wie wir sie momentan auch zum Beispiel in der Debatte um die Wärmepumpen erleben. Daran zeigt sich: Ohne eine echte Auseinandersetzung über Klimagerechtigkeit – und wie diese herzustellen sei – wird die Klimakrise nicht zu bewältigen sein.

Als demokratischen Klassenkampf hatte einst Ralf Dahrendorf tariflich und arbeitsrechtlich geregelte Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bezeichnet. Den institutionalisierten Kampf um die Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Mehrprodukts von Arbeit gibt es noch immer. Doch mit Blick auf Klimawandel, Artensterben und Ressourcenknappheit hatte er, so schien es, seine gesellschaftsprägende Kraft mehr und mehr verloren. „Not ist hierarchisch, Smog demokratisch“, hieß es vor jetzt bald 40 Jahren in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, sprich: Unter der Klimakrise leiden alle gleichermaßen. Doch das war schon damals eine Fehlannahme.[1]

Gewiss, ökologische Großgefahren wie die des Klimawandels betreffen alle, aber eben nicht in gleicher Weise und sie machen auch nicht alle gleich. Im Gegenteil: In Gesellschaften, in denen der demokratische Klassenkampf öffentlich marginalisiert wird, kann sich, so meine These, der ökologische Gesellschaftskonflikt in einen Modus ideologischer Beherrschung verwandeln – und zwar gerade, wenn auch nicht nur, der ökonomisch Schwachen. In Klassenlagen, die von den Zwängen des Lohns und der Lohnarbeit geprägt werden, löst das massive Widerständigkeiten aus, die als gewaltiger Bremsklotz für Nachhaltigkeit wirken und letztlich populistischen, antiökologischen Bewegungen Auftrieb verleihen.

Nehmen wir dafür ein Beispiel aus unseren laufenden Erhebungen in der Auto- und Zulieferindustrie, nämlich den oben bereits erwähnten Arbeiter, der die Klimabewegung als gefährlich einschätzt. Er bezeichnet sich selbst als „Autonarr“, der große Freude dabei empfindet, seinen PKW auf „weit über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen“. Sein Hobby kann er sich leisten, weil er bei Opel arbeitet. Das heißt für einen Beschäftigten, der in Gotha lebt: um 3:20 Uhr aufstehen, damit pünktlich zur Frühschicht um 5:30 Uhr gearbeitet werden kann; Tätigkeit in 50-Sekunden-Takten; die Arbeitszeit unterbrochen von zwei Neun-Minuten-Pausen und einer 23-Minuten-Mittagspause; eine Stunde vor der Mittagspause „ist man platt“.[2]

Warum ist der Befragte bereit, diese monotone, körperlich enorm belastende Arbeit jeden Tag auszuführen? Er nennt dafür drei Gründe – 3800 Euro brutto, für Arbeiter in Thüringen ein Spitzenverdienst; Kolleginnen und Kollegen, die für ihn „wie eine Familie“ sind und schließlich der Schutz durch einen Tarifvertrag und einen starken Betriebsrat – also aufgrund von Sozialeigentum, das im Osten der Republik alles andere als selbstverständlich ist. Kurzum: Die Zwänge des Arbeitslebens nimmt der Befragte letztlich vor allem deshalb in Kauf, um in seiner Freizeit, wie er sagt, wirklich frei zu sein. Wie er lebt, was er nach der Arbeit macht, will er sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Das ist der Grund, weshalb der angehende Vertrauensmann die Klimabewegung und vor allem die grüne Partei als Gegner betrachtet.

Hinzu kommt: Angehörige der Arbeiterklasse nehmen sich selbst häufig als – mehrfach abgewertete – Statusgruppe wahr. Arbeiter wird man nur, wenn man es muss; wer kann, „studiert oder geht ins Büro“. Lebt man im Osten, auf dem Land und ist ein Mann, wird die Abwertung und öffentliche Nichtbeachtung der eigenen Lebensweise umso schmerzlicher erfahren.

»Hauptursache für die steigende Emissionslast sind die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.«

All das sind Gründe dafür, weshalb die imaginäre Revolte einer radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens „normaler“ Arbeiter sich inzwischen selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern Gehör verschaffen kann. Man rebelliert dabei gegen einen Modus ideologischer Beherrschung, der sich in unterschiedlichen Facetten in zahlreichen Segmenten der neuen Arbeitswelt findet.

Dabei sind, wie unsere Untersuchungen ebenfalls belegen, Klimawandel, Artensterben und andere ökologische Großgefahren selbst in den untersten Klassensegmenten subjektiv durchaus relevant. Allerdings – und das ist das zentrale Problem – verschwindet die soziale Dimension von Nachhaltigkeit im öffentlichen Diskurs fast völlig.

Dabei hängt der persönliche Klimafußabdruck eindeutig von der jeweiligen Klassenposition ab, wie Lucas Chancel in seiner jüngsten Untersuchung über soziale Ungleichheit und klimaschädliche Emissionen gezeigt hat. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind zwischen 1990 und 2019 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Das heißt, die untere Hälfte der Einkommens-/Vermögensgruppen in Europa und Nordamerika hat Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und etwa fünf Tonnen in europäischen Ländern zumindest annähern oder diese gar erreichen. Die wohlhabendsten ein Prozent emittierten 2019 hingegen 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu.[3]

Hauptursache für die steigende Emissionslast sind dabei die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.[4] Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Produktions- und Investitionsentscheidungen in der Regel nur von Mitgliedern herrschender Klassenfraktionen, also von winzigen Minderheiten getroffen werden (nach unserer Heuristik 1,2 Prozent). Diese Entscheidungen beeinträchtigen jedoch das (Über-)Leben vor allem derjenigen Klassen, die zum Klimawandel am wenigsten beitragen und die unter den Folgen der Erderhitzung am stärksten leiden.

Die Autoindustrie liefert dafür glänzendes Anschauungsmaterial. So haben die in der Bundesrepublik ansässigen Endhersteller im Herbst 2022 trotz Inflation, Chipmangel und gestörter Lieferketten ein „Traumquartal“ erlebt. Ihre Gewinne machten sie hauptsächlich mit hochpreisigen, spritfressenden bzw. energieintensiven Luxuslimousinen und SUVs. Preissteigerungen können in diesem Segment problemlos an die Kunden weitergegeben werden. Da die Großgruppe der Reichen und Superreichen künftig noch wachse, sei es eine herausragende Leistung der deutschen Automobilhersteller, in diesem Bereich die Spitzenposition zu besetzten; so würden Arbeitsplätze gesichert, argumentiert das Vorstandsmitglied eines großen Endherstellers im Interview.

Die Realerfahrung vieler Beschäftigter in den Karbonbranchen ist jedoch eine völlig andere. Bereits jetzt gehen Arbeitsplätze in erheblichem Ausmaß verloren. Allein die Umstellung auf E-Motoren könnte in Deutschland mehr als 250 000 Jobs kosten. Ob neue Arbeitsplätze, die es in diesem Bereich zweifellos auch geben wird, hierzulande entstehen, ist hingegen eine offene Frage.

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Der Mensch Heinrich Heine

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Heinrich Heine, Jude und Deutscher

(2) Grab Heines auf dem Nordfriedhof in Paris

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

von Hermann Engster

Von Heine wird gesagt, dass er ein in sich zerrissener Mensch gewesen sei. Heine war nicht zerrissen, sondern er wurde es, weil ihm das Verlangen, Jude und Deutscher zugleich zu sein, verwehrt wurde. Es war Deutschland, das ihn zerriss.

Düsseldorf, wo Heine 1797 geboren wird, ist eine beschauliche Stadt, in deren Kern 13.000 Menschen leben, Köln ist dreimal so groß, Hamburg zehnmal. Dort wächst er mit drei weiteren Geschwistern in einem bürgerlichen Milieu auf. Die Eltern erziehen ihre Kinder im jüdischen Glauben, orientiert an der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gleichwohl geprägt von tiefer Religiosität.

In Düsseldorf herrscht dank der französischen Besatzung ein liberales Klima, doch wird es mit dem Sieg über Napoleon erkalten. Das preußische Judenedikt von 1812 auf der Grundlage der Hardenberg’schen Reformen hat den Juden einige bürgerliche Freiheiten gebracht, doch haben die Behörden sie nur unwillig umgesetzt, und in der Bevölkerung ändert sich am Judenhass nichts.

Die Metternich’sche Restauration errichtet aufs Neue die alte Fürstenherrschaft. Auf der Grundlage der Karlsbader Beschlüsse wird der unter preußischer Vormacht stehende Deutsche Bund im Verein mit Österreich zu einem Polizeistaat, in dem Überwachung und Verfolgung herrschen. Von den sog. Demagogenverfolgungen sind viele Tausende betroffen, die sich für demokratische Rechte einsetzen: Künstler, Intellektuelle, Handwerker, Arbeiter; sie werden in den Kerker geworfen oder flüchten ins Exil, in das freiere Frankreich und in die Schweiz, unter ihnen auch Jüdinnen und Juden, die von der demokratischen Bewegung, die in Teilen sogar eine sozialistische ist, auch für sich Freiheitsrechte erhoffen. Das mobilisiert den Antisemitismus.

Das Ungeheuer regt sich

1819 erscheint das Pamphlet Der Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde aus alter und neuer Zeit von Hartwig von Hundt-Radowsky. Dieser bezeichnet Juden als „Untermenschen“ und „Ungeziefer“. Er empfiehlt, alle Juden als Sklaven an die Engländer zur Arbeit in deren Kolonien zu verkaufen, sie in Bergwerken zu vernutzen, sie zu kastrieren und die Jüdinnen als Prostituierte in Bordellen zu versklaven. Die Tötung eines Juden solle nicht als Mord, sondern als Polizeivergehen, also noch unterhalb eines Verbrechens eingestuft werden.

Im selben Jahr, als der Judenspiegel erscheint, gründen jüdische Hegelianer den „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“. Schlüsselbegriff ist der Hegel’sche Begriff der Vermittlung, dergestalt dass das Judentum sich vermitteln solle mit dem universalen Geist der Freiheit und Humanität. Sie glauben an die Macht des Geistes – und scheitern wie alle, die diesen Traum träumen.

Im August 1822 nimmt der preußische König die Hardenberg’schen Reformen zurück, die den Juden den Zugang zu öffentlichen Ämtern erlaubten. Im selben Monat tritt Heine dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ bei. Für seine berufliche Karriere ist das ein Hindernis. Die Heine-Biographin Kerstin Decker stellt fest: „Ein bloßer Aufsteiger verhielte sich anders, er würde alles verleugnen, was an seine Herkunft erinnert. Heine wird das nie tun. Im Gegenteil.“

1819 brechen die Hepp-Hepp-Krawalle aus, gewalttätige Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden. „Hepp-hepp!“ sind die Rufe der Viehtreiber. Der Mob macht daraus „Hepp-hepp! Jud verreck!“. Die Pogrome gehen aus von sog. braven Bürgern, von Handwerkern, Händlern, die sich zusammenrotten, jüdische Bürger beschimpfen und misshandeln, ihre Synagogen, Geschäfte und Wohnungen angreifen und verwüsten.

Aufschlussreich ist zu sehen, welches Motiv die Pogrome haben. Sie richten sich hauptsächlich gegen die jüdische Emanzipation, die seit der Französischen Revolution auch deutsche Gebiete erreicht hat. Damit waren Juden zu gleichberechtigten Konkurrenten von Christen geworden, was bei den christlichen Wutbürgern nun Konkurrenzneid entfacht, zudem noch legitimiert vom traditionellen christlichen Judenhass. Die Pogrome zielen auf die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden und drohen mit Massakern. In Heines Heimatstadt Düsseldorf werden im August 1819 an jüdischen Wohnhäusern Plakate angeschlagen, auf denen es heißt:

Schon zu lange hat die Herrschaft der Juden über den Betrieb des Handels gedauert. Mit ruhigen Augen haben die Christen diesem unerlaubten Unwesen zugesehen, die Zeiten haben sich geändert. Sind bis 26ten dieses Monats dem Handel und Moral verderbenden Volke nicht Schranken gesetzt, so soll ein Blutbad entstehen, das anstatt Bartholomäus-Nacht Salomoni-Nacht heißen soll.

Auswege, Schleichwege

Angesichts dieser Umstände hat, wer das Ghetto verlassen und an der deutschen Kultur teilhaben will, kaum eine andere Wahl, als sich taufen zu lassen, so z.B. Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Ludwig Börne, und eben auch Heine.

1826/27 studiert Heine in Göttingen, lässt sich dann 1827 in aller Stille in der Wohnung eines Pfarrers in Heiligenstadt, einem Städtchen nahe Göttingen, taufen. Die Taufe ist für ihn, wie er sagt, das „Entrébillet zur europäischen Kultur“. Er lässt sich protestantisch taufen, denn, so sagt er später: „Der Protestantismus war für mich nicht nur eine liberale Religion, sondern auch der Ausgangspunkt der deutschen Revolution“, und für ihn der Ursprung der Rechte der Vernunft und der Geistesfreiheit.

Doch bringt ihm die Taufe wenig Nutzen, denn, so stellt er resigniert fest:

Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab; ich seh noch gar nicht ein, dass es mir seitdem besser gegangen sei, im Gegenteil, ich habe seitdem nichts als Unglück.

Nach seiner Promotion zum Dr. jur. in Göttingen will ihm trotz der Konversion niemand eine Stelle geben. Ein Jahr nach der Taufe drängt es ihn, Deutschland zu verlassen. 1826 schreibt er in einem Brief:

Es ist … ganz bestimmt, dass es mich sehnlichst drängt, dem deutschen Vaterland Valet zu sagen. Minder die Lust des Wanderns als die Qual persönlicher Verhältnisse (z.B. der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen.

Heimat Sprache

Er bleibt aber zunächst im Land, weil er mit seinem Buch der Lieder großen Erfolg hat. Trotzdem ist es, so stellt Marcel Reich-Ranicki fest, ein Triumph „auf gefährlich schwankendem Boden … Man wollte den Juden, ob getauft oder nicht, als deutschen Dichter nicht gelten lassen“.

Zusätzlich zermürben Heine die Kämpfe mit der Zensur, bis dann 1833 in Preußen und 1835 im gesamten Deutschen Bund seine Schriften verboten werden. Aber mehr noch als diese Drangsalierungen ist es die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft, die ihn in die Emigration treibt. In Frankreich, wo es durchaus auch Antisemitismus gibt, sei, so Reich-Ranicki, Heine als Ausländer betrachtet worden, in Deutschland hingegen galt er immer als Jude und damit als Nicht-Dazugehöriger und Ausgestoßener.

Dennoch: Ein Zurück in den abgespaltenen Geborgenheitsraum einer jüdischen Gemeinschaft kommt für ihn nicht infrage. Er will als Deutscher anerkannt sein, wird aber von seinem „Vaterland“ zurückgestoßen. Als Reaktion auf die ständig zu ertragenden Demütigungen entwickelt er seinerseits einen Hass gegen das Deutsche und die deutsche Sprache selbst. Er schreibt er in einem Brief an einen Freund:

Alles was deutsch ist, ist mir zuwider … Alles Deutsche wirkt auf mich wie ein Brechpulver. Die deutsche Sprache zerreißt mir die Ohren. Die eigenen Gedichte ekeln mich zuweilen an, wenn ich sehe, dass sie auf Deutsch geschrieben sind. … “ (Erbittert wechselt er ins Französische, kehrt dann aber wieder ins Deutsche zurück.) „O Christian, wüsstest du, wie meine Seele nach Frieden lechzt, und wie sie doch täglich mehr und mehr zerrissen wird. Ich kann fast keine Nacht mehr schlafen.

Paper cut of Heinrich Heine on German stamp, 1956

Doch kommt er von Deutschland nicht los. Da ihn die Gesellschaft zurückweist, sucht er seine Heimat in der von ihm geliebten deutschen Sprache; denn das deutsche Wort sei, so schreibt er in einem Brief, „ein Vaterland selbst demjenigen, dem Torheit und Arglist ein Vaterland verweigern“. 1824 schreibt er:

Ich weiß nur zu gut, dass mir das Deutsche das ist, was dem Fisch das Wasser ist, dass ich aus diesem Lebenselement nicht heraus kann … Ich liebe sogar das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls.

Wie innig er der deutschen Sprache verbunden ist, zeigt der Beginn seines Versepos Deutschland, ein Wintermärchen. Als er nach zwölfjährigem Exil 1843 wieder nach Deutschland zu reisen wagt, übermannt ihn beim Überschreiten der Grenze die Wehmut, die er in bekannter Manier durch Ironie vor Abrutschen in Sentimentalität bewahrt:

Im traurigen Monat November wars,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist
 ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Das altertümlich gewordene Präteritum „begunnen“ gebraucht er ironisch-distanzierend, und im Vers, dass sein „Herz recht angenehm verblute“, mischt er den Schmerz mit Selbstironie.

Von der blauen Blume zur roten Fahne

Seine Tragik als romantischer Dichter ist, dass er ein Zu-spät-Gekommener ist. Denn als er 1797 geboren wird, bricht die romantische Dichtung gleichsam wie ein Vulkan aus und erreicht ihren ersten Höhepunkt mit Dichtern wie Brentano, Tieck, Novalis, Wackenroder.

Heine spielt zunächst virtuos auf der romantischen Klaviatur und schreibt Gedichte von unwiderstehlicher Schönheit (z.B. Der Tod, das ist die kühle Nacht). Doch wendet er sich bald ab von der Romantik und treibt sein ironisch-spöttisches Spiel mit ihr und seinen Dichterkollegen, die „Blümlein, Mondglanz, Sternlein und Äuglein“ besingen, und schließt mit den Worten: „Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht’s doch noch lang keine Welt“ (im Gedicht Wahrhaftig). Eichendorff schmäht ihn deswegen einen „Totengräber der Romantik“.

Aus dem romantischen Traumreich der Phantasie wendet Heine sich der Welt zu, wie sie wirklich ist, der gesellschaftlichen und politischen Realität. In Paris, genannt die Revolutionshauptstadt der deutschen Demokraten, weil sich hier Hunderte in Deutschland verfolgter Demokratinnen und Demokraten versammeln, nimmt Heine Verbindung zu ihren führenden Köpfen auf und wandelt sich zum politischen Dichter.

Anstoß dazu gibt der Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844. In der Konkurrenz mit billigerer Ware aus England und durch die Veränderung der Produktionsstruktur – die bis dahin selbständigen Handwerker werden zu Lohnarbeitern – geraten die Weber in eine Armut, die sogar zu Hungerrevolten führt. Der Aufstand wird vom preußischen Militär niedergeschlagen; viele Weber kommen ins Zuchthaus, andere wandern nach Amerika aus.

Zornbebend, nicht mit dem Florett, sondern mit dem Säbel schreibt Heine ein Gedicht, das später als Weberlied berühmt wird. Marx, mit dem Heine eng befreundet ist, sie sind sogar Cousins dritten Grades, veröffentlicht es im Pariser „Vorwärts“; 50.000 Flugblätter mit dem Gedicht werden in den Aufstandsgebieten verteilt. Der preußische Innenminister bezeichnet das Gedicht als „eine in aufrührerischem Ton gehaltene und mit verbrecherischen Äußerungen angefüllte Ansprache an die Armen im Volke“. Er hat Recht, das Gedicht ist staatsfeindlich und blasphemisch. Es wird verboten, einer, der es öffentlich rezitiert, landet im Zuchthaus, Heine ist in Paris und in Sicherheit.

Das ist der radikale politische Heine. Aber zurück nach Deutschland, zum jungen Heine!

Dichter in der Diaspora

Im Buch der Lieder, das ihn in Deutschland berühmt gemacht hat, steht ein rätselhaftes Gedicht, geschrieben um 1822:

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh’.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

Das Gedicht wird traditionell interpretiert als ein Gedicht über eine unerwiderte Liebe. Das ist es wohl, aber es ist viel mehr als eins der üblichen romantischen Liebesgedichte. Sehen wir es uns genauer an!

Es beginnt mit dem Bild eines Fichtenbaums, der „im Norden auf kahler Höh’“ steht und „einsam steht“, in lebensfeindlicher Kälte, umhüllt von Eis und Schnee. Er ist müde, Schlaf überkommt ihn, und er fängt an zu träumen. Im Traum reist er ins ferne Morgenland, er träumt von einer Palme, dem für den Orient charakteristischen Baum, und auch diese Palme steht einsam und trauert schweigend. Und während der nordische Fichtenbaum in der Kälte steht, umhüllt von Eis und Schnee, ist die morgenländische Palme von Feuer und Glut umgeben.

Ein Liebender und eine Geliebte verzehren sich in Sehnsucht zueinander. Welche Rolle spielt aber der Gegensatz von Norden und Osten, von Okzident und Orient? Ist das nur exotische poetische Dekoration? Nein, es ist viel mehr, und das rätselhafte Gedicht beginnt zu sprechen, wenn man es einordnet in die Tradition von jüdischen Liebesgedichten, die an das ferne und unerreichbare Jerusalem gerichtet sind.

Vorbild ist der von Heine verehrte sephardische Dichter Jehuda ben ha Levy. Dieser gilt als der bedeutendste hebräische Philosoph des Mittelalters, der zudem ein vielgestaltiges dichterisches Werk hinterlassen hat; und nicht nur Dichtungen in hebräischer Sprache, sondern auch in Altspanisch, sodass man sagen kann, dass er der erste namentlich bekannte Dichter in spanischer Sprache war. Hier ein Auszug aus seinen hebräischen Zionsliedern:

Ach, wie sitzt so einsam die Stadt, einst reich an Volk!
Wie ist sie zur Witwe geworden, die groß war unter den Völkern!
Die da Fürstin war unter den Städten, ist dienstbar geworden.
Sie weint und weint durch die Nacht, Tränen auf der Wange;
Keiner ist da, der sie tröste (…)

Mein Herz ist im Osten, doch ich bin am westlichsten Ende –
Was kann mir mein Brot da bedeuten, wie könnt’ ich es kosten mit Lust, (…)
Nichts bedeutet es mir, allen Reichtum Spaniens zu verlassen,
Aber alles bedeutet mir ein Blick nur auf den Staub des zerstörten Tempels.

Wenn man Heines Gedicht vom Fichtenbaum in dieser Tradition sieht, so erweist es sich durchaus als Liebesgedicht, aber als ein entschieden religiöses, ein Gedicht von einer Sehnsucht getragen, die sich in dem alten Abschiedsgruß ausdrückt: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Ein Gruß, der traditionell am Schluss des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen wurde und dessen Wunsch nach zweitausend Jahren verwirklicht worden ist.

Heines Lieblingspsalm ist der Psalm 137, wo es heißt:

An den Strömen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten … Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte! Es klebe meine Zunge am Gaumen!

In seinem Versepos Romanzero, geschrieben zwischen 1848 und 1851, gedenkt er im Dritten Buch, genannt Hebräische Melodien, des von ihm bewunderten Jehuda ben ha Levy:

Hebräische Melodien

Bei den Wassern Babels saßen
Wir und weinten, unsre Harfen
Lehnten an den Trauerweiden“ –
Kennst du noch das alte Lied?
(…)

Lechzend klebe mir die Zunge
An dem Gaumen, und es welke
Meine rechte Hand, vergäß’ ich
Jemals dein, Jerusalem – “

Wort und Weise, unaufhörlich
Schwirren sie mir heut im Kopfe,
Und mir ist, als hört’ ich Stimmen,
Psalmodierend, Männerstimmen –

Manchmal kommen auch zum Vorschein
Bärte, schattig lange Bärte –
Traumgestalten, wer von euch
Ist Jehuda ben Halevy?

Zurück zum Gedicht vom Fichtenbaum! Der von Eis und Schnee umhüllte Fichtenbaum träumt „von einer Palme, / Die, fern im Morgenland, / Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand“. Ist es zu verwegen interpretiert, wenn mit der Felsenwand der Felsenberg gemeint ist, auf dem der Tempel stand und der von den Römern zerstört wurde? Und dass die einsame Palme in ihrer Trauer der Zerstreuung der Juden in der Diaspora gilt, einer Zerstreuung, dessen Extremfigur der einsame Fichtenbaum in der Kälte des Nordens darstellt?

Im Innersten ist Heine immer Jude geblieben. Einmal bekennt er: „Ich bin zwar getauft, aber nicht bekehrt.“ Für seinen Herausgeber und Biographen Klaus Briegleb ist dieses Zitat und sind weitere Zitate Schlüsselbelege dafür, dass Heine als „genuin jüdischer Schriftsteller in der Diaspora“ (Briegleb) zu verstehen sei: ein Getaufter, der im Herzen jüdisch geblieben ist, und dass dieses jüdische Selbstverständnis prägend sei für seine Denk- und Schreibweise.

Verstoßen in die Freiheit

Heine ist, trotz allen Spotts über mancherlei religiöse Bizarrerien, tiefreligiös. Früh vom Judentum geprägt, schreibt er in seinem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834):

Bert Gerresheim: Heinrich Heine Monument 1981, Düsseldorf

Der Verfasser dieser Blätter ist sich einer solchen frühen ursprünglichen Religiosität aufs freudigste bewusst, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken.

Sein Bekenntnis zum Judentum ist aber nicht eine Rückkehr zum Judentum des Mittelalters; denn dieses erscheint für ihn ebenso überwunden wie das Christentum seiner Epoche. Schon 1834 schwebt ihm in einem Gedicht aus dem Zyklus Seraphine ein Drittes vor: ein drittes Testament, und er spielt an auf Jesu Wort zu Petrus, dass er auf ihm – „auf diesem Felsen“ (griech. pétros: Fels) – seine Gemeinde bauen wolle (Matthäus 16,18; nebenbei ein, wie die Bibelkritik festgestellt hat, erfundenes Jesus-Wort zur Legitimation von Kirche und Papsttum):

Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.

Vernichtet ist das Zweierlei*,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.

Hörst du den Gott im finstern Meer?
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter?

Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles, was da ist;
Er ist in unsern Küssen.

Diese Utopie erinnert an das Schiller’sche und Beethoven’sche Pathos der universalen Menschenliebe in der Ode an die Freude: „Alle Menschen werden Brüder … / Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Nur dass Heines Küsse durchaus sinnlicher imaginiert sind als die seiner strengen Vorgänger.

Dieses „dritte neue Testament“, das Heine erhofft, stellt nicht eine Abwendung vom Judentum dar, sondern ist die Vision eines modernen, welt- und geschichtsbewussten, zur Freiheit sich entfaltenden Judentums. Das stellt auch den alten Jehova-Gott infrage. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und ihren Weg ins Erdenleben zeichnet Heine in seinem Gedicht Adam der Erste von 1844 prophetisch als Weg des Judentums in die Freiheit. Adam I. bedeutet: Dieser Adam ist der erste wirkliche, weil freie Mensch. Der auf diesen Weg sich aufmachende Adam spricht zu Gott:

Adam I.

Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen,
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach andren Erdenländern;
Doch dass ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, dass ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig.
(…)

Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies –
Es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find ich die geringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies
In Hölle und Gefängnis.

Diese Frage nach dem Wesen Gottes ist für Heine zentral. Erkannt wird dieses Wesen, wenn die alte Aufspaltung von Leib und Seele, Geist und Materie aufgehoben und wenn der Mensch wieder in sein ursprüngliches Freiheitsrecht eingesetzt wird.

Schmerzensmann

Dem Atheismus seiner Freunde Marx, Feuerbach, Bauer ist Heine nicht gefolgt. Nach verschlungener philosophischer Wanderschaft bekennt er sich ab 1848 offener zum Gott der Juden. Sieben Jahre vor seinem Tod schreibt er:

Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn … Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik.

1833 lernt Heine in Paris die junge Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat kennen, die er Mathilde nennt. Sie ist attraktiv und temperamentvoll, er liebt sie sehr, sie heiraten, und sie steht ihm bis zu seinem Tode bei.

Seit 1845 quält ihn ein Nervenleiden, 1848, als in Paris die Revolution ausbricht, kommt es zu einem Zusammenbruch, der eine acht Jahre dauernde Erkrankung einleitet, die mit Schmerzen, Krämpfen, Sehstörungen, Lähmungen und Fieberanfällen einhergeht, sodass er ans Krankenlager gefesselt ist, das er sarkastisch seine „Matratzengruft“ nennt. Er bleibt aber geistig klar und literarisch produktiv – es ist eine ungeheure Willensanstrengung, mit der er diese Produktivität seiner Krankheit abringt.

Jedoch quälen ihn Zweifel ob seiner Konversion zum Christentum. In seinen späten Gedichten zwischen 1846 und 1856 findet sich unter dem Titel Lamentationes folgendes Gedicht, das wohl das bitterste ist, das Heine je geschrieben hat:

Nicht gedacht soll seiner werden!“
Aus dem Mund der armen alten
Esther Wolf hört
 ich die Worte,
Die ich treu im Sinn behalten.

Ausgelöscht sein aus der Menschen
Angedenken hier auf Erden,
(…)

Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche 

Dunkler Hund im dunkeln Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!

Selbst am Auferstehungstage,
Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen
Zum Gericht die Totenscharen,

Und alldort der Engel abliest
Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladnen 

Nicht gedacht soll seiner werden!

(Esther Wolf, eine unbekannte Jüdin.) Der Fluch „Nicht gedacht soll seiner werden“ ertönt refrainartig im Gedicht; er ist ein Zitat aus dem Buch Hesekiel (21,37). Im Namen des Herrn spricht Hesekiel den Fluch gegen die feindlichen Ammoniter aus:

Du sollst dem Feuer zur Nahrung werden, dein Blut soll im Land vergossen werden, und man wird deiner nicht mehr gedenken; denn ich der Herr habe es geredet.

Es ist ein vernichtender Fluch, denn selbst beim Jüngsten Gericht soll des Schuldigen nicht gedacht werden; es ist der wildeste Fluch, den ein Jude auszustoßen vermag.

Jedoch gibt es auch Gottes Zusage des immerwährenden Gedenkens, so beim Propheten Jesaja (49,14 f.):

Zion spricht: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ Gott spricht: „Kann auch eine Frau ihres Kindes vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und wenn sie auch seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“

Wir können kaum ermessen, was Heine durchgemacht hat. Religiös, wie er im Innern geblieben ist, sucht er Frieden mit Gott. Wir lesen Bekenntnisse eines über viele Jahre ans Bett gefesselten, zeitweise gelähmten, schmerzgepeinigten, geistig aufgewühlten, seelisch zerrissenen Menschen – menschliche Bekenntnisse, allzu menschliche. Nietzsche hat den Gedanken formuliert, dass wir aus Treue zu uns selbst zu Wanderern zwischen Extremen werden müssen:

Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer. (Menschliches, Allzumenschliches, I, 638)

 

Rebellische Resignation

Heines Todeskampf ist quälend. Den Tod vor Augen dichtet er:

Keine Messe wird man singen,
Keinen Kadosch wird man sagen,
Nichts gesagt und nichts gesungen
Wird an meinen Sterbetagen.

Doch vielleicht an solchem Tage,
Wenn das Wetter schön und milde,
Geht spazieren auf Montmartre
Mit Paulinen Frau Mathilde.

Mit dem Kranz von Immortellen
Kommt sie mir das Grab zu schmücken.
Und sie seufzet: „Pauvre homme!“
Feuchte Wehmut in den Blicken.

Als er im Sterben liegt, kniet seine Frau an seinem Bett und betet zu Gott, dass er ihm alle Sünden verzeihen möge. Daraufhin sagt Heine mit schwacher Stimme:

Ma chère, ne t’inquiète pas, Dieu me pardonnera, c’est son metier.
(Meine Liebe, mach dir keine Sorgen, Gott wird mir schon verzeihen, das ist sein Beruf.)

Begraben wird er auf dem Friedhof Montmartre. Kein Rabbi, kein Pastor, kein Priester darf ihn begleiten. Rebell bis zuletzt, hat er es so bestimmt.

Auf der Grabplatte ist ein Gedicht von ihm eingemeißelt:

Wo wird einst des Wandermüden
Letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?

(…)
Immerhin mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,
Und als Totenlampen schweben
Nachts die Sterne über mir.

Neben ihm liegen Hector Berlioz, Edgar Degas, Stendhal, Alexandre Dumas fils, Jacques Offenbach.

Jahre später schreibt Gustave Flaubert, ein enger Freund Heines, in einem Brief voller Grimm:

Ich denke mit Bitterkeit daran, dass bei Heinrich Heines Begräbnis nur neun Personen anwesend waren! O Publikum! O Bürger! O Lumpenpack!

(Vortrag im Jüdischen Lehrhaus zu Göttingen, Februar 2023)

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Kolumne – Materie

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Deutschland ist ein Kindergarten und die AFD verschenkt Luftballons 

Eine Kolumne von Kersten Augustin

Sie haben es vielleicht auch gesehen, das Video aus Sonneberg, Thüringen: Ein Nazi, wie er nicht mal im Comic steht, so klischeehaft sieht er aus, öffnet den Kofferraum seines Autos. Dann wirft er AfD-blaue Luftballons über den Zaun eines Kindergartens. Und alle Kinder (und Erzieherinnen) jubeln.

Viele empörte Kommentare gingen in die gleiche, naheliegende Richtung: Lasst unsere Kinder aus dem Spiel! Aber das führt in die Irre. Denn tatsächlich hat es keinen besseren Kommentar zum Erfolg der AfD in Umfragen und nun auch bei der Landratswahl in Sonneberg gegeben als dieses Video.

Die Bundesrepublik ist ein Kindergarten. Und die AfD hat das verstanden.

Die Kindergartisierung Deutschlands, sie zeigt sich in den Debatten über die AfD, aber auch im Umgang mit der Klimakrise und den Maßnahmen dagegen, etwa dem Heizungsgesetz. Ständig müssen alle „mitgenommen“, darf niemand „überfordert“ werden. Ständig soll man „zuhören“, auch wenn da nur Geschrei kommt. Jegliche Zumutung des Lebens soll von den BürgerInnen ferngehalten werden, es könnte sie verunsichern.

Jeder, der mal in einer halbwegs zeitgemäßen Kindertagesstätte außerhalb von Sonneberg war, weiß, dass diese Form der pädagogischen Ansprache längst nicht mehr zeitgemäß ist. Kein Erzieher, der noch bei Sinnen ist, würde der kleinen Alice, die im Sandkasten mal wieder mit der Plastikschaufel den Ausländer verhaut, in den Arm nehmen und trösten. Die meisten Kitas sind längst weiter als große Teile der deutschen Medien und Politik, die den Kindergarten der AfD immer noch mitmachen.

Alice im Sternhimmel

Womit wir beim Stern wären, der exem­pla­risch für den Umgang mit dem Rechtsruck und die abnehmende Relevanz klassischer Medien steht. Der Stern hat in dieser Woche Alice Weidel als Postergirl aufs Cover gedruckt und das Ganze als Tabubruch inszeniert. Das Interview mit Weidel ist dann eher naiv. „Wir stellen es uns wahnsinnig anstrengend vor, Alice Weidel zu sein“, so lautet eine Frage. Und Weidel darf behaupten, dass es bei der AfD keine Rechtsextremen gebe.

Nur, diese Alice schlägt nicht mit einer Plastikschaufel um sich, sondern ist Vorsitzende einer Partei, deren Hetze Tote in Kauf nimmt. Deswegen macht die taz keine Wortlaut-Interviews mit der AfD. Weil diese Partei lügt wie gedruckt.

Für den Stern ist die Aufregung um ihr Cover ein billiger Versuch, für einen kurzen Moment aus der selbst verschuldeten Bedeutungslosigkeit herauszutreten. Mit einem gefälschten Hitler begann vor vielen Jahren der Abstieg des Magazins, und ausgerechnet mit einer täuschend echten Führerin wollen sie ihn stoppen. Der AfD kann’s recht sein.

Quelle        :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Unten        —   Wahlplakat der AfD zur Bundestagswahl 2017 „Neue Deutsche? Machen wir selber.“ Aufgenommen am 22.09.2017 in München, S-Bahnhof Heimeranplatz.

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Am Ort ihres Verbrechens

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Die internationale Gemeinschaft wäre gut beraten, die Prozesse zumindest zu unterstützen.

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Ein Debattenbeitrag von Ibrahim Murad

Die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien strebt Prozesse gegen ausländische IS-Täter an. Die Herkunftsländer haben ihre Pflicht versäumt.

Der vereitelte Anschlag auf die Regenbogenparade in Wien Anfang des Monats erinnert daran, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) weiter existiert und unverändert eine ernsthafte Bedrohung darstellt. Seit 2019, als der IS in Syrien besiegt wurde, leben in den Lagern und Gefängnissen Nord- und Ostsyriens mehr als 60.000 Mitglieder und Angehörige des IS, darunter auch knapp 2.000 ausländische Kämpfer.

Die unter dem kurdischen Namen Rojava bekannte Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, kurz AANES, mit einer mehrheitlich kurdischen Bevölkerung, fordert seit Jahren, dass die Herkunftsländer der Kämpfer, darunter Deutschland, ihre Staatsbürger zurückholen und strafrechtlich verfolgen. Doch abgesehen von der Rückführung einiger Frauen und Kinder ist bislang wenig passiert.

Mitte Juni erklärte nun die AANES, die mutmaßlichen IS-Terroristen mit ausländischer Staatsbürgerschaft selbst vor Gericht zu stellen. Jemand muss für Gerechtigkeit und die Gewährleistung von Sicherheit und Frieden sorgen. Das Versäumnis der Herkunftsstaaten, die mutmaßlichen Terroristen selbst strafrechtlich zu verfolgen, hat bereits zu sicherheitspolitischen Problemen geführt. In den Lagern und Gefängnissen kommt es wiederholt zu Aufständen und Ausbruchsversuchen.

Die ersten Prozesse sollen in der symbolisch wichtigen Stadt Kobane stattfinden, wo 2014 in erster Linie kurdische Truppen vor den Augen der Weltöffentlichkeit Widerstand gegen den IS leisteten. Die Verfahren sollen öffentlich, fair und transparent sein. Die AANES hat die betreffenden Herkunftsländer, die Vereinten Nationen, NGOs und die Medien eingeladen, den Prozessen beizuwohnen. Außerdem ist man auch weiterhin für die Einrichtung eines internationalen Tribunals offen.

Eine juristische Aufarbeitung ist zweifellos auch im Interesse der Weltgemeinschaft. Der Terror des IS ist ein globales Problem. Zahlreiche Drahtzieher terroristischer Anschläge sind vermutlich in Nord- und Ostsyrien inhaftiert. Die internationale Gemeinschaft wäre also gut beraten, ihrer Pflicht nachzukommen und die nun angekündigten Prozesse zumindest zu unterstützen.

Die Mitgliedstaaten der EU scheinen indes noch nicht einmal in der Lage zu sein, angemessen darüber zu diskutieren. Vielmehr scheint es, als wolle man das Problem aussitzen. Die USA wiederum forderten zwar die Länder der Welt dazu auf, ihre jeweiligen Staatsbürger zurückzuholen, weigerten sich aber selbst hartnäckig, US-Bürger zu repatriieren. Diese Doppelmoral muss ein Ende haben. Der Status quo ist nicht nur gefährlich. Es geht auch um eine lückenlose Aufklärung von Terroranschlägen in den eigenen Ländern. Und schließlich um Gerechtigkeit: Die Opfer des IS-Terrors warten darauf, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Umgekehrt haben die mutmaßlichen IS-Mitglieder selbst – trotz allem – ein Anrecht auf ein Gerichtsverfahren unter fairen Bedingungen.

Bei ihrer Entscheidung, über Verbrechen auf eigenem Boden zu richten, war für die AANES ein wesentlicher Faktor, dass hier belastbares Beweismaterial und vor allem Zeugen, wie Überlebende der IS-Verbrechen, verfügbar sind. Die Bewohner und Kämpfer der Region haben große Opferbereitschaft im Kampf gegen den IS gezeigt. Es ist nur folgerichtig, dass die Prozesse vor Ort stattfinden. Die AANES wird die Prozesse gemäß eigener Gesetze zum Terrorismus führen, jedoch die geltenden internationalen Menschenrechtsstandards dabei achten. Die Todesstrafe ist, wie in der Verfassung der AANES verankert, untersagt.

Die Prozesse werden große finanzielle, logistische und rechtliche Ressourcen erfordern. Der AANES fehlt es aktuell noch an Kapazitäten, diese Prozesse ohne internationale Unterstützung zu stemmen. Die Mitgliedstaaten der EU sollten der AANES daher im Einklang mit geltendem internationalem Recht die nötige Unterstützung gewähren und mit ihr zusammenarbeiten. Beispielsweise könnte bei der Ausbildung von Richtern und nötigem Gerichtspersonal geholfen werden. Daneben muss angesichts der Gefahren für die Sicherheit aller Prozessbeteiligten gesorgt werden.

Beobachter der Herkunftsstaaten sollten vertreten sein, um bei der Aufklärung zu helfen und die eigenen Justizbehörden auf etwaige spätere Prozesse im Heimatland vorzubereiten. Schließlich muss die internationale Gemeinschaft auch den zuletzt intensivierten Angriffen der Türkei auf Nord- und Ostsyrien Einhalt gebieten, die sich gegen dieses Vorhaben positioniert und dieses gefährdet haben.

Es bleibt die Frage, was passiert, wenn die in den nun beginnenden Prozessen verhängten Strafen verbüßt sind und die Täter nach ihrer Entlassung vor der Frage stehen, wohin. Spätestens dann wird man sich die Frage nach einer Rehabilitierung stellen müssen. Schon jetzt stellen die überfüllten und vernachlässigten Gefängnisse und Lager einen Hotspot der Radikalisierung dar. Die humanitären Bedingungen sind miserabel. Vor allem Frauen und Kinder bleiben ihrem eigenen Schicksal überlassen.

Quelle          :           TAZ-online           >>>>>       weiterlsen

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Oben        —      Während Rojava 2014 mehr oder minder nur aus den drei Gründungskantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê bestand, wuchs es bis 2017 beträchtlich und nimmt nun den größten Teil Nordsyriens ein. Die Städte al-Hasaka und Qamischli stehen jedoch teilweise unter Kontrolle der syrischen Regierung. Mehrere Militäroperationen der Türkei mit ihren syrischen Verbündeten führten zu Verlusten, wie z. B. Afrin 2018

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Der Glaube an die Medien

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

So verlor ich den Glauben an die etablierten Medien

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Helmut Scheben /   Wenn Nachrichten sich später als falsch erweisen, sind sie in der Erinnerung oft schon als «historische Wahrheit» eingebrannt.

Während und nach dem Golfkrieg von 1991 war es den Medien in den USA verboten, Bilder von Särgen toter US-Soldaten zu zeigen. Die Massnahme wurde erst im Februar 2009 aufgehoben. Auch das Filmen toter oder verwundeter US-Soldaten war verboten, und das Verbot wurde vor allem im Irak-Krieg mit extremer Härte durchgesetzt, wie Kameraleute berichteten. Als ich einmal im riesigen Archiv des Schweizer Fernsehens solche Aufnahmen suchte, fand ich eine einzige Sequenz, die etwa drei Sekunden dauerte. Ein amerikanischer Soldat versuchte da, aus einem brennenden Panzer zu klettern.

Drei Sekunden von tausenden Videos, die in diesem Krieg gedreht worden waren. Drei Sekunden, die – wie deutlich erkennbar – auf einen Fehler eines Cutters zurückzuführen waren, der ein IN oder OUT falsch gesetzt hatte, sodass Material sichtbar wurde, welches eigentlich der Zensur hätte anheimfallen sollen.

Szenen einer Niederlage werden seit Vietnam nicht mehr gezeigt. Also gibt es keine Niederlagen mehr, denn die auf zweieinhalb Minuten komprimierten TV-News sind es, die in unseren Köpfen Geschichte schreiben

In seinem Buch «Liberty and the News» konstatierte 1920 der US-amerikanische Journalist und Medientheoretiker Walter Lippmann:

«Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen.»

(Lippmann S.24) 

Ich hätte mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass mein morgendlicher Gang zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen, begleitet sei von einem leisen Kontrapunkt aus Widerwillen und Langeweile. Ich habe gern zum Morgenkaffee Papier in der Hand, statt auf einen Bildschirm zu schauen. Die Lektüre nimmt indessen von Jahr zu Jahr weniger Zeit in Anspruch. Das liegt zum einen daran, dass viele Themen mich nicht mehr interessieren, zum Beispiel die ewige Seifenoper britischer Royals, die täglich obligatorischen LGBTQ-Probleme, die Me-Too-Befindlichkeit von Groupies bei Rockkonzerten oder parlamentarische Untersuchungen, die herausfinden sollen, warum im Finanzkasino Banken an die Wand fahren.

Die wirklichen Probleme der meisten Menschen, der Krieg in der Ukraine, der eskalierende Konflikt zwischen USA und China, also Vorgänge, die das Leben von Millionen Steuerzahlenden derzeit verändern und künftige Generationen belasten (Aufrüstung, Inflation, Energiepolitik, Sanktionspolitik, Asylwesen etc.) werden aber in unseren führenden Medien mit einem derart reduzierten Blickwinkel dargestellt, dass es mich fassungslos macht. Die Realitätsverweigerung erfolgt mit einer an Tollwut grenzenden Selbstverständlichkeit.

Von 100 Artikeln gibt es keine 5 aus der Sicht der anderen Kriegspartei

Ich habe mir die Mühe gemacht, als Beispiel den Zürcher Tages-Anzeiger, den ich abonniert habe, auf Einseitigkeit zu prüfen. Vom Angriff Russlands im Februar 2022 bis zum Jahresende 2022 habe ich rund einhundert Artikel angeschaut, die direkt vom Ukraine-Krieg handeln.  Beim hundertsten Bericht war ich erschöpft von immer dem Gleichen. Fast alle schildern das Leid und das Heldentum der Westukraine in dem russischen Angriffskrieg und – in schrillen Farben – die Verbrechen Russlands.

Kenner von Waffensystemen und Geostrategie repetieren unaufhörlich, warum Russland besiegt werden muss, und die Investigativen kennen kaum mehr anderes als die Jagd nach irgendeinem Russen oder einer Russin, denen man noch das Vermögen enteignen könnte.

Auf hundert Artikel habe ich keine fünf gefunden, die informierten, was auf der anderen Seite der Front passiert. Das Leid der pro-russischen Ukrainer unter den Raketenangriffen und dem Artilleriefeuer der pro-westlichen Ukrainer ist keiner Erwähnung wert. Die Menschen hinter der Frontlinie scheinen für unsere grossen Medien nicht zu existieren. Berichtet wird ausschliesslich mit der Optik der NATO, also mit der Optik einer Rüstungs-Lobby, die weltweit als Brecheisen der Ordnungsmacht USA funktioniert.

Die Einseitigkeit der Berichte entspringt der Einseitigkeit der Quellen. Neben dem unausweichlichen britischen Geheimdienst (ob 007 mitarbeitet, bleibt bisher im Dunkel) sind die täglichen Quellen unserer «Benachrichtigung»:  Präsident Selensky und seine Entourage in Kiew sowie seine Freunde in Brüssel, London, Washington und die zugehörigen Experten und NATO-Denkfabriken. Die Russen erscheinen hauptsächlich als Verbrecher, die ihre Verbrechen leugnen.

Und wenn ein Damm bricht, der russische Verteidigungsstellungen und ein von Russland besetztes Gebiet weitgehend überschwemmt, dann finden alle deutschen Talkshows, aber auch das Schweizer Radiomagazin «Echo der Zeit», unverzüglich Experten, die wissen, dass es die Russen waren, die den Damm zerstörten. Wie es auch die Russen sind, die sich selbst in dem Atomkraftwerk beschiessen, welches sie besetzt halten. «Tis the times‘ plague, when madmen lead the blind«, heisst es bei Shakespeare im King Lear.

In den Jahren vor dem russischen Angriff registrierten die OECD-Beobachter täglich Detonationen der Artillerie, im Februar 2022 schliesslich hunderte Explosionen pro Tag. Weit mehr als zehntausend Tote haben die Kämpfe in der Ostukraine zwischen 2014 und 2022 gefordert. Dieser Krieg hat also nicht im Februar 2022 begonnen.

Haben unsere Zeitungen darüber berichtet? Sie haben es weitgehend unter den Teppich gekehrt. Sie sehen nur, was sie schon wissen. Das heisst: Sie wissen immer schon, was sie sehen werden. Also das, was ich jeden Morgen in den Zeitungen lesen kann. Und somit das, was ich nicht mehr lesen muss, weil ich schon weiss, was es ist, bevor ich die Zeitung aufschlage.

«Lasst euch nicht von den eigenen täuschen»

Im Herbst 1983 demonstrierten mehr als eine Million Menschen überall in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Stationierung von Atombomben. Auch in mehreren Ländern, die Mitglieder der NATO waren, widersetzte sich eine Mehrheit der Menschen der weiteren atomaren Aufrüstung, denn es war klar, dass das vielbeschworene «Gleichgewicht des Schreckens» durch die britischen und französischen A-Bomben längst garantiert war. Bei der Debatte im Bundestag sagte Oppositionsführer Willy Brandt, seine Partei, die SPD, werde mit Protestbriefen zugeschüttet:

«Das sind Deutsche West und Deutsche Ost, das sind Europäer und Amerikaner, das sind Mütter und Väter, Grossmütter und Grossväter, Arbeiter und Unternehmer, Künstler und Soldaten, Hausfrauen, Rentner, und es sind Naturwissenschafter und Ingenieure aller akademischen Grade. Ich frage mich, wem es guttut, wenn das Engagement und der versammelte Sachverstand dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger mit der ganzen Arroganz der Macht in den Abfall geräumt wird.»

Die FDP-CDU-Mehrheit des deutschen Parlamentes wählte für Volkes Stimme den Abfallkübel und beschloss die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen. Diese wurden zwar im Rahmen eines Abrüstungsabkommens abgeschafft, gleichwohl lagern im Fliegerhorst Büchel in der Eifel heute US-amerikanische Atomsprengköpfe. Deutsche Luftwaffenpiloten trainieren deren Einsatz im Rahmen der sogenannten «nuklearen Teilhabe». Es ist kein militärisches Geheimnis, dass Russland stets das Hauptangriffsziel war und nach wie vor ist.

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Im selben Jahr 1983 erscheint Christa Wolfs Buch «Kassandra», ein Text über eine Seherin, die vor ihrem Tod über den Untergang ihrer Heimat Troja nachdenkt:

«Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den eigenen täuschen.»

Ich habe mich von den eigenen täuschen lassen, aber es hat lange gedauert, bis ich dessen gewahr wurde. Die «Süddeutsche», die «Frankfurter Rundschau», die «Neue Zürcher», der «Spiegel» und andere Blätter, das waren meine Leitmedien, als ich Journalismus lernte.

Die grossen Medien, sowohl die gebührenfinanzierten wie die der privaten Konzerne, haben in allen Kriegen, die ich beobachten konnte, krachend versagt. Ihre Aufgabe wäre gewesen, das Handeln der Regierungen in Frage zu stellen, aber sie haben sich in vielen Fällen als Lautsprecher der Regierungs-Propaganda und als Kriegstreiber in ungerechtfertigten und sinnlosen Kriegen erwiesen.

Die Balkankriege öffneten die Büchse der Pandora

Meine erste grosse Berufskrise kam, wenn ich mich recht erinnere, während der Balkankriege. Ich fand nachts keinen Schlaf mehr, als ich merkte, dass da das Blaue vom Himmel herunter gelogen wurde. Tuzla war damals mein Schlüsselerlebnis. Die Stadt in Bosnien war 1993 als Schutzzone definiert worden. Blauhelme waren dort stationiert. Die bosnisch-moslemische Bevölkerung sollte vor serbischen Angriffen geschützt werden. Die serbische Artillerie schoss aber gleichwohl auf die Stadt. Diese Angriffe waren Monate lang tägliche Meldung in den Radionachrichten. Die westlichen Medien flossen über vor Empörung über den Beschuss der «Safe Area».

Ich fiel aus den Wolken, als mir 1995 Blauhelm-Soldaten sagten: «Die Serben schiessen zwar manchmal da rein, aber die Artillerie in Tuzla schiesst auch jede Nacht raus auf die umliegenden serbischen Dörfer.»

Tuzla wurde bei Nacht und Nebel von den USA mit Waffen versorgt. Es gab dort militärische Sperrgebiete, wo UN-Einheiten der Zutritt verwehrt wurde. Dieselbe Regierung in Washington, die nach aussen hin die Rolle des «honest broker» spielte, um ein Ende des Krieges zu erreichen, organisierte im Geheimen sogenannte «black flights», um das bosniakische Militär aufzurüsten.

Als ein norwegischer Blauhelm-Offizier dies 1995 bemerkte und publik machte, bekam er den Befehl zu schweigen und wurde strafversetzt. Der britische Sender ITN/Channel 4 hatte einen Beitrag über die Sache gedreht, den ich für ein Magazin des SRG-Programms Schweiz 4 übernahm.

Meine Versuche, Schweizer Medien auf die Enthüllungen aufmerksam zu machen, stiessen auf Indifferenz. In Bosnien wie auch im Kosovo bestimmte die NATO, was man wissen durfte und was nicht. Carla Del Ponte, Chefanklägerin in Den Haag, beklagte sich später, dass sie mit ihrer Bitte um Einsicht in die Geheim-Operationen der NATO gegen eine Wand lief.

Erst viel später erfuhr ich, dass führende PR-Agenturen der USA damals die Presse mit Schauergeschichten über serbische Konzentrationslager und Holocaust-Pläne fütterten, welche ein gigantischer Medienapparat in Sekundenschnelle um die Welt jagte. Die Politikwissenschafter Jörg Becker und Mira Beham haben in ihrer Studie «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» in US-Archiven weit über hundert solcher PR-Verträge nachgewiesen. Der Auftrag hiess, die Serben als Täter und die andern als Opfer darzustellen. James Harff, Chef der PR-Agentur Ruder Finn, beschrieb seinen Job folgendermassen:

«Unser Handwerk besteht darin, Nachrichten auszustreuen, sie so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen (…) Die Schnelligkeit ist entscheidend. Denn wir wissen genau, dass die erste Nachricht von Bedeutung ist. Ein Dementi hat keine Wirkung mehr.»

Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. 1996. S.172 ff.

PR-Agenturen liefern die Argumente für Krieg und Tod

Harff zeigte gegenüber Jacques Merlino, einem stellvertretenden Chefredaktor von France 2, einen gewissen Berufsstolz, wenn er in aller Offenheit beschrieb, wie seine Agentur «mit einem grossartigen Bluff» ihren Auftrag erledigte, indem sie drei mächtige jüdische Lobby-Organisationen der USA dazu brachte, in Inseraten in der «New York Times» vor einem drohenden Holocaust auf dem Balkan zu warnen.

«Mit einem Schachzug konnten wir die Sache vereinfachen und sie darstellen als Geschichte von den guten und den bösen Jungs (…) Und wir haben gewonnen, denn wir haben das richtige Ziel ausgewählt, das jüdische Publikum (targeting Jewish audience). Sofort stellte sich eine bemerkbare Veränderung des Sprachgebrauchs in den Medien ein, begleitet von der Verwendung solcher Begriffe, die eine starke emotionale Aufladung hatten, wie etwa ethnische Säuberung, Konzentrationslager und so weiter, und all das evoziert einen Vergleich mit Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz. Die emotionale Aufladung war so mächtig, dass niemand wagte, dem zu widersprechen.»

Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer tourte folgerichtig mit der Parole «Nie wieder Auschwitz» durch Europa und sein Verteidigungsminister Scharping brachte unters Volk, man wisse, dass die Serben «mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Feinde Fussball spielen.» Ein Foto, das als Beweis der serbischen Gräuel und als Argument für den NATO-Angriffskrieg um die Welt ging, zeigte einen entsetzlich abgemagerten Mann mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldraht. Es erinnerte an die Fotos von deutschen Vernichtungslagern 1945. Die Aufnahme war – wie später nachgewiesen wurde – eine Fälschung. Das fragliche Flüchtlingszentrum Trnopolje war damals weder durch einen Stacheldrahtzaun abgesperrt noch gab es dort halb verhungerte Menschen.

Nichts hat sich geändert. Der Krieg generiert die ewig gleichen Propagandamittel. Ein in der Ukraine lebender «Schriftsteller aus Ostdeutschland» namens Christoph Brumme schrieb 2022 in der «NZZ am Sonntag» ein regelmässiges «Tagebuch», in dem er unter anderem vorhersagte, die Russen würden in der Ukraine Konzentrationslager einrichten und Putin sei ein zweiter Hitler. Er sei vermutlich schwer krank und werde mit einer Atombombe seinen Suizid inszenieren. Und dergleichen mehr.

Schon im Golfkrieg von 1991 war die Kategorie der «eingebetteten Journalisten» entstanden, und es gibt wohl kaum einen Begriff, der besser umschreibt, wie dieser Beruf zu einer Art Prostitution verkommen kann. Der US-Journalist John R. MacArthur hat in seiner Studie «Second Front: Censorship and propaganda in the 1991 Gulf War» (auf Deutsch bei dtv «Die Schlacht der Lügen») gezeigt, wie die Medien an der Leine geführt und wie die Öffentlichkeit getäuscht wurde.

Die Symbiose der grossen Medien und ihrer Regierungen wurde nach dem Anschlag von 9/11 vollends zur Selbstverständlichkeit. Dieser wurde als Angriff einer feindlichen Macht definiert und in dieser Logik erst Afghanistan, dann der Irak angegriffen. Weltweit wurde ein «Krieg gegen den Terror» begonnen, und da man einmal am Aufräumen war, wurden «by the way» auch in Libyen und Syrien «unterdrückte Völker befreit». Die Resultate sind in all diesen Ländern zu besichtigen.

Der renommierte Wissenschaftsjournalist und Friedensaktivist Norman Cousins hatte der ideologischen Mission der Supermacht USA schon 1987 einen Namen gegeben: «The Pathology of Power».

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Autor Helmut Scheben

Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

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Eine erfundene Vergewaltigungs-Story in Libyen 

Mir ist unverständlich, wie Journalisten, die so oft von Regierungen belogen wurden, weiterhin die politischen Vorgaben von oben weiterverbreiten, als wären es die Tafeln der Zehn Gebote. Im Juni 2011 sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton vor laufenden Kameras, sie habe jetzt den Beweis, dass der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi «systematische Vergewaltigung» als Strategie einsetze. Zu diesem Zeitpunkt herrschte Bürgerkrieg in Libyen. Die libysche Armee versuchte, einen Aufstand niederzuschlagen, der im Sog des sogenannten «arabischen Frühlings» seit Februar 2011 eskalierte. Die USA und ihre NATO-Verbündeten bombardierten seit März 2011 das Land, um – so die offizielle Argumentation – dem von Gaddafi unterdrückten libyschen Volk zu helfen und «eine Flugverbotszone durchzusetzen».

Als lebender Beweis für den Vorwurf der Vergewaltigungen galt eine Libyerin namens Eman-al Obeidi. Die Frau hatte sich am 26. März 2011 Zugang zum Luxus-Hotel Rixos Al Nasr in Tripolis verschafft. Hotelpersonal und Security-Leute versuchten zu verhindern, dass sie Kontakt mit den Journalisten aufnahm, die dort beim Frühstück sassen. Die Frau schrie, sie sei drei Tage zuvor von Milizionären Gaddafis an einem Checkpoint entführt und vergewaltigt worden.

Der libysche Regierungssprecher Musa Ibrahim erklärte später, man habe Frau Obeidi zunächst für alkoholisiert und psychisch gestört gehalten. Dann habe man festgestellt, dass ihre Angaben glaubwürdig seien. Der Fall sei in den Händen der Justiz. Es handele sich um gewöhnliche Kriminalität und nicht um ein politisches Verbrechen.

Frau Obeidi wurde von CNN und zahlreichen anderen Medien interviewt. Sie figurierte als Beweis für die Verruchtheit des libyschen Staatsoberhauptes Gaddafi. Dabei schien den grossen Medien kaum erwähnenswert, dass libysche Ärzte die Frau betreut hatten, die Vergewaltigung bestätigt hatten und die libysche Polizei kurz darauf Tatverdächtige festgenommen hatte.

In einem Büro von Amnesty International in Zürich fragte ich 2011, was an den Vorwürfen dran sei. Ich erhielt die Auskunft, Amnesty habe mehrere Monate lang in Libyen ermittelt und keine Bestätigung für den Vorwurf der Massenvergewaltigung gefunden. Auch der Sprecher der libyschen Organisation «Human Rights Solidarity Libya», die den Aufständischen nahestand, sagte mir am Telefon: «Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Obeidi.»

Der Mist war indessen gefahren und die Story erfuhr eine geradezu rasende Proliferation in praktisch sämtlichen westlichen Medien. Meine Google-Suche am Sonntag, 20. Juli 2011, zeigte 21 Millionen Ergebnisse. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, lieferte ein vorzügliches Schmiermittel für den Medien-Apparat mit der Bemerkung, er habe tatsächlich «Informationen» über Massenvergewaltigungen. Auf die Frage eines Journalisten, was er von Berichten halte, Gaddafi lasse Viagra importieren, damit seine Soldaten vergewaltigen könnten, entgegnete der Chefankläger nicht etwa: «Lassen Sie mich mit solchem Blödsinn in Ruhe». Er sagte stattdessen den perfiden Satz, man sammle noch Beweise: «Yes, we are still collecting evidence.»

Das Phantasie-Gebilde wucherte wochenlang weiter. Die Schweizer Zeitung «Le Matin» trieb das kreative Story-Telling bis zu der Foto-Abbildung eines King Size Bettes samt Lampe und Nachttisch: angeblich ein Raum in einem unterirdischen Bunker, wo dem Blatt zufolge Gaddafi seine weiblichen Opfer missbrauchte. Ich habe in dieser Zeit keinen Journalisten getroffen, der sagte, er schäme sich dafür, dass er durch seine Berufswahl zu dieser Branche gehöre.

«Atrocity Management» ist so alt wie der Krieg selbst.

Die Verteufelung des Feindes ist ein bewährtes Instrument, welches so alt ist wie der Krieg selbst.

Der Historiker Gerhard Paul hat in seinem Standardwerk «Bilder des Krieges, Krieg der Bilder» anhand von über 200 Abbildungen dargestellt, wie die modernen Bildmedien den Krieg als Ikonographie in der kollektiven Erinnerung einbrannten. Dabei geht laut Gerhard Paul die Wirklichkeit in gleichem Mass verloren wie die Bilder perfektioniert und standardisiert werden.

Medienwirksam sind stets Verbrechen an Kindern. Das geht von der kuwaitischen «Pflegerin Najirah», die vor einem Menschenrechtskomitee des US-Kongresses sagte, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten Brutkasten-Babies die Schläuche herausrissen, was sich später als eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton erwies, bis zur Menschenrechtsbeauftragen Denissowa in Kiew, die im Juni 2022 ihren Job verlor, weil klar geworden war, dass sie Lügen verbreitet hatte. Darunter die Behauptung, sie habe Beweise, dass russische Soldaten Kleinkinder vergewaltigten.

Die Darstellung des Feindes als bestialisches Ungeheuer scheint unvermeidbares Stereotyp der Kriegspropaganda. Im Ersten Weltkrieg war die Story, deutsche Soldaten hätten einer belgischen Frau ihr Baby entrissen, diesem die Hände abgehackt und selbige dann verspeist, ein Dauerbrenner in der französischen und britischen Presse.

Wenn der Feind ein Ungeheuer ist, welches das Böse an sich verkörpert, sind Kriege leichter zu rechtfertigen. Ich habe in mehr als vierzig Jahren journalistischer Arbeit feststellen müssen, dass die grossen Medien solche Propaganda-Erzählungen meist unkritisch verbreiten und erst sehr spät oder nie bereit sind, ihre Fehler einzugestehen. Die «New York Times», die bei ihren Leserinnen und Lesern für die Falschinformation rund um den Irak-Krieg um Vergebung bat, ist der einzige mir bekannte Fall.

In 19 Arbeitsjahren beim Schweizer Fernsehen SRF ist mir kein Fall bekannt geworden, in dem eine Sendung sich für falsche Nachrichten entschuldigt hätte. Mit Ausnahme der Sendung Meteo, wenn die Wetterprognose falsch war.

2011 machte ich Amnesty International Schweiz darauf aufmerksam, dass es keine Fernsehbilder von den Zerstörungen der NATO-Luftangriffe in Libyen gab. Die Fernsehstudios der libyschen Regierung waren in der ersten Angriffswelle in Schutt und Asche gelegt worden. Die NATO-Kommandozentrale in Neapel konnte dadurch verhindern, dass emotionale Bilder von Opfern, die aus den Trümmern gezogen wurden, auf westlichen TV-Kanälen zu sehen waren. Das Problem war den grossen Medien nicht aufgefallen, oder sie haben es ignoriert.

Der Amnesty-Sprecher erwiderte mir damals, diese Einseitigkeit der Darstellung mache ihnen ebenfalls grosse Sorgen. Als ich abends mit dem Cutter am Schnittplatz den Beitrag für die Tagesschau fertiggestellt hatte, sagte der Tages-Chef bei der Abnahme, dieser Satz des Amnesty-Sprechers müsse raus aus dem Beitrag. Auf meine Frage nach der Begründung hiess es:  «Sonst könnten die Zuschauer ja denken, Gaddafi sei gar nicht so bös und am Ende noch im Recht.»

Eine neue Epoche der Zensur ist angebrochen

Die Konzernmedien und die gebührenfinanzierten Anstalten dominieren den Nachrichtenmarkt. Sie behaupten alle von sich, sie seien die Vierte Gewalt, die den Mächtigen auf die Finger schaue, und dadurch werde Demokratie erst ermöglicht. Meine Erfahrung ist: Sie sind viel mehr Gläubige in einer Art von Religionsgemeinschaft, die sich als Achse des Guten sieht. Wer ihre Weltsicht nicht teilen will, der wird totgeschwiegen, diffamiert oder schlicht verboten.

In diesem Sinne arbeiten die Regierungen und ihre zugewandten Medien effizient. Die 27 Länder der Europäischen Union haben die russischen Nachrichtensender RT und Sputnik verboten. Wer sie verbreitet oder empfängt, zahlt in Österreich sogar bis zu 50’000 Euro Strafe. So einfach glaubt man, die Meinungs-Einfalt durchsetzen zu können. Protest oder Kritik aus den grossen Redaktionen der Vierten Gewalt? Null.

Während in russischen Talkshows und in den russischen Social Media mit erstaunlicher Härte immer wieder kontrovers über diesen Krieg diskutiert wird, versuchen westliche Medien uns mit obsessiver Emsigkeit einzutrichtern, dass in Russland jeder eingesperrt wird, der etwas gegen diesen Krieg sagt. «Zehn Jahre Gefängnis fürs Denken» titelt die Neue Zürcher Zeitung (6. Juni 2023).

In Kiew sind oppositionelle Medien schlicht verboten. Muss man darüber berichten? Offensichtlich nicht. Das wird dann beiläufig, quasi als abschweifender Schlenker, in acht Wörtern abgehandelt: «Seit Kriegsbeginn zeigen die ukrainischen Sender ein Gemeinschaftsprogramm» (Zürcher Tagesanzeiger, 28. Juli 2022). Gemeinschaftsprogramm? Das tönt schon fast wie gemeinnützige Arbeit.

Das Verschweigen hat System. Nirgends wird das so sichtbar wie in dem Stillschweigen, welches unsere führenden Medien über die um sich greifende Zensur der Social Media bewahren. Wenige Wochen nachdem die EU die russischen Sender verboten hatte, kündigte Google an, weltweit alle mit Russland verbundenen Medien zu blockieren. Wie so oft bei Big Tech kam der Druck angeblich von der eigenen Belegschaft: «Mitarbeiter von Google hatten YouTube gedrängt, zusätzliche Strafmassnahmen gegen russische Kanäle zu ergreifen.»

Millionen von Beiträgen verschwinden von der Plattform. Der Investigativ-Journalist Glenn Greenwald, der an den Enthüllungen von Edward Snowden beteiligt war, hat auf diese extreme Zensurkampagne und die Dollarmilliarden hingewiesen, die dabei eine Rolle spielen:

«Es ist wenig überraschend, dass die Monopole des Silikon Valley ihre Zensurmacht in voller Übereinstimmung mit den aussenpolitischen Interessen der US-Regierung ausüben. Viele der wichtigsten Tech-Monopole – wie Google und Amazon – bemühen sich routinemässig um äusserst lukrative Verträge mit dem US-Sicherheitsapparat, einschliesslich der CIA und der NSA, und erhalten diese auch. Ihre Top-Manager unterhalten enge Beziehungen zu Spitzenvertretern der Demokratischen Partei. Und die Demokraten im Kongress haben wiederholt Führungskräfte aus der Tech-Branche vor ihre verschiedenen Ausschüsse zitiert , um ihnen mit rechtlichen und regulatorischen Repressalien zu drohen, falls sie die Zensur nicht stärker an die politischen Ziele und Interessen der Partei anpassen.»

Wer die Twitter Files liest, der weiss, wie das System funktioniert. Eine diskrete Intervention des FBI kann bewirken, dass führende Medien politisch heikle Themen solange auf Eis legen, bis die «Gefahr», in dem Fall eine Wahlniederlage des Kandidaten Joe Biden, gebannt ist.

Was mich damals schockierte und auch heute fassungslos macht, ist das Kesseltreiben, das von einer Medienmeute reflexartig in Gang gesetzt wird, wenn einige wenige es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die veröffentlichte Meinung in Frage zu stellen. Die Politologin Mira Beham hatte mir gesagt, sie habe in der «Süddeutschen Zeitung» Schreibverbot bekommen, weil sie zu argumentieren wagte, in den Balkankonflikten komme man nicht weiter mit dem Täter-Opfer-Schema, die Sache sei komplexer. Heutzutage verliert ein renommierter Journalist wie Patrick Baab seinen Lehrauftrag an der Universität Kiel, wenn er es wagt, aus dem Donbass «von der falschen Seite der Front» zu berichten.

Orwells dystopische Vision des «Newspeak» und der «Wahrheitsministerien» ist auf dem besten Weg, Realität zu werden. Wir erleben in dieser Hinsicht tatsächlich eine Zeitenwende, wenn auch der deutsche Kanzler etwas anderes meinte, als er den Begriff gebrauchte.

Das Wort Lügenpresse trifft die Sache nicht

Der Medien-Wissenschafter Uwe Krüger hat dokumentiert, dass die meisten Alphatiere der etablierten Medien Mitglieder in NATO- und US-affinen Institutionen sind. Natürlich gibt es den Faktor Zwang und Anpassung, etwa die bekannte Tatsache, dass im Axel Springer Verlag («Bild», «Die Welt») jeder Mitarbeiter den Statuten zustimmen muss, die die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität mit den USA einfordern.

Gleichwohl sollte man vorsichtig sein mit dem Schmähwort «Lügenpresse». Die Sache ist unendlich komplizierter. Da ist zum einen, was die News-Gefässe angeht, ein System, das auf Verkürzung und überhöhten Drehzahlen beruht. Der Philosoph Paul Virilio sprach von einer «Industrie des Vergessens», die mit neuen Nachrichten unaufhörlich zuschüttet, was eben noch gemeldet wurde. Ein Nachrichten-Apparat, der stark zerkleinerte Bruchstücke von Ereignissen produziert, kann keine Zusammenhänge und Hintergründe liefern, selbst wenn wohlgesinnte Journalistinnen und Journalisten dies wollten.

Und sie wollen es. Ich habe in meinem ganzen Leben kaum Medienleute getroffen, die fälschen oder unredlich berichten wollten. Die Leute lügen nicht, sondern sie sind meist überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben. Sie sind in ihrer ganzen Lebensgeschichte, in ihrer Ausbildung und in ihren sozialen Kontakten geprägt und eingebunden in der Weltsicht ihrer Umgebung.

Da ist dieser «riesige Brocken Wahrheit», den der israelische Historiker Shlomo Sand «implantiertes Gedächtnis» nannte: 

«Wir alle werden in ein Universum von Diskursfeldern hineingeboren, das die ideologischen Machtkämpfe früherer Generationen geformt haben. Noch ehe sich der Geschichtswissenschaftler das Rüstzeug zu einer kritischen Hinterfragung aneignen kann, formen all die Geschichts-, Politik- und Bibelstunden in der Schule, die Nationalfeiertage, Gedenktage, öffentlichen Zeremonien, Strassennamen, Mahnmale, Fernsehserien und sonstige Erinnerungssphären seine Vorstellungswelt. In seinem Kopf liegt ein riesiger Brocken ‹Wahrheit›, den er nicht einfach umgehen kann.» 

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. S. 40

Das Problem einer Branche, die unter dem Namen Journalismus der täglichen Wahrheitsfindung dienen soll, ist jedem Zauberkünstler und Taschenspieler geläufig: Wahrnehmung wird nicht von tatsächlichen Ereignissen bestimmt, sondern von Erwartungshaltungen. Von einem riesigen Brocken «Wahrheit».

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Dieser Beitrag erschien am 13. Juni auf GlobalBridge.

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Frankreich tut weh

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Polizist tötet Jugendlichen in Nanterre

Aus Paris von Rudolf Balmer

Im Pariser Vorort Nanterre hat ein Polizist einen Jugendlichen erschossen – schon wieder. Dieses Mal meldet sich auch Fußballstar Kylian Mbappé zu Wort.

Im Pariser Vorort Nanterre hat am Dienstagvormittag ein Verkehrs­polizist einen Jugendlichen im Verlauf einer Kontrolle mit seiner Dienstwaffe tödlich verletzt. Der 17-Jährige am Lenkrad eines Pkw habe versucht, sich einer polizeilichen Überprüfung seiner Papiere zu entziehen, und damit die beiden Beamten in Gefahr gebracht. Darum habe der Polizist zu seiner Verteidigung „in angemessener Weise“ reagiert, lautete dazu die erste offizielle Version. Suggeriert wurde damit, dass der Polizist zu seiner eigenen Verteidigung geschossen habe oder schießen musste.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen

Doch die Zweifel an dieser Notwehrthese sind erheblich: Im Internet war wenig später ein Video der Kontrolle zu sehen. Darauf ist deutlich zu erkennen, wie einer der Polizisten neben dem gestoppten gelben Mercedes den Fahrer mit seiner Pistole bedroht. Trotz des Verkehrslärms ist zu hören, wie einer der beiden Beamten unter anderem schreit: „Du bekommst eine Kugel in den Kopf!“ Daraufhin setzt sich das Fahrzeug im Schritttempo in Bewegung, und der verhängnisvolle Schuss fällt, der Wagen rollt noch ein paar Meter weiter, bis er an ein Verkehrsschild prallt. Der in der Herzgegend verletzte Jugendliche starb wenige Minuten später nach vergeblichen Wiederbelebungsbemühungen der Sanitäter einer Ambulanz.

Während Politiker des rechtspopulistischen Rassemblement national und der konservativen Partei Les Républicains sogleich das Vorgehen der Polizei in Nanterre verteidigten und deren Recht auf eine besondere Unschuldsvermutung in ihrem gefährlichen Kampf gegen Verbrecher unterstreichen, kommt von links scharfe Kritik an einer längst notorischen Polizeigewalt und dem laxen Umgang mit ihr von vorgesetzten Stellen und der Justiz.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen. Allein im Jahr 2022 sind 13 Personen von Polizisten getötet worden, weil sie sich angeblich der Kontrolle und einer eventuellen Festnahme entziehen wollten. Nur gegen fünf Beamte wurden Ermittlungen eingeleitet.

„Diese Situation ist unerträglich.“

Da sich diese Tragödien vor allem in konfliktreichen Außenquartieren ereignen und die Todesopfer meistens Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, ist in Anspielung an den emblematischen Fall George Floyd von einer „Amerikanisierung der französischen Polizei“ die Rede. Der Fußballstar Kylian Mbappé, der sich früher schon zum Thema Polizeigewalt geäußert hatte, erklärte auf Twitter: „Mein Frankreich tut mir weh, diese Situation ist unerträglich.“

Ausnahmsweise hat sich diesmal nun selbst Innenminister Gérald Darmanin, der sich sonst immer hinter seine Polizisten stellt, entsetzt geäußert: Die Bilder auf dem fraglichen Video seien „extrem schockierend“ und könnten „eine solche Reaktion (des Polizeibeamten) keinesfalls rechtfertigen“, sagte er vor Abgeordneten der Nationalversammlung.

Quelle       :           TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Gare de Nanterre-Préfecture, Nanterre.

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Wunder und Alltag

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Indigene Bevölkerung in Kolumbien

Aus Bogata von Katharina Wojczenko

Vier Kinder überleben 40 Tage im Dschungel. Der Vorfall zeigt, wie wertvoll das Wissen Indigener ist – und wie ignorant der Staat.

40 Tage nach Absturz ihrer Propellermaschine über dem Amazonas hatte der Suchtrupp die vier indigenen Geschwister im Dschungel gefunden: Lesly (13), Soleiny (9), Tien (5) und Baby Cristin (1). Ausgehungert, abgemagert, dehydriert und zerstochen, aber ohne schwere Verletzungen. „Eine Freude für das ganze Land!“, schrieb Präsident Gustavo Petro auf Twitter. „Wunder, Wunder, Wunder, Wunder!“, jubelte die Luftwaffe. Es war der 9. Juni.

Drei Wochen zuvor war die abgestürzte Propellermaschine samt der drei erwachsenen Passagiere gefunden worden: der Pilot, ein indigener Anführer und die Mutter der Kinder, Magdalena Mucutuy Valencia, waren alle tot. „Das Wunder von Kolumbien“ war in der ganzen Welt eine Sensation. Ausländische Reporterteams standen tagelang vor den Toren des Militärkrankenhauses in Bogotá, wo die Kinder seitdem aufgepäppelt werden. Mitglieder der Familie erzählten ihre Sicht, ebenso der Kommandant der Operation, die indigenen Retter. Aber was bleibt nun von dem „Wunder“?

Kolumbien, weit entfernt vom Frieden, sehnt sich nach guten Nachrichten. Die Regierung des linken Präsidenten Gustavo Petro sowieso. Die steckt mitten in ihrer größten Krise: Abhörskandal, Verdacht auf illegale Wahlspenden, Reformblockade und auch noch ein toter Polizist, der hatte aussagen wollen.

Petro hatte sich Wochen zuvor mit der Falschmeldung blamiert, die Kinder seien gefunden worden. Das war alles plötzlich nebensächlich. Das ganze Land freute sich, über alle Gräben hinweg. Wohl auch deshalb haben Massenmedien und Armee immer wieder eine Nebenfigur in den Mittelpunkt gestellt: einen Rettungshund namens Wilson, der bei der Suche im Dschungel verloren ging – und zum Nationalhelden wurde. „Wir lassen keinen Kameraden zurück“, wiederholt die Armee und sucht mit Soldaten und einer Horde läufiger Hündinnen nach dem Schäferhund.

„Sie sind die Helden“

Dabei gäbe es nach der Rettung der Kinder in Kolumbien wichtigere Themen zu besprechen. Der Vorfall hat die Fähigkeiten und das Wissen der Indigenen ins Rampenlicht gerückt. Diese waren bisher am unteren Ende der Aufmerksamkeitsskala – und ganz oben bei den Opfern, egal ob im Krieg oder bei staatlicher Vernachlässigung. Doch waren es die Indigenen, die das Flugzeug mit den toten Erwachsenen fanden – und die lebendigen Kinder. Präsident Petro hat betont, dass der gemeinsame Einsatz von Armee und indigener Garde der Schlüssel zum Erfolg war.

Der Kommandant Pedro Sánchez, der die Militäroperation leitete, sagte über die Indigenen: „Sie sind die Helden.“ Henry Guerrero, einer der acht Indigenen, die bis zuletzt nach den Kindern suchten, sagte bei der Pressekonferenz der Nationale Organisation der indigenen kolumbianischen Amazonas-Völker (Opiac): „Die Armee weiß nicht, wie sie im Dschungel überlebt.“

Am 1. Mai war die Propellermaschine im Urwalddorf Araracuara gestartet mit Ziel San José del Guaviare. Nach allem, was bekannt ist, sollte die Familie von dort mit einem Flugzeug nach Bogotá fliegen. In der Region ist die bewaffnete Farc-Dissidenz aktiv. Der Vater der beiden jüngsten Kinder, Manuel Ranoque, sagte, dass er von der Farc-Front Carolina Ramírez bedroht wurde und deshalb nach Bogotá fliehen musste. Er habe mit der Familie in der Hauptstadt ein neues Leben beginnen wollen.

Doch die Propellermaschine stürzte im tiefsten Dschungel ab. Die Operation von rund 120 Spezialkräften der Armee und rund 80 Mitgliedern der indigenen Garde war einzigartig. Die Armee ist bei vielen Indigenen berüchtigt, weil sie diese im bewaffneten Konflikt im Stich ließ oder ermordete. Für die Suche hatten mehrere Amazonas-Völker und sogar Indigene Gemeinschaften aus der Pazifik-Region Cauca Hilfe geschickt.

Der mächtige Dschungel

Die Armee hatte Helikopter, Satellitenbilder, Wärmebilder, Lautsprecherdurchsagen. Am Ende brachte das alles nichts, zu dicht das Blätterdach, zu stark der Regen, zu mächtig der Wald. „Wir haben eure Technologie übertrumpft“, sagt Henry Guerrero. „Auch wir können für unser Land etwas tun.“ Wir, ihr – das zeigt, dass zwischen dem Kolumbien der Indigenen, der Regierung im fernen Bogotá und einem Großteil der Bevölkerung eine Kluft existiert.

Helden brauchen Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die größte Herausforderung bei der Rettung der Kinder war la selva, der Urwald. Der Dschungel gilt für viele in Kolumbien als gefährlich, voller gefährlicher Tiere, als Versteck für Guerillas und Verbrecher. Zudem sitzt die Kolonialzeit tief: Das Terrain muss abgeholzt sein und sauber, um es kontrollieren, bewirtschaften, besitzen zu können. Für die Indigenen ist der Wald die Mutter, die Madre Selva. Die mächtige Mutter, der man mit Respekt begegnet, die ihre Kinder aber auch ernährt, in der Geister leben, die sie beschützen. Dass die Kinder am Leben waren, war für indigene Ex­per­t:in­nen deshalb kein „Wunder“. Lesly, die Älteste, hatte schließlich gelernt, wie der Wald für sie sorgt.

Irgendwann habe er, der Katholik, wie die Indigenen den Wald um Erlaubnis gebeten, ihn betreten zu dürfen, hat Kommandant Sánchez dem Fernsehpublikum erzählt. Wenn man die Berichterstattung verfolgt, muss man auch denken: Vielleicht trägt dieser Vorfall in Kolumbien auch zu einem besseren Verständnis des bedrohten Urwalds und seiner Be­woh­ne­r:in­nen bei. Zu mehr Respekt.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   esta imagen demuestra la creatividad y el aprendizaje trasmitido de nuestros mayores

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Unten        —        En cercanías de la cierra nevada del cocuy se encuentra el parque de los frailejones rodeado por formaciones rocosas y regados por agua proveniente del glacial

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Kolumne-Fernsicht-Uganda

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Zwei Gegner für Uganda: USA und Dschihadisten

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Von Joachim Buwembo

Seit Uganda 2007 eine afrikanische Militärintervention in Somalia anführte, die somalische Staatlichkeit wiederherstellte und die islamistischen al-Shabaab aus Mogadischu und anderen Landesteilen vertrieb, ist es zur Zielscheibe von Dschihadisten weltweit geworden.

Diese sehen in Uganda einen Statthalter der USA am Horn von Afrika. 2010 töteten Shabaab-Selbstmord­attentäter fast 100 Menschen, die in Ugandas Hauptstadt Kampala das Fußball-WM-Finale verfolgten. Das Bestreben, Uganda und seinen Präsidenten Yoweri Museveni zu bestrafen, hat nie nachgelassen.

Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit. Heute sind die Beziehungen zwischen Uganda und den USA angespannt wegen des neuen ugandischen Gesetzes, das gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiert. Die USA haben gedroht, ihre Uganda-Hilfen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar im Jahr – die Hälfte davon fließt in die Behandlung der 1,2 Millionen HIV-Kranken in Uganda – auszusetzen. Präsident Joe Biden hat sich persönlich zu Wort gemeldet, das US-Außenministerium hat eine Reisewarnung ausgesprochen, und US-Aktivistengruppen warnen vor Tourismus in Uganda und sagen, das Land sei nicht sicher.

Zugleich haben die Dschihadisten tödliche Schläge gegen Uganda ausgeführt. Sie überranten 120 Kilometer südlich von Mogadischu eine ugandische Armeebasis und behaupteten, 137 Soldaten getötet und viele andere gefangen genommen zu haben; Uganda spricht von 54 Toten. Noch schockierender war vor einer Woche der Angriff auf ein Internat im Westen Ugandas nahe der kongolesischen Grenze, wo die dschihadistische Gruppe ADF (Allied Democratic Forces) seit drei Jahrzehnten Ugandas Regierung bekämpft. 42 Teenager wurden bei lebendigem Leibe verbrannt und etwa 20 weitere verschleppt, vermutlich zum Zwangsdienst bei der ADF in Kongos Wäldern.

Der Angriff erfolgte genau 25 Jahre nach einem ADF-Angriff auf eine technische Hochschule im Westen Ugandas, bei dem rund 80 Teenager verbrannten. Die ADF hat bereits im vorletzten Jahr in Kampala Bomben hochgehen lassen.

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Waren nicht die Religionen schon immer der Anlass für die meisten Kriege Welt – weit?

Islamistische Dschihadisten bekämpfen Museveni seit dem ersten Tag seiner Machtergreifung 1986. Damals hatte er sich die Solidarität mit den schwarzen Nationalisten in Südsudan, die für die Befreiung Südsudans von der islamisch-fundamentalistischen Regierung in Sudans Hauptstadt Khartum kämpften, auf die Fahnen geschrieben. Ugandas militärische Unterstützung war entscheidend für den Erfolg der Unabhängigkeitskämpfer Südsudans. Khartum unterstützte im Gegenzug mehr als zwei Jahrzehnte lang die christlich-fundamentalistische LRA (Lord’s Resistance Army) von Joseph Kony in Norduganda und die islamisch-fundamentalistische ADF im Ostkongo.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Auslaufmodell-Greenwash

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Die WM in Katar war nur ein Beispiel unter vielen.

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :    Patrik Berlinger /   

Viele Firmen behaupten, klimaneutral zu sein. Statt eigene Emissionen zu reduzieren, setzen sie oft auf Kompensationen im Ausland.

(Red.) Der Autor dieses Gastbeitrags ist verantwortlich für die politische Kommunikation bei Helvetas, einer Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. Infosperber publiziert eine aktualisierte Version seines Artikels, der im entwicklungspolitischen Newsletter von Helvetas erschienen ist.  

Vor vier Jahren gab der Bundesrat bekannt, dass die Schweiz ab 2050 «unter dem Strich» keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen soll. Das Volk hat dieses Ziel mit dem deutlichen Ja zum Klimaschutz-Gesetz bestätigt und erste Massnahmen für die Reduktion der Emissionen beschlossen: innovative Unternehmen und Branchen stärken, Gebäude sanieren und Elektroöfen und Ölheizungen ersetzen. Wie die Schweiz allerdings gesamthaft und in allen Sektoren bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Netto-Null kommen soll, bleibt Gegenstand politischer Debatten.

Wichtige Anhaltspunkte liefert die «Langfristige Klimastrategie der Schweiz» aus dem Jahr 2021. Die Strategie geht in die richtige Richtung und ist ambitioniert. Und doch reicht es nicht. Denn die Strategie sieht vor, dass für Netto-Null lediglich die Emissionen innerhalb der Schweizer Landesgrenzen berücksichtigt werden. Dies, obwohl bekannt ist, dass zwei Drittel der schweizerischen Emissionen im Ausland entstehen.

Zum anderen sollen CO2-Minderungen in anderen Ländern zugekauft werden. So fördert die Schweiz im Rahmen bilateraler Abkommen Klimaschutz-Projekte in ärmeren Ländern wie Ghana, Peru oder Dominica – und rechnet die erzielten Treibhausgas-Reduktionen dem eigenen nationalen Emissionsreduktionsziel an.

Immer mehr Firmen sind angeblich «klimaneutral» 

Diesen «buchhalterischen Trick», CO2-Emissionen via Klimaschutz in ärmeren Ländern zu kompensieren, wendet die Privatwirtschaft seit Jahren an. Die Versprechen, «klimaneutral» zu wirtschaften, haben allerdings immer absurdere Züge angenommen.

Jüngst behauptete die in Genf ansässige MKS PAMP, die eine Edelmetallraffinerie betreibt, den ersten «klimaneutralen Goldbarren» zu verkaufen. Obschon offensichtlich ist, dass der Abbau des Rohstoffs immense Umweltschäden anrichtet und viel CO2 freisetzt. Gemäss dem Unternehmen ist «klimaneutral» dennoch möglich – dank CO2-Kompensationen im Ausland.

Auch Fliegen geht heute ohne «Flugscham»: Bei der Schweizer Fluggesellschaft Swiss kann der Kunde bei der Reisebuchung für ein paar Franken seinen Flug «ausgleichen» – mittels Nutzung nachhaltiger Treibstoffe (Sustainable Aviation Fuel, SAF) und einem Beitrag an Klimaschutzprojekte. Als kleines Plus gewährt die Swiss dazu «extra Statusmeilen» sowie «flexible Umbuchungsmöglichkeiten». Die SAF-Technologie steckt allerdings in den Anfängen. Das synthetische Kerosin ist erst in sehr geringer Menge verfügbar und teuer. Weltweit liegt der Einsatz von SAF im Promille-Bereich.

Im Dezember behauptete Katar, erstmalig eine «klimaneutrale WM» durchzuführen. Selbstverständlich ist dies unsinnig. Laut Katar und der FIFA wurde zwar von der Bauphase bis zum Abbau des gesamten Wettbewerbs mehr CO2 in die Luft geblasen als jemals zuvor in der Geschichte der WM. Die Organisatoren beteuerten aber, dass sie sämtliche Emissionen durch die Finanzierung ökologisch nachhaltiger Projekte «in der ganzen Welt kompensieren» würden. Bereits im November reichten die Klima-Allianz sowie Verbände aus mehreren europäischen Ländern Beschwerde gegen die FIFA ein. In ihrem Urteil vom 6. Juni unterstützte die schweizerische Lauterkeitskommission die Beschwerdeträger und befand die FIFA wegen Greenwashing für schuldig.

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Schliesslich verkündete St. Moritz diesen Winter stolz, das erste «klimaneutrale Skigebiet» der Schweiz zu sein. Pisten- und Dienstfahrzeuge würden mit CO2-neutralem Diesel fahren. Gebäude und Restaurants würden mit CO2-neutralem Heizöl beheizt. Ein offensichtlicher Fall von Greenwashing, denn die alternativ eingesetzten Treib- und Brennstoffe sparen gerade mal 5 – 8,5 Prozent CO2 ein. Der Rest wird über Klimaschutz-Projekte in Indonesien und Peru «kompensiert». Durch das Schützen der Wälder soll zusätzliches CO2 reduziert werden. Allerdings ist dies laut einem ETH-Forscher und Greenpeace fragwürdig und umstritten.

Probleme mit Ausland-Kompensationen 

Die «Zeit», der «Guardian» und «SourceMaterial» (ein non-profit Zusammenschluss von Journalist:innen) konnte Anfang Jahr nach einer neunmonatigen Recherche zeigen, dass Waldschutz-Projekte in vielen Fällen weniger CO2 binden als versprochen: Hinter mehr als 90 Prozent der CO2-Zertifikate, die Verra (der weltweit führende Zertifizierer von Emissionsgutschriften) auf Projekten zum Schutz von Regenwäldern ausgegeben hatte, standen keine realen Emissionsminderungen. Mit anderen Worten: Millionen von Emissionszertifikate, die es nie hätte geben dürfen, gelangten auf den freien Markt. Firmen wie Gucci, BHP, Shell, Chevron, Disney, Samsung, easyJet oder Leon verliessen sich auf die Regenwald-Zertifikate und polierten damit die CO2-Bilanz ihrer Unternehmen auf.

Inzwischen hat die EU naturbasierte Kompensationen aus dem CO2-Emissionshandel ausgeschlossen. Das hat zwei Gründe: Zum einen muss ein Projekt tatsächlich «zusätzlich» CO2 mindern. Nur wenn ein Waldgebiet ohne ein Schutzprojekt tatsächlich gerodet würde, verhindert ein Schutzprojekt die Emissionen von CO2. Ist das Waldgebiet aber ohnehin geschützt, weil es z.B. in einem staatlichen Naturpark liegt, wird durch ein weiteres Schutzprojekt kaum zusätzliches CO2 eingespart. Anderseits kann nie ausgeschlossen werden, dass der geschützte Wald nicht in zehn oder zwanzig Jahren doch gerodet wird oder einem Brand zum Opfer fällt, wodurch das CO2 dann doch freigesetzt wird.

Selbstverständlich muss die Staatengemeinschaft weiterhin alles dafür tun, um die Regenwälder zu schützen und die weltweite Abholzungsrate zu reduzieren. Ohne dies ist die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 und des 1,5 Grad-Ziels nicht zu machen. Ob freiwillige CO2-Kompensationsprojekte das richtige Instrument sind, ist allerdings mehr als fraglich.

Seit die EU und einige europäische Länder im freiwilligen Emissionshandel mehr Transparenz fordern, bewegt sich nun auch in der Schweiz etwas. Dienstleister wie Climate Partner Switzerland oder MyClimate, die Unternehmen dabei helfen, ihre CO2-Emissionen zu senken, verzichten seit Ende Jahr auf das Label «klimaneutral» und stellen klar, dass die von ihnen unterstützten Projekte lediglich «nachhaltig wirken».

Unternehmen müssen selbst nachhaltigen Wandel vorantreiben 

Zu lange haben es sich viele Firmen einfach gemacht und über billige Zertifikate in CO2-Kompensationsprojekte investiert, anstatt sich auf die Reduktion von Treibhausgasen in ihrem Geschäftsgebaren zu konzentrieren und Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auf einen raschen Ausstieg aus den fossilen Energien abzielen.

Unternehmen müssen ihre Klimastrategien überdenken und in erster Linie ihre eigenen betriebsinternen Emissionen und diejenigen entlang ihrer internationalen Wertschöpfungskette reduzieren.

Firmen dürfen darüber hinaus Klimaschutzprojekte im Ausland finanzieren – ja, sie sind dazu sogar eingeladen. Allerdings dürfen sie damit ihre eigene Emissionsbilanz nicht buchhalterisch aufhübschen und ihr Business dadurch besser darstellen als es in Tat und Wahrheit ist.

Konkret wäre es im Fall des Wintersports zum Beispiel zielführender, die Gebäude energetisch zu sanieren und mit Erdwärmepumpen auszustatten, PV-Anlagen zu installieren und den Fahrzeugpark zu elektrifizieren, nachhaltiges Essen in Restaurants anzubieten und Foodwaste zu reduzieren, und die Feriengäste dazu zu bringen, mit dem Zug anzureisen. Der schädliche Luxus-Privatjet-Verkehr ins Oberengadin müsste stark besteuert werden. Das Geld könnte in Klimaschutz in der Schweiz und in ärmeren Ländern investiert werden. «Greenwashing» hingegen können wir uns nicht mehr länger leisten.

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Kolumne-Wir retten die Welt

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Climate change is coming home

Datei:120613 Doppelleben Artwork.pdf

Eine Kolumne von Bernhard Pötter

Ich hänge an unserem alten Opel Zafira. Von der Zweifamilienkutsche mit viel Geschichte und noch mehr Beulen komme ich nicht los. Auch wenn ich die Kiste immer wieder abschaffen wollte, die Verbindung ist sehr schwer zu lösen.

Besonders in diesen Tagen: Da stand die Karre so lange unter den Linden in der Nachbarschaft, dass sie nun völlig verklebt ist. Man kriegt die Tür kaum auf. Danach bekommt man die Hand nicht mehr vom Türgriff weg. Und als unsere Carsharing-Freunde den Zafira durch die Waschstraße fahren wollten, wurden sie wieder weggeschickt: „Kein Wasser da!“

Ich war erschüttert. Es gibt kein Wasser mehr, um Autos zu waschen? Ist denn gar nichts mehr heilig? Könnte man nicht dem Kindergarten gegenüber das Trinkwasser abdrehen? Offenbar erreicht dieser Klimawandel, von dem alle reden, die Menschen, die ihm nie etwas getan haben. Dabei versuchen unsere Regierenden doch seit Jahrzehnten alles, um die klebrigen, hitzigen Fragen von ihren WählerInnen fernzuhalten: „Wir haben das im Griff“, heißt es. „Irgendwer erfindet sicher ein billiges Mittel dagegen. Nichts muss sich ändern, keiner wird was merken.“

Nun aber das: Kein Wasser mehr, um die Greens der Golfplätze grün zu halten. Bier wird teurer, weil Getreide bewässert werden muss. In Frankreich fällt der Atomstrom aus, weil die Flüsse kein Kühlwasser mehr liefern. Bei Stark­regen saufen U-Bahn-Schächte und Autobahntunnel ab. Profi-Fußballer machen Trinkpausen während der Partie. Unsere Zweitwohnungen am Mittelmeer sinken im Wert, weil sie keine Klima(!)anlage haben und es schwieriger wird, den Pool zu füllen. Und wenn die Klimakleber mal verhindert sind, klebt das Wetter selbst die Privatjets auf der aufgeweichten Rollbahn fest.

Bisher wurden nur Öko-Radikalinskis und Grüne abgestraft, wenn sie uns mit diesem Thema zu sehr auf den Wecker gingen. Wer uns das Heizen mit Klimakillern vermiesen will, wird medial und von WählerInnen abgewatscht. Wer Alternativen zur herrschenden Verantwortungslosigkeit fordert, wird als Terrorist behandelt. Aber plötzlich gilt das Ver­ursacherprinzip? Climate change is coming home und bringt die Hitze und das Chaos nicht mehr nur zu den Armen und Schwachen. Sondern auch dahin zurück, wo die Probleme herkommen: auf das Sonnendeck der globalen Arche Noah, in die Luxus-Spas der Spaßgesellschaft.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —  Plakat „Doppelleben – Der Film“

Verfasser DWolfsperger      /      Quelle    :   Eigene Arbeit      /      Datum    :    1. August 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

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Unten        —       P1000625

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Ein Unsozialer Ausstieg?

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

 Unter den Preisen werden in erster Linie die Ärmeren leiden

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In unmittelbarer Nähe von Atommüll-Lagerstädten sind sicher noch Wohnungen frei

Ein Debattenbeitrag vin Leon Holly

Das Ende der AKW-Nutzung verschärft die sozialen Verwerfungen der Energiewende. Die kleine Stromverbraucherin subventionierte industrielle Windparkbetreiber und gut betuchte Eigenheimbesitzer.

Mitte April war es also vorbei. In Deutschland gingen auch die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz. Vor allem im Lichte der Klimakrise erschien die Reihenfolge der deutschen Energiewende – erst aus der Atomkraft raus, dann aus der Kohle, und dann irgendwann auch aus dem Gas – mit der Zeit immer merkwürdiger. Statt mit der Kohle anzufangen, entledigte man sich zunächst einer fast CO2-freien Energiequelle.

Neben dem Weltklima leidet aber auch das oft beschworene soziale Klima unter dem Atomausstieg. Der Plan, das Stromnetz von fossiler und atomarer Grundlastversorgung auf 100 Prozent Erneuerbare umzustellen, bringt nämlich gewaltige Kosten mit sich bringt, unter denen besonders die Ärmsten ächzen.

Zwar können Fotovoltaik und vor allem Windkraft im Alltag recht billig Strom gewinnen. Doch die Gesamtkosten für die Transformation des Energiesystems sind gewaltig. So wollen die Treiber der Energiewende in den kommenden Jahrzehnten eine riesige Infrastruktur aus Kurzzeit- und Langzeitspeichern aus dem Boden stampfen, die bei Bedarf für die wetterabhängigen Erneuerbaren einspringen können. Darüber hinaus muss Deutschland auch das Stromnetz aus- und umbauen, neue Versorgungsleitungen legen und zur Harmonisierung der vielen dezentralen Energiequellen die Digitalisierung voranbringen. Schon heute sehen sich die Netzbetreiber häufig gezwungen, mit teuren „Redispatches“ (Anpassungen) einzugreifen, um Stromproduktion und -nachfrage im Gleichgewicht zu halten.

Alle diese Maßnahmen vergrößern die Rechnung für die Energiewende. Man könnte diese Kosten abmildern, würde man statt der Totaltransformation die Atomkraft als CO2-armen Grundlastsockel für Wind und Sonne beibehalten oder sie gar weiter ausbauen, wie es andere Länder planen. Schon 2021 zog der Bundesrechnungshof bittere Bilanz: Die Energiewende „droht Privathaushalte und Unternehmen finanziell zu überfordern“; die Kosten des Netzumbaus „treiben den Strompreis absehbar weiter in die Höhe“. Dazu kommt der Preis der CO2-Zertifikate, der in den kommenden Jahren weiter steigen und die noch fest verankerte fossile Grundlastproduktion mit Kohle und Gas verteuern wird.

Am Ende zahlen die Verbraucherinnen. Erst vor Kurzem hat die Bundesregierung die EEG-Umlage gestrichen, mit der alle Stromkunden jahrelang den Ausbau von Solar- und Windkraft bezuschussten. Auch die kleine Stromverbraucherin subventionierte darüber großindustrielle Windparkbetreiber und gut betuchte Eigenheimbesitzer, die Solarzellen auf ihre Dächer pflasterten – eine Umverteilung von unten nach oben. Nach über zwanzig Jahren Energiewende und Subventionen in Höhe von Hunderten Milliarden Euro hat Deutschland nicht nur das fossillastigste Netz Westeuropas, sondern auch mit die höchsten Strompreise auf dem Kontinent. Teuer an der Kernenergie wiederum ist vor allem der Bau von AKWs. Im Alltagsbetrieb produzieren sie hingegen effektiv und damit auch günstig Strom, wie Zahlen der Internationalen Energieagentur zeigen – Endlagerungs- und Rückbaukosten eingeschlossen. Besonders eine Laufzeitverlängerung bestehender Meiler hätte also ein Gegenmittel für steigenden Strompreise sein können.

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Die Politik hat mittlerweile erkannt, dass der Abbau gesicherter Leistung zum Problem werden könnte – und setzt deshalb bei der Nachfrage an. Das Umweltbundesamt bezeichnet „die Reduktion des Energieverbrauches“ als „eine der größten Herausforderungen der Energiewende“. Um das Stromsparen zu erleichtern, sollen alle Anbieter variable Stromtarife anbieten: Der Preis wird dann stündlich schwanken, abhängig davon, ob die Sonne gerade scheint oder der Wind weht.

Bis 2032 will die Bundesregierung zudem digitale Strommessgeräte in jedes Haus bringen. Auf den sogenannten Smart Metern können Kunden in Echtzeit erkennen, wie hoch der Strompreis ist und ihr Verhalten daran anpassen. „Demand Management“ nennt die Regierung das. Was nach neoliberalem Sprech klingt, atmet auch ebenjenen Geist: Sind die Strompreise in der Dunkelflaute gerade hoch, werden sich Menschen mit geringem Einkommen wohl zweimal überlegen, ob sie sich den Tarif leisten können. Sie werden einfach aus dem „dynamischen“ Markt gedrängt – oder müssen entsprechend Geld berappen.

In Großbritannien will die Regierung Smart-Meter-Nutzern nun sogar Geld für eingesparten Strom bezahlen. Kritiker warnen zu Recht: Arme Menschen, die bereits nicht viel Energie nutzen, könnten ihren Basisverbrauch noch weiter einschränken, um am Ende des Monats etwas mehr Geld auf dem Konto zu haben. Die gesicherte Leistung aus AKWs könnte solche Angebots- und Preisschwankungen abschwächen. Der Kurs der Bundesregierung droht indes auch hierzulande, den Armen eine neue Art der Austeritätspolitik aufzuerlegen: Sobald die Gesellschaft zum Sparen aufgerufen wird, spüren es die Armen als Erste.

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Vessels used for keeping the used radioactive waste. OAP stands for w:Office of Atoms for Peace. OAEP stands for w:Office of Atomic Energy for Peace.

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Süd- und Mittelamerika:

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

 Was in vielen unserer Medien unterging

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :     Romeo Rey /   

Linke Reformpolitik hat in vielen Ländern keine Chance, weil sich konservativ dominierte Parlamente mit aller Kraft dagegenstemmen.

In mehreren Ländern Lateinamerikas, wo linksgerichtete Kandidaten in letzter Zeit die Präsidentschaftswahlen gewonnen haben, erweisen sich konservative Mehrheiten in den Parlamenten wie erwartet als entscheidende Bremsklötze. Gesetzes- und Verfassungsprojekte, die auf strukturelle Reformen hinauslaufen sollten, prallen an einer Wand des Widerstands ab. Allerdings kann man auch nicht übersehen, dass die Anhänger des Wandels mangels politischer Erfahrung und innerer Geschlossenheit oft jedes Fingerspitzengefühl vermissen lassen.

Ein typischer Fall für dieses Scheitern ist Chile, das Ende 2021 den kaum 35-jährigen ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric zum Präsidenten der Republik wählte, eine linke Mehrheit im Kongress jedoch klar verfehlte. Jener Urnengang schien zu bestätigen, dass das politische Spektrum in diesem Andenstaat in drei ähnlich grosse Drittel zerfällt, wobei die mittlere Fraktion normalerweise eher nach rechts als nach links tendiert. Dieser Trend verstärkte sich gerade noch mal beim Plebiszit über eine neue Staatsverfassung und erst recht bei der kürzlich erfolgten Wahl eines nur noch 51 Personen zählenden Verfassungsrats, in dem nun Konservative und Ultrarechte fast nach Belieben schalten und walten können. Diesen in dem Ausmass von niemandem erwarteten Umschwung kommentiert die britische Tageszeitung «The Guardian» mit Projektionen auf andere Teile des Subkontinents.

Eine Analyse in «Nueva Sociedad» befasst sich mit dem Umstand, dass die Teilnahme an diesen Urnengängen – entgegen früherer Regelungen – obligatorisch war, was offenbar zu starken Verwerfungen zwischen den Blöcken führte. Fatal war auch, dass sich die Linken nicht als Einheit präsentierten, sondern den Eindruck von Zerwürfnis in manchen zentralen Punkten hinterliessen. In naher Zukunft wird die konservative Mehrheit im Verfassungsrat in eben diesen heiklen Fragen (privates oder staatliches Übergewicht in der Alters- und Krankenversicherung sowie im Schul- und Hochschulwesen) Farbe bekennen müssen. Mit simplen Status-quo-Lösungen dürfte sich die Mehrheit des chilenischen Volkes kaum abfinden wollen. Auch für neuere Probleme dürfte es keine Patentformeln geben, z. B. für die Stagnation in der Wirtschaft, das Auflodern der Inflation, die illegale Einwanderung im Norden des Landes, den andauernden Konflikt mit den indigenen Mapuches im Süden und die zunehmende Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel.

Ein ähnliches Panorama offenbart sich den regierenden Linken in Kolumbien. Präsident Gustavo Petro sah sich kaum ein Jahr nach der Amtsübernahme veranlasst, eine gründliche Umbildung seines Kabinetts vorzunehmen. Sieben der achtzehn Minister mussten den Hut nehmen. Praktisch bei allen Entscheiden muss der Staatschef sorgfältig abwägen, wie er die sehr heterogene Truppe seines Pacto Histórico zusammenhalten kann, während er gleichzeitig in den Reihen der seit zwei Jahrhunderten (mit)regierenden Liberalen und Konservativen die nötigen Stimmen zusammenkratzen muss, um seine wichtigsten Projekte durch das ihm mehrheitlich feindlich gesinnte Parlament hindurchzuschleusen.

Eigentlich sollte die Regierungspolitik in erster Linie darauf hinauslaufen, die Lebensbedingungen für die ärmere Hälfte Kolumbiens substanziell zu verbessern. Doch die bürgerliche Opposition verzögert mit allen Mitteln, Tricks und Vorwänden alle Bemühungen um die versprochene Landreform. Auch die Umsetzung der Friedensabkommen mit verschiedenen Guerillas kommt kaum vom Fleck, berichtet die Online-Zeitung amerika21. Die linken Ultras drohen die Geduld zu verlieren, und auf der Gegenseite lauert im Hintergrund Expräsident Álvaro Uribe, der schon immer «gewusst hat», dass die Verhandlungen mit den Aufständischen nie zu einem für ihn und seine Anhängerschaft akzeptablen Ergebnis kommen würden.

Und wie sieht es aus in Brasilien? Kommt der wiedergewählte Lula da Silva in seinem dritten Mandat mit seinen ähnlich lautenden Plänen in Fahrt? Dass der altverdiente Mann der brasilianischen Arbeiterbewegung – wie seine an die Schalthebel der Regierungsgeschäfte gekommenen Kolleginnen und Kollegen in diesem Erdteil – leisten und liefern möchte, steht ausser Zweifel. Doch auch im südamerikanischen Riesenstaat zählen über kurz oder lang nur die konkreten Ergebnisse. Die Lobbys der reichsten Fazendeiros, der Rohstoffkonzerne, der Bau- und Möbelholzindustrie, der Goldgräber, Viehzüchter und jene der modernen Bergbauindustrie sind landesweit bestens organisiert. Ihre Tentakel reichen in alle legislativen, exekutiven und juristischen Bereiche hinein. Gegen eine solche Übermacht hat auch das formale Oberhaupt eines der grössten Staaten der Welt nicht viel zu bestellen, wie ein Bericht in der NZZ deutlich macht. Vor allem dann nicht, wenn manche Interessenkonflikte tief in die eigene Anhängerschaft hineinreichen.

Etwas anders gelagert sind die Probleme, mit denen sich die Regierung von Nicolás Maduro herumschlägt. Zum einen mochte er einen Punkt für sich verbuchen, als die Meldung in Caracas eintraf, dass sein bis anhin wichtigster Rivale Juan Guaidó schliesslich die Segel streichen musste und sich in die USA abgesetzt hat. Guaidó hatte vor ein paar Jahren erreicht, dass ihn rund 60 Staaten (vor allem der Alten Welt sowie einige konservativ regierte in Lateinamerika) als «legitimen Präsidenten» von Venezuela anerkannten. Rückblickend ist nun festzustellen, dass solche Illusionen kaum mehr als eine peinliche Schaumschlägerei waren.

Zum andern muss Maduro nun zuschauen, wie Washington Venezuelas einst rentabelstes Unternehmen im Ausland ausschlachtet und den Meistbietenden zum Kauf anbietet. Wörtlich aus der Depesche von amerika21: «Mit drei Raffinerien und einem Netz von mehr als 4000 Tankstellen in den USA hat Citgo im vergangenen Jahr einen Gewinn von 2,8 Milliarden US-Dollar erzielt und könnte mit 13 Milliarden Dollar bewertet werden. Caracas hat jedoch seit 2019 keine Einnahmen mehr erhalten, nachdem Washington die Selbstausrufung Guaidós zum ‹Interimspräsidenten› anerkannt und die Leitung von Citgo an einen Ad-hoc-Vorstand der Opposition übergeben hatte.» Lateinamerika wird die Abwicklung dieses Falles aufmerksam verfolgen, um eigene Schlüsse über die Sicherheit von fremdem Eigentum in den USA zu ziehen.

Auf der Kippe scheint das Schaukelspiel zwischen links und rechts in Ecuador zu stehen. Dort hat der konservative Staatschef Guillermo Lasso denselben Schritt unternommen wie sein damaliger linksgerichteter Amtskollege Pedro Castillo im benachbarten Peru. Beide wollten den gordischen Knoten zwischen ihrer Regierung und der Opposition mit der Schliessung des Parlaments und nachfolgenden Neuwahlen lösen, was man im Äquatorstaat hochoffiziell als muerte cruzada (gleichzeitiger Tod) bezeichnet. Dem Amtsinhaber in Quito könnte laut amerika21 dieses Manöver gelingen, während der Schuss in Lima nach hinten losging. Als möglicher Profiteur in dieser verzwickten Situation lauert Ecuadors früherer Präsident Rafael Correa.

In Argentinien, wo man sich auf allgemeine Wahlen im Oktober vorbereitet, ist mittlerweile ein neuer wertgrösster Geldschein in Umlauf gesetzt wurden. Er lautet auf 2000 Pesos, zum offiziellen Wechselkurs beträgt sein Wert derzeit umgerechnet knapp 8 Franken / Euro / US-Dollar, zum parallelen oder «schwarzen» Kurs gar nur die Hälfte davon. Bis zum Jahresende rechnet man in Buenos Aires mit einer Inflationsrate von 140 Prozent. Das Karussell der Anwärter auf die Nachfolge des diffus populistischen Präsidenten Alberto Fernández dreht sich schwindelerregend, und viele fragen sich, was für einen Reiz es haben könne, sich um ein derart giftiges Erbe zu streiten.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

Parteienfamilien und andere Inseln

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Nina Apin

Unsere Autorin redet mit fremden, einsamen Menschen. Tage danach beklagt sich ein italienischer Freund auch über Einsamkeit – wegen Berlusconi.

Haben Sie auch nicht gemerkt, oder? Dass gerade die Aktions­woche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ zu Ende ging, meine ich. Sie fand ohne große Öffentlichkeit, von Montag bis Freitag statt, um für das Problem zu sensibilisieren, das laut Bundesfamilienministerium besonders häufig junge Erwachsene und sehr alte Menschen, meist Frauen, betrifft: einen empfundenen Mangel an sozialen Beziehungen zu anderen Menschen.

Von der Website der Aktionswoche geriet ich auf eine Mitmachseite, auf der man einen „Ort der Gemeinsamkeit“ eintragen konnte, um sich einsamen Menschen als Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Kurz dachte ich an unseren Küchentisch, der wie geschaffen ist für ausufernde Gespräche und ebenso ausufernde Mahlzeiten – der eben aber auch ein Ort des familiären Chaos ist. Ein Flyer zur Aktionswoche zeigt einen älteren Mann allein beim Essen: „Einsamkeit sitzt mit am Tisch“, so der Slogan.

Ich versuchte mir unseren Küchentisch verwaist vorzustellen, ohne das ganze Gerümpel und das laute Durcheinanderreden drum herum – es gelang mir nicht. Interessant, wie gut Verdrängung funktioniert. Dabei hatte ich mich doch erst letzte Woche mit Kind eins auf Klassenfahrt, Kind zwei und dem Mann ständig auf Achse durchaus mal einsam gefühlt – allerdings nur sehr punktuell, weil es mich eben traurig macht, alleine zu essen.

Echte Einsamkeit aber ist fies, sie macht gleichzeitig mürbe und bedürftig; das merke ich, wenn ich den verwitweten Onkel am Telefon habe oder der alleinstehenden älteren Frau aus der Straße begegne, die nach einem freundlichen „Wie geht’s?“ gar nicht mehr aufhört zu reden.

Klagen über Einsamkeit

Der Mitarbeiter meiner Friseurin hat unlängst gekündigt – er war, so erzählte sie, genervt von den älteren Herrschaften, für die das Waschen, Schneiden, Legen, Föhnen der Höhepunkt ihrer Woche ist. Friseursalons sind auch Orte gegen Einsamkeit, allerdings nur für diejenigen, die es sich leisten können, sie regelmäßig aufzusuchen.

Wer es sich nicht leisten kann, sich temporär auf Inseln der (wenn auch kommerziellen) menschlichen Interaktion zu flüchten, verwelkt in der eigenen Wohnung und lauert auf Kontaktaufnahmen von außen – und sei es nur der Paketbote, der eine Sendung für den Nachbarn dalassen will.

Am Dienstag klagte auch mein ita­lie­ni­scher Freund überraschend über Einsamkeit. Erst war ich etwas besorgt, schließlich entstand unser Kontakt während des ersten Coronalockdowns, als wir, deprimiert und so­zia­ler Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände bedürftig, uns regelmäßig digital zu unterhalten anfingen.

Einsam dürfte der Cavaliere nicht gewesen sein

Job verloren? Freundin weg? – Nein, präzisierte er, es sei politische Einsamkeit, die ihn plage. Nicht nur er, ganz Italien fühle sich wie verwaist, nachdem der ewige „Cavaliere“ das Zeitliche gesegnet hatte: „Mein ganzes Leben lang war Silvio Berlusconi immer da“, barmte er. – Ganz Italien in Trauer und Einsamkeit?

Nun ja. Ich erinnerte ihn dezent an das Buch in seinem Rücken, das er mir bei anderer Gelegenheit einmal gezeigt hatte. „L’odore dei soldi“ (Der Geruch des Geldes), das den zweifelhaften Quellen von Berlusconis immensem Reichtum nachspürt, fand 2001 mehr als 300.000 LeserInnen in Italien. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass es Berlusconi nur dank seiner engen Kontakte zur sizilianischen Mafia gelungen sei, seine Firma Fininvest aufzubauen.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Ärzte rufen zum Boykott

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

Deutsche HNO-Ärzte weigern sich, Kinder zu operieren

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martina Frei /   

107 Euro für eine Operation seien zu wenig, sagen Fachverbände. Sie riefen zum OP-Boykott auf. Die Leidtragenden sind die Kinder.

Seit einem Jahr hört Lukas* schlechter. Während der Sprechstunde in der Praxis des bayrischen HNO-Arztes Rainer Jund sieht der Junge aus dem Fenster, sein Blick wirkt schläfrig. «Manchmal hat man den Eindruck, dass er völlig abwesend ist», berichtet Lukas Vater. Lukas ist heute bereits das dritte Kind mit denselben Problemen in der Sprechstunde.

Der Grund für Lukas Beschwerden sind seine riesigen Rachen- und Gaumenmandeln. Sie engen den Luftweg ein und erschweren dem Kind das Atmen. Um trotzdem ausreichend Luft zu bekommen, hat der Knabe den Mund ständig leicht geöffnet. Jede Nacht erwache sein Sohn zwei- bis dreimal, sagt der Vater. «Er schläft seit einem Jahr nicht mehr durch.»

Etwa eines von 100 Kindern bekommt wie Lukas beim Schlafen nicht genügend Luft und hat nächtliche Atemaussetzer. Die von solchen Schlafapnoen betroffenen Kinder sind tagsüber müde oder hyperaktiv. Ihr Blutdruck kann wegen des nächtlichen Sauerstoffmangels steigen. Meist hören sie auch schlechter, weil die grossen Rachenmandeln dazu führen, dass sich im Mittelohr Flüssigkeit ansammelt. Die Folge: Ihr Spracherwerb verzögert sich und sie können im Kindergarten oder in der Primarschule schlechter am Unterricht teilhaben. Ausserdem neigen sie zu wiederkehrenden Mittelohrentzündungen. All das schmälert ihre schulischen Leistungen.

Berufsverband warnt vor unterlassenen Operationen …

Manchmal bilden sich vergrösserte Mandeln von selbst wieder zurück. Wenn Kinder aber so schwer betroffen sind wie Lukas, dass sie im Schlaf zu wenig Sauerstoff bekommen oder schlecht hören, dann kann ihnen eine Operation helfen. «Häufig führt die Entfernung der Rachen- und Gaumenmandeln zu einem Verschwinden der Schlafapnoen und verhindert schwerwiegende Krankheitsfolgen», klärt eine Broschüre des Kinderspitals Zürich auf. Um den Mittelohrerguss zu beseitigen, wird bei dem Eingriff meist vorübergehend noch ein kleines, sogenanntes Paukenröhrchen ins Trommelfell gesteckt. In der Regel werden betroffene Kinder zwischen zwei und acht Jahren an den Mandeln operiert.

Doch in Deutschland weigern sich die meisten operierenden HNO-Ärzte seit Januar, Kinder wie Lukas zu operieren. «Einen Operationstermin haben wir erst in fünf Monaten bekommen. Eine andere Klinik hat diese Eingriffe ganz eingestellt», sagt die Mutter und sieht zu ihrem Jungen, der von all dem nicht viel mitzubekommen scheint.

Schon im Dezember 2022 betrug die Wartezeit für eine solche Operation in Deutschland laut dem «Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte» (DBHNO) in Spitälern sechs bis neun Monate, in ambulanten OP-Zentren drei bis vier Monate.

Gemessen an der Entwicklung eines Kindes, seien das «exorbitant lange Wartezeiten», die mehr als zehn Prozent der Lebenszeit bis zur Einschulung ausmachen könnten, gab der Präsident des DBHNO, Jan Löhler, zu bedenken. Er warnte, dass eine Verzögerung bei Kindereingriffen «oft nachhaltige Folgen» habe: Die Eingriffe seien notwendig für die Kinder hinsichtlich geistiger Störungen, Gedeihstörungen, Schlafstörungen und Sprachentwicklungs-Verzögerungen. Auch um wiederkehrende Infekte zu vermeiden spielten die Operationen «eine entscheidende Rolle».

… und ruft trotzdem zum Boykott auf

Dessen ungeachtet riefen im Januar der DBHNO und ein weiterer Berufsverband die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und -Ärztinnen auf, bei Kindern keine solchen Operationen mehr durchzuführen. 85 Prozent der ambulant operierenden HNO-Ärzte beteiligen sich angeblich daran.

Die Familien warten nun noch länger, bis sie einen Operationstermin erhalten. Oder sie fliegen in die Türkei, um ihr Kind dort für umgerechnet etwa 2300 bis 3400 Franken operieren zu lassen. Im Internet sind diverse solcher Angebote zu finden. Eine andere Familie, die zu Jund kam, machte eine Adresse in Österreich ausfindig. Junds Mitarbeiterinnen telefonieren für Lukas herum, um vielleicht doch noch irgendwo einen Operationstermin für ihn zu erhalten.

Der Grund für den OP-Boykott ist die aus Sicht der deutschen HNO-Ärzte «chronische Unterfinanzierung des ambulanten Operierens». Das Fass zum Überlaufen brachte eine Tarifreduktion. Seit Januar 2023 bezahlen die deutschen Krankenkassen nur noch rund 107 Euro für den Eingriff, der rund zehn bis zwanzig Minuten dauert. Etwa 174 Euro beträgt das Honorar, wenn mit Laser operiert wird. Auf diese Beträge hatten sich Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Krankenversicherer geeinigt.

Laut dem «GKV-Spitzenverband», der die Interessen der gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland vertritt, wurde das Honorar für die Mandel-Operationen um vier Euro, von 111 auf 107 Euro, reduziert. Das Honorar für andere Operationen sei hingegen aufgestockt worden.

Die Vergütung für die Mandel-Operationen sei nicht kostendeckend, sagen die HNO-Verbände. Kein Zentrum könne damit «die laufenden Kosten stemmen. Von der Summe müssen die OP-Miete (40 Euro), die Sterilisation der Instrumente (25 Euro), die OP-Assistenz (15 Euro) sowie weitere Posten wie die Instrumentenanschaffung, die Wartung der OP-Technik, die Haftpflichtversicherung sowie die Rufbereitschaft des Arztes nach einem Eingriff, bezahlt werden.» Unterm Strich würden dem Operateur etwa zehn bis 20 Euro vor Abzug von Steuern und Altersvorsorge als Honorar bleiben. «Durch die jahrelange Unterfinanzierung der HNO-Kinderoperationen haben viele ambulante Operateure Ihre OP-Tätigkeit in dem Bereich eingestellt», so Löhler.

«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen»

In Hamburg hätten 2019 noch 50 HNO-Ärztinnen und Ärzte Kinder operiert, 2022 seien es nur noch 20 gewesen, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». In Berlin habe sich die Anzahl halbiert, in Bayern sei sie um ein Fünftel gesunken. Der Protest sei nun das letzte Mittel, um die Verantwortlichen in Politik und bei den Krankenkassen «wachzurütteln und das schleichende Sterben der ambulanten HNO-Kinderchirurgie zu stoppen», so der DBHNO, der «die ideellen und wirtschaftlichen Interessen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte in Praxis und Klinik vertritt». Für Mandeloperationen gibt es klare Operationskriterien. Bei einer derart defizitären Vergütung in Deutschland sei davon auszugehen, dass die Operationen auch früher schon nicht unnötig erbracht worden seien, so Löhler.

«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen», schrieb das «Deutsche Ärzteblatt» im März 2023. «Der Verband spricht von einer ‹desaströsen Versorgungssituation›, unter deren Folgen die Patienten und ihre Familien litten.»

Im Januar betrug die durchschnittliche Wartezeit für einen Operationstermin in einem ambulanten Zentrum laut DBHNO bereits vier bis fünf Monate – «Tendenz steigend». Der Präsident des Verbands sprach Klartext: «Wir alle zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken, locker 1000 Euro für die Reparatur einer zerkratzten Stossstange bei unserem Auto. Gleichzeitig wird es offenbar gesellschaftlich akzeptiert, dass eine Operation im Rachen von kleinen Kindern, die mit vielen Risiken […] mit Blutungs- und Erstickungsgefahr sowie einer Vollnarkose verbunden ist, nur ein Bruchteil wert sein und unter den eigentlichen Betriebskosten verramscht werden soll.»

Das sehen die Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung anders. Insgesamt werde das Abrechnungsvolumen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte für ambulante Operationen um 2,3 Prozent steigen, prognostizieren sie. Der Grund: «Bei längeren Operationen, wie beispielsweise der plastischen Korrektur der Nasenscheidewand, hat sich die Vergütung von 261 Euro auf 304 Euro erhöht», so der «GKV-Spitzenverband».

«Es ist empörend, wie schamlos einige Ärzteverbände versuchen, immer mehr Geld aus den Taschen der Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung herauszuholen und nicht einmal vor Drohungen gegen die Gesundheit von Kindern haltmachen. Die Politik ist gefordert, diesem masslosen und unethischen Handeln dieser Verbände Einhalt zu gebieten», schrieb der «GKV-Spitzenverband». Ihm zufolge lag der durchschnittliche Reinertrag pro HNO-Praxisinhaber oder -inhaberin im Jahr 2019 bei 185’000 Euro.

Der Kampf ums ärztliche Honorar solle nicht auf dem Rücken der kranken Kinder ausgetragen werden, forderte ein Sprecher des «GKV-Spitzenverbands». Doch das ist eingetreten.

Auch andere Ärzteverbände fordern höhere Honorare

Den Vorwurf, die HNO-Ärzte handelten unethisch, weist Jan Löhler zurück: «Nicht die Operateure handeln unethisch, sondern die gesetzlichen Krankenkassen, welche die wichtigen Operationen nicht ausreichend finanzieren wollen. Die Aktion richtet sich nicht gegen die Patienten, sondern ist der Versuch, den Versorgungsnotstand zu beenden.»

Dem Beispiel der HNO-Ärzte könnten weitere folgen. Löhler zufolge liesse sich «die Liste lange fortsetzen». So würden etwa die Narkoseärzte seit Jahren höhere Honorare für Ihre Leistungen fordern.

In Bremen einigte sich die «Allgemeine Ortskrankenkasse Bremen» mittlerweile mit den dortigen HNO-Ärztinnen und -Ärzten auf ein höheres Honorar, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». Der Vorsitzende des Bremer Landesverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte stellte in Aussicht, dass die betroffenen Kinder nun wieder «zeitnah einen Operationstermin bekommen». Dort können Kinder wie Lukas nun – im wahrsten Sinn – aufatmen.

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Scientist Rebellion

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

Erster Professor wegen Klimaprotest vor Gericht

Blockade Kronprinzenbrücke durch Science Rebellion, Berlin, 06.04.2022 (51990580737).jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Scientist Rebellion

Am 20. Juni 2023 um 9.30 Uhr wird der Klimaprotest von Prof. Dr. Nikolaus Froitzheim am Amtsgericht Tiergarten, Kirchstraße 6, 10557 Berlin, in einem öffentlichen Gerichtsverfahren verhandelt.

Der Geologie-Professor, der an der Universität Bonn forscht und lehrt, nahm am 06. April 2022 gemeinsam mit elf weiteren Wissenschaftler:innen an der Blockade der Kronprinzenbrücke nahe des Regierungsviertels in Berlin teil. Soweit uns bekannt, handelt es sich im Zuge der immer zahlreicher werdenden Klimaproteste um die erste Gerichtsverhandlung in Deutschland, bei der ein Professor aufgrund seiner Beteiligung angeklagt wird.

Anlass des Protests von Scientist Rebellion war die Veröffentlichung des dritten Teils des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates zwei Tage zuvor. Dieser Bericht machte mehr als deutlich, dass es keinen plausiblen Weg mehr gibt, unter 1,5 °C Erderhitzung zu bleiben. Die Regierungen, inkl. der deutschen, haben damit die sichere Klimazone nicht verteidigt. Prof. Froitzheim, der an der Universität Bonn regelmäßig über die Klimakrise lehrt und eine öffentliche Ringvorlesung zu diesem Thema abhält, sieht seine Beteiligung an Klimaprotest-Aktionen des zivilen Ungehorsams als durch den Klimanotstand gerechtfertigt an, unter anderem zum Schutz seiner drei Enkelkinder. Die Anklage gegen den 65-Jährigen aufgrund seiner friedlichen Straßenblockade lautet auf versuchte Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Der Strafprozess fügt sich ein in eine Reihe von Gerichtsverhandlungen wegen Klimaprotesten von Wissenschaftler:innen der Initiative Scientist Rebellion, die seit Februar diesen Jahres laufen. Am 09. Mai stand der promovierte Physiker Dr. Michael Hofmann aufgrund seiner Teilnahme an drei Klimaprotest-Blockaden in Berlin vor Gericht.

„Als Physiker sehe ich die bittere Notwendigkeit, die Treibhausgasemissionen bis 2030 auf Null zu bringen, weil wir in den letzten Jahrzehnten wiederholt unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben.“, erklärt Dr. Hofmann. „Ansonsten würden wir das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhalten und Dynamiken in Gang setzen, welche wir später nicht mehr rückgängig machen können.“

Die Richterin sprach Dr. Hofmann in allen Punkten frei. Sie zeigte Verständnis für die Beweggründe des Angeklagten, ging jedoch nicht weiter auf das Thema ein. „Die Grenze zwischen aktivem und passivem Widerstand verschwimmt“, so die Richterin, „wenn leichte Behinderungen durch Ankleben oder Anketten Gewalt darstellen soll. Beides ist in meinen Augen gleichrangig mit wegtragen lassen und damit straffreier, passiver Widerstand.“

Ebenfalls im Mai wurde vor dem Amtsgericht München der Klimaprotest der promovierten Epidemiologin, Ökotrophologin und Mutter zweier Teenager Dr. Cornelia Huth verhandelt, die im Oktober 2022 an einer Straßenblockade von Scientist Rebellion in der Münchner Innenstadt teilgenommen hatte. Das Gericht unterstellte die beiden Beweisanträge zur Gefahr durch die Klimakrise und zur Wirksamkeit von Aktionen zivilen Ungehorsams als wahr. Zudem betonte die Richterin, dass es auf sie Eindruck mache, wenn sich hochgebildete Wissenschaftler:innen an den Klimaprotesten beteiligten. Dennoch sprach sie Frau Dr. Huth und ihre beiden Mitangeklagten Pater Dr. Jörg Alt und Luca Thomas der Nötigung für schuldig und verhängte eine Strafe in Höhe von je 10 Tagessätzen – ein Strafmaß, das deutlich unter der Forderung des Staatsanwaltes lag.

Prof. Froitzheim, Dr. Hofmann und Dr. Huth betonen, dass sie mit ihrem Protest nicht nur auf den rasanten Zusammenbruch eines stabilen Klimas und die nicht annähernd ausreichenden Gegenmaßnahmen der Regierung aufmerksam machen möchten, sondern auch verdeutlichen wollen, dass die Klimaproteste der breiteren Klimabewegung legitim und aufgrund der immer größeren Dringlichkeit und existenziellen Bedrohung sogar erforderlich sind.

Prof. Marco Bohnhoff, Geophysiker am GeoForschungsZentrum Potsdam, sagt dazu: „Es besteht eine überwältigende Einigkeit in der Wissenschaft über die Notwendigkeit, umgehend Maßnahmen zu ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass die Politik nicht verfassungskonform agiert. Dass nun diejenigen, die im Rahmen von zivilem Ungehorsam darauf hinweisen, vor Gericht gestellt werden und im wahrsten Sinn aus dem Verkehr gezogen werden, kann ich nicht gutheißen. Deswegen unterstütze ich meinen Kollegen Prof. Froitzheim und die Aktivist:innen von Scientist Rebellion.“

Die Bonner Geographie-Professorinnen Nadine Marquardt und Lisa Schipper haben einen offenen Brief mit dem Titel „Protest gegen die Klimakrise darf nicht kriminalisiert werden. Solidarität mit Professor Niko Froitzheim“ geschrieben, der bereits von zahlreichen Wissenschaftler:innen aus dem In- und Ausland unterzeichnet wurde.

Direktlink Offener Brief: https://docs.google.com/document/d/1c4Ko0CQC-tLvDptJBzyF1nBaHtWB5vxplYmGdyw5FEg/edit

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Oben      —   Blockade Kronprinzenbrücke durch Science Rebellion, Berlin, 06.04.2022

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Unten        —         Aktivist von Scientist Rebellion wird von der Polizei nach Brückenblockade unter Anwendung von Schmerzgriffen abgeführt. Sein nackter Fuß schleift über den Asphalt. Kronprinzenbrücke, Berlin, 06.04.22

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Eine neue Öko Klasse?

Erstellt von Redaktion am 8. Juni 2023

Militante Diplomatie, epistemische Gerechtigkeit und die Rechte der Natur

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von                  :       · 07.06.2023

Stürme und Fluten, die auf den Klimawandel zurückgehen, können als Ausdruck einer revoltierenden Natur gelesen werden – eines Widerstands gegen die Zurichtung durch den Kapitalismus, der die Klima- und Umweltkrisen verursacht und regelrechtproduziert. Die Natur als Subjekt anzuerkennen (was indigene Völker traditionsgemäß tun), bedeutet nicht zuletzt ihr auch einen eigenen Rechtsstatus zuzuweisen (was häufig als Erfindung der westlichen Umweltbewegung gefeiert wird). Eine neue ökologische Klasse könnte dann entstehen, wenn solche Widersprüche in den Kämpfen der Unterjochten produktiv werden, wie der Autor und Theatermacher Kevin Rittberger in seinem Beitrag zeigt.

Am Anfang von Bruno Latours und Nikolaj Schulz’ „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ wird erklärt, was es mit dem Untertitel „Ein Memorandum“ auf sich hat. „Merkbuch, in dem man festhält, woran man sich erinnern will.“ Das Memorandum erschien kurz nach Latours Tod. Und ähnlich einem anderen großen Kritiker der Moderne, Günther Anders, hat auch Latours Spätwerk die Notwendigkeit einer radikalen Transformation unterstrichen. Die „politische Ökologie“, an der der Soziologe und Philosoph bis zuletzt gearbeitet hat, ist nämlich der „Name einer Kriegszone“ und es war unzweifelhaft, dass der u.a. durch „Carbon Bombs“ unter Beschuss stehende Planet unbedingt verteidigt werden muss.

Ein Memorandum ist auch noch etwas zweites, nämlich ein Schriftstück, das ein Diplomat einer Regierung zukommen lässt, um den Standpunkt seiner eigenen Regierung darzulegen. Nun ging es Latour nicht ausschließlich um die Regierbarkeit des Nur-Menschlichen. Latours Diplomat*innen reagieren auch auf den immensen Übersetzungsbedarf zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Akteur*innen. Und so bleibt es auch nicht bei ästhetisierenden Vorschlägen, wie sie etwa in der zeitgenössischen Kunst im Umlauf sind (hier sei nur Una Chaudhuris „interspecies diplomacies in anthropocentric waters“ erwähnt).

Latour/Schulz suchen einer ökologischen Klasse in ihrer Entstehung dergestalt zur Seite zu stehen, dass sich die richtigen „politischen Hebel“ finden lassen – jenseits der „Modernisierungsfront“, wozu auch der um Ölheizungswechselfristen, Kohleausstieg vorziehende und Emissionshandel bemühte, grüne Kapitalismus dieser Tage zweifellos gerechnet werden muss. Deshalb, weil es Latour/Schulz ums Ganze geht und die Suche nach der ökologischen Klasse auch die nach einem „militärischen Ethos“ ist, ist die Denkschrift auch ein Manifest geworden. Der gemeinsame Nenner einer ökologischen Klasse bleibt zwar unklar, auch werden Fragen ihrer Organisation ausgespart, die abschließende Frage zielt jedoch ins Herz gegenwärtiger Debatten: „Worin besteht die affektivste und effektivste Ausrüstung für ökologische ‘Kriege‘?“ Und wie gelingt es jenen Diplomat*innen, den „Widersinn der Ökonomisierung“ in einen Widerstand gegen die Ökonomisierung zu übersetzen?

Handlungen im Verzug

Die Gegenwart des Klimaaktivismus ist die Gegenwart „diplomatischer Schlachten“. Klimaktionen müssen heute angesichts der Gefahren einer fortschreitenden Unbewohnbarkeit der Erde und voranschreitender Verarmung, angesichts von rapide wachsender Klimaflucht und Ressourcenkriegen zunächst für die von der real-existierenden kapitalistischen Gegenwart betäubten Ohren rechtsstaatlich organisierter demokratischer Staaten übersetzt werden. Wir leben in einer „globalen Gefahrengemeinschaft“ (Jens Kersten) und diplomatische Schlachten sind Schlachten in fluiden Übergangszonen des Rechts, in denen mehr und mehr unklar wird, welche nationalen, internationalen, bilateralen Rechtssysteme und Abkommen wann greifen, wie sie aneinander vorbei oder ineinander wirken, wie ihnen von Seiten der Politik Einhalt geboten werden kann, wann sie von klimaaktivistischen Handlungen, die immer schon als Handlungen im Verzug wirken, aber auch von sich häufenden klimakatastrophalen Ereignissen erschüttert und zur Neujustierung gezwungen werden.

Der mühsame Ausstieg aus der EU Energiecharta, der endlich möglich erscheint, zeigt etwa, dass die Politik allmählich reagiert. Wie Klaus Dörre dargelegt hat, ist die ökonomisch-ökologische Zangenkrise aber nach wie vor wirksam (Dörre, 2021). Das Beispiel RWE im Rheinischen Revier und LEAG in Ostdeutschland zeigt gerade, dass auch Betriebsräte und Arbeiter*innen an der Verlängerung der Kohleförderung interessiert sind. Und auch in der Automobilindustrie kann nicht davon ausgegangen werden, dass Arbeiter*innen die „neosozialistische Option“ (Dörre) ziehen werden. Das alte Kampflied „Alle Räder stehen still/ Wenn dein starker Arm es will“ ist nunmehr der Ruf der antikapitalistischen Klimabewegung und es ist noch nicht ausgemacht, wie die unteren Klassen der Lohnarbeitenden, Prekarisierten, Papierlosen und Geflüchteten darin einstimmen. Muss die ökologische Klasse auf Industriearbeiter*innen folglich weitestgehend verzichten, da die sozialdemokratischen Parteien ihr traditionelles Klientel nicht an rechtsextreme Parteien verlieren wollen? Können ökologische Klassenkämpfe sich von den alten, allzu häufig national eingehegten Klassenkompromissen emanzipieren?

Ein Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021 war für Klimaaktivist*innen eigentlich wegweisend. Hier wurde eine „intertemporale Freiheitssicherung“ benannt, die durch den Gesetzgeber gewährleistet sein muss. Das Urteil beinhaltete die Warnung, dass die Gegenwart die schiere Möglichkeit aufbraucht, dass künftige Gesellschaften überhaupt noch freiheitlich organisiert werden können. Jens Kersten, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU München, macht seit dem Urteil jedoch erhebliche Versäumnisse aus: „Wenn Klimaaktivist*innen nun protestieren, müsste der Verfassungsstaat als Rechtsstaat dies bei der Frage der rechtlichen Bewertung von Protestaktionen zumindest berücksichtigen. Dass er dies – bis auf ganz wenige Ausnahmefälle (AG Flensburg) – aber gerade nicht tut, zeigt wiederum, dass seitens der staatlichen Institutionen der Wille besteht, dass der Protest gegen die ökologische Entwicklung schlicht nicht in der Öffentlichkeit sichtbar sein soll.“

Zum Schaden kommt noch der Spott, wenn die Selbstjustiz wutentbrannter Autofahrer*innen mediale Akzeptanz und Legitimation erfährt. Zudem wird die aus dem Urteil ableitbare ultimative Handlungsnotwendigkeit täglich im Säurebad parteipolitischer Kompromisslogiken aufgelöst. Die Proteste von Klimaschützer*innen drohen kriminalisiert zu werden, während die Regierungsvernunft allzu pragmatisch ausfällt. Schließlich muss der UN-Generalsekretär einschreiten, um darauf hinzuweisen, dass Klimaaktivist*innen geschützt werden müssen. Aber dem gesamten politischen Zirkus fehlt der Kompass, den Latour/Schulz und vor ihnen schon viele Aktivist*innen des globalen Südens anders ausgerichtet haben: „Die Welt, von der man lebt, mit der zur Deckung zu bringen, in der man lebt.“

Juristische Waffengleichheit“

„Das ökologische Grundgesetz“ (Kersten, 2022) sieht in seiner gründlichen, revolutionär zu nennenden Überarbeitung des deutschen Grundgesetzes vor, den Anthropozentrismus zu bändigen. Rechtspersonen, zu denen bisher erwachsene Menschen, Kinder, aber auch Vereine und kapitalistische Unternehmen gerechnet wurden, sollen sich ihre Rechtssubjektivität künftig mit mehr-als-menschlichen Lebewesen und Ökosystemen teilen. Das oben erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts würde an die Legislative zurückgebunden und der Staat als alleiniger Beschützer der Natur um ein nunmehr pluraleres Feld an Rechtspersonen verstärkt, die ihre Rechte künftig selbst einklagen können sollen. Die neue Verfassung sähe vor, „juristische Waffengleichheit“ zwischen anthropozentrischen und ökozentrischen Interessen herzustellen.

Übersetzen müssen ökologische Diplomat*innen zunächst zwischen Menschen, denn Menschen sind angesichts der gewaltigen Zerstörung der „Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten“, so Latour/Schulz, „unvorbereitet, mittellos, übungslos“. Übersetzt werden müssen jedoch auch die Rechte der Mehr-als-Menschlichen, die in der Geschichte des Liberalismus, aber auch in der Geschichte des Marxismus wenig bedacht wurden (Fahim Amir, 2018). Latour/Schulz wählen Begriffe aus der marxistischen Denktradition als Übersetzungsbeschleuniger, versäumen es aber auch nicht, auf Mängel hinzuweisen: „Die Analyse in Begriffen der ökologischen Klasse bleibt materialistisch, aber sie muss sich anderen Phänomenen als der alleinigen Produktion und der alleinigen Reproduktion ausschließlich der Menschen zuwenden.“

Mit dem Atomkraft- und Fortschrittkritiker Günther Anders ließe sich ergänzen, dass die Aneignung der Produktionsmittel ohne den umfassenden Rückbau der Produktivkraft-Technologien nur Teil des Problems wäre, nicht aber Teil der Lösung (Christian Dries, 2023). Noch nie wurden kapitalistische Produktionsmittel von sozialistischen Regierungen in Kollektivbesitz genommen, um die Produktion zurückzufahren und den dafür notwendigen Exktraktivismus zu stoppen. Sylvia Winter hat im Rekurs auf marxistische Revolutionen klar gestellt, dass der eine, alle einigende Befreiungsschlag nicht mehr zu erhoffen ist:

„As many of us were to do for many years, including Marxist feminists, we would attempt to theoretically fit all our existentially experienced issues – in my case, that to which we give the name of race – onto the Procrustean bed of Marx’ mode of economic production paradigm (.)… The idea was that once this was done (an exploitation system transformed into a new socialist mode of production) everything else would follow – including our collective human emancipation from what is, for Marxism, merely our present law-likely generated superstructural relations of production! (…) This change was to automatically follow! It didn’t, of course.“ (Wynter, 2015)

Wie könnte folglich ein „verwilderter Marxismus“ (Amir) aussehen, der die Menschlichen und Mehr-als-Menschlichen als Teil der ökologischen Klasse gleichermaßen aktiviert? Wie könnte ein dekolonial motiviertes Verlernen westlich-moderner Epistemologien Diplomat*innen einer ökologischen Klasse damit betreuen, das eigene Wissen permanent zu hinterfragen, damit sich „problematische Dichotomien“ nicht wiederholen: „subject / object, observer / observed, nature / culture, male / female, materiality / discourse, matter / meaning, ontology / epistemology“ (Karen Barad, 2015).

Epistemologische Gerechtigkeit

Der Natur Rechtssubjektivität zu verleihen und Ökosystemen vor Gericht eine Stimme zuzuerkennen, würde bedeuten, dass Natur nicht mehr objektiviert und dem Schutz des Staates oder dem paternalistischen Greenwashing von Unternehmen überlassen würde. So könnten künftig auch hierzulande Wälder, Moore, Meere, Pilzsysteme, Ökosysteme usw. klagen – wie dies gegenwärtig besonders in Ecuador und Kolumbien Normalität geworden ist. In Kerstens Entwurf gibt es aber auch noch weitere Hebel: Ein veränderter Eigentumstitel etwa, der den Eigentumsinhalt neu bestimmt und die Kohle unter Lüzerath und dem Hambaches Forst ferner nicht mehr dem Eigentum von RWE zurechnen würde.

Der Diskurs um die Rechte der Natur am Beispiel Ecuador zeigt auch, was passiert, wenn der moderne, europäische Verfassungsstaat auf vormoderne, indigene Kosmologien trifft. Denn es geht auch um epistemologische Gerechtigkeit. Jeder Prozess beinhaltet die Möglichkeit der erneuten Aushandlung von anthropozentrischen und ökozentrischen Interessen und damit auch von westlichen und indigenen Wissenssystemen. Diese „Rechtshybridität“ erhält nun immer mehr Einzug auch in die innereuropäische Diskussion um die Rechte der Natur (Andreas Gutmann, 2021). Und „juristische Waffengleichheit“ bedeutet auch nicht, dass die Natur immer gewinnen wird. Denn, darauf hat bereits Walter Rodney in den 1970er Jahren hingewiesen, ganze Länder drohten um des Naturschutzes willen in „Tierschutz-Republiken“ umgewandelt zu werden: „Es wurden alle Anstrengungen unternommen, um Touristen anzulocken, die sich Tiere ansehen wollten, die einen höheren Stellenwert als die Menschen hatten“ (Rodney, 1972).

Damals wie heute kann weißer Ökozentrismus auch bedeuten, Indigene von ihrem Land zu vertreiben und „Schutzgebiete“ für Biodiversität einzurichten, wobei den Investor*innen des globalen Nordens allzu oft in neokolonialer Manier vorbehalten bleibt, die Einhegungen zu gestalten und innerhalb der Schutzgebiete doch noch Konzessionen für den Rohstoffabbau zu erwerben (Aby Sène-Harper, 2023). Naturschutzpolitik geht dann häufig auch mit einem repressiven Strafrechtssystem einher und korrumpiert damit die Idee der Rechte der Natur, die mit der Souveränität indigener und lokaler Gemeinschaften einhergehen muss. Die Rechte der Natur brauchen folglich auch die Anbindung an rechtlich geschützte Commons, die ihre Regeln weder vom Staat, noch von der Privatwirtschaft erhalten.

Die Skripte der gegenwärtigen diplomatischen Schlachten kommen Palimpsesten gleich: Unter den abgekratzten Schichten der gegenwärtigen Rechtssprechung, die dringend überarbeitet werden muss, wirkt ein älteres und gleichzeitig mit mehr Zukunft versehenes Zeitmaß, das mit Anthropozän nur unzureichend beschrieben werden kann. Ältere Epistemologien kommen zum Vorschein und greifen in neue onto-epistemologische Versuche, die westliche Moderne mit ihren Glaubenssätzen abzulösen (Denise Ferreira da Silva, 2022). Latours Frage „Warum versuchen wir nicht, eine freundlichere Kosmologie zu entwerfen und zwar durch unsere Praktiken?“ bleibt für die Entstehung einer pluralen ökologischen Klasse die entscheidende.

Anm.d.Red.: Der Autor dieses Beitrags führte im im Rahmen des BG-Schwerpunkts „After Extractivism“ ein Gespräch mit Fabian Flues.

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Oben       —       Überschwemmte Gebiete auf der linken Seite des Dnepr

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AKW in Baden-Württemberg

Erstellt von Redaktion am 6. Juni 2023

Aktuelle atomare Gefahren im Dreyeckland

Nuclear power plant Fessenheim, Haut-RhinAlsaceFrance

Quelle  Mitwelt Stiftung Oberrhein, Venusberg 4, 79346 Endingen

Von    :    Axel Mayer

Aktuelle atomare Gefahren im Dreyeckland: AKW Beznau, AKW Leibstadt, Zwilag Würenligen, atomares Endlager & neue AKW in Fessenheim?

Die letzten deutschen AKW sind seit dem 15.4.2023 abgeschaltet und auch die beiden Schrottreaktoren in Fessenheim (F) wurden 2020 endgültig abgestellt. Die Umwelt- und Anti-Atombewegung im

Dreyeckland kann sich jetzt also beruhigt zurücklehnen und auf alten Erfolgen ausruhen?

Von wegen ausruhen!

Der mühsam erkämpfte deutsche Ausstieg aus der Gefahrtechnologie war der Einstieg in die massiv bekämpften erneuerbaren Energien. Gegen die Macht der atomar-fossilen Seilschaften müssen wir jetzt die Klimaschutzbewegung noch stärker als bisher unterstützen und die Energiewende durchsetzen.

Und am Ober- und Hochrhein häuft sich weiterhin das grenznahe atomare Risiko:

      • AKW Beznau

    In

Beznau steht das älteste und eines der gefährlichsten AKW der Welt

      •  und der zweite Reaktorblock ist technisch ähnlich veraltet und unsicher.

      • AKW Leibstadt

    Das

„neueste“ Atomkraftwerk der Schweiz in Leibstadt

      •  ist ein veralteter Siedewasserreaktor vom Reaktortyp Fukushima.

      • Zwilag Würenlingen

    Im kleinen

Schweizer Ort Würenlingen an der Aare häuft sich das atomare Risiko.

      •  Direkt neben den beiden Uralt-AKW in Beznau steht das zentrale Schweizer Zwischenlager für Atommüll (Zwilag). In einer schlecht gesicherten Castorhalle wird der hochradioaktive Schweizer Atommüll zwischengelagert wird und in einem Plasma-Ofen wird Atommüll verbrannt.

      • Unsicheres Atomares Endlager der Schweiz

    Die Standortauswahl, für den

 besten aller schlechten Standorte eines atomaren Endlagers in der Schweiz

      •  spricht für eine gewisse Verzweiflung der AKW-Betreiber und verheißt nichts Gutes. Ein atomares Endlager in einer viel zu dünnen Schicht Opalinuston über einem Permokarbontrog … Wie soll das gut gehen? Atommüll, der eine Million Jahre sicher verwahrt werden muss, braucht eine gute Geologie und nicht gute Worthülsen.

      • Neue AKW nach Fessenheim?

    Das altersschwache AKW ist zwar abgestellt, aber die EDF hat nie auf den Standort am Rhein verzichtet. Mit seiner Rentenreform und einer neoliberalen Politik treibt der französische Staatspräsindet Macron gerade die Menschen in die Fänge des rechtsradikalen Front National. Gerade Marine Le Pen wäre der

provokative Neubau eines AKW an der deutschen Grenze

      •  durchaus zuzutrauen.

      • Technocentre / Atomfabrik nach Fessenheim?

    Der marode französische Atomkonzern EdF plant den Bau einer problematischen „Recyclinganlage“ für radioaktiven Schrott,

ein „Technocentre“, in Fessenheim.Der Umwelt- und Anti-Atombewegung am Oberrhein wird es auf absehbare Zeit (leider) nicht langweilig werden.

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Oben     — Nuclear power plant Fessenheim, Haut-RhinAlsaceFrance

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Leerstelle im Ost-Diskurs

Erstellt von Redaktion am 3. Juni 2023

Darf man über die DDR Gutes schreiben?

Von     :  Gunnar Hinck

Die Aufregung um zwei Bücher zeigt: Zwischen Lebenserinnerungen und Diktaturbedingungen klafft bis heute eine Lücke. Wer in einem FDJ-Ferienlager seine erste Liebe kennengelernt hat, dem ist es egal, dass die FDJ eine De-facto-Zwangsorganisation war.

Zwei Dinge lassen sich aus dem Erfolg der Bücher herauslesen: Offizielle Reden zum Einheitsfeiertag 3. Oktober sind für alle, denen staatstragende Symbolik egal ist, sinnlos. Debatten werden nicht durch routinierte Redenschreiber-Texte ausgelöst, sondern durch Bücher, und das ist erst einmal eine gute Nachricht. Zweitens: Obwohl – oder weil – es inzwischen regalmeterweise wissenschaftliche Literatur über die DDR und die Nachwendezeit gibt, herrscht offenbar weiter großer Gesprächsbedarf über den Arbeiter-und-Bauern-Staat und die Folgen der Wiedervereinigung.

Die beiden Bücher sind erfolgreich, gerade weil sie nicht differenzieren. Oschmann schreibt wie jemand, der sich nach einer langjährigen Beziehung trennt und im Trennungsgespräch wie ein Buchhalter die Verfehlungen des anderen der letzten Jahrzehnte auflistet. Die aufgestaute Kränkung muss raus, und sie hangelt sich oftmals ziemlich kleinlich von Banalität zu Banalität, um etwas Größeres auszudrücken: Du hast mich schwer enttäuscht und meine Bedürfnisse nicht ernst genommen. In seinem Fall ist der Ex-Partner die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft.

Eine Kostprobe: „Als Franziska Giffey 2018 zur Familienministerin ernannt wurde, besaß die ARD-Journalistin Pinar Atalay zur Hauptsendezeit doch tatsächlich die Dreistigkeit, Frau Giffey als ‚Quoten-Politikerin‘ zu bezeichnen und sie zu fragen, ob sie nicht allein deshalb Ministerin geworden sei, weil sie aus dem Osten stamme.“ Zur Hauptsendezeit! Wer in ostdeutschen Kleingärten unterwegs ist oder sich in Kantinen ostdeutscher Betriebe setzt, bekommt eine Ahnung davon, dass Gespräche im Osten über den Westen oft ziemlich genau so ablaufen, zumindest bei den Älteren.

Katja Hoyers Buch kommt im Gewand einer neutralen Chronik mit einigen pflichtschuldigen Schlenkern zu Menschenrechtsverletzungen der DDR und privaten Erinnerungen von Zeitzeugen daher. Gewissenhaft notiert sie in einer seitenlangen Passage über Jeanshosen: „Die Marke ‚Wisent‘ wurde im VEB Bekleidungswerke Templin hergestellt, etwa eine Stunde nördlich von Berlin.“ Das Buch erfüllt die Sehnsucht eines Publikums, dass das Leben in der DDR endlich „sachlich“, wie es oft heißt, dargestellt wird. Es ist ein Geschenkbuch, ein Dia-Abend für die ganze Familie – weißt du noch? Man konnte ganz gut leben in der DDR, ist die Botschaft des Buches.

Der Erfolg weist auf eine Leerstelle im Ost-Diskurs hin. Es ist bisher nicht gelungen, die Lücke zwischen individuellen Lebenserfahrungen und dem Rahmen, den die Diktatur bildete, zu schließen. Die an sich banale Aussage, dass es in der DDR auch privates Glück und private Erfolgsgeschichten gab, wird von der offiziellen Gedenkarbeit und der Forschung geradezu zwanghaft verknüpft mit einem großen „Aber“: Es gab flächendeckende Kitas und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen? Ja, aber das wurde nur gemacht, weil der SED-Staat Frauen als Arbeitskräfte brauchte. Der Wohnraum war billig? Ja, aber es gab Wohnungsnot und den Verfall der Altbauten. Das Problem dabei ist: So funktioniert privates Erinnern nicht. Der Mensch erinnert sich an das Positive, selektiv, aus einem einfachen Grund: Man möchte große Teile des eigenen Lebens von anderen nicht als entwertet, da in einer Diktatur verbracht, beurteilt sehen. Wer in einem FDJ-Ferienlager seine erste Liebe kennengelernt hat, dem ist es egal, dass die FDJ eine De-facto-Zwangsorganisation des Staates war.

Erinnerungen sind zudem selbstredend unterschiedlich. Wer in einem Chemiekombinat seine Gesundheit ruiniert hat oder in Stasi-Haft saß, hat eine andere Erinnerung an die DDR als derjenige, der als politisch Angepasster oder Überzeugter ein kommodes Leben im Partei- oder Staatsapparat zubrachte. Oder sich als Vertreterin der sogenannten technischen Intelligenz, als Ingenieurin etwa, von der Politik, so gut es ging, fernhalten konnte, aber in ihrer Arbeit Sinn und Bestätigung sah.

Die Relativierung, die besonders Katja Hoyer vorgeworfen wird, betreiben auch ihre Kritiker. Alles individuell positiv Erfahrene wird mit dem Label „aber Diktatur“ versehen. Das liegt darin, dass das offizielle DDR-Erinnerungs-Business einerseits von westdeutschen, politisch eher konservativ geprägten Historikern und andererseits von Bürgerrechtsbewegungsveteranen, die sich aus verständlichen Gründen ihre Deutung der DDR nicht nehmen lassen wollen, nahezu monopolisiert wird. Eine eher zweifelhafte Rolle nimmt dabei die „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ ein, deren geförderte Forschungsvorhaben immer kleinteiliger werden. Überraschende, frische Sichtweisen auf die DDR sind in diesem hermetisch abgeriegelten, sich selbst bestätigenden Milieu nicht möglich; neue und überraschende Fragen werden nicht gestellt.

So wird die DDR bislang immer nur vom Endpunkt ihres Scheiterns aus betrachtet. Interessanter wäre es, nach über 30 Jahren zu fragen: Warum war die DDR eigentlich so relativ lange stabil? Warum kam es, ganz anders als im Nachbarland Polen, von 1954 bis 1988 zu keinen Aufständen mehr? An der staatlichen Repression allein kann es nicht gelegen haben, die in Polen genauso massiv war.

Es ist Zeit, die komplexen Dynamiken von Repression, Alltagswiderstand, Anpassung, einem im Vergleich zu den sozialistischen Bruderstaaten relativ guten Sozialstandard und hoher sozialer Mobilität zu erforschen. Die DDR war ein Gefängnis für sehr viele, aber wer aus sogenannten einfachen Verhältnissen kam, mitmachte und funktionierte, konnte Karrierewege einschlagen, die ihm in der frühen Bundesrepublik wahrscheinlich verwehrt geblieben wären. Was die Funktionseliten in Kombinaten, SED-Kreisleitungen, Armee und Universitäten angeht, war die DDR tatsächlich ein Arbeiterstaat – es dominierten solche mit Kleine-Leute-Hintergrund.

Plötzlich konnten Landarbeitersöhne Generäle werden. Die Kehrseite war selbstverständlich die Diskriminierung sogenannter bürgerlicher Familien. Aber festzuhalten ist, dass doch einige Hunderttausend, so zynisch es klingt, von der Diktatur des Proletariats karrieremäßig profitiert haben. Die DDR hat viele Karrierewege und Lebensträume zerstört, aber sie funktionierte auch als Fahrstuhl nach oben für andere.

Es ist kein Zufall, dass Dirk Oschmann, wie er im Buch mehrmals betont, ein Arbeitersohn ist, der in der DDR studieren konnte. Katja Hoyer war erst vier Jahre alt, als die Mauer fiel, aber die Küchentischgespräche mit ihren Eltern – Mutter Lehrerin, Vater ehemaliger NVA-Offizier – dürften sie geprägt haben. Denn gerade solche, die in sogenannten staatsnahen Berufen arbeiteten, haben das Ende der DDR oftmals als beruflichen Abstieg erlebt. Erinnerung setzt sich generationsübergreifend fort.

Vieles ist bislang ungeklärt, auch was die Nachwendezeit angeht. Was genau und warum ist es schiefgelaufen nach 1989? Dabei ginge es um zentrale Fragen: warum die Existenzangst nach der Wende flächendeckend so groß war, obwohl der bundesdeutsche Vor-Hartz-IV-Sozialstaat gut ausgestattet war. Warum das Verhältnis zwischen den neuen Firmenchefs, Behördenleitern und Politikern, die nach 1990 zu Zehntausenden aus dem Westen kamen, und den Ostdeutschen so asymmetrisch, in der Tendenz ein Herr-und-Diener-Verhältnis war.

Warum die Protest-Energie, die Selbstermächtigung von 1989, so schnell in Resignation umschlug. Warum die vielfältigen Demonstrationen der frühen neunziger Jahre, die teilweise wilden und politischen Streiks gegen die Privatisierungs- und Schließungspolitik der Treuhandanstalt, so schnell erstarben – und was dabei eigentlich die Rolle der personell westlich dominierten Gewerkschaftsspitzen in den neuen Ländern war, die aus politischen Gründen gegen Massenstreiks waren.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     For documentary purposes the German Federal Archive often retained the original image captions, which may be erroneous, biased, obsolete or politically extreme. ADN- Kluge 28.5.90 Leipzig: Demonstration- Hunderte Bürger waren dem Aufruf des Neuen Forums zu einer Demonstration gegen die Politik von Innenminister Peter-Michael Diestel (DSU) gefolgt. Auf der Kundgebung vor der Leipziger Oper forderten sie die konsequente Aufdeckung aller Machenschaften der ehemaligen Staatssicherheit.

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Sackgasse Flüssiggas

Erstellt von Redaktion am 2. Juni 2023

Fossile Projekte dürfen nicht an den Verpflichtungen aus dem Klimaschutzgesetz vorbei geplant werden

LNG terminal Wilhelmshaven.

Ein Debattenbeitrag von Francesca Mascvha Klein

Überkapazitäten, hohe Kosten, mehr Abhängigkeit von fossiler Energie – das LNG-Gesetz sendet ein fatales Signal. Es ginge auch anders.

Vor knapp einem Jahr hat die Ampel-Regierung ein Gesetz verabschiedet, welches den Bau und die Zulassung von rund 12 Terminals zum Import von Flüssiggas – auch unter dem Kürzel LNG („Liquified Natural Gas“) bekannt – an den deutschen Küsten beschleunigen soll. Hintergrund war, dass die Gaslieferungen aus Russland gekappt wurden. Schon damals warnten Ex­per­t*in­nen vor Überkapazitäten, einer Verschwendung öffentlicher Gelder und der verstärkten Abhängigkeit von Gas. Trotzdem werden munter weiter Pläne für noch mehr fossile Infrastruktur geschmiedet: Im Hafen von Mukran auf Rügen soll nun ein weiterer LNG-Standort entstehen – in einer Geschwindigkeit, die als „Deutschland-Tempo“ gefeiert wird.

Aber ein „Deutschland-Tempo“, das den Umweltschutz und die Einbindung der Öffentlichkeit auf ein Minimum beschränkt und Klimaverpflichtungen vollkommen außer Acht lässt, ist kein Grund zum Feiern. Sinn der Verfahrensschritte – die nach dem LNG-Beschleunigungsgesetz nun ausgespart werden sollen – ist, auch die Anliegen von An­woh­ne­r*in­nen und Umweltschutz frühzeitig zu berücksichtigen. Das ist, auch wenn es Zeit kostet, eine politische Errungenschaft und macht Entscheidungen rechtlich weniger angreifbar.

Die andauernden Proteste gegen die Errichtung des Terminals vor Rügen weisen deutlich auf die immensen Auswirkungen auf Umwelt, Menschen und Klima hin. Eine Aufnahme dieser Vorhaben in das LNG-Gesetz – wie es der derzeitige Entwurf vorsieht – würde es rechtlich erleichtern, Einwände und Proteste zu übergehen. Umwelt- und klimapolitisch wäre es also stattdessen dringend geboten, die Liste der Vorhaben im Einklang mit den Klimazielen zu kürzen und die Auslastung sowie die Laufzeit der Terminals zu deckeln.

Der letzte Winter ist Vergangenheit. Der deutsche Energiebedarf konnte gedeckt werden, nicht zuletzt durch Importe aus Nachbarländern. Zahlreiche Studien zeigen, dass über die geplanten Terminals wohl deutlich mehr Gas importiert werden kann, als wir in Deutschland auch in Zukunft brauchen. Auch Robert Habeck räumt ein, dass mit einer Überkapazität gerechnet wird. Aus seinem Ministerium heißt es – ohne dass dies mit Daten belegt wird –, man brauche das Gas, um die Nachbarländer zu versorgen.

Die Bundesregierung argumentiert, dass für Eventualitäten wie den Ausfall norwegischer Importe infolge eines Angriffs Vorsorge nötig sei. Mit solchen hypothetischen Schreckensszenarien ließe sich theoretisch jedes fossile Projekt ohne Beschränkung begründen. Und selbst wenn ein solch extrem unwahrscheinlicher Fall einträte, könnte dies laut des Gasspeicherverbands immer noch durch europäische Partner ausgeglichen werden. Nicht hypothetisch, sondern leider heute schon bittere Realität sind hingegen die katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise, die sich durch Projekte wie diese verschärfen.

Zum Glück gibt es Alternativen: Klimaschutz und Versorgungssicherheit widersprechen sich nicht per se. Der Ausbau erneuerbarer Energien oder der effizientere Gebrauch von Energie dienen beiden Anliegen. Auch das LNG-Gesetz könnte beides in Einklang miteinander bringen. Für die Terminals könnte etwa gesetzlich festgeschrieben werden, dass sie in ihrer Laufzeit und Auslastung so beschränkt werden, wie es zur Einhaltung der Klimaziele notwendig ist. Im absoluten Notfall ließe sich eine derartige Beschränkung modifizieren oder aufheben. Zusätzlich muss klarer gesetzlich geregelt werden, dass die zuständigen Behörden solche Vorhaben nur dann zulassen dürfen, wenn ihre Vereinbarkeit mit dem Klimaschutzgesetz geprüft wurde.

Fossile Projekte dürfen jedenfalls nicht weiterhin an den Verpflichtungen aus dem Klimaschutzgesetz vorbeigeplant werden – und schon gar nicht im „Deutschland-Tempo“. Das Grundgesetz verlangt von der Politik einen klaren Weg zur Klimaneutralität. Das sollte sie auf der Basis eines modernen Verständnisses von Sicherheit tun, welches auch die Klimakatastrophe als Risikofaktor für die Menschheit angemessen berücksichtigt.

Beschleunigung ist kein Selbstzweck. Mit der Infrastruktur, die jetzt geschaffen wird, bindet sich die Politik für die Zukunft. Ist sie fossil, ebnet das entweder den Weg zur verschärften Klimakrise, oder es wird bald klar werden, dass öffentliche Gelder für Projekte verschwendet wurden, die niemandem nutzen. Mit dem Gasverbrauch, den das Klimaministerium für die Terminals zugrunde legt, reißt Deutschland seine Klimaziele. Außerdem bestehen Zweifel, ob die LNG-Infrastruktur überhaupt jemals auf klimafreundliche Weise genutzt werden kann.

Die fossilen Flüssiggas-Terminals sind also keine Brücke in eine klimafreundliche Zukunft, sondern größtenteils eine Sackgasse. Sich daraus wieder herauszumanövrieren könnte teuer werden: Es ist absehbar, dass die Bundesregierung angesichts der Klimakrise aus der Nutzung von Gas aussteigen muss – und die Gasindustrie dann unter Berufung auf das LNG-Gesetz und den Vertrauensschutz die Hand aufhalten wird.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben       —     The floating LNG storage and evaporation ship Höegh Esperanza moored at LNG terminal Wilhelmshaven.

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Die German Angst

Erstellt von Redaktion am 31. Mai 2023

 Erst die German Angst macht die USA stark 

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Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Mevlüde Genc hat gelehrt, dass Hass als Reaktion auf Hass keine Lösung ist. Im politischen Alltag findet sich aber weiter das alte Spiel mit Stereotypen.

Diese Woche gedachten geschichtsbewusste Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik der fünf Menschen, die vor 30 Jahren rechtsradikalen Anschlägen zum Opfer fielen: Hülya Genç, Saime Genç, Hatice Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte die Ereignisse „Terror“. Und: „Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten in Solingen.“

Wichtiger als die Worte aller Präsidenten in dieser Sache waren für mich immer die Worte von Mevlüde Genç, hinterbliebene Mutter dreier Kinder, die nicht einmal Zeit zu trauern hatte: „In der Nacht habe ich geweint. Aber am Tag habe ich meinen überlebenden Kindern ins Gesicht lächeln müssen, um dafür zu sorgen, dass der Hass nicht Eingang findet in ihre Herzen.“

Bis heute halte ich bei diesem Satz die Luft an. Wichtiger als ihre Wut und ihre Trauer war es, dass ihre Kinder nicht von demselben Hass erfüllt werden wie die Mörder ihrer toten Kinder. Versöhnung war ihre lebenslange Botschaft: „Seid vernünftig. Weder Geschrei noch Bösartigkeit haben einen Sinn. […] Nur wenn sich alle gut verstehen und mit Toleranz begegnen, kann der Mensch ein glückliches Leben leben.“ Mevlüde Genc lebte „when they go low, we go high“ – lange vor Michelle Obama. Auch die Familie von George Floyd forderte von den Menschen, die sich gegen Rassismus einsetzen, für ihre Community zu arbeiten, statt diese mit ihrer – wenngleich gerechten – Wut zu zersetzen.

Die Hinterbliebenen und ihr Anspruch an uns Mithinterbliebene im gesellschaftlichen Sinn sollten unser Kompass sein: Menschenrechte einfordern, Behörden zur Aufklärung verpflichten, wo sie Menschen wie Menschen zweiter Klasse behandeln, aber den Hass nicht einsickern lassen in den Körper, das Geschrei in sich drosseln, bis man sein Anliegen so vorbringen kann, dass man einander hört. Mevlüde Gençs Wunsch, ihre Kinder vor dem Hass in sich zu schützen, war auch der Wunsch, dass die deutsche Gesellschaft sich nicht in ihrem Hass verlieren möge. Weder jene, die gute Gründe hätten zu hassen, noch jene, die sich für ihre Menschenfeindlichkeit die schlechten Gründe selbst liefern.

Nach solchen Gedenkfeiern die Frage: Was haben wir wirklich gelernt? Verdammt sich die deutsche Gesellschaft selbst dazu, mit diesem ewigen Hass umgehen zu müssen? Seit einigen Jahren wird der Kampf auch in deutschen Parlamenten gekämpft, nichts von dem Erinnern hat uns immunisiert. Es diskutieren gerade wieder viele – oder besser schreien und streiten –, wie sich die hohen Umfragewerte der AfD eher erklären lassen (aus sich selbst heraus scheint das wohl für die meisten nicht begründbar zu sein). Die einen sehen in der CDU/CSU und ihrem postmerkelschen Spiel mit dem rechten Rand den Dammbruch: Hier normalisiert eine Partei der Mitte den Tabubruch als Taktik: etwa wenn Friedrich Merz bei ukrainischen Kriegsflüchtlingen von „Sozialtourismus“ spricht und erst nach öffentlicher Empörung zurückrudert. Die Silvesterkrawalle in Berlin und eine unsägliche Berliner Wahlkampfdebatte im Anschluss, die geprägt war durch rassistische Klischees, die ihren Teil dazu beitrug, Kai Wegner von der CDU das Bürgermeisteramt zu sichern.

In Deutschland lassen sich mit rassistischen Parolen immer noch ein paar Prozentpunkte mehr holen, zumal in schwierigen Zeiten. Die CDU/CSU muss es schaffen, das Konservative in der Mitte zu halten, sie muss den Rand nach rechts schließen, eindeutige Botschaften senden, wo demokratischer Boden verlassen wird und Menschenfeindlichkeit beginnt. Das musste Markus Söder in Bayern schmerzhaft lernen; es wäre dumm, wenn Merz in diesem Fall nichts vom Bayernkönig Söder lernt. Söders Kampagne, mit der er damals sowohl Merkel als auch die humanitären Helfer der Asylsuchenden angriff, zahlte sich nur für den rechten Rand aus, nicht für ihn.

Auch die Grünen tragen ihren Teil bei, weil sie als selbsterklärte Klima- und Zukunftspartei die German Angst nicht mitdenkt. Große Teile der Deutschen haben Angst, zu kurz zu kommen. Manchmal wirkt das lächerlich, in manchen Bereichen jedoch lässt sich die Prekarisierung bis in die Mitte der Gesellschaft belegen.

Doch es ist momentan nicht nur die German Angst; auch in Spanien verlor die sozialistische Partei bei den Kommunalwahlen, sodass der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez nun Neuwahlen ansetzt. Linke machen oft den Fehler, in Zeiten der Macht auf eine Art durchzuregieren, dass sie schneller abgewählt werden, als sie Wandel bringen können. In Spanien wartet Isabel Diaz Ayuso von der Konservativen Volkspartei auf ihre Chance, manche nennen sie den spanischen Trump.

Quelle        :            TAZ-online        >>>>>      weiterlesen

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Oben       —     Abbildung in Charles Darwins Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren

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Das Ende des Kapitalismus

Erstellt von Redaktion am 31. Mai 2023

Funktionsweise und Abschaffung

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :      Gerd Stange

Das Buch von Ulrike Herrmann mit diesem Titel macht Hoffnung, denn es trifft auf grosses Interesse. Leider ist ihre Analyse unzulänglich, auch wenn sie sich auf Karl Marx beruft.

Die Produktion braucht:1. Menschen
2. Natur (Boden, Rohstoffe)
Sie sind die einzigen Quellen von Reichtum. Für den Produktionsprozess brauchen wir ausser Menschen und Natur noch 3. Produktionsmittel
3.1. Boden
3.2. Gebäude
3.3. Arbeitsmittel und Maschinen

Voraussetzungen für kapitalistische Produktion sind zusätzlich

4. Privateigentum an Produktionsmitteln
5. Bürgerliche Freiheit : Mittellose freie Arbeitskräfte
6. Marktwirtschaft
7. Reichtum und Armut: Ursprüngliche Akkumulation
8. Konkurrenz um Profit

In der Feudalgesellschaft am Ende des Mittelalters beruhte die Herrschaft des Adels auf nackter physischer Gewalt. Der Ritter war der Reiter mit Dolch, Schwert und Lanze. Ihm beiseite stand die geistige Macht der Kirche mit ihrem Geheimwissen (Bibel auf Latein) und dem Analphabetismus der Landbevölkerung. Die arbeitende Bevölkerung waren Leibeigene oder Sklaven.

Ausser den Produktionsmitteln Boden und Gebäuden musste der Kapitalist also genügend Geld haben, um sich die Produktionsmittel zu kaufen oder zu mieten. Im letzteren Fall musste er kreditwürdig sein, also genügend Geld zur Absicherung haben. Das bedeutet heute: Sein monatlicher Überschuss muss dauerhaft das Dreifache seines Darlehens betragen, sonst gibt die Bank keinen Kredit.

Seit Abschaffung der Leibeigenschaft und der Sklaverei muss die Arbeitskraft gemietet werden. Dafür mussten die Menschen befreit werden und mittellos sein. Die formale Freiheit warf sie auf den Arbeitsmarkt, denn gleichzeitig wurde das Land, von dem sie bis dahin gelebt hatten, privatisiert. Die gemeinschaftliche Verfügung über den Boden (Allmende) wurde mit Gewalt beseitigt und war ein entscheidender Schritt der ursprünglichen Akkumulation, der zuerst in der feudalen englischen Gesellschaft geschah (vor dem Kapitalismus). Freiheit und Mittellosigkeit bedeutet bis heute weiterhin Arbeitszwang, auch wenn die körperliche Arbeit überwiegend von Ausländern oder im Ausland gemacht wird.

Das machte es damals den Kapitalisten möglich und macht es heute immer noch, nicht die geleistete Arbeit zu bezahlen, sondern den Lebensunterhalt − wie in anderen Gesellschaften den Sklaven oderLeibeigenen. Die Länge und Intensität der Arbeit bestimmt das Kapital. Durch die gewerkschaftliche Organisierung wurde der tödlichen Ausbeutung im Raubtierkapitalismus eine Grenze gesetzt, aber auch die gebildeteren Mittelschichten übersehen, dass sie ihre Arbeit nur notwendigerweise machen. Die Identifikation mit dem Beruf (Frage: „Was bist du? Ich meine: von Beruf?“ täuscht darüber hinweg, dass erst im Rentenalter die Freiheit beginnt, falls das Rentenalter erreicht wird und die Rente zum Leben reicht.

Die Arbeitszeit ist nicht bestimmend für die Bezahlung, sondern ihr Wert, der sich nach den Kosten des Lebensunterhaltes der „Besitzer“ der Arbeitskraft richtet. Früher war das klassisch eine Arbeiterfamilie. Heute kann sich der Kapitalismus nicht mehr leisten, auch noch die Frau des Arbeiters zu bezahlen, weil sie eine billigere „Ressource“ in vielen Bereichen ist, wo die Männer ungeübt sind.

Der Gewinn des Kapitalisten entsteht daraus, dass er die geleistete Arbeit nicht bezahlt, sondern nur die Miete der Arbeitskraft.

Kredit ist keine Voraussetzung für den Kapitalismus, sondern ein teures Accessoire, das es schon lange zuvor gab, wie Ulrike Herrmann gut beschreibt. Geld kann nur zu Kapital werden, wenn es die Voraussetzungen erfüllt und in die Produktion gesteckt wird. Und Kredit kann es nur geben, wenn schon Kapital vorhanden ist. Deshalb ist Finanzkapital kein Kapital im Sinne des Kapitalismus, denn es bestand schon vor ihm. Es gehört zur Voraussetzung der ursprünglichen Akkumulation von Reichtum. Anders gesagt: Der Feudalismus ist nicht abgeschafft. Der Adel hat nicht nur Schlösser und Geld, sondern auch Wälder, Bodenschätze und einen Hang zum Militär, wo er im 2. Weltkrieg eine grosse Rolle spielte. Durch den Schutz des Privateigentums ist sein Weiterbestand gesichert.

Das Finanzkapital wächst in der Regel auch dann, wenn es nicht in Kapitalunternehmen angelegt wird, aber es ist verwundbarer, es kann durch Inflation oder staatliches Handeln wertlos gemacht werden. Seitdem Geld an keine Materie mehr gebunden ist, kann es nach Belieben auf und abgewertet werden und sehr flüchtig sein. Geldvermögen können innerhalb von Minuten vernichtet werden.

Kapitalismus ist also, dass Geld mit den oben genannten Produktionsmitteln in die Herstellung von Waren gesteckt wird. Dabei interessiert der Kapitalismus sich nicht ernsthaft für den Gebrauchswert (China macht es besonders deutlich), sondern nur für den Tauschwert der Produkte. Er will sie als Ware verkaufen, mehr nicht. Zu seinen Voraussetzungen zählen also frei Märkte ohne Beschränkungen. Die liberalen Parteien, die für bürgerliche Freiheit kämpfen, haben also auch noch den freien Markt im Forderungskatalog. Sie haben die Globalisierung vorangetrieben – insbesondere für die nationalen Monopole, die auf den Weltmarkt angewiesen sind. Zölle sind eine Reduzierung des Gewinns.

Konkurrenz

Sie ist der Motor und das Verhängnis kapitalistischer Produktion. Die Aussicht auf Profit kurbelt die Produktion an, solange die Nachfrage wächst. Am Ende bleiben die Waren mit der geringsten Profitspanne unverkäufliche und einige Wettbewerber scheiden in der Krise aus. Arbeitskräfte werden entlassen, technische Neuerungen entwickelt, so dass die verbleibenden Konkurrenten profitabler mit weniger Menschen weitermachen können. Dieser Prozess hat in einigen Branchen (von der Automobilindustrie bis zur Agrikultur) zur Einführung von Robotern und Monopolähnlichen Strukturen auf Weltniveau geführt.

Die Planwirtschaft hat seit 1918 in zahlreichen Ländern immer wieder gezeigt, dass sie dem Kapitalismus unterlegen ist, weil sie das Konkurrenzprinzip aufgibt und die gesellschaftlichen Bedürfnisse von oben bestimmt. Zuletzt hat die VR China ihren Kurs gewechselt und den Kapitalismus zugelassen, bevor sie den USA unterlegen und untergegangen wäre. Mit dem Einzug des Kapitalismus kam es dort schliesslich auch zu einer Überproduktions und Gesundheitskrise trotz Planwirtschaft.

Entstehung von Profit

Wert Wenn alle Produktionsmittel gekauft sind und die Arbeit gemacht ist, ergeben sich zwei Werte des Produktes. Der erste ist der Gebrauchswert, der nicht quantitativ zu bemessen ist, weil er die Qualität des Produktes für den Gebrauch meint. Für den Tausch jedoch, also den Verkauf als Ware erhält das Produkt einen Tauschwert, der den eigentlichen Wert des Produktes übersteigt, weil der Kapitalist einen Profit aufschlägt. Sonst würde er sich nicht auf diesen Prozess einlassen. So wird aus dem Tauschwert der Preis. Der ganze Produktionsprozess könnte also ohne den Kapitalisten billiger sein, zumal er in der Regel die Produktionsleitung nicht selbst macht. Facebook sähe anders aus, wenn kein Zuckerberg mehr Hass predigen würde, weil Hass den optimalen Profit bringt, und wäre preiswerter. Der Einsatz von Geld in die Produktion hat zwei Stellschrauben:

1. Wert der Ware Arbeitskraft
2. Einsatz von Technik

Bei gleichem Stand der Technik kann nur durch Verbilligung der Arbeitskraft ein höherer Preis erzielt werden. Das hat die Auslagerung vieler Industriezweige nach Asien gezeigt. Aber irgendwann ist das ausgereizt. Also gibt es einen immanenten Druck, Arbeitskraft durch Technik zu ersetzen, die Produktionssteigerung möglich macht und damit den Tauschwert senkt. Dieser Druck hat letztlich zur Roboterisierung der Produktion geführt. Der Mensch in der Produktion wird abgeschafft und hört auf, neben der Natur eine Quelle des Reichtums zu sein.

Krisen

Es gibt Wirtschafts und FinanzKrisen.

Jede Wirtschaftskrise ist eine Überproduktionskrise und eliminiert alle Unternehmen, die nicht auf dem technischen Stand sind oder zwingt sie zur weiteren Technisierung. Zugleich entlässt sie die überflüssig werdenden Arbeitskräfte und erzeugt Arbeitslosigkeit bei den Menschen. Jede Wirtschaftskrise bedeutet Produktionsrückgang, Entwertung und Vernichtung von Gebrauchswerten.

2008ff war eine Wirtschaftskrise, die durch Überproduktion entstanden ist. Vor allem Wohnraum in den USA, aber auch Automobile weltweit. Die Bankpleite von Lehmann Brothers hätte vermieden werden können, das war anscheinend nicht gewollt.

Die Überproduktion in der ökonomischen Krise ist systemimmanent, weil jedes einzelne Kapitalunternehmen maximalen Absatz sucht und es dafür keine Grenze gibt, denn die Konkurrenz würde sonst obsiegen. Der Raubbau an der Natur ist also ebenso zwangsläufig wie die Vernichtung von Gebrauchswerten durch Überproduktion. Diesen Wettkampf verlieren die Unternehmen, die den geringsten Profit erwirtschaften, so dass eine Kapitalkonzentration Richtung Monopol zwangsläufig ist. Am deutlichsten in der Luftfahrt und der Automobilindustrie zu sehen. Weitermachen dürfen die Firmen mit der grössten Gewinnspanne (Beispiel: Tesla). Wenn die Roboterisierung in allen Produktionsbereichen durchgesetzt sein wird, steht eine immer grössere Menschenmasse weltweit ohne Einkommen da, was die Migrationsströme und Verteilungskriege brutal verschärft. Für 8 Milliarden Menschen ist Flucht und Krieg keine Lösung. Das ist aber die logische Folge von Roboterisierung und Einsparung von Arbeitskräften. Vorübergehend wird der Profit für Musk & Co steigen, weil er Arbeitskräfte eingespart hat. Aber wenn alle Konkurrenten nachziehen und automatisieren, gibt es nichts mehr zu sparen für ExtraProfite.

Finanzkrisen hingegen sind Spekulationsfolgen, die wie in einem riesigen Casino die Geldbesitzer beschäftigen. Sie sind die Folge von Geldreichtum und können durch Geldentwertung gelöst werden. Finanzkrisen ziehen nicht zwangsläufig Wirtschaftskrisen nach sich, weil sie nur Geld entwerten, kein Kapital. Sie betreffen nur die mit Finanzen.

Abschaffung des Kapitalismus

Die Abschaffung des Kapitalismus kann nur gelingen, wenn seine Voraussetzungen und darüber hinaus seine Funktionsprinzipien abgeschafft werden.

Funktionsweise des Kapitalismus

Kapital ist Geld, das in die Produktion von Gebrauchswerten investiert wird, damit es mehr Geld wird. Es geht ihm ausschliesslich um Quantität, weil es selbst nur Quantität ist. Wachstum ist seine Zauberformel. Deswegen muss das Bruttosozialprodukt selbst dann immer wachsen, wenn ein Land im Überfluss schwimmt. In kaum einem Land ist der Wachstumsdruck höher als in der Schweiz.

Der kapitalistische Produzent ist also nur so weit an der Qualität des Gebrauchswerts seines Produktes interessiert, als er es auf dem Markt in Warenform verkaufen will. Für ihn ist es eine TauschwertProduktion zwecks Gewinnerzielung. Der Gewinn entsteht dadurch, dass er sich die Arbeit bezahlen lässt, die seine Arbeitskräfte in der Produktion hineingesteckt haben. Das ist seine einzige Stellschraube, denn der Stundenlohn verschleiert, dass nur ein Bruchteil des Wertzuwachses durch Arbeit bezahlt wird.

Schon lange ist die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nicht mehr das Ziel, denn das wäre erreichbar, jedoch würde es Stillstand bedeuten. Stattdessen müssen ständig neue Bedürfnisse kreiert werden, um die Produktion am Laufen zu halten. Die Ausgaben für Werbung sind zu lästigen, aber notwendigen Kosten der Produktion geworden. Es gibt einen Überfluss an Überflüssigem und trotzdem nicht das Notwendige für alle. Eine Abkehr vom Kurzlebigen, Nutzlosen und Überflüssigen ist Voraussetzung für eine Gebrauchswertproduktion:

Die quantitative Tauschwertproduktion muss in eine qualitative Gebrauchswertproduktion verändert werden. Das Sozialprodukt darf nicht mehr am Tauschwert der Waren (folglich dem Preis) gemessen werden. Bestimmendes Kriterium für die Produktion muss die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse durch entsprechend gebrauchsorientierte Waren sein. Den Gebrauchswert kann man nicht messen, nur erfragen und ständig verbessern: den Nährwert von Nahrungsmitteln, die Haltbarkeit von Kleidung, die Umweltverträglichkeit…

Für eine Gebrauchswertorientierung bedarf es gesellschaftlicher Diskussionsprozesse, also einer Neuerfindung und Erweiterung der Demokratie. In diesem Bereich könnten soziale Medien ihrem Namen gerecht werden. Keine Planwirtschaft von oben kann ernsthaft die Bedürfnisse bestimmen. Sie hat in England im Krieg funktioniert, weil es eine nationale Angelegenheit war, in der es um das Überleben ging.

In einer nachkapitalistischen Gesellschaft muss sich unser ausbeuterisches Verhältnis zur Umwelt verändern, das den Menschen und die Natur gleichermassen unterwirft, missbraucht, vernichtet, mit Krieg und Forstwirtschaft die Erde verwüstet, mit Verkehrsmitteln und Agroindustrie uns die Luft zum Atmen nimmt. Es geht nicht darum, einen bestimmten erreichten Standard zu bewahren, sondern unser Verhalten und die Verhältnisse zu verändern. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, die sich die Natur zum eigenen Nutzen unterwerfen soll. Er muss sich als Teil der Natur begreifen, die dabei ist, sich massiv gegen sein Schmarotzertum zu wehren. Es ist Konsens in der Wissenschaft, dass die Pandemien weiter zunehmen werden, und sie betreffen vor allem die sogenannte zivilisierte Welt.

Vergesellschaftung der Produktionsmittel: Die Enteignung zum Wohle der Gemeinschaft ist im Grundgesetz enthalten. Sie müsste ersatzlos sein, denn dieses Privateigentum basiert historisch auf Raub oder anderer gewaltsamer Aneignung. Das gilt insbesondere für adligen Grossgrundbesitz (zum Teil aus dem Mittelalter) und für Kolonien, in denen viele Bodenschätze Westeuropas lagern.

Geldreichtum müsste begrenzt und von einer Währungsreform begleitet werden, um die extreme Ungleichheit nicht fortzusetzen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   Alleestraße 144 in Bochum

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FREIRAUM FÜR PROJEKTE

Erstellt von Redaktion am 29. Mai 2023

Hausdurchsuchung im Projekthaus Amsel44 in Wolfsburg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von      :     Von Amsel 44

Die Repressionswelle gegen die Klimabewegung geht weiter. Am Donnerstag hat die Polizei in Wolfsburg das Offene Projekthaus Amsel 44 in Abwesenheit durchsucht. Laut einer Nachfrage der Lokalpresse bei der Polizei Wolfsburg begründet sich die Maßnahme auf Ermittlungenverfahren wegen mutmaßlicher Graffitis in Wolfsburg und die mutmaßliche Nutzung eines VW-Logos auf einem Flyer.

Sascha Bachmann, Aktivist aus dem Projekthauses Amsel 44, sagt: „Solch grundrechtsverletzende und unverhältnismäßige Maßnahmen wegen Lappalien zeigen ganz klar, dass es nicht um Strafverfolgung, sondern um gezielte Ausschnüffelung, Ausforschung und Einschüchterung von Klimainitiativen geht.“

Seit fast einem Jahr organisieren Aktivist*innen in und um Wolfsburg eine spektakuläre Kampagne mit dem Ziel, Wolfsburg zu einer Verkehrswendestadt umzubauen und das Volkswagen-Stammwerk zu einem gemeinwohlorientierten Kollektivbetrieb umzubauen, in dem Straßenbahnen produziert werden. Das ist dem wirtschaftlich-staatlichen Komplex offenbar ein Dorn im Auge.

„Der Volkswagen-Konzern dominiert die Region Südostniedersachsen, die Stadt Wolfsburg fungiert als Bettvorleger des Konzerns, Polizei und Justiz agieren – wie man an der Durchsuchung sieht – als verlängerter Arm des Autoherstellers. Diese Aktion zeigt wieder wie wichtig es ist, den Filz zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und Volkswagen zu entflechten, die momentan einer mafiösen Struktur näher kommen als einem demokratischen Staatsapparat“, so Sascha Bachmann.

Die Hausdurchsuchung reiht sich in die unverhältnismäßigen Repressionen der letzten Wochen ein. „Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt. Sie müssen geschützt werden und wir brauchen sie jetzt mehr denn je«, sagte der Sprecher von Uno-Generalsekretär António Guterres, Stephane Dujarric, in New York angesichts der Versuche des deutschen Staates, Umweltschutzorganisationen zu kriminalisieren.

Urheberrecht
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Oben       —     Wolfsburg

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Städteumbau in Spanien

Erstellt von Redaktion am 29. Mai 2023

Auf heißen Sohlen in Madrid

Puerta del Sol (Madrid) 17.jpg

Kolomne Stadtgespräch von Reiner Wandler aus Madrid

Ein zentraler Platz der Hauptstadt ist wohl zur teuersten Bratpfanne Spaniens geworden. Schatten gibt es keinen mehr. Über eine heiße Diskussion.

Die Puerta del Sol – das „Sonnentor“ – ist der zentrale Platz Madrids. Hier befindet sich die Turmuhr, die im spanischen Fernsehen alljährlich das neue Jahr einläutet, hier ist der Kilometer null des radialen spanischen Straßennetzes.

Jetzt sorgt der Platz für Diskussionen. Denn seit über einem Jahr lässt der konservative Bürgermeister José Luis Martínez-Almeida die 12.000 Quadratmeter große Fläche umbauen.

Brunnen und Kioske wurden entfernt, eine Statue an den Rand versetzt. So entstand eine riesige, mit Granitplatten gepflasterte Freifläche, ohne Bäume, ohne Sonnenschutz. Als Sitzgelegenheiten wurden ein paar Granitblöcke aufgestellt. Und selbst der Eingang zur Metro, der früher etwas Schatten bot, ist jetzt mit Glas überdeckt.

„Die Sonne brennt“, erklärt Miguel, der im spärlichen Schatten einer Werbetafel Schutz vor der Hitze sucht. Der junge Mann schlägt die Zeit vor einem Vorstellungsgespräch tot. „So lange bauen sie hier schon. Für das?“, wundert er sich.

„Sterben oder Einkaufen“

Auch Akram, Arabistikprofessor an der Universität Granada, kann es kaum glauben. Der Mann, der vor 40 Jahren aus Nordirak nach Spanien kam, hat sich in den Eingang eines Buchladens gedrückt. Als „aggressiv, unfreundlich, ja unmenschlich“ bezeichnet er die neue Puerta del Sol. „Sol“, wie der Platz nur genannt wird, kennt er seit Langem, die Arbeit führt ihn oft nach Madrid. „Ein Platz ist ein Ort zum Verweilen, um sich mit Leuten zu treffen – und nicht das hier“, meint Akram.

Nicht alle sehen das so. „Schatten, Bäume, wozu?“, fragt der Rentner Juan, der mit seiner Frau über die „Sol“ eilt. „Dieser Platz ist nicht zum Verweilen da, sondern ein Durchgangsort“, sagt er. So begründet auch die Stadtverwaltung die Baumaßnahmen.

Die angrenzenden Fußgängerzonen hingegen werden im Sommer mit riesigen Markisen abgedeckt. In allen Läden und Kneipen laufen bereits jetzt im Mai pausenlos die Klimaanlagen. „Sterben oder Einkaufen“ – so fassen Kommentare in den sozialen Netzwerken die beiden Alternativen für Passanten zusammen.

Fast nur Touristen halten sich in der prallen Sonne der Puerta del Sol auf – während die meisten Einheimischen den Platz nur rasch überqueren oder sich an eine der schattenspendenden Hauswände stellen. Carmen ist eine der wenigen Ausnahmen. Mit einer Sonnenbrille auf der Nase steht sie mitten in der Hitze. „Mir gefällt ‚Sol‘ so, ich kann sehen, wohin ich gehe, ich mag offene Plätze“, sagt die Rentnerin. Nach der Hitze gefragt, winkt sie ab. „Daran sind wir gewöhnt!“

„Offen“, das ist ein weiteres Argument, mit dem die Stadtverwaltung den umstrittenen Umbau begründet. Der Platz sei damit sicherer und von der Polizei überall einsehbar. „Außerdem haben wir keine Bäume gepflanzt, weil dies vom Amt für Kulturerbe nicht genehmigt wurde“, erklärt Rentner Julian und zeigt, dass er die mediale Debatte verfolgt hat.

Der ehemalige Bankangestellte ist extra gekommen, um zu sehen, wie die letzten Arbeiten vorangehen. „Zehn Millionen haben sie ausgegeben. Ich verstehe nicht, wofür“, sagt er. Die Opposition im Stadtrat hat eine Antwort: „Die teuerste Bratpfanne Spaniens“ nennen sie die „Sol“. Bereits Ende April heizten sich die Granit-Bodenplatten auf bis zu 50 Grad auf. Rentner Julian hingegen gefällt zwar „der offene Blick auf all die alten Gebäude“. Aber mit vielen Details ist er nicht einverstanden. Die neuen gläsernen Kioske seien einfach „nichtssagend“. Und die Granitblöcke zum Sitzen sind ohne Schatten unnütz, findet der alte Mann.

Quelle       ;        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Partial view of Puerta del Sol (square) in Madrid (Spain). Background: Real Casa de Correos.

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Die „Klimakleber“

Erstellt von Redaktion am 26. Mai 2023

Tanz um die goldene Radkappe

Ein Debattenbeitrag von Claus Leggewie

43 Millionen Privat-PKW sind in Deutschland zugelassen, der Individualverkehr hat Fetischcharakter angenommen. Das Auto ist der Elefant im Raum der Klimawende.

Der als eher konservativ geltende Soziologe Niklas Luhmann hatte ein Faible für den Protest und Protestierende, ohne dabei den aufrührerischen Theorieschulen sozialer Bewegungen wie Anarchismus oder Marxismus anzugehören. Der Studentenbewegung um 1968 bescheinigte der Systemtheoretiker, sie nehme zu Recht Anstoß am Status quo, an dem der CDU-Staat damals krampfhaft festgehalten hatte, denn es bedürfe einer außerparlamentarischen Opposition, wenn die staatstragende Opposition wie das Establishment unfähig seien, „Alternativen zur Entscheidung zu bringen“.

Dem Protest, auch dem wilden, radikalen, system­oppositionellen, wies er die Rolle zu, die Gesellschaft ins Lot der Selbststeuerung und Systemerneuerung zurückzuversetzen. Dieser Stabilisierungsauftrag gefiel 68ern natürlich weniger; es war aber eine durchaus treffende Diagnose ihrer tatsächlichen Leistung, nämlich der Gesellschaft der Bundesrepublik jene „Fundamentalliberalisierung“ zu verschaffen, die ihnen Luhmanns Gegenspieler Jürgen Habermas rückblickend bescheinigte.

Neue soziale Bewegungen vermögen damit, was den Teilsystemen der Gesellschaft abgeht: „Sie beschreiben die Gesellschaft, als ob es von außen sei.“ Und in dieser Totale entdecken sie auch, was alten sozialen Bewegungen verborgen geblieben war: „Gesellschaft nicht mehr bloß vom Kapitalismus her zu sehen, sondern in Bezug auf die Tatsache, daß manche etwas für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist“.

Früher als andere interessierten Luhmann ökologische Risiken, die den neuen Typ „grün-alternativer“ Proteste hervorriefen: „in der Ablehnung von Situa­tio­nen, in denen man das Opfer des riskanten Verhaltens anderer werden könnte.“ Besser sind die Sorgen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und Letzter Generation kaum zu beschreiben. Luhmann antizipierte allerdings auch deren Schwächen: „Das Geheimnis der Alternativen ist, dass sie gar keine Alternative anzubieten haben“ – weil sich ja stets die anderen bewegen, ändern, korrigieren müssten.

Hysterischer Reflex

Das macht Protest wenig anschlussfähig, zumal, wenn er im Kern Angst thematisiert und moralisierend auftritt, wie seinerzeit die Atomkraftgegner. Es ist zu früh zu entscheiden, ob die Klimaschützer in die Ahnenreihe der neuen sozialen Bewegungen von der Studentenrevolte und die Frauenemanzipation über die Anti-AKW-Bewegung und den Antirassismus gehören oder ihr Protest eine neue Qualität annehmen wird.

Ein wesentlicher Unterschied besteht schon darin, dass sie anders als die Vorläufer etwas fordern, was auch die Mehrheit wünscht (wenn auch nicht praktiziert): Gefährlicher Klimawandel und Artensterben beunruhigt auch den Mainstream, und einschneidende Änderungen von Lebensstilen und Gewohnheiten propagiert keineswegs nur eine zukunftsängstliche, apokalyptisch getönte „Letzte Generation“.

Erst die in Protestnischen stets angelegte Selbstradikalisierung und der hysterische Reflex gegen den vermeintlichen Ökoterror polarisiert, aber nicht das von „Klima­klebern“ geforderte 9-Euro-Ticket oder eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen. Die Blockadeaktionen der Letzten Generation, in deren Windschatten die konzilianteren und konsensorientierten Fridays for Future geraten sind, stoßen auf breite Ablehnung.

Protest am Genfer Flughafen

Man kann eine Gesellschaft nicht frontal attackieren, die anders als 1968 und in den 1980er Jahren mit den Protestzielen im Prinzip übereinstimmt. Die „Klimakleber“ überdehnen die legitimen Mittel zivilen Ungehorsams wie Blockaden und Boykotts. Andere Teile der Klimaschutzbewegung kali­brie­ren das wesentlich besser. Ein jüngstes Beispiel sind die 100 Aktivisten, die sich an die Zugänge von Privatjets ketteten, die bei einem Business-Event am Genfer Flughafen ausgestellt waren, und den Haupteingang der Jet-Show versperrten, um die Kundschaft am Betreten zu hindern.

Jets gelten zu Recht als äußerst schädliche Produkte, „die unseren Planeten zerstören, unsere Zukunft verheizen und Ungleichheit befeuern“. Die NGO „Stay Grounded“ erweiterte den Kreis der Zielpersonen: „Während viele sich Essen und Miete nicht mehr leisten können, zerstören die Superreichen unseren Planeten, damit muss endlich Schluss sein.“

Quelle      :         TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Mitwelt Stiftung Oberrhein

Erstellt von Redaktion am 26. Mai 2023

Jeden Tag: Kampagnen gegen den Klimaschutz und gegen die Umweltschutzbewegung

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein Venusberg 4, 79346 Endingen   –   Jeden Tag: Kampagnen gegen den Klimaschutz und gegen die Umweltschutzbewegung

Von   :   Axel Mayer

Für die Kriegsgewinnler und Klimakatastrophenverantwortlichen Chevron, BP, Shell, TotalEnergies und ExxonMobil war 2022 ein profitables Jahr. Die schmutzigen „Big Five“ erwirtschafteten einen gemeinsamen Jahresgewinn von knapp 200 Milliarden US-Dollar. (Eine Milliarde sind unglaubliche 1000 Millionen!) Auch die deutschen Energieversorger haben satte Profite eingefahren. Die Inflation, unter der die Menschen leiden, ist eine Gier-Flation, ausgelöst durch die Konzerne.

Schon jahrzehntelang wissen die Konzernspitzen der Öl-, Gas- und Kohlekonzerne von den Gefahren der von ihren Firmen verursachten Klimakatastrophe. Mit den mörderischen Methoden und Desinformationskampagnen der Tabakindustrie haben sie die Verbreitung dieses Wissens aggressiv und erfolgreich bekämpft und bekämpfen lassen. Sie tragen Verantwortung für millionenfachen Tod und Leid. Die Klimaterroristen in den Konzernzentralen werden nicht etwa bestraft, sondern mit Milliardenprofiten satt belohnt.

Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn die alten, schmutzigen Energiekonzerne privat finanzierte Windräder und private Solaranlagen auf Hausdächern nicht mögen. Ähnliches gilt für Wärmepumpen und die Wärmewende in den Haushalten. Für Öl- und Gaskonzerne geht es bei diesem Streit um satte Profite.

Darum lassen (nicht nur) die Energiekonzerne die Energiewende in BürgerInnenhand auch aggressiv bekämpfen. Ein Beispiel sind die durch Erdöl reich gewordenen amerikanischen Koch-Brüder. Charles und David Koch stecken viel Geld nicht nur in die US-Politik, in KandidatInnen, Verbände, Denkfabriken und in die Organisationen der Energiewendegegner und Klimawandelleugner. So kämpfen sie erfolgreich gegen Steuern für Reiche, gegen Umweltauflagen, gegen Klimaschutz, für ein absolut freies Unternehmertum und gegen den demokratischen Staat. Ihre marktradikalen und rechtspopulistischen Netzwerke sind weltweit gespannt und Geld fließt auch nach Deutschland. Sie gefährden nicht nur das Klima, sondern auch die Demokratie.Auch wenn sich über manche Aktionsform zurecht trefflich streiten lässt: Dass junge verzweifelte Umweltaktive von Klimakatastrophenverantwortlichen als „Klima-Terroristen“ (AfD), als Mitglieder einer „Klima-RAF“ (CSU) und „Klima-Chaoten“ (Bayerisches Innenministerium) denunziert werden, ist mehr als ein Skandal. Diese Anwendung des Begriffs Klima-Terroristen kehrt die tatsächlichen Schuldverhältnisse um. Aktivistinnen und Aktivisten machen auf Missstände aufmerksam und werden dafür kriminalisiert. Der rechtsextreme Rand der Gesellschaft streut gemeinsam und erfolgreich mit marktradikalen Medien und der BILD-Zeitung Begriffe in die öffentliche Debatte, die an Orwellsches Neusprech erinnern. Die parlamentarischen Lobbyisten der Energiekonzerne in Deutschland sind insbesondere FDP, CDU, CSU und AfD. Um das Jahr 2012 war die Energiewende auf dem Weg, eine ökologisch-ökonomische Erfolgsgeschichte zu werden. Doch sie gefährdete zunehmend das Energieerzeugungsmonopol und die Profite der deutschen Energiekonzerne. Also wurde die Energiewende von den Partei-Lobbyisten mit Gesetzen, Vorschriften und Bürokratie erfolgreich geschrumpft.

Auch harte Medien-Kritik an Gesetzen und Aktionsformen ist eine politische Selbstverständlichkeit. Doch von ökonomischen Interessen geleitete Dauer-Kampagnen gegen den Klimaschutz sind etwas anderes. Angeführt werden die aktuell so makaber erfolgreichen Lobbykampagnen gegen die Klimaschutzbewegung und die Energiewende von der Springerpresse und vornehmlich von der BILD-Zeitung. Diese führt ihren alten, hasserfüllten Kampf von 1968 gegen die Studierenden-Bewegung jetzt als Kampf gegen die Klimaschutzbewegung, Umweltbewegung und gegen „Rest-GRÜN“ im Parlament fort.

Der rechts-libertäre Kampagnen-Journalismus der Murdoch-Presse und von Fox-News hat die demokratiegefährdende Spaltung der US-Gesellschaft vorangetrieben. Ähnliches wiederholt sich gerade in Deutschland und Europa.

Ein großes Problem ist die erkennbare Naivität und Hilflosigkeit der Klima- und Umweltbewegung angesichts solcher machtvollen Kampagnen. Die Jugendumweltbewegung befasst sich beeindrucken intensiv und wissenschaftlich fundiert mit den Ursachen des Klimawandels. Mit den Fragen der Macht und den Konzepten der Mächtigen setzt sich die Umweltbewegung zu wenig auseinander. Ein erster Schritt wäre es, die Kampagnen als Kampagnen und deren ökonomischen Hintergründe überhaupt zu erkennen und dann Gegenstrategien zu entwickeln. Die Studierenden-Bewegung von 1968 wusste zumindest noch, was in der Bild-Zeitung steht.

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein
Der Autor ist seit 50 Jahren in der Umweltbewegung aktiv und war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg

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(Weiter-) Bildungsauftrag

Erstellt von Redaktion am 25. Mai 2023

Das Recht auf Aus- und Weiterbildung fristete lange ein Schattendasein.

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Ein Debattenbeitrag von Andreas Gran

Jetzt will die Ampelregierung durch ein neues Gesetz endlich mehr dafür tun. Mehr Geld soll in Bildung fließen, dies ist in einer Zeit hoher Militärausgaben ein wichtiges Signal.

Wer Zeit, Mühe und Geld in die eigene Ausbildung investiert, handelt vernünftig. Selbstvertrauen und soziale Anerkennung sprechen für lebenslange Bildung, neben verbesserten Chancen am Arbeitsmarkt. Die Bedeutung von Bildung ist bereits deshalb immens. Allerdings gibt es bekanntermaßen erhebliche Ungleichheit beim Zugang zu Bildung, obwohl dieser sogar in unseren Grundrechten hervorgehoben wird. Es ist ein wirklichkeitsferner Trugschluss zu glauben, dass Bildungschancen gleich seien, denn die erheblichen Unterschiede sind in Deutschland immer noch das Ergebnis der sozialen Herkunft.

Allerdings hat unser Staatswesen die Pflicht, allen eine Bildung zu ermöglichen – das ist der so genannte Bildungsauftrag. Vor diesem Hintergrund besteht die Schulpflicht. Mit dem Ende der nicht immer alltagstauglichen Schulbildung sind aber viele junge Leute keineswegs ausreichend qualifiziert für das Berufsleben – und deshalb endet die staatliche Verpflichtung, Bildung anzubieten, nicht bereits mit Erlangen irgendeines Schulabschlusses. Sie muss vielmehr die berufliche Aus- und Weiterbildung in weitaus stärkerem Maße im Blick haben. Alarmierend ist dabei, dass zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber keinen Ausbildungsplatz finden, woraus eine sogenannte Ungelerntenquote von etwa 14 Prozent im Alter von 20 bis 34 Jahren resultiert. Arbeitslosigkeitsrisiken liegen auf der Hand.

Vor diesem Hintergrund will die Ampelregierung das „Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung“ auf den Weg bringen. Im Entwurf sind die Probleme und Ziele erläutert, insbesondere Herausforderungen durch die Digitalisierung und die angestrebte Klimaneutralität, die wiederum verschärft werden durch die Energiekrise, Lieferkettenprobleme und einen erhöhten Ausbildungsbedarf. In Ergänzung zum „Qualifizierungschancengesetz“ und zum „Arbeit-von-Morgen-Gesetz“ erhofft sich die Regierung durch den weiteren Schritt mehr „Verständnis von Weiterbildung als präventive Investition zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit“.

Hierzu werden konkrete Maßnahmen versprochen: Die Beschäftigtenförderung soll vereinfacht werden. Diese soll nicht länger auf Berufe, die vom Strukturwandel betroffen sind, und sogenannte Engpassberufe begrenzt werden. Dabei soll die Planungssicherheit für die Arbeitgeber verbessert werden. Auch soll ein Qualifizierungsgeld eingeführt werden für Beschäftigte, denen „im besonderen Maße durch die Transformation der Arbeitswelt der Verlust von Arbeitsplätzen droht“, bei denen Weiterbildungen jedoch eine „zukunftssichere Beschäftigung im gleichen Unternehmen ermöglichen können“. Das Qualifizierungsgeld wäre ein Lohnersatz in Höhe von bis zu zwei Dritteln des Nettogehalts. Außerdem soll eine Ausbildungsgarantie eingeführt werden, die allen jungen Menschen ohne Berufsabschluss zu einer Berufsausbildung verhilft. Das folgt aus der EU-Initiative „Jugendgarantie“, wonach allen Angebote für Beschäftigung, Ausbildung oder Weiterbildung gemacht werden sollen, ohne in die Ausbildungsverantwortung der Wirtschaft einzugreifen. Ein Bestandteil davon ist die Einführung kurzer betrieblicher Praktika, etwa nach Abbruch von Studium oder Berufsausbildung. Und schließlich sollen finanzielle Anreize verlängert werden, damit berufliche Weiterbildung während einer Kurzarbeit möglich ist. Für die Arbeitgeber werden dazu Erleichterungen bei den Sozialversicherungsabgaben in Aussicht gestellt.

Das neue Gesetz führt dazu, dass mehr Geld in die Bildung fließt, und genau dies ist in einer Zeit hoher Militärausgaben ein wichtiges Signal – aus verschiedenen Gründen: Nur mit sozial ausgewogenen Maßnahmen für mehr Bildung kann gesellschaftlichen Spannungen durch die ohnehin bestehende Chancenungleichheit begegnet werden. Der sich verstärkende Rechtsextremismus ist nicht zuletzt die Folge von sozialen Konflikten und kruden Sündenbock-Theorien – Migrantinnen und Migranten sind demnach schuld an der eigenen Lage. Anstatt anderen Menschen die Schuld an der eigenen Situation zu geben, kann diese durch eigene Bildungserfolge verbessert werden.

In einem Sozialstaat und in einer Solidargemeinschaft ist zudem geboten, diejenigen zu unterstützen, denen Ausbildung – aus welchem Grund auch immer – nicht leichtfällt. Wenn finanzielle Aspekte problematisch sind, muss sozialstaatlich gefördert werden. Wer in der glücklichen Lage ist, selbst guten Zugang zur Bildung zu haben, sollte anerkennen, dass Mitmenschen solidarische Hilfe benötigen. Letztlich ist eine solche Investition sinnvoller, als später Missstände auszugleichen, denn es müssen die Ursachen angegangen werden, nicht nur Symptome.

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Oben        —         Exemplarische Situation – hier in Form eines Workshops

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«Wir tun was!» : Shell

Erstellt von Redaktion am 24. Mai 2023

Kleines Greenwashing-ABC am Beispiel Shell

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng /   

Tue wenig, rede viel – so sieht das Klimaengagement vieler Unternehmen aus. «Flip» nahm exemplarisch Shell auseinander.

Was tun, wenn man sein Geld mit Umweltverschmutzung verdient, aber dringend ein grünes Image braucht? Man legt Klimaziele fest und kommuniziert diese möglichst breit und oft. Wie grün sie tatsächlich sind, tritt dabei in den Hintergrund.

Ein Beispiel für diese Art Klimakommunikation ist Shell. Der Öl- und Gaskonzern hat es als Produzent fossiler Brennstoffe zugegeben schwer, seine Produkte als klimafreundlich zu verkaufen. Das aber tut er nach allen Regeln der Kunst.

Das Online-Magazin «Flip» hat Shell im vergangenen Jahr in der Waschküche über die Schulter geschaut. Herausgekommen ist eine Art kleines Kommunikations-ABC des Greenwashings, dem «Infosperber» noch einige Punkte hinzufügen konnte.

1.      Rede deine Beteiligung klein

Shell ist für zehn Prozent der nationalen Klimaemissionen in Deutschland verantwortlich. Das schreibt der Konzern selbst auf seiner Website in Form einer verschriftlichten Rede des Ex-Deutschland-CEOs Fabian Ziegler (im August 2022 abgelöst durch Felix Faber).

Wörtlich: «Es ist also wahrscheinlich keine große Überraschung, dass etwa 10 Prozent [80 Millionen Tonnen] aller deutschen CO2-Emissionen mit Shell Deutschland verbunden sind.» Das ist ganz schön viel. Der innerdeutsche Flugverkehr verursache im Vergleich 0,3 Prozent der deutschen CO2-Emissionen, schreibt «Flip».

Nur 8 Millionen Tonnen CO2 verursache der Shell-Konzern selbst, sagt Ziegler. 72 Millionen Tonnen Kohlendioxid würden jährlich in die Luft geblasen, weil Kund:innen Shell-Produkte verwendeten. Dafür, suggeriert er, könne Shell ja nichts.

2.      Betone deine Verantwortung und dein Engagement

Der gesellschaftliche Druck, die Energiewende zu beschleunigen, sei hoch, sagt der Ex-CEO von Shell Deutschland noch. Shells Job sei es nun, «mehr und sauberere Energie bereitzustellen». Und dabei klimaneutral zu werden. Das klingt sehr nach Verantwortung, Engagement und Zielen.

3.      Wähle ein Ziel, das weit in der Zukunft liegt

Wie diese Ziele aussehen, ist weniger überwältigend. Shell ist auf dem Weg zu «netto null», das betont der Konzern an jeder sich bietenden Stelle. Netto-Null-Emissionen kommen demnach schon bald. Also 2050, das heisst, erst in 27 Jahren. Deutschland will dann schon seit fünf Jahren klimaneutral sein – so steht es im Klimaschutzgesetz.

Wenn Unternehmen zum Netto-Null-Emissions-Datum konkret werden, liege das Ziel meistens zwischen 2040 und 2050, zitiert «Flip» eine Studie, die auf Umfragen beruht. Immerhin legt Shell ein Klimaziel fest, was nicht bei allen Unternehmen der Fall ist.

4.      Verwende möglichst viele Zahlen und Begriffe

Wo ein Ziel ist, sind auch Schritte, um es zu erreichen, auf gut Englisch «Milestones». Auf diese Meilensteine kraftvoll zugehen will Shell mit der «Powering Progress Strategie». Selbige besteht gösstenteils aus dem Kauf von Klima-Zertifikaten, damit rechnerisch kein CO2 mehr übrigbleibt. CO2-Zertifikate halten jedoch selten, was sie versprechen, stellte sich kürzlich bei einer internationalen Recherche heraus (Infosperber berichtete).

Dazu investiert Shell in Carbon Capture, also das Einfangen von CO2. Das in Produktionsprozessen aufgefangene Kohlendioxid wird dann entweder verwertet oder im Boden gelagert. Wie viel CO2 dabei nachhaltig aus der Luft entfernt wird, ist offen. «CCS» und «CCU» (Carbon Capture and Storage sowie Carbon Capture and Usage) klingen aber wenigstens eindrucksvoll.

5.      Definiere deine eigenen (möglichst komplizierten) Massstäbe

Bis 2030 will Shell seine Emissionen halbieren – also doch ein naheliegenderes Ziel. Das gelte aber nur für die Emissionen aus «Scope 1» und «Scope 2», sagt Shell. Scopes sind Emissions-Kategorien, erklärt «Flip». Scope 1 steht für Emissionen aus der Shell-eigenen Produktion, Scope 2 für die Emissionen aus Strom, Gas und Wärme, die Shell verbraucht. Scope 3 besteht aus Verbrauch und Entsorgung von Shell-Produkten und umfasst 95 Prozent der globalen Shell-Emissionen, hat «Flip» errechnet und sich von Shell bestätigen lassen.

Bis 2030 steht rechnerisch also eine 50-Prozent-Reduktion der fünf Prozent der Emissionen an, für die Shell sich verantwortlich fühlt. Sprich: eine Verminderung von 2,5 Prozent bis 2030. Das klingt sehr viel weniger eindrucksvoll als «Netto-Null-Emissionen» oder «Halbierung».

Shell ist nicht der einzige Konzern, der solche Zahlenakrobatik betreibt. Nestlé beispielsweise schätzte grosszügig seinen CO2-Ausstoss für 2030 und zog von dem fiktiven Wert dann «Reduktionen» ab (Infosperber berichtete).

6.      Zeige Demut und gehe still gegen Regulierung vor

2021 verurteilte ein erstinstanzliches Gericht in Den Haag Shell dennoch dazu, die Emissionen aller Scopes bis 2030 um 45 Prozent zu reduzieren. Shell betrachtete «das Urteil … als Beschleunigung unserer Powering Progress Strategie», zitiert «Flip». Das hört sich so an, als ob der Konzern die Massregelung angenommen und begrüsst hätte. Tatsächlich ist das Urteil bis heute nicht gültig, weil Shell Berufung eingelegt hat. Es ist nicht einmal sicher, ob solche Entscheidungen überhaupt von Gerichten getroffen werden können oder ob die Politik übernehmen muss.

7.      Wälze Kosten auf die Kundschaft ab

Mit 1,1 Cent pro Liter Treibstoff sollen autofahrende Konsumentinnen und Konsumenten schon jetzt mithelfen, «Scope 3»-Emissionen zu verringern. Mit dem Zusatz-Cent seiner Kund:innen unterstützt Shell dann Klimaschutzprojekte. Basierend auf Zahlen aus 2020, die «Flip» erfragt hat, kompensiert Shell damit jährlich 0,46 Prozent seiner in Deutschland verursachten Emissionen. Zur Kritik an vielen CO2-Zertifikaten siehe oben.

«Flip» beklagt ausserdem, dass Shell interne Kritik systematisch totschweigt und führt dazu die ehemalige Shell-Sicherheitsberaterin Caroline Dennett an. Dennett kündigte im Juli 2022 ihren Job bei Shell und ging mit ihrem Kündigungs-Video viral. Sie wirft Shell vor, dem Klima bewusst zu schaden, und bezeichnet das Unternehmen als «Jedi-Meister im Greenwashing». Shell hat zu ihrem Abgang seither keinen Kommentar abgegeben.

Wir beenden die Liste an dieser Stelle und betonen nochmals, dass Shell nicht das einzige Unternehmen ist, das solche und ähnliche Kommunikations-Strategien verwendet.

Shell möchte seine Öl- und Gasförderung übrigens in den nächsten Jahren ausweiten. Die Organisation Global Witness verklagte Shell Anfang 2023 wegen Greenwashing, weil der Konzern Investitionen in Erdgas als Ausgaben für erneuerbare Energien einstuft. Auch nach Auffassung der Umwelt-Juristen von Client Earth wird sich am Geschäftsgebaren von Shell in den nächsten 14 Jahren nichts ändern. Ob sich das mit «Netto Null» verträgt?

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Oben      —   Cartoon illustrating the concept of greenwashing

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Unten       —       8,000 returnees are currently staying here in the camp Photo: Tracy Wise/Oxfam

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Die Menschenrechtsliga

Erstellt von Redaktion am 24. Mai 2023

GRUNDRECHTE-REPORT 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Internationale Liga für Menschenrechte

Heute, am 23. Mai 2023, dem Tag des Grundgesetzes, wurde der diesjährige „Grund­rechte-Re­port. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ im Haus der Demokratie in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.

Der 27. Grundrechte-Report wirft unter dem Titel „Krieg, Klima, Krise“ einen Blick auf die aktuellen Gefährdungen der Grundrechte und zentraler Verfassungsprinzipien an­hand konkreter Fälle des Jahres 2022. Der Report analysiert und kritisiert Entschei­dun­gen von Parlamenten, Behörden und Gerichten, aber auch von Privatunternehmen.

Hierzu gehören für das Jahr 2022 grundrechtliche Auswirkungen der Maßnahmen an­läss­lich des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die wachsende Armut in Deutschland. Darüber hinaus werden im Report tödliche Polizeigewalt, rassistische Poli­zeikontrollen und Grundrechts­ver­letzungen an geflüchteten Menschen thematisiert so­wie Einschnitte in die informationelle Selbstbestimmung und Probleme in der deutschen Justiz besprochen.

Susanne Baer, ehemalige Richterin des Bundesverfassungsgerichts und Professo­rin für Öf­fent­liches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin, präsentierte den Grundrechte-Report in diesem Jahr: „Der Krieg in der Ukraine, die wirtschaftliche Lage, die viele Menschen belastet, und die Klimakrise fordern Politik und Gesellschaft – und sie fordern auch die Grundrechte heraus. Gerade wenn es eng wird, kommt es auf diese Rechte an. Der Grundrechte-Report deckt da Probleme auf. (…) Klar ist jedenfalls: Grund­rechtsfragen gehen alle an – und um überzeugende Antworten müssen wir ringen“.

Simon Lachner, Aktivist der „Letzten Generation“, berichtete bei der Pressekon­ferenz von seinen Erfahrungen mit dem staatlichen Umgang mit Aktionen der Klimaak­tivist*innen. Er sagt: „Wie die Engagierten bei der Letzten Generation vom Rechtsstaat behandelt werden ist teils erschreckend. Immer wieder sehe ich meine Freunde, wie sie mit Schmerzgriffen von der Straße gezerrt werden oder in die Justizvollzugsanstalt ge­sperrt werden – teils ohne Gerichtsverfahren, sondern auf Grundlage des Polizeiauf­ga­bengesetzes in Bayern. Auch ich war für zwei Nächte in der Justizvollzugsanstalt in München.“

Benjamin Derin, Rechtsanwalt und Mitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte­vereins e.V. (RAV), resümiert stellvertretend für die gesamte Redaktion des Grund­rechte-Reports: „Ob staatliche Überwachung, Ausweitung von Straf- und Polizei­gesetzen oder Abbau von sozialen Sicherungen, wir weisen immer wieder darauf hin, wo die Grundrechte in Gefahr sind. Teile von Staat und Politik scheinen aber umgekehrt die Grundrechte mancher Menschen als Gefahr zu betrachten. Das Beharren auf diesen Rechten ist deshalb ein wichtiger Teil des Einsatzes für eine freiheitliche und soziale Gesellschaft für alle.“

Seit 1997 widmet sich der Grundrechte-Report der Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Als »alternativer Verfassungsschutzbericht« dokumentiert er die vielfachen Bedrohungen, die von staatlichen Institutionen für diese Rechte ausgehen. Der aktuelle Report nimmt mit dem Jahr 2022 unter anderem die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und die intensivierten Auseinandersetzungen um den  Klimawandel in den Blick. Zu den rund 40 behandelten Themen gehören daneben auch die Versammlungsfreiheit, Überwachungsmaßnahmen durch Polizei und Geheimdienste, die Kriminalisierung von Armut, menschenrechtswidrige Abschiebungshaft und die Entwicklungen um das Abtreibungsverbot in Deutschland.

  • Grundrechte-Report 2023 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland (FISCHER Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.),
    Juni 2023, ISBN 978-3-596-70882-6, 224 Seiten, 14.00 Euro / http://www.grundrechte-report.de/2023/
  • Herausgegeben von: Rolf Gössner, Rosemarie Will, Britta Rabe, Benjamin Derin, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Lea Welsch, Rebecca Militz, Max Putzer, Rainer Rehak.
  • Der Grundrechte-Report ist ein gemeinsames Projekt von: Humanistische Union, verei­nigt mit der Gustav Heinemann-Initiative • Bundesarbeitskreis Kritischer Juragrup­pen • Internationale Liga für Menschenrechte • Komitee für Grundrechte und Demokratie • Neue Richtervereinigung • PRO ASYL • Republikanischer Anwältinnen-und Anwälte­ver­ein • Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen • Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verant­wor­tung • Gesellschaft für Freiheitsrechte
  • Inhaltsverzeichnis und Vorwort („Krieg, Klima, Krise“): https://www.book2look.com/book/9783596708826
    Info zur Präsentation des „Grundrechte-Reports“: http://www.grundrechte-report.de/2023/praesent/
  • Bezugsmöglichkeiten: Das Buch ist ab sofort über den Buchhandel oder die Webseite der Herausgeber zu beziehen (http://www.grundrechte-report.de/quermenue/bestellen/ ).
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Oben       —     Logo von Internationale Liga für Menschenrechte

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Unten      —       Ceremony for the conferment of the Carl von Ossietzky Medall 2014 to Edward SnowdenLaura Poitras and Glenn Greenwald. Opening Speech by ILMR President Fanny-Michaela Reisin.

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Spargel- + Erdbeerernte

Erstellt von Redaktion am 23. Mai 2023

Bundesregierung muss eingreifen

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Solche Lieder hötrn wir jrdes Jahr aufs Neue. Es wird sich aber nichts ändern, da sich Polutik nicht ändert.

Von Jost Maurin

Viele ErntehelferInnen aus Osteuropa werden ausgebeutet. Die Ampel muss endlich dafür sorgen, dass sie eine ausreichende Krankenversicherung bekommen.​

Immer noch werden in Deutschland viele ErntehelferInnen aus Osteuropa ausgebeutet. Wer Spargel, Erdbeeren oder Gemüse vom Feld holt, bekommt teils weniger als den Mindestlohn, muss an seinen Arbeitgeber Wuchermieten bezahlen und ist schlecht krankenversichert. Das hat zuletzt eine Studie der Organisation Oxfam gezeigt.

Doch nach fast eineinhalb Jahren Ampelkoalition ist kaum Besserung in Sicht. Zwar haben SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag versprochen: „Für Saisonbeschäftigte sorgen wir für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag.“ Denn viele ArbeiterInnen haben nur eine private Gruppenversicherung, die weit weniger Leistungen übernimmt als die gesetzliche. Manche Beschäftigte berichten, sie hätten ihre Behandlung selbst bezahlen müssen.

File:Bundesarchiv Bild 183-R0312-500, Mark Brandenburg, Spargelernte.jpg

Bisher aber hat die Koalition keinen Gesetzentwurf vorgelegt, um diesen Missstand zu beheben. Aus den beteiligten Ministerien heißt es seit Monaten, sie würden sich noch untereinander abstimmen. Staatssekretäre schicken sich gegenseitig Briefe – weiterhin stehen manche ArbeiterInnen im Notfall ohne ausreichende Krankenversicherung da.

Der Grund für dieses Verzögerungstaktik ist klar: Die Agrarlobby scheut höhere Kosten durch ordentliche Versicherungen. Der Gesamtverband der deutschen Land- und Forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände hält es für nicht nachvollziehbar, dass Saisonkräfte in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen sollen – obwohl sie während ihres vergleichsweise kurzen Aufenthalts in Deutschland in der Regel nur wenige Leistungen in Anspruch nehmen könnten.

Quelle        :      TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Erdbeerpflücker bei Tettnang ernten Früchte von Fragaria × ananassa

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Gran Chaco, Paraguay

Erstellt von Redaktion am 21. Mai 2023

Grüne Zeiten, schlechte Zeiten

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Von Jürgen Vogt

Der Gran Chaco ist nach dem Amazonas-Regenwald das größte Waldgebiet in Süd­amerika. Doch immer schneller wird hier für die Viehzucht gerodet. Wird das Freihandels­abkommen mit der EU die Rodungen weiter beschleunigen? Ein Besuch bei Umwelt­schützern, Viehzüchtern und Indigenen

Sanft hebt der kleine Heli­kop­ter ab, dreht eine Schleife und schraubt sich nach oben. Der Flug geht über den Wald im Norden Argenti­niens. Aus der Höhe sind drei verschiedene Grüntöne zu erkennen. „Das dunkle Grün ist Wald, das hellere sind gerodete Flächen und das Hellgrün sind die künstlich angelegten Weiden“, sagt Noemi Cruz von der Waldkampagne Greenpeace Argentina.

Greenpeace Argentina fordert den sofortigen Stopp der Abholzungen und dokumentiert die Entwaldung im Norden des Landes. Mit Beobachtungen vor Ort und Satellitenbildern. „Was wir da unten sehen, ist das hier“, sagt Cruz und zeigt auf ihren Laptop. Auch hier sind die drei Schattierungen deutlich zu erkennen, wie mit der Rasierklinge gezogen unterteilen sie die Bilder in Wald-, Kahlschlag- und Weideflächen.

Der ursprüngliche Wald in Formosa ist Teil des Gran Chaco, ein Waldgebiet, das sich über Argentinien, Paraguay und Bolivien erstreckt. Mit mehr als 1 Million Quadratkilometer ist der Gran Chaco das zweitgrößte Waldökosystem in Südamerika. In Sachen Artenvielfalt steht er dem international weitaus bekannteren Amazonas-Regenwald kaum nach: 3.400 Pflanzenarten gibt es hier, 500 Vogel-, 150 Säugetier-, 120 Reptilien- und 100 Amphibienarten, so die neuesten Erhebungen.

Leicht gebeugt fliegt der Helikopter. Am Horizont schlängelt sich der Río Bermejo in braunen Kurven durch den Wald. Unten sind jetzt die scharfen Kanten zwischen den verschiedenen Grüntönen klar zu erkennen. Kleine braune Punkte bewegen sich auf dem Hellgrün. „Rinder, die auf den neu angelegten Weiden grasen“, sagte Noemi Cruz und deutet auf einen gelben Punkt im dunklen Grün: „Ein Bulldozer.“ Der Hubschrauber geht tiefer, zieht Kreise über dem Bagger, der mit seiner Stahlplatte voraus den Wald niederreißt. Der Lärm des Rotors übertönt das Krachen und Knacken der umgeknickten und fallenden Bäume.

30.000 Hektar werden pro Jahr abgeholzt

Argentinien gehörte einmal zu den zehn Ländern mit der größten Wald­fläche der Erde. Die seit 1976 erstellten Statistiken zeigen, dass immer mehr abgeholzt wird – im Gran Chaco noch schneller als im Amazonas-Regenwald. Um der Abholzung Einhalt zu gebieten, wurde 2007 ein viel gelobtes Waldschutz­gesetz in Kraft gesetzt. Die Provinzen sollten Bestandsaufnahmen ihrer noch vorhandenen Wälder machen und in drei Schutzzonen einteilen: eine rote, strenge Schutzzone, eine gelbe Zone für gemischte Nutzung von Forst- und Landwirtschaft, aber ohne Ab­holzung, und eine grüne Zone für weitgehend freigegebene Ab­holzung.

In Formosa erwies sich das Schutzgesetz als Bumerang. 45 Prozent der 7 Millionen Hektar Wald wurden als grün ausgewiesen, 65 Prozent davon dürfen gerodet werden. Anstatt sie zu bremsen, wurde die Abholzung des Walds legalisiert. Die Grundbesitzer in den grünen Zonen freuten sich über die stark gestiegenen Preise ihrer Waldflächen. Im Durchschnitt werden hier jedes Jahr 30.000 Hektar abgeholzt. Wenn diese Geschwindigkeit beibehalten wird, ist bald nicht mehr viel von einem zusammenhängenden Waldgebiet übrig.

Nachdem der Helikopter von seinem Flug zurückkehrt, werden die neuen Beobachtungen ausgewertet. „Wenn das Abkommen EU-Mercosur in Kraft tritt, wird der Abholzungsdruck auf die letzten ursprünglichen Wälder Argenti­niens immens steigen“, sagt Noe­mi Cruz. „Die Zerstörung des Walds ist ein Verbrechen und sollte als Straftat verfolgt werden.“

Am kommenden Donnerstag tagt der EU-Rat für Auswärtige Angelegenheiten in Brüssel zum Thema Handel. Dabei soll auch über den Stand der Dinge beim Freihandelsabkommen mit der lateinamerikanischen Wirtschaftsorganisation Mercosur gesprochen werden, über das seit mehr als 20 Jahren verhandelt wird. Vor drei Jahren wurde dabei eine Einigung erzielt, das Abkommen ist aber auch wegen fehlender Umwelt- und Klimaschutzbestimmungen noch nicht ratifiziert. Geht es nach dem Willen des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin, soll es mit entsprechenden Zusatzvereinbarungen schleunigst in Kraft treten.

Und unten, auf dem Boden der Tatsachen, sehen manche die Rodungen weniger dramatisch als Greenpeace.

„Das Einzige, was der Wald bringt, ist Armut, Elend und Unterernährung. Der Wald produziert keine Nahrungsmittel“, sagt Juan de Hagen. Produktionsleiter von „El Torro“. Mit seinem Pickup ist er auf dem Weg zur Rinderfarm. „Nach dem Waldschutzgesetz von 2007 haben wir in Formosa ein Abholzungspotenzial von 3 Millionen Hektar Wald“, sagt er und deutet auf den entlang der Landstraßen stehenden Wald. Davon könnten 2 Millionen in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt werden. Dieses Potenzial nicht zu nutzen, hieße, die Provinz und ihre Menschen zur Armut zu verurteilen.

Ginge es nach de Hagen, würde in Formosa der ganze Wald in Weideland verwandelt. „In-Produktion-Setzung“ nennt er das. „In Formosa kostet ein Hektar Wald zwischen 300 und 400 Dollar“, rechnet er vor. „Dazu kommen etwa 500 Dollar für Rodung und Umwandlung in Weideland.“ Das ist viel billiger als in Argentiniens Kernland, wo zwischen 10.000 und 14.000 Dollar pro Hektar Ackerland verlangt wird. Die Aussicht auf derartige Wertsteigerungen hat Immobilienunternehmen auf den Plan gerufen, die Waldflächen aufkaufen, entwalden lassen und auf einen profitablen Weiterverkauf hoffen.

De Hagen hat den Pickup am Straßenrand abgestellt und steigt über den Drahtzaun einer Weide. „Hier ist nichts abgeholzt. Die Rinder dort stehen auf der früheren Sandbank eines Flusses“, sagt er und deutet auf eine Herde brauner und schwarzer Bradford- und Brangus-Rinder. Bradford und Brangus sind Kreuzungen mit den aus Asien stammenden Zebu-Rindern. Sie können den extremen Temperaturen im Sommer standhalten.

Auf „El Torro“, benannt nach dem Stier, ist der Name Programm. Die Rinderfarm umfasst 5.200 Hektar Fläche. 1.900 Hektar sind Weideland, 560 Hektar Ackerland für den Anbau von Mais. Der Rest ist Wald – noch. Bis zu 3.600 Rinder werden pro Jahr produziert. „Jungrinder aus hundertprozentiger Weidewirtschaft für den Export“, sagt de Hagen. Erst vor ein paar Tagen hätten sie vier Lkws mit 200 jungen Ochsen beladen. Jeder mit etwa 500 Kilo, bestimmt für einen Schlachthof in Rosario mit dem anschließenden Exportziel EU.

Aber de Hagen ist wütend auf Europa. Was den 39-Jährigen aufregt, ist die neue EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten. Sie verbietet die Einfuhr und den Verkauf von Rindfleisch und Sojabohnen, deren Produktion mit Entwaldung in Verbindung stehen. Seit Anfang des Jahres müssen Importunternehmen nachweisen, wann und wo diese produziert wurden, und überprüfbare Angaben machen, dass sie nicht von Waldflächen stammen, die nach dem 31. Dezember 2020 abgeholzt wurden.

Was für die EU dem Schutz des Walde und des Klimas dienen soll, ist für de Hagen eine Einmischung in die Angelegenheiten seines Landes. „In Europa haben sie seit den Zeiten der Römer alle Wälder abgeholzt, und jetzt wollen sie uns das verbieten.“ Die heutigen EU-Bürokraten und -Parlamentarier seien sicher nicht dafür verantwortlich, dass in Europa keine ursprünglichen Wälder mehr stünden, so de Hagen. Aber sie würden dafür dem Rest der Welt auch keine Bußgelder zahlen. „Wenn der Wald in Lateinamerika einen Umweltservice leisten soll, in dem er unangetastet bleibt, dann sollte die EU dafür auch eine Gegenleistung erbringen“, sagt er.

Seit dem Beginn des Soja- und Maisbooms in den Nullerjahren werden im Kernland der argentinischen Landwirtschaft zunehmend Flächen für deren Anbau genutzt. Der Anbau von Ölsaaten und Getreide garantiert weitaus mehr Rendite als die Rinderzucht. In den Provinzen Buenos Aires, Santa Fe und Córdoba wurde in großem Umfang Weideland in Ackerland umgewandelt. Inzwischen wird auf jedem noch so kleinen Zipfel Anbau betrieben. Viehwirtschaft dagegen ist mobiler als Ackerbau, lautet eine Produzentenweisheit. Und so drängt die Rinderzucht immer weiter nach Norden und erschließt neue Weideflächen. Einst marginale Provinzen wie Formosa mit ihren unrentablen Wäldern geraten in den Fokus, wenn es darum geht, neue Flächen für die Rinderzucht zu gewinnen.

Darauf, dass sich dieser Prozess entschleunigen könnte, deutet nichts hin. Im Gegenteil, die massive Steigerung der Produktion von Agrarerzeugnissen für den Export ist Staatspolitik, unabhängig davon, welchem politischen Lager die jeweilige Regierung angehört.

Wenn das Freihandelsabkommen zwischen Mercosur und der Europäischen Union in Kraft treten sollte, dürften die Exporte aus den landwirtschaftlich hochentwickelten zentralen Regionen Argentiniens deutlich zunehmen. Die Produktion ohne Schutzklauseln für andere Abnehmerländer dürfte sich dagegen nach Norden verlagern, auch nach Formosa. Der Druck auf die Wälder wird steigen – und die EU-Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten droht ihr Ziel zu verfehlen. „Was den Wald gerade am meisten schützt, sind die weiten Transportwege“, sagt Juan de Hagen. Bisher muss das Vieh aus Formosa weite Strecken zu den Schlachthöfen und dann über 1.000 Kilometer zum Exporthafen in Rosario gebracht werden. Auch de Hagen hat heute noch einen weiten Weg vor sich, er verabschiedet sich, und fährt in seinem Pickup davon.

Lange war der Gran Chaco ein ungestörtes, zusammenhängendes Waldgebiet für die dort lebenden indigenen Völker. Die Sommer sind hier ex­trem heiß, während es im Winter sogar Frost geben kann. Europäische Kolonisatoren und Einwanderer bevorzugten deshalb andere Regionen. Der Name „Chaco“ stammt aus der indigenen Sprache Quechua. Das Wort cha bezeichnet eine ruhende Sache, und das Suffix cu drückt den Plural aus. Und „Chacu“ war auch eine Jagdmethode: Ein Ring von Jägern kreiste ein Waldstück ein und verengte den Kreis immer mehr.

„Wir Indigene haben existiert, bevor es den Nationalstaat gab und bevor Kolumbus und all die anderen kamen. Wir waren Nomaden und sind von Zeit zu Zeit weitergezogen“, sagt Noolé vom Volk der Pilagá. Für den Nationalstaat heißt sie Zipriana Palomo. „Als wir Personalausweise bekamen, wurde wir als weiblich oder männlich eintragen, unser Alter wurde geschätzt.“ Damals konnten viele weder lesen noch schreiben und schon gar nicht Spanisch verstehen. Auf den Ämtern hätten sie oft abwertende oder hässliche Namen bekommen. „Mir haben sie den Namen Zipria­na Palomo gegeben. Meine Mutter nannte mich Noolé“, sagt sie.

Noolé macht sich auf den Weg zum Kürbisfeld ihrer Chacra. Chacras werden in Argentinien die kleinen Farmen genannt. „Wir denken gar nicht darüber nach, wie viel Geld das Land wert ist“, sagt sie. Am Ende des Pfads öffnet sich der Wald zu ihrem Feld. Rinder muhen in der Ferne, nicht sichtbar, aber deutlich hörbar. „Dort hinten haben sie den Wald gerodet und Weiden angelegt“, sagt sie und zeigt in die Richtung, aus der das Muhen der Tiere kommt.

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Entwaldung im Gran Chaco, Paraguay

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Fünf Jahre silence-ein O.Ton

Erstellt von Redaktion am 21. Mai 2023

Die Stimme von Julian Assange ist wieder zu hören

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Craig Murray, 7. Mai 2023  (übersetzt von Daniela Lobmueh)

Obwohl er wegen nichts verurteilt wurde und sich lediglich in „Verwaltungshaft“ befindet, für die die Unschuldsvermutung gilt, ist Julian Assanges Stimme seit fünf Jahren praktisch zum Schweigen gebracht worden.
Der Ort des Schreckens und der unmenschlichen Haft, das Londoner Belmarsh-Gefängnis, in dem Terroristen inhaftiert werden, hat verhindert, dass die Welt seine Stimme hören kann. Journalisten dürfen ihn nicht besuchen – selbst Nichtregierungsorganisationen wurden daran gehindert, mit der fadenscheinigen Begründung, sie seien Journalisten und könnten seine Gedanken an die Außenwelt weitergeben.
Ich weiß nicht wie, aber irgendwie hat Julian es geschafft, einige Gedanken unter dem Vorwand eines Appells an König Karl wegen der Haftbedingungen zu verschicken. Der Text ist natürlich stark sarkastisch, und das Thema ist begrenzt, aber zumindest kann er die Welt an Julians schreckliches Schicksal erinnern.
Ich kenne die furchtbare, sinnlose Unmenschlichkeit, von der er spricht, die dummen Regeln, die Isolation, die völlige Verschwendung von Geld und menschlichem Potenzial ohne nützliches Ergebnis. In der Woche, in der ich das Gefängnis von Saughton verließ, starben zwei Menschen. Wenn Sie die Augen schließen, können Sie vielleicht die schöne Tenorstimme von Julians Freund hören, der Selbstmord beging.

An Seine Majestät König Charles III,
Anlässlich der Krönung meines Lehnsherrn hielt ich es für angemessen, Euch herzlich einzuladen, diesen bedeutenden Anlass mit einem Besuch in Eurem eigenen Königreich im Königreich zu begehen: dem Gefängnis Seiner Majestät in Belmarsh.
Sicherlich erinnern Sie sich an die weisen Worte eines berühmten Dramatikers: „Die Qualität der Barmherzigkeit ist nicht angestrengt. Sie tropft wie der sanfte Regen vom Himmel auf den Ort darunter.“
Aber was wüsste dieser Barde von Barmherzigkeit angesichts der Abrechnung, die zu Beginn Eurer historischen Herrschaft ansteht? Schließlich kann man das wahre Maß einer Gesellschaft daran erkennen, wie sie ihre Gefangenen behandelt, und Euer Königreich hat sich in dieser Hinsicht sicherlich hervorgetan.
Das Gefängnis Belmarsh Eurer Majestät befindet sich an der prestigeträchtigen Adresse One Western Way, London, nur eine kurze Fuchsjagd vom Old Royal Naval College in Greenwich entfernt. Wie reizvoll muss es sein, dass eine so angesehene Einrichtung Ihren Namen trägt.
Hier sind 687 Ihrer treuen Untertanen inhaftiert, die das Vereinigte Königreich als die Nation mit der größten Gefängnispopulation in Westeuropa ausweisen. Wie Ihre edle Regierung kürzlich erklärt hat, erlebt Ihr Königreich derzeit „die größte Erweiterung von Gefängnisplätzen seit über einem Jahrhundert“, wobei ihre ehrgeizigen Prognosen einen Anstieg der Gefängnispopulation von 82.000 auf 106.000 innerhalb der nächsten vier Jahre vorsehen. Das ist in der Tat ein großes Erbe.
Als politischer Gefangener, der nach dem Willen Eurer Majestät im Auftrag eines beschämten ausländischen Souveräns festgehalten wird, ist es mir eine Ehre, in den Mauern dieser erstklassigen Einrichtung zu leben. Wahrlich, Euer Königreich kennt keine Grenzen.

Während Ihres Besuchs werden Sie Gelegenheit haben, sich an den kulinarischen Köstlichkeiten zu laben, die für Ihre treuen Untertanen mit einem großzügigen Budget von zwei Pfund pro Tag zubereitet werden. Genießen Sie die gemischten Thunfischköpfe und die allgegenwärtigen rekonstituierten Formen, die angeblich aus Huhn hergestellt werden. Und keine Sorge, anders als in weniger bedeutenden Anstalten wie Alcatraz oder San Quentin gibt es kein gemeinsames Essen in einer Kantine. In Belmarsh speisen die Gefangenen allein in ihren Zellen, was die größtmögliche Intimität der Mahlzeit gewährleistet.
Abgesehen von den geschmacklichen Genüssen kann ich Ihnen versichern, dass Belmarsh Ihren Untergebenen reichlich Gelegenheit zur Bildung bietet. In Sprüche 22:6 heißt es: „Erziehe ein Kind in dem Weg, den es gehen soll, und wenn es alt ist, wird es nicht davon abweichen.“ Beobachten Sie die Warteschlangen an der Medikamentenausgabe, wo die Insassen ihre Rezepte nicht für den täglichen Gebrauch, sondern für die horizonterweiternde Erfahrung eines „großen Tages“ sammeln – und das alles auf einmal.
Sie werden auch die Gelegenheit haben, meinem verstorbenen Freund Manoel Santos die letzte Ehre zu erweisen, einem schwulen Mann, dem die Abschiebung nach Bolsonaros Brasilien drohte und der sich nur acht Meter von meiner Zelle entfernt mit einem kruden Seil aus seinem Bettlaken das Leben nahm. Seine exquisite Tenorstimme ist nun für immer verstummt.
Wenn Sie weiter in die Tiefen von Belmarsh vordringen, werden Sie den isoliertesten Ort innerhalb der Mauern finden: Das Gesundheitswesen, oder „Hellcare“, wie es seine Bewohner liebevoll nennen. Hier werden Sie sich über vernünftige Regeln wundern, die der Sicherheit aller dienen, wie z. B. das Verbot von Schach, während das weit weniger gefährliche Spiel Dame erlaubt ist.
Tief im Inneren von Hellcare befindet sich der herrlichste Ort in ganz Belmarsh, ja im ganzen Vereinigten Königreich: die Belmarsh End of Life Suite mit ihrem erhabenen Namen. Wenn Sie genau hinhören, werden Sie vielleicht die Schreie der Gefangenen hören: „Bruder, ich werde hier drin sterben“, ein Zeugnis für die Qualität des Lebens und des Todes in Ihrem Gefängnis.
Aber keine Angst, in diesen Mauern gibt es auch Schönes zu entdecken. Erfreuen Sie sich an den malerischen Krähen, die im Stacheldraht nisten, und an den Hunderten von hungrigen Ratten, die Belmarsh ihr Zuhause nennen. Und wenn Sie im Frühjahr kommen, können Sie vielleicht sogar einen Blick auf die Entenküken erhaschen, die von verirrten Stockenten auf dem Gelände des Gefängnisses als Eier abgelegt wurden. Aber zögern Sie nicht, denn die gefräßigen Ratten sorgen dafür, dass ihr Leben nur von kurzer Dauer ist.
Ich beschwöre Euch, König Charles, das Gefängnis seiner Majestät Belmarsh zu besuchen, denn es ist eine Ehre, die einem König gebührt. Möget Ihr Euch zu Beginn Eurer Regentschaft immer an die Worte der King James Bibel erinnern: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Matthäus 5:7). Und möge die Barmherzigkeit die Richtschnur Deines Reiches sein, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern von Belmarsh.
Ihr ergebenster Untertan,
Julian Assange (A9379AY)

Ich denke, dass meine eigene Aussage, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, hier einen weiteren Blick wert ist, da ich ähnliche Dinge über die Haftbedingungen gesagt habe. Ich habe damals auch erklärt: „Ich werde mich erst dann wirklich frei fühlen, wenn auch mein Freund und Kollege Julian Assange frei ist“.
Das ist nach wie vor absolut der Fall.

Craig Murray (übersetzt von Daniela Lobmueh mit Deepl.com)
PS. Verzeihen Sie mir, wenn ich darauf hinweise, dass meine Berichterstattung völlig von Ihren freundlichen freiwilligen Abonnements abhängt, die diesen Blog am Laufen halten. Dieser Beitrag darf von jedermann frei reproduziert oder neu veröffentlicht werden, auch in Übersetzungen. Sie können ihn aber auch gerne ohne Abonnement lesen.
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Siehe auch:

Assange: 3sat verschweigt Menschenrechtsverletzung

Warum der Assange-Unterstützer Craig Murray in Haft sitzt

Assange-Ankäger Kromberg in der Kritik

Zeuge der Anklage gegen Assange gesteht Falschaussage

Solidarität mit Julian Assange

Assange-Schauprozess-Chronik

(meist nach Craig Murray von Hannes Sies & Daniela Lobmueh)

Snowden: Es ist ein Schauprozess gegen Assange -Bericht von Craig Murray 8.9.2020

http://scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[pointer]=14&tx_ttnews[tt_news]=74949&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=3f2a117e6b

Assange-Schauprozess: Unrechtsstaat wirft Nebelkerzen  09.09.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=14&tx_ttnews[tt_news]=74963&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=21478b711c

Assange-Prozess Mittwoch: Friedensforscher und Presse-Experte pro Assange 11.9.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=12&tx_ttnews[tt_news]=74996&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=151cc821c0

Assange-Prozess: Daniel Ellsberg und John Goetz („Spiegel“) vernommen  17.09.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=9&tx_ttnews[tt_news]=75063&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=a256a7078e

Assange-Schauprozess: CableGate & Geheimnisverrat -aber von wem?  23.09.20

http://scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[pointer]=6&tx_ttnews[tt_news]=75131&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=67845c3b8e

Assange-Schauprozess: Jakob Augstein pro Assange 27-9-2020

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=4&tx_ttnews[tt_news]=75173&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=b9ea801c43

Assange-Schauprozess: Unrechtsjustiz leugnet Psycho-Folter, John Young (Cryptome), Chris Butler (blog.archive) 28.09.20

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Assange-Schauprozess: Unrechtsjustiz, Folterhaft und aufgedeckte CIA-Verbrechen 02.10.20

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Julian Assange ist Träger des Karlspreises 2020 7.10.20

http://scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=75266&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=453b78ef46

Assange-Schauprozess: Nahost-Korrespondenten packten aus 8.10.20

http://scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=75282&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=7ac3327ffb

Assange-Schauprozess: Weitere Beweisaufnahme verweigert, Schlussplädoyer

http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[swords]=lobmueh%20murray&tx_ttnews[tt_news]=75294&tx_ttnews[backPid]=65&cHash=d89b649ef9

Freiheit für Julian und Roman!

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Oben       —   Londres (Reino Unido), 18 de Agosto 2014, Canciller Ricardo Patiño y Julian Assange ofrecieron una rueda de prensa con presencia de medios internacionales. Foto: David G Silvers. Cancillería del Ecuador.

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Kolumne FERNSICHT Uganda

Erstellt von Redaktion am 20. Mai 2023

Wenn im Schlafzimmer die Frösche quaken

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Von Joachim Buwembo

Ugandas Staatsgebiet besteht zu 20 Prozent aus Wasser, und mit Lake Victoria besitzt das Land die Hälfte des zweitgrößten Süßwassersees der Welt; aber Wasser als Verkehrsweg ist praktisch unbekannt. Auf Ugandas 28 Seen sind fast nur Fischkutter unterwegs, ein paar wenige Inselfähren und Militärboote, die Fischer jagen, wenn sie ­illegalerweise zu junge Fischbestände fangen.

Nun aber zwingt das Wasser die Regierung dazu, Wasser als Verkehrsweg zu nutzen, und das verdanken wir dem Klimawandel. Am Donnerstag, 11. Mai, wachten die Ugander zu der Nachricht auf, dass eine wichtige Brücke und eine erhebliche Strecke der wichtigen Fernstraße aus Kampala nach Südwesten Richtung Tansania und Ruanda und damit in die gesamte Region der Großen Seen unter Wasser standen. Das ist auch der Verkehrsweg, der von Tansania durch Uganda hoch nach Südsudan führt, und Südsudan importiert gerade immer mehr tansanisches Getreide.

Es war nämlich der Katonga, der aus Lake Victoria westwärts Richtung Lake Edward an der kongolesischen Grenze fließt, über die Ufer getreten. Der Süden und Südwesten Ugandas waren damit komplett von der Hauptstadt abgeschnitten. So mietete Ugandas Verkehrsministerium eine Passagierfähre an, um Menschen aus Kampala in die südwestliche Stadt Masaka reisen zu lassen – eigentlich nur 128 Kilometer auf dem Landweg, aber nun mussten die Leute aus Kampala erst mal nach Entebbe und von dort per Schiff weiter. Die Reise wird subventioniert.

Nun merken die Leute plötzlich, dass vier der wichtigsten ugandischen Städte – Kampala, Entebbe, Jinja und Masaka – alle mehr oder weniger am Wasser liegen und man eigentlich ganz einfach über den Lake Victoria von einer Stadt zur nächsten fahren könnte. Die Straßen sind nämlich permanent verstopft, auch kurze Strecken dauern viele Stunden.

Aber diese positive Wendung steht im Schatten der schweren Überschwemmungen und Erdrutsche der vergangenen Wochen – von den Hängen des Mount Elgon an Ugandas Grenze zu Kenia, wo jedes Jahr wegen Abholzung und Erosion Menschen auf ihren Feldern und in ihren Gärten lebendig begraben werden, bis zu den katastrophalen Schlammlawinen in Teilen der Demokratischen Republik Kongo mit Hunderten Toten. Steigende Wasserpegel richten ebenfalls schwere Schäden an. Schon während der Pandemie mussten Anwohner des Lake Victoria in allen drei Anrainerstaaten – Uganda, Kenia und Tansania – im Lockdown mit Fröschen im Schlafzimmer und Fischen im Wohnzimmer leben, viele teure Häuser mit Seeblick wurden verlassen. Im kenianischen Kisumu verklagten Menschen Ugandas Regierung wegen mutmaßlicher Mängel bei der Regulierung der Wasserströme des Nils, die den Wasserpegel des Sees ansteigen ließen. Die Regierung sagt dazu, dass der Fluss versande, was Fluten begünstige. Ein weiteres und immer häufigeres Phänomen sind die durch Wasser verbreiteten Seuchen, wogegen es weder Planungen noch Haushaltsreserven gibt.

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Wahlen in der Türkei

Erstellt von Redaktion am 19. Mai 2023

„Ich bin doch jetzt Deutscher“

Von Volkan Agar

Warum hat der türkische Präsident Erdoğan bei der Wahl fast die Hälfte aller Stimmen bekommen? Lebenswege geben Aufschluss, in der Türkei und hier.

Ein deutschtürkischer Freund, einer, der noch als sogenannter Gastarbeiter in dieses Land kam, ist vergangenes Wochenende in die Türkei gezogen – einen Tag vor den Wahlen dort.

Vor seiner Abreise fragte ich ihn, wen er wählen würde. „Ich bin doch jetzt Deutscher. Ich kann da nicht mehr wählen“, antwortete er. Denn kurz vor seinem Wegzug hatte er endlich die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Und weil die doppelte Staatsbürgschaft für türkeistämmige Menschen noch immer ein bloßes Versprechen ist, musste er die türkische abgeben. Über Jahrzehnte hatte er ohne Wahlrecht in Deutschland gelebt. Und nun, an seinem ersten Tag zurück in der Türkei, konnte er wieder nicht wählen.

Zwei Fragen werden in Deutschland nach der ersten Runde dieser Türkei-Wahl leidenschaftlich diskutiert: Warum hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan trotz seines Versagens angesichts der riesigen Probleme im Land – Wirtschaftskrise, Erdbebenkatastrophe, Korruption, fehlende Rechtsstaatlichkeit – fast die Hälfte aller Stimmen bekommen? Und warum fällt sein Stimmanteil unter Deutschtürken sogar noch größer aus?

Von 2,8 Millionen Türkeistämmigen waren in Deutschland etwa anderthalb Millionen wahlberechtigt. Von diesem Recht hat die Hälfte (48,7 Prozent) Gebrauch gemacht. Davon haben 65,5 Prozent, zwei Drittel, also knapp 480.000 Menschen Erdoğan gewählt. Nicht die Deutschtürken haben Erdoğan gewählt; aber eben sehr viele. Warum?

Psychologische und klassenpolitische Aspekte

Wenn man nach Antworten sucht, trifft man in der deutschen Debatte auf drei Erklärungen, deren Verfechter sie meistens so vortragen, als seien sie alleingültig:

1. Viele türkeistämmige Menschen brächten mit der Wahl Erdoğans Unmut über mangelnde Akzeptanz in Deutschland zum Ausdruck. Sie nähmen dessen Angebot eines vermeintlich echten Zuhauses an. Die Wahlentscheidung sei Protest.

2. Gast­ar­bei­te­r:in­nen und ihre Nachkommen wählten Erdoğan, weil sie aus konservativen, proletarischen, wenig gebildeten Milieus in ländlichen Regionen stammten.

3. Entscheidend seien nationalistische, islamistische und rassistische Ideologien, die unter Deutschtürken dominierten. Eine Erklärung, die auf soziologische Faktoren oder Diskriminierungserfahrungen abhebe, relativiere das Problem.

Türkei als Projektionsfläche

Wenn ich mich nun entscheiden müsste – und was die Debatte mir als Deutschtürken vermittelt, erzeugt den Eindruck, dass ich das muss –, würde ich sagen: Alle drei sind Teil der Antwort. Psychologische und klassenpolitische Aspekte gehen jedoch in diesem Erklärungswettbewerb unter.

Dass in der Türkei viele Menschen einen Präsidenten wählen, der ihnen geschadet hat, ihre alltägliche Lebensqualität beeinträchtigt und das auch in Zukunft tun wird, was sie auf rationaler Ebene wissen; dass es Erdoğan-Wähler:innen in Deutschland, für die die Türkei ja mehr Projektionsfläche als Alltag ist, schwerfällt, ihre Wahlentscheidung in Worte zu fassen – diese Tatsachen deuten doch darauf hin, dass es psychologische Beweggründe gibt, die im Verborgenen bleiben. Wenn es darum geht, irrationales Handeln zu erklären, dann hilft ein psychoanalytischer Blick, der untersucht, was ins Unbewusste verbannt wurde, weil Menschen es bewusst nicht bewältigen konnten – und was sich oft in Form menschenfeindlicher Ideologie gegen als anders markierte Menschen, aber, wie die Wahl zeigt, auch gegen sich selbst und die eigenen Interessen richten kann.

Was unterscheidet das Leben eines Erdoğan-wählenden ehemaligen Arbeiters, der in den 1960ern aus Anatolien nach Duisburg migriert ist, um dort in den Stahlwerken von Thyssenkrupp bis zur Arbeitsunfähigkeit zu schuften, vom Leben eines kemalistischen Finanzbeamten, der seine Rente im bourgeoisen Teil Istanbuls mit Blick auf den Bosporus verbringt? Welche Erfolge, Enttäuschungen, Bestätigungen und Kränkungen haben sie erlebt? Mit welchen politischen Entwicklungen und Kräften in den Herkunfts- und Zielländern verbinden sie Erlebnisse?

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Oben     —       Das darf nicht sein! Darum nur CDU Abbildung: Deutscher Michel sägt am eigenen Ast – Applaudierende Sowjetsoldaten Kommentar: Bedrohung von Freiheit, Sicherheit, Wohlstand Kalter Krieg Plakatart: Motiv-/Textplakat Auftraggeber: Verantw.: Landesgeschäftsstelle der CDU Westfalen, Dortmund Drucker_Druckart_Druckort: Lensingdruck, Dortmund Objekt-Signatur: 10-001: 603 Bestand: Plakate zu Bundestagswahlen (10-001) GliederungBestand10-18: Plakate zu Bundestagswahlen (10-001) » Die 3. Bundestagswahl am 15. September 1957 » Motivplakate Lizenz: KAS/ACDP 10-001: 603

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Krisen, Kriege, Katastrophen

Erstellt von Redaktion am 17. Mai 2023

Bitte mal die Erde retten!

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Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Waldbrände, Überschwemmungen, schmelzende Eisberge und Kriege: Die Menschheit könnte aktuell himmlische Hilfe gut brauchen.

Sehr geehrter Herr Lieber Gott, ich schreibe Ihnen heut, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht glaub, dass es Dich Sie in echt gibt. Aber man weiß ja nie. Ich schreib Ihnen einen Brief, weil ich nicht weiß, ob Sie sich mit TikTok überhaupts auskennen, in Ihrem Alter. Absenden brauch ich ihn ja nicht, weil, wenn es Sie gibt, dann sehen Sie ja eh alles, und wenn nicht, dann hab ich 85 Cent gespart.

Warum ich schreibe, ist des, dass wir jetzt gerade echt am Arsch sind. Die Menschen mein ich, weil es so rasant mit dem Klima geht, dass es da eine Dürre und da eine Überschwemmung gibt und dass der Wald brennt und das Meer steigt wegen den Eisbergen, die es bald nicht mehr gibt. Und dann ist auch noch überall Krieg. Das kann doch nicht gutgehen.

Und die Mama sagt es auch, und man hört es ja überall, dass uns jetzt eigentlich nur noch ein Wunder retten könnt. Und wen soll man sonst schon um ein Wunder angehen, außer Ihnen? Ich bin meistens bei der Oma, weil die Mama, die muss jetzt zwei Jobs haben, damit wir über die Runden kommen. Die Oma ist cool, außer dass es immer nur Gemüse gibt.

Von der Oma ihrer Kohlsuppe krieg ich immer eine solche Furzerei, dass ich es mit einer Allgäuer Kuh aufnehmen könnt, die wo ja bekanntlich Mitschuld ist bei der Katastrophe mit dem Klima. Aber so eine Kuh kann ja nichts dafür, dass sie furzen muss. Methangas und alles. Lachen tät ich ja, wenn dann die Veganer mitschuld sind am Klima, wegen der Furzerei.

Auf die Straße kleben, kann weh tun

Aber ich wollt eigentlich von was ganz anderem reden, und vielleicht gehört es sich auch nicht, wenn man schon mit einem Herr Gott spricht, dauern vom Furzen zu reden. Auch die Oma glaubt, dass uns bloß ein Wunder retten könnt. Aber sie nennt das „Revolution“. Weil sie ist nämlich eine Alt-68erin. Wenn es nach der Oma ging, dann wär ich der jüngste Alt-68er in ganz Deutschland.

Ich tät mich schon auch an eine Straße hinkleben wegen des Klimas. Bloß dass ich mich nicht recht trau, weil man das schon sieht, dass das weh tun kann, und dann kommen auch noch die Polizisten. Vor Polizisten hab ich immer Angst, weil die sind in echt überhaupt nicht so wie im Fernsehen.

Jetzt, wenn Sie sagen, Sie haben die Welt geschaffen und alles, und dann soll sie dem Menschen untertan sein, da kann ich nur sagen, tut mir leid, aber da hast du, haben Sie, Scheiß gebaut. Und kommen Sie mir nicht mit dem freien Willen. Weil erstens, wenn man schon einen freien Willen zu vergeben hat, dann kann man den vielleicht Ameisen oder Pandabären geben, aber doch nicht den Menschen, schon wegen dem „Untertan“ nicht.

Und zweitens haben die meisten Menschen doch gar nicht genug Geld, dass sie sich einen freien Willen leisten könnten. Bloß die Drecksäcke, die das Geld haben, die können sich schon einen freien Willen leisten. Und schauen Sie, was die damit machen. Zum Beispiel unser Turnlehrer, der hat ein Auto, das sieht aus, als wär es nur dazu gemacht, Kinder zu überfahren und angeben und alles. Und in der Pause redet er immer von Deutschland und schaut den Ahmed so komisch an. Der Ahmed ist mein Kumpel.

Im Himmel ein Manitou

Waldbrände in Milas

Nur dass es zwischen uns immer mal wieder theologische Differenzen gibt. Weil der Ahmed sagt, dass die Ungläubigen so was von am Arsch sind, und dann sag ich ihm, das kann schon sein, aber nach allem, was man so sieht, sind die Gläubigen genau so am Arsch, vielleicht sogar noch mehr. Und mir wäre es wurst, ob im Himmel ein Allah, ein Liebergott oder ein Manitou wär – Manitou find ich natürlich gut, weil die Mama mir früher Indianergeschichten vorgelesen hat. Indianer sagt man nicht mehr.

Oder ob er einen Elefantenkopf hat oder eine Frau oder überhaupt unsichtbar ist. Hauptsache wär, dass er uns einen Heiligen Geist oder so was schicken tät, und dann würden alle nur noch Gemüse essen und aufs Fahrrad umsteigen und keinen Plastikmüll mehr machen und unser Turnlehrer und die AfD und die FDP täten in ein Trappistenkloster gehen und einfach nix mehr sagen, null, und schon für des würd ich vielleicht wieder an Sie glauben. Bloß dass man von einem Heiligen Geist rein gar nix spürt.

Und der Ahmed sagt, ich versteh überhaupt nichts von Religion, weil ich nämlich dann erst richtig am Arsch bin, wenn ich tot bin. Dann reden wir ein paar Tage nicht miteinander. Weil ich ja lieber erst einmal leben würde, und dann sehen wir weiter. Also, sehr geehrter Herr Lieber Gott: Wenn Sie die Welt geschaffen haben und sie dann so kaputt gehen lassen, dann kann es doch gar nicht anders sein, als dass Sie gemerkt haben, dass Sie einen Scheiß gebaut haben.

Manche, die überhaupt nichts dafür können

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Weiblicher Eisbär mit einem Nachkommen

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Wer ist hier radikal?

Erstellt von Redaktion am 16. Mai 2023

Der Idealismus der Aktivisten ist bemerkenswert – und in der Politik so kaum zu finden

Ein Debattenbeitrag von Ruth Lang Fuentes

Die Aktivisten der Letzten Generation gelten als extrem. Dabei bleiben sie friedlich – auch angesichts einer teils verfassungswidrigen Klimapolitik.

Die Radikalisierung innerhalb der Klimabewegung schreitet rasant voran. So klingt es jedenfalls, wenn man der aktuellen Berichterstattung und sich in Talkshows äußernden Politikern Glauben schenkt. Seit Wochen sei Berlin ein chaotisches Pflaster, überall Extremisten in orangen Warnwesten, die den Verkehr lahmlegen. Radikal.

Am Tag der angekündigten Klima-Blockaden in Berlin gab CDU-Generalsekretär Mario Czaja ein Radiointerview. Er sprach von „diesen sogenannten Aktivisten“, die seines Erachtens Extremisten, Gewalttäter, Straftäter seien. Die Berliner Polizei solle hart durchgreifen. Sein Kollege Alexander Dobrindt von der CSU habe „das berechtigterweise sehr pointiert formuliert“, als er die Gruppe als Klima-RAF bezeichnete. Es drohe weiterer Extremismus.

Radikalisierung. Extremismus. Die Begriffe fallen oft, und sie diffamieren Aktivisten, die etwas fordern, dem eigentlich alle zustimmen müssten: den Planeten nicht aus Profitgier zu zerstören. Stattdessen werden härtere Strafen und Präventivhaft für Aktivisten gefordert. Einige Gefängnisstrafen ohne Bewährung wurden schon verhängt. Zuletzt verurteilte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten eine 24-Jährige zu vier Monaten Haft. Derweil bedauert Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD), dass die Selbstjustiz ausübenden wütenden Autofahrer „leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden“ müssen. Was ist denn nun radikal und extremistisch?

Schaut man sich die Definition von „radikal“ an, so ist die Letzte Generation auf den ersten Blick wirklich radikal. „Radix“ heißt auf Lateinisch „Wurzel“, es geht ihnen im Großen und Ganzen darum, gesellschaftliche und klimapolitische Probleme „an der Wurzel“ zu packen und durch grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft zu lösen. Aber dem demokratischen System bleibt die Letzte Generation durch und durch verpflichtet. Extremistisch sind die Gruppe auch nicht, denn sie lehnt weder den demokratischen Verfassungsstaat ab, noch ist sie gewaltbereit oder agiert gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Der Idealismus ist bemerkenswert

Das Gegenteil ist der Fall: „Wir wollen den Menschen in der Regierung die Hand reichen, damit sie ab jetzt ihrer Verantwortung vor der Verfassung nachkommen können“, heißt es auf der Website der Letzten Generation. Der Idealismus der Aktivisten ist bemerkenswert – und in der Politik so kaum zu finden. Dafür brechen Politik und Justiz das Grundgesetz andauernd.

Das Klimaschutzgesetz von 2019 stufte das Bundesverfassungsgericht als teils verfassungswidrig ein – weil es die Freiheitsrechte kommender Generationen verletzt. Die Ampel wiederum weicht dieses Gesetz noch auf, baut weitere Autobahnen aus, lässt ­Lützerath abbaggern, während das versprochene Klimageld ausbleibt. Das anzuprangern soll radikal sein?

Die Aktionen der Letzten Generation in Berlin sehen im Detail so aus: Straßen blockieren, das Grundgesetz am Reichstag und Privatjets mit Farbe besprühen, Protestmärsche und Aufklärungsvorträge. Friedliches Sitzen auf der Straße und abwarten, bis man von der Polizei weggetragen wird, oder von einem echauffierten Autofahrer an den Haaren. Selbst dann bleibt das oberste Prinzip der Aktivisten immer: Gewaltfreiheit. Friedlicher ziviler Ungehorsam, wie im Geschichtsunterricht als vorbildlich gelehrt.

Politiker wollen Status quo, den es bald nicht mehr gibt

Extremistisch, extremus, also außen, zu sein heißt, extreme Randpositionen im Verhältnis zur angenommenen Mitte des politischen Spektrums einzunehmen. Beim ZDF-Politbarometer im April 2023 allerdings waren rund 48 Prozent der Befragten der Meinung, dass in Deutschland zu wenig für den Klimaschutz getan werde. Die Letzte Generation steht also mittendrin.

Eher warnen bestimmte Politiker und Medienhäuser vor einem Extremismus, der so nicht existiert. Der CDU-Politiker Philipp Amthor etwa bezeichnete bei Maischberger die Letzte Generation als radikal, – um gleich darauf ihre Forderungen nach Tempolimit und 9-Euro-Ticket zu lasch zu nennen.

Czaja, Amthor, Dobrindt: Sie nennen sich selbst Mitte und die Letzte Generation radikal. Dabei ist es gerade umgekehrt. Denn sie möchten am liebsten einen Status quo, den es bald nicht mehr geben wird. Erich Fried schrieb vor mehreren Jahrzehnten: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“ Bezüglich der Klimakrise so aktuell wie nie.

Es steht für uns zu viel auf dem Spiel

Natürlich sprechen nicht alle so radikal über die Klimaaktivisten. Die meisten Politiker und Journalisten machen weiter wie bisher und kritisieren vage die Protestform. Es gibt Gerichte, die Aktivisten freigesprochen haben. Und Versuche der Annäherung vonseiten einiger Politiker. Die Oberbürgermeister von Marburg, Tübingen und Hannover haben sich mit der Gruppe ausgetauscht und ihre Forderung nach einem Gesellschaftsrat öffentlich befürwortet. In diesen Städten finden keine Blockaden mehr statt.

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Ölaktion vom Aufstand der Letzten Generation vor dem Bundeskanzleramt, Berlin, 09.07.2022

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Söders Märchenstunde

Erstellt von Redaktion am 13. Mai 2023

E-Fuels und Kernfusion

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Einen Debattenbeitrag von Ulrike Herrmann

Klimaneutralität über den Preis herzustellen klappt nicht. Auch Kernfusion, Minireaktoren und E-Fuels sind reines Wunschdenken. Markus Söder und der FDP ist das egal.

FDP und Union haben erstaunliche Ansichten, wie sich Klimaschutz umsetzen lässt. So wird immer wieder der Eindruck erweckt, die Kernfusion könne eine Lösung sein. In Bayern ist bekanntlich gerade Wahlkampf, weswegen die CSU sogar eine eigene „Demonstrationsanlage für Kernfusion, beheimatet in Bayern“ bauen will.

Dabei käme die Kernfusion viel zu spät, um das Klima zu retten. Unter den Physikern gehen selbst Hyperoptimisten davon aus, dass die Kernfusion frühestens „in Jahrzehnten“ gelingt. Diese Hyperoptimisten sind übrigens selten. Die meisten Physiker winken ab, wenn sie den Begriff Kernfusion hören. Denn bisher ist es noch nie gelungen, durch Kernfusion Nettoenergie zu gewinnen. Stattdessen war die Fusion bisher ein Verlustgeschäft, weil es sehr viel Energie kostet, Atomkerne zusammenzuzwingen.

Aber selbst wenn die Hyperoptimisten recht hätten, dass die Fusion in ferner Zukunft tatsächlich Energie abwirft: Das deutsche Klimaschutzgesetz sieht vor, dass wir schon 2045 klimaneutral sein müssen, damit wir die gefährlichsten Klimakipppunkte noch vermeiden können. Bis 2045 wird aber garantiert kein einziger Fusionsreaktor stehen.

Ähnlich weltfremd ist eine weitere Idee von Union und FDP: Sie trommeln für eine Renaissance der klassischen Atomenergie per Kernspaltung. CSU-Chef Markus Söder hofft vor allem auf „Minireaktoren“, die er natürlich ebenfalls am liebsten in Bayern erforschen würde. Mini­reaktoren: Dieses Konzept klingt futuristisch, ist aber in Wahrheit uralt. Schon in den 1950er Jahren träumte man vom „Kraftwerk in der Kiste“. Die Kleinreaktoren sollten als Flugzeugantrieb dienen oder als „Babyreaktoren“ Räume heizen. Es kam bekanntlich anders. Diese Art von Minireaktoren wurde nie gebaut, und ein Grund war, dass auch sie strahlenden Atommüll hinterlassen, den niemand in seinem Wohnzimmer oder in der Küche haben wollte.

Errichtet wurden stattdessen Großkraftwerke, die sich besser beherrschen ließen. Aber auch dort kam es zu den sattsam bekannten Problemen: Für den deutschen Atommüll gibt es bisher kein Endlager, und zudem wird der Bau neuer Reaktoren immer teurer.

Das Uran würde nur für 13 Jahre reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte

Was auch gern übersehen wird: Das Uran würde nur 13 Jahre lang reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte, um die fossilen Brennstoffe zu ersetzen und weltweit Klimaschutz zu betreiben. Momentan ist die Atomenergie ein Nischenphänomen, das weniger als 5 Prozent des globalen Endenergieverbrauchs abdeckt.

Aber technische oder physikalische Grenzen interessieren FDP und Union nicht, weswegen sie sich auch so sehr für E-Fuels begeistern können. Söder fürchtet um den „Industriestandort Bayern“, wenn es zu einem Verbrenner-Aus kommt. Also sieht er „große Potenziale“ bei den synthetischen Kraftstoffen. Doch leider ist es eine große Energieverschwendung, Ökostrom in E-Fuels umzuwandeln. Der Wirkungsgrad liegt bei ganzen 15 Prozent.

Nun könnte man es als Marotte abtun, dass FDP und Union so hartnäckig auf Kernfusion, Atomkraft oder aber E-Fuels setzen, die unwahrscheinlich, unerheblich oder ineffizient sind. Aber die beiden Parteien praktizieren nur besonders ausgeprägt eine Weltfremdheit, die auch anderswo in der Klimapolitik zu beobachten ist. Dieser Irrtum heißt: CO2-Preis.

Technik wird ignoriert

Auf den ersten Blick wirkt die Idee sehr charmant, Treibhausgase mit einem Preis zu versehen, sodass die „Mechanismen des Marktes“ wirken können. Es fällt gar nicht auf, wie vermessen der Ansatz ist, dass ein einziger Preis die gesamte Klimakrise lösen soll. Denn dahinter steht die Annahme, dass sich die physikalischen Realitäten dem „Markt“ schon fügen werden. Technische Probleme und Grenzen werden ignoriert. Die Vermutung ist, dass der Preis alle relevanten Informationen enthält und alles steuern kann. Damit agieren die Volkswirte, als wären sie Gott. Gott soll die Welt erschaffen haben, und ein ähnliches Wunder wollen die Ökonomen nun auch vollbringen. Sie setzen einen Preis – und schon soll sehr bald die Klimaneutralität kommen. Ähnlich wahrscheinlich sind Engel.

Aber von vorn: Wenn wir bis 2045 klimaneu­tral sein wollen, muss es jetzt sehr schnell gehen. Der CO2-Preis müsste in extrem kurzer Zeit rasant steigen, damit 2045 niemand mehr auf die Idee kommt, Gas, Kohle oder Öl zu verbrennen. Ein derartiger Ausstieg aus den fossilen Energieträgern wäre problemlos, wenn genug Ökostrom zur Verfügung stehen würde, der relativ günstig hergestellt werden kann. Wenn jedoch grüne Energie fehlt, wird der Ausstieg brutal.

Die zentralen Fragen sind also technisch, nicht ökonomisch. Um nur einige aufzuzählen: Wie viel Ökoenergie kann man in Deutschland maximal erzeugen? Wie stark kann die Effizienz von Batterien oder Windrädern bis 2045 zunehmen? Was kann die Industrie an Rohstoffen und Energie einsparen? Wie aufwendig wäre der Import von Ökoenergie, die in der Sahara hergestellt wird?

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld, zwischen den Kühltürmen die Betonkuppel mit dem Kernreaktor

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Klimavolksentscheid Berlin

Erstellt von Redaktion am 11. Mai 2023

Besser zielen fürs Klima

Ein Debattenbeitrag von Heinrich Strößenreuther

Genauer kommunizieren, auch auf dem Land präsent sein: Was sich aus dem verlorenen Quorum des Berliner Klimavolksentscheids lernen lässt.

Die 105.425 Unterschriften für den „Volksentscheid Fahrrad“ und für „Changing Cities“ lösten im Juni 2016 einen verkehrspolitischen Tsunami aus. Mittlerweile haben wir in Berlin ein Mobilitätsgesetz, über 50 Bürgerentscheide zum Radverkehr in der gesamten Republik, einige davon auf Landesebene. Radverkehrspolitik ist zur Pflichtaufgabe geworden auf Bund-, Länder- und Gemeindeebene und in den kommunalen Spitzenverbänden.

Berlin in einem Jahrzehnt fossilfrei machen: Diese Erwartungshaltung gäbe es ohne die Initiative nicht

Was, so fragte ich mich, würde passieren, wenn wir das Gleiche mit einem versierten Supportteam nochmal machen – mit der Klimapolitik? Mit meiner Gründung von „GermanZero“ gelang genau das: Mittlerweile sind 100 Klimaentscheide-Teams unterwegs, in 40 Kommunen gibt es bindende Beschlüsse, bis spätestens 2035 klimaneutral zu werden.

Nummer 4 dieser Klimaentscheide war die Initiative „Klimaneustart“, die im Mai 2020 startete. Mit vier Jahren Dauerkampagne und fünf Mobilisierungsphasen war sie fünfmal erfolgreich: Klimanotstand 2019, Klimabürgerrat 2021, Antrag auf Volksbegehren 2022, Volksbegehren 2022 und zuletzt der Klimavolksentscheid in Berlin mit 51 Prozent Jastimmen. Das war und ist eine Spitzenleistung bürgerlicher Mobilisierung.

Durch die Sabotage der damals noch Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, die Volksabstimmung bewusst nicht auf den Wahltag zu legen, ist der Volksentscheid erwartungsgemäß am Quorum gescheitert. Was bleibt – und deshalb lohnt sich jeder Bürgerentscheid –, ist das große Stadtgespräch über den weiteren politischen Kurs. Diesen Druck und die Erwartungshaltung gäbe es ohne die Initiative nicht. In dieser Pflicht werden CDU und SPD stehen: Berlin in einem Jahrzehnt fossilfrei machen.

Lernen lässt sich aus dem verlorenen Quorum und den hohen Neinstimmen-Anteilen für weitere Bürgerentscheide dennoch einiges: Erstens: Beim politischen Angebot, das Klimaschutzgesetz bereits auf 2030 klimaneutral auszurichten, wurde ein Wagnis eingegangen. Ein Volksentscheid muss aus der Mitte der Bevölkerung gewonnen werden können, es muss zu einem guten politischen Common Sense passen. 49 Prozent Neinstimmen waren nicht gegen Klimaschutz, aber gegen eine Berlin überfordernde Geschwindigkeit. Deshalb: Besser zielen, an den richtigen Stellen die richtigen Fachleute reinholen und die Kompetenz einbinden, die längst vorhanden ist.

Zweitens: Medial fehlte die fundierte Gegenantwort auf die Nichtmachbarkeits-Diskussionen. Ein Masterplan für 2030 Zero fehlte in der Diskussion, die Kritiker hatten leichtes Spiel und die Gelegenheit, die vielen Neinstimmen fachlich zu unterfüttern. Ein Berlin mit ausreichend Solar- und Windstrom durch Solardächer, Wind- und Solarparks im Land oder in Partnerschaft mit Brandenburg wäre bis 2030 machbar, der Wärmebereich und der Verkehrsbereich etwas später. Mit Recherche, Expertise, Dialogveranstaltungen oder eigenen Interviewpartnern für die Medien lässt sich gegen die Kritik gewinnen.

Drittens: Die Klimabewegung versagt darin, außerhalb der großen Städte Menschen für gute Klimapolitik zu gewinnen. Die Engagierten sind überwiegend urban, in den Außenbezirken melden sich wenig Freiwillige. Diese unabsichtliche, aber fehlende geografische Inklusion führt zu einer monothematisch urbanen Klimapolitik – und zur Blindheit zu den Stimmungen in den Außenbezirken. Deshalb: Systematischer betrachten, wo welche Menschen gewonnen werden müssen, sie verstehen und mit gezieltem Organizing in den Außenbezirken mehr Rückhalt entwickeln.

Viertens: Wir als Klimabewegung haben es nicht verstanden, für unser Anliegen, die Maßnahmen und die Verbesserungen zu werben. Jeden Grunewäldler kann man nachdenklich machen, weil das Bewässern der Rasenflächen in wenigen Jahren vielleicht schon verboten wird. Jedem Autopendler hätte man mit „Geiz ist geil“-Parolen die Kostenvorteile des E-Auto-Fahrens näherbringen können. Den knapp 200.000 Einfamilienhausbesitzern hätte man vorrechnen können, wie viel billiger und sicherer die Strom- und Wärmeversorgung via Solar auf dem Dach und Wärmepumpe im Garten wird. Deshalb: Zielgruppen genauer definieren und mit Fakten und Argumenten aus deren Sicht werben.

Auch mal im Sprachjargon von CDU und FDP kommunizieren

Fünftens: Die Klimabewegung war mal wieder vergnügt in der rot-grünen Bubble unterwegs, mit all ihren Insignien vom Fahrrad über Kleidung und Wortwahl. Es wurde nicht verstanden, auch einmal aus Sicht der Nicht-Grünen-Perspektive zu werben, im Partei- und Sprachjargon von CDU oder FDP zu kommunizieren. Klima bleibt damit die Aufgabe der „anderen“ – und wird eben nicht breit getragen, wie es ein erfolgreicher Volksentscheid erfordert. Warum sollten dann auch CDU oder FDP für mehr wirksame Klimapolitik bei ihren Wählern werben, wenn es auf den Markenkern der Grünen einzahlt? Deshalb: Bewusst parteiübergreifend, inklusiver, aber auch parteifokussierter kommunizieren, Türen auf- und nicht zumachen, in Parteien eintreten.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>     weiterlesen

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Oben      —     Photo of waste mismanagement in Ogun state, Nigeria (Mülldeponie in Nigeria)

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Maji-Maji als Metapher

Erstellt von Redaktion am 10. Mai 2023

Deutsche Erinnerung an den Kolonialismus

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Deutschland tut sich schwer mit der Anerkennung kolonialer Vergangenheit. Für Postkolonialismus bleibt  wenig Raum und Respekt.

Demnächst wird in Berlin eine Straße nach Maji-Maji benannt, dem großen Freiheitskampf im frühen 20. Jahrhundert gegen die kolonialdeutsche Besetzung Ostafrikas. Die Umbenennung im sogenannten Afrikanischen Viertel, auf dessen Straßenschildern lange ein Amalgam aus Nazi- und Kolonialideologie fortlebte, ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen.

Während dieser Zeit hat sich allerdings bei den meisten Deutschen kaum das Wissen vermehrt, welches Verbrechen hinter dem Stichwort Maji-Maji steht: Der Aufstand auf dem Gebiet des heutigen Tansanias wurde vom Kaiserreich mit genozidalen Methoden niedergeschlagen – Felder wurden abgebrannt, Ernten und Saatgut vernichtet. Etwa 200.000 zivile Opfer; viele starben eines erbärmlichen Hungertods.

Der Bundestag spricht lieber über den Holodomor; die Gewalt der anderen. Kürzlich kamen Nachfahren der tansanischen Opfer zu Besuch. John Mbano sucht nach dem Schädel eines von Deutschen gehenkten und posthum zerstückelten Familienangehörigen, einer Führungsgestalt des Aufstands. Seine Frau Cesilia Mollel, Geschichtslehrerin, berichtete, wie quälend es für sie sei, an ihrer Schule die Gräueltaten im Unterricht zu behandeln. Ob wir das auch täten, in unseren Schulen?

Ihre Erschütterung, das transgenerationelle Trauma der Opfer, hat kein adäquates Gegenüber. Einzelstimmen gewiss, Minderheiten – doch im Ganzen zeichnet sich der deutsche Echoraum beim Thema Kolonialismus durch die Abwesenheit von Erschütterbarkeit aus. Das Unrecht wurde feuilletonisiert: Als hätten sich die Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus in Kunstraub erschöpft, wird lieber von entwendeten Gegenständen gesprochen als von Genozid, von Rückgabe statt von Reparationen.

Keine leeren Vitrinen

Museen haben eine weichgespülte Dekolonisierung als Geschäftsmodell entdeckt, eine softe zeitgeistige Progressivität, die übrigens perfekt in die Ära grünen Regierungshandelns passt: Machthierarchien nicht antasten, aber sie mit feinen Gesten verzieren. Die jüngere europäische Debatte über Restitution begann bekanntlich 2017 mit einer Rede von Emmanuel Macron an der Universität von Ouagadougou; er strebte danach, die junge Generation für sich einzunehmen und dem Einflussverlust Frankreichs entgegenzuwirken.

Als ich kürzlich im Musée du quai Branly in Paris war, suchte ich vergeblich nach Lücken: keine leeren Vitrinen, überhaupt keine Anzeichen einer rupture, eines Bruchs. Die Fülle außereuropäischer Kunstobjekte war erschlagend, schön – und beunruhigend. Gewiss, die Beschäftigung mit der Herkunft musealer Bestände hat Gutes und Sinnvolles bewirkt; und doch ist – außer in Nischen besonderer Sensibilität – etwas nicht gelungen, was man als epistemologischen Sprung bezeichnen könnte.

Also der Blick in den Spiegel: Wie steht es um die Provenienz und die Qualität europäischen Weltwissens? Wie kolonial geprägt ist der Kanon unseres Wissens, wie defizitär unsere Erkenntnis? Nein, keine Erschütterung, erst recht nicht in diesen Zeiten. Am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (dessen Beirat ich angehöre) erschien jüngst der Sammelband „Thinking the Re-Thinking of the World“. Er präsentiert Ansätze aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten zur Dekolonisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Maji Maji rebellion - de.png

Die globalen Strukturen akademischer Forschung seien weiterhin von westlichen Interessen und eurozentrischen Konzeptionen geprägt, so der Befund des Instituts. Hierarchien markierten die Wahrnehmung dessen, was überhaupt als soziologische oder philosophische Produktion anerkannt wird. Diese ernüchternde Bilanz steht in erstaunlichem Kontrast zur wachsenden Popularität eines Feindbilds namens „die Postkolonialen“.

Über Jahrzehnte ignoriert

Angeblich dominieren sie Universitäten und Kulturbetrieb, haben sich in Medien, Stiftungen, Verlagen breitgemacht, schieben einander Gelder und Jobs zu. Die Klage über den geschickt verborgenen und zugleich gewaltigen Einfluss der Postkolonialen hat verschwörungstheoretische Züge – wie überhaupt bei diesem Thema schlichtweg alles behauptet werden kann, ähnlich wie in den USA über die Critical-Race-Theorien. Ein Kampfbegriff.

Wie vieles, was Dekolonisierung betrifft, wurden die tatsächlichen Autoren und Autorinnen Postkolonialer Theorien in Deutschland, wenn überhaupt, nur mit arger Verspätung wahrgenommen. Edward Saids „Orientalismus“ von 1978 erschien auf Deutsch erst nach mehr als drei Jahrzehnten; Dipesh Chakrabartys „Provincializing Europe“ nach einem Jahrzehnt. Aber im Diskurs der Feindseligkeit geht es gar nicht um diese bestimmte akademische Strömung, die sich längst verästelt hat.

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben        —     Wilhelm Kuhnert: „Battle at Mahenge“, German East Africa, 1905

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Vorträgen, Workshops+mehr

Erstellt von Redaktion am 10. Mai 2023

Klimaaktivist*innen laden zum Camp gegen Haft und Kohlekraft in Grevenbroich ein

File:Ende Gelände Protest auf der Nord-Süd Bahn vor dem Kraftwerk Neurath.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :    pm

Vom 13. bis zum 15. Mai campen Klimaaktivist*innen in Grevenbroich. Anlass ist der Prozesstermin der Aktivistin Tessa P., der am Montag, dem 15. Mai, am Amtsgericht Grevenbroich stattfinden wird.

Neben ihr sind drei weitere Aktivist*innen der Gruppe „Block Neurath“ angeklagt, das RWE-Kohlekraftwerk Neurath im November 2021 blockiert zu haben. Im April ist eine Person bereits zu 9 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Das Camp läuft unter dem Motto „Campen gegen Haft und Kohlekraft“ und richtet sich gleichzeitig gegen die Verfeuerung von fossilen Energieträgern und gegen die staatliche Verfolgung von Widerstand dagegen.

Das Camp findet auf der Grevenbroicher Waldwiese statt und bietet ein offenes Programm, das sich auch an die Grevenbroicher Stadtbevölkerung richtet. Neben Vorträgen, Workshops und Podiumsdiskussionen wird es auch eine Stadt-Rallye geben. Mit dem Austausch sollen Berührungspunkte gebildet und Barrieren abgebaut werden. Dass die Klimakrise nicht nur ein Thema für Aktivist*innen ist, erklärt Klimaaktivstin Irene T.: „Wir alle haben ein Interesse klimagerecht zu wirtschaften. Niemand möchte in einer 2 Grad wärmeren Welt leben, auch nicht Beschäftigte in der Kohle- oder Automobilindustrie. Der Grossteil der Menschen besitzt kein nennenswertes Eigentum an Produktionsmitteln und hat kaum Mitspracherecht darüber, wie wir wirtschaften. Das muss sich ändern.“

Das Kraftwerk Neurath ist das grösste Kohlekraftwerk in Deutschland und das zweitgrösste in der EU. Es ist für die Emissionen von 32,1 Mio Tonnen CO2 im Jahr verantwortlich. Dies entspricht ungefähr den jährlichen CO2 Emissionen von Neuseeland. Die Aktivist*innen erinnern an die Katastrophen, die durch die Klimakrise verursacht werden, und ziehen fossile Konzerne wie RWE in die Verantwortung. „In Ostafrika hat die Klimakrise bereits eine Hungersnot ausgelöst. In Somalia sind letztes Jahr mehr als 20.000 Kinder unter 5 Jahren durch die Dürre gestorben. In Südeuropa herrscht Dürre und Wassermangel und das schon seit Januar. Nicht die Aktivist*innen sollten für den Schaden an RWE belangt werden. Sondern RWE für die Schäden am Klima!“, fordert Klimaaktivist*in Judith Jansen.

Im November 2021 hat die Gruppe „Block Neurath“ den Kohleausstieg selbst in die Hand genommen. Neun Aktivist*innen haben sich dafür an zwei Stellen an den Gleisen der Kohlebahn festgekettet. Sie fixierten sich an Betonfässer und an Zementblöcke, die unter die Schienen gegossen sind. Auch Rollstuhlfahrer*innen waren dabei. Der Kraftwerksbetreiber RWE musste das Kraftwerk daraufhin runterfahren und die Leistung drosseln. Zwischen 5.000 und 22.000 Tonnen CO2 konnten dadurch eingespart werden. Klimaaktivistin Tessa P. war dabei und wird am Montag vor Gericht geführt.

Tessa P. gibt sich selbstbewusst: „Auch wenn uns oft vorgeworfen wird, dass das Blockieren von Kraftwerken nicht legal sei, war es dennoch legitim und notwendig. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Rechte immer erkämpft werden mussten und die Herrschenden diese nie freiwillig gewährten. Deswegen handeln wir nach dem Motto: Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Wir haben das Kohlekraft nicht blockiert, weil es uns Spass macht, sondern weil das Kraftwerk Neurath uns alle betrifft und massgeblich die Klimakrise anheizt. Die Gleise, Förderbänder und Kraftwerke sollen in die Hände der Gesellschaft übereignet und abgeschaltet werden!“

Im April wurde ein*e Aktivist*in der Gruppe „Block Neurath“ bereits zu 9 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Auch eine Aktivist*in der Letzten Generation erhielt kürzlich eine viermonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Klimaaktivist*in Robin A. hat für diese Rechtsprechung kein Verständnis: „Ich sträube mich gegen jede Repression. Egal ob sie sich gegen die Letzte Generation, Baggerblocken, Kraftwerksblockaden oder Abseilaktionen richtet – die Spaltung in guten und bösen Aktivismus lehnen wir ab.“

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —      Ende Gelände 2019: Rund tausend Menschen blockierten vom 21. bis 23. Juni 2019 die für die Versorgung des Kraftwerks Neurath (Hintergrund) benötigte Nord-Süd-Bahn.

Author Manuellopez.ch           /       Source     :    Own work      /      Date       :  21 June 2019

his file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

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Atomkraft in Frankreich

Erstellt von Redaktion am 9. Mai 2023

Fiasko in Frankreich

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Ein Debattenbeitrag von JAYRÔME C. ROBINET

Kernspaltung war beim Nachbarn mal ein Zeichen für Forschergeist. Heute steht die Regierung vor großen Problemen, ist aber unbeirrt.

Während die weißen Dampfschwaden der AKW-Kühltürme und die Atomkraft in Deutschland insgesamt Geschichte sind, geht Frankreich den umgekehrten Weg – Laufzeiten werden verlängert, sechs neue AKWs sollten gebaut werden. In der Sache ist Frankreich psychologisch gesehen ein Fall von „eskalierendem Commitment“. Man lässt sich nicht von einem einmal eingeschlagenen Kurs abbringen, obwohl immer deutlicher wird, dass dieser Kurs in die Irre führt.

Eskalierendes Commitment ist nicht schlimm, wenn man im Kino sitzen bleibt, obwohl längst klar ist, dass einem der Film nicht gefällt, oder wenn Menschen in einer Beziehung bleiben, obwohl sie merken, dass sie nicht glücklich sind – am Ende schadet es nur ihnen selbst. Fatal ist es, wenn Staaten an ihren Entscheidungen festhalten, obwohl sie sich verrannt haben.

Die Geschichte der Atomenergie in Frankreich ist ein Fiasko, das wie ein Märchen begann: Die Politikwissenschaftlerin Sabine von Oppeln verortet die Geschichte der Kernenergie in Paris und Berlin. Das Pariser Forscherteam um Henri Becquerel, Pierre und Marie Curie und das Berliner Team um Otto Hahn und Lise Meitner leisteten Pionierarbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Deutschland aus naheliegenden Gründen auf die eigenständige Entwicklung militärischer Atomwaffen verzichten.

In Frankreich hingegen wurde die Force de frappe – die Nuklearstreitmacht der französischen Streitkräfte – als Symbol der Größe und Unabhängigkeit des Staates aufgebaut. Hauptgründe dafür waren die Ablehnung einer US-amerikanischen Vorherrschaft in Europa und das Streben nach dem Erhalt einer Vormachtstellung angesichts des Wirtschaftsaufschwungs in der Bundesrepublik. Der französische Wille, „nie wieder schwach zu sein“, erklärt sich historisch aus dem als gescheitert empfundenen Pazifismus der 1930er Jahre. Der Pazifismus endete 1938 mit dem Münchner Abkommen und 1940 mit der deutschen Besetzung Frankreichs. Die Atomwaffen bildeten, was Ressourcenwissen anbelangte, die Grundlage für die zivile Nutzung der Kernenergie.

„In Frankreich haben wir kein Erdöl, aber wir haben Ideen“ – so lautete der Slogan des Jahres 1976 unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing. Unter dem Schock des Ölpreisanstiegs 1973 suchte das Land nach neuen Energiequellen. Nach der Ölkrise war Frankreich in der Lage, innerhalb von 20 Jahren einen über das Land verteilten Atomkraftwerkspark mit 59 Reaktoren zu errichten – also 3 Reaktoren pro Jahr. Ein Riesenerfolg aus der Sicht der Kernenergiefans: In den 2000er Jahren war Frankreich – auf die Einwohnerzahl heruntergerechnet – weltweit das Land mit den meisten Atomkraftwerken. Das Land produzierte mehr Strom, als es verbrauchte. Der Verkauf des Überschusses an die europäischen Nachbarländer brachte jährlich 3 bis 5 Milliarden Euro in die Staatskasse.

Atom­kraft­geg­ne­r:in­nen stießen in Frankreich auf die starre, zentralistische und autoritäre Umsetzung von Politik

Zwanzig Jahre später hingegen befürchtet das Land Stromengpässe; zeitweise war 2022 die Hälfte der Atomkraftwerke abgeschaltet – entweder wegen gravierender Mängel und Schäden oder wegen mangelnden Kühlwassers wegen des heißen Sommers. Frankreich ist zum größten Strom­im­porteur Europas geworden.

Natürlich ist die Kernenergie auch in Frankreich nicht unumstritten. Die Intensität der Proteste gegen die zivile Nutzung der Kernenergie war in Frankreich zeitweise vergleichbar mit der in Deutschland. Allerdings stießen die Atom­kraft­geg­ne­r:in­nen in Frankreich auf die starre, zentralistische und autoritäre Umsetzung von Politik im Allgemeinen und des Atomprogramms im Besonderen.

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Um die nukleare Abschreckungskraft Frankreichs durchzusetzen, nutzte Premierminister Michel Debré 1960 den Verfassungsartikel 49.3, der es der Regierung erlaubt, Gesetze am Parlament vorbei durchzusetzen. „49.3“ ist auch im Ausland bekannt, seitdem Präsident Macron seine Rentenreform über diesen Weg durchsetzte.

70 Prozent Atomstrom

Heute stammen rund 70 Prozent des französischen Stroms aus Kernenergie. Aber das Land scheint nicht in der Lage zu sein, aus der Atomindustrie eine erfolgreiche Industrie zu machen. Angesichts der Risiken der Kernenergie und solange Atommüll nicht in den Weltraum geschossen wird – was hoffentlich nie passiert –, ist das vielleicht ein Glück im Unglück.

Quelle       :           TAZ-online             >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —       Das Kernkraftwerk Cattenom besteht aus vier 1300-MWe-Reaktoren

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Unten     —     Kernkraftwerke in Frankreich, Stand 2022, d. h. ohne Fessenheim am Rhein

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Debatte – Heizungsgesetz

Erstellt von Redaktion am 5. Mai 2023

Not in my Heizungskeller!

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Ein Debattenbeitrag von Johannes Hillje

Für eine gelingende Klimapolitik ist die Akzeptanz der Bevölkerung entscheidend. Die Verhaltensforschung liefert hier wertvolle Hinweise.

Die „Brechstange“ dient Teilen der Regierung und Opposition derzeit als Metapher, um eine neue Polarität in der Klimadebatte zu konstruieren: „Klimaschutz über die Köpfe der Menschen hinweg“ (also Grüne mit der Brechstange) gegen einen „Klimaschutz, der die Menschen mitnimmt“. Nachdem vom Heizungsgesetz die Belastung als monströs, die Entlastung aber nur nebulös rüberkam, bekundete die öffentliche Meinung: Klimaschutz ja, aber nicht in meinem Heizungskeller.

Vorweg: Niemand aus dem selbsternannten „Klimaschutz, der die Menschen mitnimmt“-Lager gibt darauf belastbare Antworten. O-Ton Volker Wissing: „Die CO2-Emissionen müssen runter, auch im Verkehrsbereich. Das schaffen wir aber nicht mit Verboten, Einschränkungen oder höheren Preisen.“ Okay, aber wie schaffen wir es denn, Herr Minister? Die Umkehrung des Unerwünschten ist noch kein wirksamer Klimaschutz. Und Polemik gegen Grüne keine eigene Programmatik.

Auch durch die Konstruktion von fehllaufenden Dualismen droht der Klimadiskurs aus der Spur zu fallen: marktwirtschaftlicher gegen angeblich planwirtschaftlichen Klimaschutz, individuelle gegen systemische Ebene, Anreize gegen Verbote und so weiter. Jede Lösung, ob vom Markt oder Staat getrieben, muss am Ende angenommen und umgesetzt werden. Egal, wie man die Dekarbonisierung von Gebäuden angeht, am Ende muss der Einzelne die Heizungsmonteure selbst in den Keller lassen. Es geht also um die Akzeptanz von Umbaumaßnahmen für Klimaneutralität.

In der Klimapolitik ist es zielführend, sich vor dem Entwurf von Gesetzen mit den Parametern auseinanderzusetzen, an denen sich die öffentliche Akzeptanz von Maßnahmen entscheidet. Mit diesen Faktoren beschäftigt sich die Bundesregierung offensichtlich noch zu wenig. Deutlich weiter ist man in diesem Bereich in Großbritannien: Bereits 2008 schuf die Regierung von Gordon Brown ein unabhängiges „Climate Change Committee“. Dessen Ex­per­t:in­nen untersuchen seitdem immer wieder die Bereitschaft der Bevölkerung zu konkretem Klimaschutz.

Debatte war zu lange von Unwissen geprägt

Den jüngsten Bericht zum Thema steuerte ein weiteres Gremium bei: der Klima- und Umweltausschuss des britischen Oberhauses, der dazu Stimmen aus der Verhaltensforschung konsultierte. Der Bericht nennt sechs Faktoren, die für die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen maßgeblich sind: Wissen, Werte, soziale Normen, Preis, Machbarkeit, Effektivität. An diesen sechs Faktoren entscheide sich, ob eine Klimaschutzmaßnahme mit allgemeiner Akzeptanz rechnen könne oder in den Graben zwischen theoretischer Klimaschutz-Befürwortung und tatsächlichem Klimaschutz-Verhalten falle.

In der Heizungsdebatte braute sich der perfekte Sturm gegen die Klimamodernisierung zusammen

Auch an der Universität Erfurt wird zu diesen Fragen geforscht. Das Forschungsprojekt Planetary Health Action Survey kommt auf ähnliche Bestimmungsgrößen. Legt man die Kriterien aus Westminster und Erfurt wie eine Checkliste neben die Debatte über das Gebäudeenergiegesetz, zeigt sich: Die Debatte war viel zu lange von Unwissen geprägt. Zentrale Aspekte blieben wochenlang unklar (Kosten, Ausnahmen, Übergangsfristen) oder sind es noch heute (soziale Abfederung). Das Ergebnis: Preis und Umsetzbarkeit der „Wärmewende“ erschienen vielen Menschen unmöglich. Als soziale Norm bildete sich eher „Hau den Habeck“ als „Heize klimaneutral“ heraus.

Die Einstellung von Menschen zu einer Klimamaßnahme formt sich aus dem Zusammenspiel der genannten Faktoren. Besonders relevant ist dabei der Zusammenhang von Kosten und wahrgenommener Effektivität der Maßnahme. Dazu erfährt man in der Erfurter Studie, dass immer mehr Deutsche angeben, dass sich durch den Klimaschutz ihre persönliche finanzielle Lage verschlechtert habe.

Schlechtes Zeichen für Akzeptanz von Klimaschutz

Im Mai 2022 waren es noch 25, im Januar 2023 36 Prozent. Für die Akzeptanz von Klimaschutz ist das ein schlechtes Zeichen. Zumal diejenigen, die den Klimaschutz im Portemonnaie spüren, die dazugehörigen Maßnahmen für unwirksam halten. Andersrum halten Menschen, deren Finanzen unverändert oder besser durch Klimaschutz geworden sind, die Maßnahmen für wirksamer. Die Bewertung der Wirksamkeit von Klimapolitik hängt also weniger vom tatsächlichen Nutzen ab als vom eigenen Geldbeutel.

Für die Akzeptanz spielt außerdem eine Rolle, wie Menschen über die Unterstützung der Maßnahme durch ihre Mitmenschen denken. Sowohl das Kopernikus-Projekt als auch die Erfurter Studie kommt zu dem Schluss, dass die Deutschen die Befürwortung von Klimamaßnahmen durch ihre Mitmenschen systematisch unterschätzen. Dies wirkt sich wiederum negativ auf die individuelle Bereitschaft zum Klimaschutz aus: Was bringt es schon, wenn die anderen ohnehin nicht mitziehen.

Quelle       :           TAZ-online        >>>>>      weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —   [1] Der Kern einer Hausfeuerungsanlage, der Heizkessel, der Brenner, das Druckausgleichsgefäß und die Steuerung wird kurz Heizung genannt.

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Die Feuer der Zukunft

Erstellt von Redaktion am 4. Mai 2023

 In den Öfen der Vergangenheit:
Aufbau von sozial-ökologischen Allianzen in Südosteuropa

Quelle        :     Berliner Gazette

Von        :     

In Bosnien und Herzegowina sind die Bergarbeiter*innen von zentraler Bedeutung für jeden Versuch, den marktorientierten “grünen” Wandel herauszufordern. Darüber hinaus sind sie der Eckpfeiler einer potenziellen Konvergenz zwischen antikapitalistischen und ökologischen Kämpfen, wie die Wissenschaftlerin und Aktivistin Svjetlana Nedimović in ihrem Beitrag zu der Textreihe “Allied Grounds” zeigt, indem sie untersucht, wie die heutigen Umweltbewegungen eine einzigartige Gelegenheit haben, die “traditionelle” Energie der Arbeiter*innen zu nutzen, um eine noch nicht vorgestellte Zukunft aufzubauen

Im Herbst 2021 rebellierten Bergarbeiter*innen aus den alten Kohlebergwerken von Bosnien und Herzegowina und fielen über Sarajevo her, ein Strom von lauten und widerspenstigen Arbeiter*innen, die sich über die üblichen Regeln des Bürger*innenprotests hinwegsetzten, die durch laue Slogans, witzige Transparente, Modenschauen und unerbittliche Gesetzestreue gekennzeichnet sind.

Der Protest der Bergarbeiter*innen erschütterte die deindustrialisierte Hauptstadt, oder zumindest einige Teile von ihr. Der bläuliche, bedrohliche Schein ihrer Feuer erhellte die Nacht rund um den dunklen Turm, der jetzt die Regierung beherbergt, aber einst der Hauptsitz von Energoinvest war, Bosnien und Herzegowinas größtem Unternehmen, das alles von Stromkabeln bis hin zu Computerhardware und -software herstellte – bis es durch die Privatisierung auseinandergerissen wurde.

Die giftigen Dämpfe der brennenden Bierdosen und Plastikflaschen erstickten die unerfahrenen Unterstützer*innen und Aktivist*innen der Stadt. Nicht so die Bergleute, die lachten und sangen. Ihre dunklen, leicht gebeugten Gestalten, die in bunte, von den Bürger*innen zur Verfügung gestellte Decken gehüllt waren, wiegten sich um die Feuer herum und verwandelten das glatte Bild der Innenstadt in ein Bild aus einer postapokalyptischen Fantasie. Eine Fantasie, die zweifellos düster ist, in der sich aber auch ein Funken ernsthafter Unruhe verbirgt.

Eine Gruppe von Umweltaktivist*innen schloss sich dem Protest an und skandierte bald im Gleichklang mit den heiseren Stimmen der Bergleute den Slogan des Protests: “WIR GEBEN EUCH KEINE KOHLE!” Dies war eine ernsthafte Bedrohung für die Regierung: Wenn diese großen Bergwerke, die sich einst im Staatsbesitz befanden und nun in den Händen des staatlichen Energieversorgungsunternehmens sind, dem Land die Kohle entziehen würden, würde die Energieversorgung stark darunter leiden.

Aber warum haben sich Umweltschützer*innen bei dieser Drohung auf die Seite der Bergleute gestellt? Warnen sie nicht schon seit Jahren vor der Nutzung von Kohle wegen der lokalen Luftverschmutzung und der globalen Kohlenstoffemissionen?

Die Bergleute aufgeben, aber nicht Kohle

Wie viele Länder des Globalen Südens trägt auch Bosnien und Herzegowina nur minimal zu den historischen globalen Kohlenstoffemissionen bei: 0,06 %. Allerdings steht das Land unter (zunehmendem) Druck, seine Kohlekraftwerke zu schließen und auf weniger umweltschädliche Energiequellen umzusteigen. Dieser “grüne” Übergang hat das Land fast alle seine wilden Gebirgsflüsse gekostet, da es den Wettlauf zwischen einheimischen und ausländischen (hauptsächlich in der EU ansässigen) Kapitalist*innen um kleine Wasserkraftwerke auslöste. Kraftwerke, die übrigens immer noch als erneuerbare Energien eingestuft werden, obwohl sie den Flüssen irreparablen Schaden zufügen.

Heute wendet sich einheimisches und ausländisches Kapital der Solar- und Windenergieproduktion zu, die den “grünen” Übergang vorantreiben soll. Fast alles ist dabei auf die Interessen der Privatwirtschaft ausgerichtet. Der Staat greift nur wenig oder gar nicht ein, um “den Umweltschutz zu gewährleisten oder die Nutzung eines im Wesentlichen öffentlichen Gutes für den Energiebedarf der Gesellschaft zu steuern”. Der gesamte auf diese Weise erzeugte Strom landet auf ausländischen Märkten und bringt Bosnien und Herzegowina wenig oder gar keinen Nutzen.

Die Kohleverstromung ist jedoch nicht verschwunden. Die alten Kraftwerke, einst Symbole des Triumphs eines jungen sozialistischen Staates über die Armut und Motoren seiner Modernisierung, sind noch voll in Betrieb, haben aber nicht von den EU-Fördermitteln für die Entschwefelung profitiert, wie die Anlagen im benachbarten Serbien. Kürzlich unternommene Versuche Chinas, eine dieser Anlagen wieder aufzubauen, scheiterten an der Inkompetenz der lokalen Regierung und dem starken Druck der EU, die sich gegen jegliche Investitionen in alte Industriezweige, aber noch mehr gegen Chinas Einfluss auf dem Balkan aussprach.

Was jedoch geschieht, ist, dass die staatlichen Elektrizitätsunternehmen den alten staatlichen Bergwerken langsam die finanziellen Mittel entziehen, indem sie ihre Käufe auf die neuen privaten Kohlebergwerke umlenken. Wie bei anderen Privatisierungswellen der letzten drei Jahrzehnte erweist sich auch diese Bewegung als äußerst lukrativ für die Geldgeber*innen der politischen Parteien.

Es liegt auf der Hand, dass die Zerstörung und eventuelle Schließung der alten Bergwerke, um den neuen privaten Bergwerken einen noch größeren Marktanteil zu verschaffen, nicht zu einem Ausstieg aus der Kohle führen wird. Weniger offensichtlich, aber vielleicht noch problematischer ist das vermeintliche “Nebenprodukt” dieses Prozesses: Die Gesellschaft wird ihrer letzten großen Gruppe gewerkschaftlich organisierter Arbeiter*innen beraubt.

Wir haben dies beim Übergang zum Kapitalismus in Bosnien und Herzegowina nach dem Krieg gesehen. Die Industrie war durch den Krieg zwar beschädigt, aber nicht ruiniert, und viele der alten Staatsbetriebe hatten gute Chancen, sich zu erholen. Am Ende wurden sie mit dem Segen von Berater*innen internationaler Finanzinstitutionen wie der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds verkauft. So wurden die sozialistischen Giganten fast ausnahmslos zerschlagen, um dann billig an Kriegsgewinnler*innen verkauft, dann in den Konkurs getrieben und schließlich als Immobilien an Bauträger*innen weiterverkauft zu werden, was ihren Nachkriegseigentümer*innen satte Gewinne einbrachte. Die Arbeiter*innen landeten auf der Straße, arbeitslos, mit miserablen Sozialleistungen, wenn überhaupt. Und dort sollten sie jahrzehntelang bleiben, während ihre Proteste immer weniger sichtbar wurden, ihre Stimmen schwächer und ihre Macht schwächer, bis die organisierte Arbeiter*innenschaft als Idee und Praxis in Vergessenheit geriet.

Auf diese Weise wurde nicht nur die bosnisch-herzegowinische Industrie, sondern auch die organisierte Arbeiter*innenschaft außerhalb der staatlichen Institutionen ausgelöscht. Dadurch wurde nicht nur die Verhandlungsmacht der Arbeiter*innen im Allgemeinen stark geschwächt, sondern auch der Zusammenhalt und das Transformationspotenzial der Gesellschaft als Ganzes eingeschränkt.

Die Bergleute sind zwar ebenfalls geschwächt aus dieser Umwälzung hervorgegangen, haben aber überlebt, weil die nationale Energieproduktion im Wesentlichen von der Kohle abhängig ist. Sie werden zwar unweigerlich vom “grünen” Wandel betroffen sein, aber sie sind auch die einzige organisierte soziale Kraft, die in der Lage ist, ihn in Richtung sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu lenken, weg von der Kosmetik pseudo-ökologischer Bedenken, die einen Großteil der westlichen Mainstream-Umweltbewegung weltweit kennzeichnen. Nicht zuletzt sind die Bergleute eine ausreichend große gesellschaftliche Gruppe, die es vermag, ihren Einfluss geltend zu machen. Dies haben die Proteste im Jahr 2021 gezeigt: Die Unternehmensleitung und die Regierung wurden durch die Drohung der Gewerkschaften, die Kohlelieferungen an die wichtigsten Kraftwerke zurückzuhalten, zu einer Einigung gezwungen. Dieses Potenzial kann jedoch nur erhalten werden, wenn die öffentlichen Bergwerke weiter betrieben werden.

Im Kontrast dazu stellen die privaten Kohlebergwerke, ebenfalls ein Produkt der Nachkriegsprivatisierung, kein Hindernis für den “grünen” Übergang dar. Ihre Bergleute sind meist nicht gewerkschaftlich abgesichert. Ihre Verträge sind unbeständig. Sobald der “grüne” Übergang an Schwung gewinnt, und das wird er früher oder später, wird der Staat nicht mehr für sie und ihre Gemeinden verantwortlich sein; er wird sie wie eine unnötige Last loswerden können. Doch solange der Bedarf an Kohle noch besteht, sind die privaten Bergwerke hochprofitabel, da sie Umwelt- und Arbeitnehmer*innenschutzbestimmungen sowie Arbeitsrechte bequem umgehen können.

Zwischenzeitig wurden die staatlichen Bergwerke von der Elektrizitätsgesellschaft Elektroprivreda BiH übernommen, einem der drei Unternehmen in Bosnien und Herzegowina, in dem aufgrund der ethnischen Teilung des Staates alles dreifach vorhanden ist. Diese Übernahme ist öffentlich als Rettung für die maroden Bergwerke dargestellt worden. In Wirklichkeit aber entzieht das Unternehmen den alten Bergwerken Arbeitskräfte und Investitionen und kauft gleichzeitig Kohle von den privaten Bergwerken.

In dem Bewusstsein, dass ein offenes Vorgehen gegen die staatlichen Bergwerke und die Bergleute auf den erbitterten Widerstand der direkt betroffenen Gemeinden und der Bevölkerung stoßen würde, gehen die Regierung und die Unternehmensleitung vorsichtig und hinterhältig, aber mit wachsender Entschlossenheit vor. Während die Gewerkschaften lauter werden, aber durch ihre dezimierten Mitgliederzahlen deutlich geschwächt sind (Kreka, eine der größten Minen, beschäftigt nur noch etwa ein Drittel der früheren Belegschaft), geht das Unternehmen aggressiver vor und erpresst die Minen, entweder ihre schlechtere Position innerhalb des Unternehmens zu akzeptieren oder es aufzugeben und sich dem Wettbewerb des freien Marktes zu stellen. In der gegenwärtigen Situation der Bergwerke ist der Wettbewerb auf dem freien Markt nicht nur ein schlechter Scherz, sondern der reinste Zynismus. Er zeigt, dass der Kampf des 21. Jahrhunderts für die Menschen in Bosnien und Herzegowina nicht “grüne Arbeitsplätze gegen braune Arbeitsplätze” heißen wird, sondern “neue prekäre braune Arbeitsplätze gegen alte (ehemals stabile) braune Arbeitsplätze”.

Die alte Gewerkschaftsmacht würde die finanziellen, sozialen und kulturellen Kosten des “grünen” Übergangs erhöhen, ihn verlangsamen und möglicherweise auf Lösungen umlenken, die den Kern des Systems zerstören, das die Klimakrise überhaupt erst verursacht hat. Das wissen auch die EU-Förderer des “grünen” Übergangs. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie auf einen eher selektiven Ausstieg aus der Kohle drängen, vorausgesetzt, die alte Gewerkschaftsmacht kann hinter den Kulissen abgebaut werden.

Kraft und Vision vereinen

Das langsame und schmerzhafte Sterben der alten Bergwerke untergräbt die letzte Festung der organisierten Arbeiter*innenschaft. Eine Gesellschaft wie Bosnien und Herzegowina wird dadurch des letzten Reservoirs an – zumindest potenziell – radikal umgestaltender Energie beraubt, die in einer Gruppe mit sehr hohem, wenn nicht gar höchstem Einsatz für einen gerechten Übergang steckt. Dies ist ein oft vernachlässigter Preis für den “grünen” Übergang, wenn er de facto privaten Investor*innen und Interessen überlassen wird. Doch was wie eine Sackgasse aussieht, könnte der Anfang einer unerwarteten Geschichte sein.

Überall im Land entstehen neue Umweltgruppen. Sie bündeln ihre Kräfte in einem gemeinsamen Kampf, und sie haben das Ohr der Öffentlichkeit. Sie haben begonnen, weit über die kurzfristigen Ziele hinauszugehen, die in der gebergesteuerten Zivilgesellschaft angestrebt werden, und scheuen sich nicht, in den Bereich der Politik als weltverändernde Arbeit vorzustoßen. Aber dieser im Entstehen begriffenen Bewegung fehlt noch eine starke Infrastruktur der Solidarität. Ein anderes Problem: Der Ansatz der Umweltgruppen ist oft legalistisch und unzureichend, um einen starken direkten Widerstand zu erzeugen. Die Grenzen solcher Strategien, die für eine wohl traumatisierte Nachkriegsgesellschaft (oder eine durch internationale Demokratisierung von oben befriedete Gesellschaft) geeignet sind, zeigen sich am deutlichsten im Fall der neuen Bergbauunternehmen, die die Region überschwemmen.

Multinationale Unternehmen dringen schnell und reibungslos ein, oft unter dem Deckmantel der Forschung oder mit dem Versprechen eines Goldrausches, und die Gemeinden werden der letzten Reste von Kontrolle über ihr Leben und ihre Entwicklung beraubt. Verarmt und entvölkert, auf der verzweifelten Suche nach wenigstens einer relativ stabilen Einkommensquelle, fällt es den Gemeinden schwer, den Widerstand, der sich trotz aller Widrigkeiten regt, aufrechtzuerhalten und zu nähren. Erschwert wird dies noch durch die gerissene PR der multinationalen Konzerne. Diese modernen Kolonisator*innen greifen in die Struktur des täglichen Lebens ein. Sie organisieren und sponsern Kultur- und Sportveranstaltungen, Kinder und Jugendliche. Sie spenden für Schulen und gemeinnützige Organisationen. Sie schneidern den Lehrplan auf ihre Bedürfnisse zu und unterdrücken die ehrgeizigeren Bestrebungen der örtlichen Jugend. Sie organisieren sogar “umweltfreundliche Aktivitäten”. Sie infiltrieren öffentliche Einrichtungen und machen ihre Präsenz im gesellschaftlichen Leben zur Selbstverständlichkeit, um den Weg für ihre gewinnbringenden Projekte zu ebnen. Ihre juristische und administrative Maschinerie sorgt dafür, dass all der Schaden, den sie anrichten, mit allen offiziellen Papieren abgewickelt wird.

Obwohl das Kapital begonnen hat, die “grüne” Wende zu forcieren, ist es nicht bereit, dafür zu bezahlen, und natürlich noch weniger bereit, den strukturellen Kern seines eigenen Geschäftsmodells zu verändern, was der einzige Weg ist, um die Energiewende nachhaltig und gerecht zu gestalten. Deshalb braucht die Umweltbewegung Verbündete, die ihr in diesem Kampf eine wildere, rauere Kante geben. Damit der Widerstand funktioniert, muss er das “Business as usual” effektiv stoppen. Dies zu bewirken ist das Potenzial der (Bergarbeiter*innen-)Gewerkschaft: die Wirtschaft und das ganze Land zum Stillstand zu bringen, indem sie die Kohleversorgung verweigert.

Ein Teil dieses Potenzials kann sogar auf die neuen Bergwerke übertragen werden, allerdings in viel bescheidenerem Umfang. Die jungen Bergleute werden den neuen, härteren Formen der Ausbeutung ausgesetzt – dieses Mal mit wenig oder gar keinem gewerkschaftlichen Rückhalt. Aber manche von ihnen bringen vielleicht die Saat der gewerkschaftlichen Kultur und des Kampfes aus den alten Bergwerken mit. Oder sie werden ihre eigene Saat der Solidarität und Kameradschaft in ihrem gemeinsamen täglichen Kampf um ihr eigenes Überleben und das der anderen pflanzen. Eine ungewisse und unsichere Ausgangssituation, aber immerhin eine Ausgangssituation.

So oder so, die Bergarbeiter*innen werden Verbündete außerhalb ihrer verarmten und verletzlichen Gemeinschaften brauchen. Sie werden Verbündete mit Visionen brauchen, die über den Kapitalismus in all seinen Formen hinausgehen. Die emergierende Umweltbewegung in Bosnien und Herzegowina könnte diese Rolle erfüllen. Sie hat bereits einen wichtigen Schritt getan, der über den Naturschutz hinausgeht und die gegenwärtige Ordnung der Dinge, die Unantastbarkeit von Privateigentum und -interessen und die Ausbeutung der natürlichen Welt zu Profitzwecken in Frage stellt. Die Bewegung spricht die Sprache des Gemeinwohls, der Selbstverwaltung und der Autonomie des Kollektivs über seine Ressourcen und Entwicklungswege. Und damit macht sie deutlich, dass sie nicht nur die Stimme der Naturschützer*innen sein wird, sondern die aller Ausgegrenzten, Verarmten und Ausgebeuteten, die zu Akteur*innen der Veränderungen werden müssen, die zur Rettung des Planeten und seiner Lebenswelt notwendig sind.

Auf diese Weise hat die Umweltbewegung tatsächlich die Arena der antikapitalistischen Kämpfe betreten. Und das ist der Boden, auf dem sich die beiden Bewegungen, die der Arbeiter*innen – wohlgemerkt nicht nur die der Bergarbeiter*innen – und die der Umweltschützer*innen, gemeinsam bewegen können, indem sie die Kraft der Organisation mit der Kraft der Vision verbinden. Wird die Umweltbewegung, die von der Mehrheit der Gesellschaft unterstützt wird, den bahnbrechenden Sprung zu kühneren Visionen wagen und sich an die Bergarbeiter*innengemeinschaften und im weiteren Sinne an die Arbeiter*innen im Allgemeinen wenden? Die Arbeiter*innen müssen den “grünen” Übergang tragen, sollten sie ihn nicht also auch anführen und gestalten? Die Energieerzeugung ist ein guter Ansatzpunkt. Neben den Umweltbelangen geht es auch darum, die Arbeiter*innen und ihre Haushalte mit sauberer und erschwinglicher Energie zu versorgen. Oder sogar kostenlose Energie, wenn wir sie als lebenswichtiges menschliches Bedürfnis und nicht als lukrative Handelsware anerkennen. Hier kann ein guter Kampf geführt werden, dessen Keimzelle wir im Manifest der Naturschützer*innen für die Zukunft der Energie in BiH sehen.

Es gibt viele Schlachtfelder. Die alten Methoden der Energieerzeugung mögen aussterben, aber die Arbeiter*innen und ihre Gemeinden werden die Folgen jahrzehntelang spüren. Wenn die Umweltbewegung also für saubere Luft kämpfen will, muss sie bei den Gemeinden beginnen, die für die Entwicklung aller geopfert werden: Sie brauchen in erster Linie eine gute, zuverlässige, fortschrittliche öffentliche und allgemeine Gesundheitsversorgung.

Und dann ist da noch das neue Wurmloch des “grünen Extraktivismus”, der sich immer deutlicher im Abbau so genannter “Übergangsmineralien” zeigt, der nicht nur Anlass zu großer Sorge um die Umwelt ist. Die “grünen” Minen vernichten menschliche Körper und Leben, um den Kapitalist*innen maximale Profite zu sichern. Während sich die Menschen im ganzen Land dagegen auflehnen, muss die Umweltbewegung laut und deutlich über die verschiedenen Dimensionen dieses Widerstands sprechen: es geht um die Natur und die Gemeinden, aber auch um die Arbeiter*innen. Die “grünen” Minen bieten magere Löhne und wenig Schutz; sie sind keine Grundlage für die sozioökonomische Entwicklung und können nicht die Lebensgrundlage für die Gemeinschaften sein, die sie ausbeuten. Sie sind Quellen des schnellen Profits für (hauptsächlich) ausländische Kapitalist*innen und Pfeiler des Neokolonialismus. Der Kampf gegen sie ist also ein Kampf für die Gesellschaft und für die Natur.

Die Dialektik der Kohle

Ich schreibe diesen Text dank des zuverlässigen Feuers des alten Kohlekraftwerks, dessen Schornstein über die Täler Zentralbosniens ragt. Das schwarze Gold dieses Landes wird zuverlässig mit alten, schmutzigen Zügen zum Kraftwerk transportiert. Genauso zuverlässig lagern sich Kohlestaubpartikel in den Lungen der Bergleute und der Bevölkerung rund um die Minen ab.

Diese Zuverlässigkeit ist jedoch anfällig und hängt vom Willen der Bergleute ab. Wind- und Solarenergie mögen auf dem Vormarsch sein, aber die grundlegende Energiequelle für Bosnien und Herzegowina ist die Kohle. Zumindest vorläufig, in dieser unserer Gegenwart, für die die Bergleute mehr geopfert haben als die meisten von uns. Ihr Opfer ist glücklicherweise und wiederum vorläufig nicht nur moralisch, sondern auch materiell und existenziell bindend, solange es Kohlekraftwerke gibt, und die wird es noch eine Weile geben. Der Ruf “WIR GEBEN EUCH KEINE KOHLE!” ist ein Schlachtruf der Stunde. Umweltaktivist*innen in Bosnien und Herzegowina müssen diesen Moment gemeinsam mit den Bergarbeiter*innen nutzen. Und dann zu anderen Bereichen übergehen, in denen nur die Arbeiter*innen das “business as usual” effektiv stoppen und einen radikalen Wandel herbeiführen können.

In einer ironischen Wendung der Dialektik des Übergangs kann die eine Tätigkeit, die unter anderem das Leben auf diesem Planeten bedroht, nämlich der Abbau und die Verbrennung von Kohle, gleichzeitig ein Leuchtfeuer der Hoffnung sein: unsere Waffe im Kampf darum, die Dinge anders zu machen. Dabei geht es nicht nur darum, Technologien umzuwandeln, sondern auch die Wirtschaft unserer Gesellschaften zu revolutionieren, damit sie den Bedürfnissen der gesamten lebendigen Welt dient.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” der Berliner Gazette; die englische Fassung finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “Allied Grounds”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Demokratie und Großkrisen

Erstellt von Redaktion am 2. Mai 2023

Den politischen Raum öffnen

Hat sich die Politik nicht immer zuerst selber gesehen ? Was wurde den Menschen gegeben? 

Ein Schlagloch von Georg Diez

Krisen verlangen neue Wege. Anstatt Interessen frontal gegenüberzustellen, sollte die Politik danach fragen, wie wir gemeinsam leben können.

Mit „der Politik“ ist etwas passiert: Sie hat „die Menschen“ entdeckt. Also nicht spontan oder epiphanisch, in einem Akt der humanistischen Erweckung; sondern eher tastend, taktisch, in einer Art humanistischem Schwindel. Ich würde nicht direkt Lüge sagen, sondern ich würde es eher Strategie nennen. Sie hat sich dadurch verändert, „die Politik“, in ihrem Wesen und Selbstverständnis.

Sie ist heimeliger geworden, unpräziser und im Geist der Zeit auch populistischer ­– denn der Verweis auf „die Menschen“ impliziert ja eine mehr oder weniger homogene Gruppe, die einem elitär-technokratischen oder vernunftgeleiteten Weg entgegensteht. „Die Politik“ ist dadurch in gewisser Weise weniger demokratisch geworden, auch wenn die, die so oft von „den Menschen“ reden, genau das Gegenteil behaupten würden.

Aber die Demokratie betrifft erst einmal nicht „die Menschen“ – sie ist eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, wie es Abraham Lincoln in der Gettysburg Address 1863 im Zuge des Amerikanischen Bürgerkriegs zusammenfasste. Oder, wie es die politische Philosophin Danielle Allen gerade sehr zeitgemäß gesagt hat: Demokratie ist der stete Widerstand gegen oligarchische Tendenzen in der Gesellschaft.

Es gibt natürlich viele Definitionen, je nach politischem Lager – aber eines ist vielleicht klar: Demokratie ist ein Ziel und kein Zweck. Im Prozess der Demokratie nun tauchen „die Menschen“ als Gruppierung nicht auf; es geht um jeden einzelnen Menschen, mit seinen oder ihren Rechten, die geschützt und durchgesetzt werden müssen.

Rhetorischer Bremsklotz

Es geht also darum, etwas zu bedeuten, wenn „die Menschen“ immer häufiger erwähnt werden – in einem früheren Stadium etwa vor ein paar Jahren in der Version „die Kohlekumpel“ oder „der Mann am Fließband“, als es darum ging, einige wenige Zehntausend Jobs in der fossilen Industrie zu retten und mehrere Zehntausend Jobs in der Solarindustrie zu opfern.

Und auch nun wieder im Kontext des Klimawandels – angesichts der notwendig gravierenden Veränderungen wird immer davor gewarnt, die Gesellschaft zu spalten, zu verschrecken, „die Menschen“ auf dem langen Weg in die sozial-ökologische Gesellschaft mitzunehmen; allerdings wird vor allem von Leuten gewarnt, die selbst die Gesellschaft spalten, etwa indem sie einer recht kleinen Partei mit sehr artikulierten Partikularinteressen angehören, wie es die FDP ist; oder indem sie erkennbar gar nicht die notwendige grüne Wende im Blick haben, sondern nur die nächste Wahl.

Die Rede von „den Menschen“ ist damit zu einem rhetorischen Bremsklotz geworden. Inhaltlich wird deutlich, welche Politik mit dieser beschworenen Mehrheit gemeint ist – denn wenn es um Steuererleichterungen für die Reichen etwa geht, wird ja nicht von „den Menschen“ gesprochen, die man mitnehmen muss, und auch nicht dann, wenn es darum geht, Menschen auf der Flucht abzuholen, damit sie nicht im Mittelmeer ertrinken. Die Rede von „den Menschen“ maskiert mit anderen Worten das, worum es in der Politik immer geht: Interessen.

Und das wiederum ist nicht ganz unwichtig. Politik ist der Prozess legitimer Entscheidungsfindung – sie ist damit in der gegenwärtig reduktionistisch-repräsentativen Form immer partikular, sie ist auf Konflikt ausgelegt, der durch Kompromisse geregelt wird. Es könnte natürlich anders sein, eine andere Form von Politik ist möglich und denkbar – eine Politik, die Interessen weniger frontal gegeneinanderstellt, die die menschlichen und die nicht-menschlichen Interessen berücksichtigt, die also eher nicht von „den Menschen“ handelt, sondern das Leben als Ganzes meint.

Teil einer verwobenen Realität

Hier gibt es gerade eine faszinierende Anzahl von Büchern, Gedanken, Möglichkeiten, das zu definieren, was das Mehr-als-Menschliche ist – Bücher etwa von James Bridle, Bayo Akomolafe, Minna Salami, Corine Pelluchon, Jeremy Lent, George Monbiot, Ursula Goodenough, Lorenzo Marsili, um nur ein paar zu nennen: Es ist eine gemeinsame und sehr heterogene Reflexion darüber, wie im Zuge des Klimawandels unser planetares Denken anders definiert werden kann und muss, wie wir uns als vernetzte und verbundene Wesen sehen – nicht als „die Menschen“, sondern als Teil einer verwobenen Realität.

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Verkehr als Klimaproduktion

Erstellt von Redaktion am 13. April 2023

Setzen Elektroautos die Ausbeutung von Arbeit und Natur fort?

Electric Car recharging.jpg

Quelle        :     Berliner Gazette

Von        :      · ALLIED GROUNDS

Die viel beschworene Mobilitätswende wird von konkurrierenden Industrien dominiert. Aber auch Akteur*innen der Zivilgesellschaft sowie Arbeiter*innen und Gewerkschaften im Allgemeinen sind an den Kämpfen beteiligt. Es gibt Stimmen, die eine Veränderung des gesamten Produktionssystems fordern. Wäre dies nicht ein Ansatzpunkt für klassenübergreifende Bündnisse, die einen Übergang vom ausbeuterischen und umweltverschmutzenden Kapitalismus zu einer ökosozialistischen Gesellschaft katalysieren? In seinem Beitrag zur BG-Textreihe “Allied Grounds” zeichnet der Forscher John Szabo den Konflikt nach.

Die Verbrennung fossiler Brennstoffe geht weiter, und die Emissionen erreichten 2022 einen neuen Höchststand, so dass das von den Regierungen in Paris vereinbarte 1,5°C-Ziel zunehmend außer Reichweite gerät. 23 % dieser Emissionen stammen aus dem Verkehrssektor, wovon der überwiegende Teil auf den Straßenverkehr entfällt. Die Schuldigen sind Personenkraftwagen. Individualisierte Verkehrsmittel, die auf dem erdölverschlingenden Verbrennungsmotor basieren, sind das Herzstück und der Mittelpunkt der “Klimaproduktion“.

Der Pkw steht dem weiteren Ausbau des fossilen Kapitalismus im Wege, da die Anzahl und Materialintensität der Fahrzeuge ein nicht nachhaltiges wachstumsorientiertes Paradigma unterstützt. Die Dekarbonisierung des Transportwesens scheint unaufhaltsam voranzuschreiten, da Elektrofahrzeuge (EVs) sowohl die Märkte als auch die Vorstellungskraft der Verbraucher erobert haben, die darin einen Beitrag zu einer kohlenstoffarmen Zukunft sehen. Dadurch wird der fossile Kapitalismus in eine etwas weniger kohlenstoffintensive Zukunft geführt, aber der Wandel selbst birgt das Risiko, soziale Ungleichheiten zu verschärfen und sozial-ökologisch ausbeuterische Praktiken aufrechtzuerhalten: Er ist ein Wolf im Schafspelz.

Das Automobil wird als technisches Wunderwerk gepriesen, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen schnelleren Transport ermöglichte. Es wurde zu einem Objekt des auffälligen Konsums, das die Wohlhabendsten im öffentlichen Raum nutzten. Diese Objekte der Begierde bildeten eine Dialektik mit der Expansion des Erdölsektors: Die Produzent*innen bohrten Millionen von Bohrlöchern und die Raffinerien setzten komplexe Technologien ein, um den Kraftstoff bereitzustellen.

Zentral für die “Klimaproduktion”

Das Auto ist ein technisches Artefakt, das die Umwandlung von fossilen Brennstoffen in Mobilität und Emissionen vermittelt. Sein Aufstieg ist eng mit dem industriellen Kapitalismus verknüpft. Die Hersteller*innen übernahmen weitgehend die Grundsätze des Taylorismus, rationalisierten die Produktion und ermöglichten die vollständige Entfremdung der Arbeit. Parallel dazu ebnete der Fordismus den Weg für die Konsumgesellschaft, indem er dafür sorgte, dass Produktion und Konsum eine Wachstumsspirale in Gang setzten. Das Rezept war einfach: Einem Teil der Arbeiter*innen sollte so viel Lohn gezahlt werden, so dass sie diese Gegenstände selbst kaufen konnten. Dies würde eine größere Verbraucher*innenbasis ermöglichen, die die Beschleunigung der Kapitalakkumulation gewährleisten würde.

Der Pkw wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des täglichen Lebens in den Industrieländern, als deren Anzahl und die entsprechende Infrastruktur wuchsen. Sie standen im Mittelpunkt des anhaltenden Wirtschaftswachstums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Unternehmen wie Toyota eine Schlüsselrolle im “japanischen Wirtschaftswunder”, General Motors im “Goldenen Zeitalter des Kapitalismus” in den USA oder Volkswagen im deutschen “Wirtschaftswunder” spielten. Arbeit und Kapital wurden in ihrem Streben nach Wirtschaftswachstum gleichgeschaltet, während die Auswirkungen der Produktion auf die Umwelt vernachlässigt wurden.

Ein boomender Automobilsektor wurde zum zentralen Faktor der “Klimaproduktion”, da die Emissionen aus Raffinerien und Auspuffrohren in den 1960er und 1970er Jahren spürbare Auswirkungen hatten. Einflussreiche Werke wie Rachel Carsons “Silent Spring” oder die “Grenzen des Wachstums” des Club of Rome beschäftigten sich mit den ökologischen Folgen eines ungebremsten Wirtschaftswachstums und forderten Maßnahmen zur Begrenzung der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der Emissionen giftiger Stoffe in die Ökosphäre.

Länder auf der ganzen Welt haben Maßnahmen zur Verringerung der Umweltverschmutzung ergriffen, die jedoch von der steigenden Zahl der Fahrzeuge überschattet wurden. Deutschland und Frankreich führten in den 1960er Jahren Umweltvorschriften ein, während der US-Kongress 1965 erstmals Schadstoffe regulierte. Diese waren notwendig, weil die Erdölprodukte (Benzin oder Diesel) Schwefel enthielten und bei ihrer Verbrennung Schwefeldioxid in die Atmosphäre freisetzten. Dies führte zur Versauerung des Wassers und zu saurem Regen, was 1972 auf der Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen in Stockholm ein wichtiges Thema war. Hier wurde die Autonutzung nicht als Teil der “Klimaproduktion” in dem Sinne gesehen, wie wir sie derzeit im Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel diskutieren. Aber man war sich schon bewusst, dass er gravierende lokale Klima- und Umweltauswirkungen hat. Insofern wurden damals gewisse Voraussetzungen für das heutige Verständnis der Problematik geschaffen.

Fortschrittliche Technologie vs. Arbeit

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschärften die Regierungen schrittweise die Umweltvorschriften für Personenkraftwagen. Nach den Ölkrisen der 1970er Jahre konzentrierte sich Europa auf die Kraftstoffeffizienz, was sich tendenziell auch positiv auf die Kohlendioxidemissionen auswirkte. Dieselkraftstoff wurde zur bevorzugten Technologie, die als effizienter und angesichts der allgemeinen Steuerpolitik der EU in Bezug auf diesen Kraftstoff auch als kostengünstiger aus Sicht der Verbraucher*innen angesehen wurde. Gleichzeitig widersetzten sich die Hersteller*innen anderen strengen Umweltvorschriften. Auf der anderen Seite des Atlantiks zielten die US-Regulierungsbehörden auf NOx- und Partikelemissionen ab, während sie dem Gesamtverbrauch weniger Bedeutung beimaßen. Bei beiden Ansätzen wurde ein wichtiger Faktor vernachlässigt: die Größe. Die US-Vorschriften ließen die Autos und ihre Motoren wachsen, während die EU-Kohlendioxidvorschriften, die im Zuge ihrer Umweltpolitik eingeführt wurden, gewichtsbezogene Emissionsnormen einführten. Die Fahrzeugflotte wurde in beiden Märkten schwerer, materialintensiver und leistungsfähiger.

Personenkraftwagen wurden zu einem Hauptbestandteil der “Klimaproduktion”, aber da diedamit verbundenen Industrien Millionen von Menschen beschäftigen und eine wichtige Triebkraft des Wirtschaftswachstums sind, schien es wenig Bereitschaft zu geben, sie abzubauen und den Verkehrssektor von Grund auf neu zu überdenken. Dies zeigte sich auch an den Positionen der Gewerkschaften. Diejenigen in Europa, die noch Einfluss auf die Führung der jeweiligen nationalen Automobilsektoren haben, neigten dazu, den Zusammenhang zwischen Arbeitsplätzen und Emissionen als Nullsummenfrage zu betrachten. Die allgemeine Auffassung war, dass die höhere Technologie- und Kapitalintensität der E-Fahrzeuge die relative Macht der Arbeiter*innen in diesem Sektor weiter schwächen und Arbeitsplätze überflüssig machen würde.

Die Gewerkschaften lehnten den “grünen Übergang” ab, weil die Technologieintensität der E-Fahrzeugherstellung die Waage weiter zugunsten des Kapitals kippt und es kaum Anzeichen für eine angemessene Sozialpolitik seitens der Staaten gibt, um dies auszugleichen. Die Staaten selbst haben sich auf einen Wettlauf nach unten eingelassen, um die E-Märkte zu erobern und ihre geoökonomische Vorherrschaft zu sichern. Sie stehen in einem globalen Wettbewerb gegeneinander, der ihre relative Macht in globalen Angelegenheiten untergraben könnte, wenn sie ihn verlieren. Um die E-Märkte zu erobern, investierten die USA massiv in Tesla, Deutschland unterstützte nationale Champions, während China seit Jahren staatliche Mittel in den Sektor fließen lässt. Die Staaten unterstützten die Aktivitäten der Unternehmen, indem sie Industrie-, Bildungs- und eine Reihe anderer Politikbereiche den Bedürfnissen dieser privaten Akteur*innen unterwarfen, damit diese auf den globalen Märkten erfolgreich sein konnten.

Warum aber sollten wir in diesem Kontext von einem Wolf im Schafspelz sprechen? Der Umstieg auf Elektrofahrzeuge beinhaltet eine Form der “Klimaproduktion”, die weniger direkt mit den Auspuffemissionen verbunden ist. Es sind nicht die Autofahrer*innen, die Emissionen verursachen, wenn sie pendeln, sondern die verkörperten Emissionen – also nicht der Verbrauch, sondern die produktionsbedingten Emissionen. Die Herkunft des Stroms und der Materialien werden für die “Klimaproduktion” von zentraler Bedeutung sein. Im besten Fall wird dies kohlenstoffarm sein. Die Elektrizität wird bei den derzeitigen Entwicklungen irgendwann dekarbonisiert werden, und sogar der Bergbau, der für die Bereitstellung der Materialien für die Fahrzeugproduktion erforderlich ist, könnte relativ emissionsfrei werden. In diesem Prozess können die Lebenszyklusemissionen von Elektrofahrzeugen sinken, aber ihre Produktion wird weiterhin auf zutiefst ungleichen, ausbeuterischen Praktiken beruhen, die Arbeiter*innen und derUmwelt schaden.

Nehmen wir die Batterieproduktion, bei der wichtige Rohstoffe wie Kobalt in der Demokratischen Republik Kongo und Lithium in Australien und Chile konzentriert sind. Diese Ressourcen müssen abgebaut werden, in der Regel unter laxen Umwelt- Arbeitsvorschriften, also zum Nachteil der Arbeiter*innen, der lokalen Bevölkerung und der Umwelt. Anschließend müssen sie verschifft werden – ein schwer zu dekarbonisierender Sektor, der auf Schweröl angewiesen ist –, um dann raffiniert zu werden, in der Regel in China. Kohle dominiert hier weiterhin den Energieeinsatz, da sowohl die Arbeits- als auch die Umweltgesetze weiterhin lax sind. Danach müssen Batterien hergestellt werden, was nicht nur ressourcenintensiv ist, sondern auch eine hohe Wasser-, Energie- und Abfallintensität aufweist. Länder, die Gefahr laufen, im Zuge der Abkehr vom Verbrennungsmotor Arbeitsplätze und Wachstumsperspektiven zu verlieren, sind der Batterieindustrie entgegengekommen, haben dabei aber fragwürdige Praktiken eingeführt. Letzteres spiegelt sich nicht zuletzt in der wachsenden sozialen Opposition in Fällen wie Ungarn und Polen wider.

Die Herausforderungen für die Arbeitnehmer

Das neue technologische System wird eine Reihe von Lock-Ins in Gang setzen, die den Einfluss der Arbeiter*innen – und damit die demokratische Entscheidungsfindung – auf die Energiewende und eine kohlenstoffarme Gesellschaft weiter aushöhlen werden. Alle Prozesse, die an der Produktion von E-Fahrzeugen beteiligt sind – vom Bergbau über die Batterieproduktion bis hin zur Herstellung dieser Fahrzeuge – sind hoch automatisiert und erfordern weniger Arbeit. Dies könnte durch eine steigende Produktion kompensiert werden, doch damit wird ein wachstumsorientiertes Paradigma aufrechterhalten, das weiterhin extrem materialintensiv ist. Das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit wird sich weiter zugunsten der ersteren verschlechtern, und eine Umkehrung wird immer schwieriger. Die Gewerkschaften sind davon abgekommen, den Übergang als Nullsummenspiel zwischen der Produktion von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren und einem kohlenstoffarmen Übergang zu betrachten, aber sie konzentrieren sich noch immer auf ihren eng definierten Auftrag, Arbeitsplätze für ihre Mitglieder*innen zu sichern.

Die Gewerkschaften müssen die Gunst der Stunde nutzen und auf eine länder- und branchenübergreifende Organisation drängen, die darauf abzielt, den Übergang mit der Abschaffung anderer ausbeuterischer Praktiken und der Einführung alternativer Lösungen zu verbinden. Die Technologie wird die Arbeitsintensität der Produktion verringern und damit Länder, Unternehmen und Arbeiter*innen gegeneinander ausspielen. Anstatt zu versuchen, dieses System zu verlängern, müssen sozialpolitische Maßnahmen, die sich mit dieser Entwicklung befassen, ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Jene sollte sich nicht nur auf die Frage des allgemeinen Grundeinkommens beschränken, sondern auch die Möglichkeit eines allgemeinen Grundauskommens, d. h. einer allgemeinen Grundversorgung, in Betracht ziehen. Und die universelle Grundversorgung sollte nicht eine Frage des “ob”, sondern des “wie bald” und des “wie umfassend” sein.

Die Gewerkschaften sind auch in der Lage, bei den Unternehmen darauf hinzuwirken, dass sie von einem Profil abrücken, das sich weiterhin auf den Individualverkehr konzentriert, und sich für eine größere Rolle des öffentlichen Verkehrs, ein Umdenken in den Städten und Vorstädten, den Ausbau des Fahrradverkehrs und der Fahrradinfrastruktur usw. einsetzen. Die Gewerkschaften und damit die Arbeiter*innen im Allgemeinen müssen den derzeitigen Bruch im gesellschaftspolitischen System als einen erkennen, der nicht durch die Ersetzung von 3+°C-Klimaproduktionsverfahren durch solche, die mit dem 1,5°C-Ziel vereinbar sind, zu beheben ist. Diese sind schließlich zutiefst ausbeuterisch und sozial-ökologisch nicht nachhaltig und verleihen dem Kapital weiterhin Macht über die Arbeiter*innen, wodurch Ungleichheiten verschärft werden. Insofern sollten Arbeiter*innen, solange sie noch eine gewisse Macht haben, diese nutzten, um sich dem Aufstieg des grünen Kapitalismus zu widersetzen und einen proto-sozialistischen Übergang zu ermöglichen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” der Berliner Gazette; die englische Fassung finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “Allied Grounds”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Häuserkampf in München

Erstellt von Redaktion am 10. April 2023

Haidhausen soll leuchten

Woerthstr. 8 Muenchen-1.jpg

Wörthstraße 8; Mietshaus, neubarocker Eckbau

Aus München  Dominik Baur

Ausgerechnet mitten in München wollen Mieter ihr Haus übernehmen und selbst verwalten. Doch jetzt läuft ihnen die Zeit davon.

Armin Kasper haut mit der Faust auf den Tisch: „Wir müssen einfach kämpfen. Ein Haus in Haidhausen, das ist doch was! Und es ist unser Haus.“ Der 62-jährige Briefträger sitzt mit acht Mitstreiterinnen und Mitstreitern an einem langen Tisch in einer Wohnküche in ebenjenem Haus in Haidhausen. „Wir müssen es versuchen. Wenn wir scheitern, dann scheitern wir. Aber dann haben wir’s wenigstens versucht.“

Es ist die Küche der Nachbarn Verena Hägler und Andy Ebert im ersten Stock, die einmal in der Woche zum Krisenzentrum wird. Sie ist geräumig und gemütlich, hohe Decken, Stuck. Am Küchentisch beratschlagen sie sich nun schon seit Monaten jeden Donnerstag, wie sie es anstellen können, dass sie auch in ein paar Jahren noch hier wohnen – und das zu bezahlbaren Mieten. Seit sie die Annonce gesehen haben, dass ihr Haus zum Verkauf steht, herrscht Alarmstimmung in der Wörthstraße 8.

Betritt man das Haus, steht man zunächst zwischen Kinderwagen auf einem Mosaik, das stolz das Baujahr des Hauses verkündet: 1894. Ein unsanierter Altbau mit Holzfußboden, Kastenschlössern und allem, was dazugehört. Die alte Holztreppe knarzt beharrlich, von den Wänden im Treppenhaus blättert Farbe ab, aber sonst – das haben sich die Bewohner von Gutachtern bestätigen lassen – ist das Haus gut in Schuss. Über den Briefkästen am ersten Treppenabsatz wacht ein kleiner Buddha aus Gips, draußen am Hauseck eine steinerne Madonna.

13 Wohnungen hat das Haus und 29 Bewohner. Von der Schneiderin über den Schreiner und die Grafikerin bis zur Tierärztin ist alles vertreten. Aufkleber an einer Tür zeugen davon, dass sich hier, nur drei Kilometer vom Sechzgerstadion entfernt, sogar St.-Pauli-Fans niedergelassen haben. Unten befinden sich noch ein Schreibwaren- und ein Schmuckladen sowie ein Friseursalon.

Haidhausen also. Man tritt dem übrigen München sicherlich nicht zu nahe, wenn man behauptet, dass dies eines der schöneren Stadtviertel ist. Am rechten Isarhochufer zentral gelegen, findet man hier noch reichlich Altbauten; das Viertel hat den Krieg für Münchner Verhältnisse gut überstanden. Laut Wikipedia sind sogar zwei Drittel der Gebäude über 100 Jahre alt. Biergärten gibt es hier, Cafés, kleine Läden, den bayerischen Landtag und sogar eine richtige inhabergeführte Metzgerei. Ein Dorf mitten in der Stadt, schreiben die Reiseführer.

Nur den Bunten Würfel gibt es nicht mehr, das Kabarett, in dem Karl Valentin Anfang 1948 seine letzte Vorstellung gegeben hat. Es war gleich um die Ecke in der Preysingstraße. Als man ihn dort versehentlich über Nacht in der kalten Garderobe eingesperrt hat, soll er sich die Lungenentzündung geholt haben, an der er kurz darauf starb.

Aber zurück in die Wörthstraße 8. Eine Woche vor dem Krisentreffen, zweiter Stock. Wer bei Katrin Göbel vor der Tür steht, auf den richten erst einmal die Cartwrights ihre Colts. Als gelte es, die Ponderosa gegen Eindringlinge zu verteidigen. Hinter der Tür, an der die „Bonanza“-Postkarte klebt, trifft man im Wohnzimmer dann neben Katrin Göbel auch Andy Ebert und Hendrik Wirschum. Die drei gehören zum harten Kern der Hausgemeinschaft und erzählen von ihrem eigenen Häuserkampf. Göbel, 57 Jahre alt, wohnt bereits seit 33 Jahren in der Wörth­straße 8. Gemeinsam mit einer anderen Hausbewohnerin betreibt sie den Schreibwarenladen Kokolores im Erdgeschoss. Ebert, 48, arbeitet als Informatiker, Wirschum, 39, als Gewässerökologe.

„Wird unser Haus UNSER Haus?“ lautet die Frage, die auf den Flyern und Postkarten prangt, die sie haben drucken lassen. Eine große Frage. Mit einem großen Fragezeichen. Denn in der Tat ist es etwas gerade in München ziemlich Einzigartiges, was diese Menschen hier planen: „Unsere drei Hauptziele“, erzählt Wirschum, „sind, dass wir erstens mal dieses Haus für immer dem Spekulationsmarkt entziehen, dass wir sozialverträgliche Mieten garantieren können und dass wir selbstverwaltet sind.“

Dass sie von der Annonce erfahren haben, war reiner Zufall. Eine Bewohnerin des Hauses wurde im vergangenen Sommer von einer Bekannten auf die Anzeige in einem Immobilienportal hingewiesen: „Das ist doch euer Haus.“ 6,5 Millionen Euro, das war die Summe, die der Eigentümer für das Haus wollte – genau genommen für eine Hälfte davon, denn die andere gehörte seiner Schwester.

Gesprächsbereite Vermieter

Als die Mieter daraufhin die Eigentümer kontaktierten, lernten sie zwei relativ gesprächsbereite Exemplare der Gattung Vermieter kennen, die ihren Mietern auch gern dauerhaft bezahlbare Mieten sichern würden.

So ergab sich in den folgenden Gesprächen ein Plan, der kompliziert, aber vielversprechend erschien: Der eine Eigentümer würde seinen Anteil der Hausgemeinschaft verkaufen und sich mit fünf Millionen Euro begnügen, von denen zwei Millionen erst in fünf Jahren bezahlt werden müssten. Seine Schwester, die mittlerweile in der Schweiz lebt, würde ihre Hälfte der dortigen Confoedera-Stiftung überschreiben, die dann wiederum ihre Hälfte des Gebäudes gegen die andere Hälfte des Grundstücks eintauschen würde, um daraufhin das Gesamtgrundstück der Hausgemeinschaft in Erbpacht zu überlassen. Das Modell der Stiftung sieht ohnehin vor, Grundstücke der Spekulation zu entziehen und mit dem Pachtzins „das freie Kultur- und Geistesleben“ zu fördern. Gehört der Stiftung einmal ein Grundstück, darf sie es nicht mehr verkaufen.

Damit der Deal funktioniert, müsste die Hausgemeinschaft sich nun also nur noch das nötige Geld leihen, um den Bruder auszubezahlen, und das zu Konditionen, die ihnen erlaubten, mit ihrer Miete den Kredit abzubezahlen, den Erbzins von jährlich 75.000 Euro zu begleichen und das Haus instand zu halten.

Fünf Millionen Euro sind viel Geld, für ein Haus in Haidhausen jedoch eine überschaubare Summe. Hätten die beiden Geschwister das Haus als eine Einheit zum Verkauf angeboten, hätten sie auf dem freien Markt einen Investor gefunden, der 14 Millionen dafür gezahlt hätte, schätzt Ebert, oder auch 15.

Man muss vielleicht kurz in Erinnerung rufen, wie das sonst so abläuft in einer Stadt wie München. Katrin Göbel bekommt es fast täglich zu hören in ihrem Laden. Da kommen die Leute aus dem Viertel vorbei und erzählen ihre Geschichten. Dass da einfach mal unangekündigt das Wasser abgestellt wird, gehört zu den harmloseren. Es wird schon auch mal ein angeblich sanierungsbedürftiges Dach abgedeckt, woraufhin der Vermieter plötzlich die Handwerker nicht mehr bezahlen kann. Die Mieter sitzen dann in ihrem Haus unter dem offenen Dach, und es regnet hinein. Oder die Toiletten sollen ersetzt werden: Die Kloschüsseln werden auch schnell ausgebaut – doch dann kommen die Handwerker nicht mehr, um die neuen einzubauen.

Viele Vermieter, sagt Andy Ebert, spekulierten auch einfach nur auf die Steigerung des Bodenwerts. Die hätten Geld und Zeit. Solche Investoren kauften ein Haus und säßen dann einfach zehn Jahre aus. „Danach können sie es spekulationssteuerfrei weiterverkaufen, und bis dahin wird es runtergeritten.“ Irgendwann hat man die lästigen Mieter dann los.

Und hinterher? Wird saniert und neu vermietet. An Menschen, die es sich leisten können. Von denen gibt es schließlich genug in einer Stadt, in der sich Amazon, Google und Co. mit eindrucksvollen Filialen breitmachen. Gerade erst hat der Freistaat dem Apple-Konzern ein riesiges Innenstadtgrundstück für eine Viertelmilliarde überlassen. „Isar Valley“, titelte die Süddeutsche Zeitung.

Eine Neuvermietung unter 20 Euro pro Quadratmeter kalt? Gibt es in der Gegend praktisch nicht mehr.

„Seit 2008 ist hier gefühlt jedes Haus saniert und verkauft worden“, sagt Ebert. Neuvermietungen unter 20 Euro pro Quadratmeter kalt? Gebe es in der Gegend praktisch nicht mehr. Vor drei Wochen habe er eine Anzeige für eine Wohnung direkt im Nachbarhaus gesehen, erzählt Ebert: 105 Quadratmeter für 2.700 Euro kalt.

Das Mietshäuser Syndikat

Häuser „Die Häuser denen, die drin wohnen“, lautet das Motto des Mietshäuser Syndikats. In dem Verbund haben sich mittlerweile schon 184 Projekte selbstverwalteten Wohnens zusammengefunden. Die Projekte befinden sich verstreut über ganz Deutschland, besonders viele gibt es in und rund um Berlin sowie Freiburg, wo die Idee für das Syndikat Ende der Achtziger geboren wurde.

Kaufen Die Initiative richtet sich an Gruppen, die sich ohne größeres Eigenkapital gemeinsam ein Haus kaufen oder bauen wollen und bereit sind, die Immobilie dauerhaft dem Immobilienmarkt zu entziehen. Käufer des Hauses ist dann eine GmbH, die zu gleichen Teilen der jeweiligen Hausgemeinschaft und dem Syndikat gehört. Die Mieter treffen Entscheidungen über ihr Haus selbst, das Syndikat verhindert durch sein Vetorecht einen Verkauf der Immobilie. Finanziert wird der Kauf großteils über Kredite von Unterstützern.

Damit es ihr nicht genauso ergeht, will sich die Hausgemeinschaft jetzt dem Mietshäuser Syndikat anschließen. Die Idee des Syndikats entstand Anfang der Neunziger in Freiburg, seither wurden bereits 184 Projekte umgesetzt. Ziel der Initiative ist es, möglichst viele Häuser oder Grundstücke aus dem Spekulationsmarkt herauszukaufen.

Dazu schließen sich die Bewohner eines Hauses zu einem Verein zusammen, der zusammen mit dem Syndikat eine GmbH gründet, der wiederum das Haus gehört. Durch das Konstrukt wird verhindert, dass die Bewohner das Haus doch irgendwann verkaufen. Gekauft wird die Immobilie mit geliehenem Geld. Bislang gibt es in München aber nur ein einziges Projekt, das auf diese Weise ein Mietshaus dem freien Markt entzogen hat – in der Ligsalzstraße im Westend.

Das Geld für den Kauf der Wörth 8 soll über Direktkredite von Menschen reinkommen, die das Projekt unterstützen wollen. In den vergangenen Wochen gingen bereits Absichtserklärungen für Kredite in Höhe von fast 1,5 Millionen Euro ein. Laufzeit und einen Zins von bis zu einem Prozent dürfen die privaten Finanziers selbst bestimmen.

Geht der Plan auf, könnten die Bewohner den Kauf des Hauses mit akzeptablen Mieten stemmen. Derzeit zahlen sie im Schnitt nur 9 Euro pro Quadratmeter, künftig wären sie bereit, auf 12 Euro hochzugehen.

Klingt natürlich gut. Endlich mal eine positive Geschichte aus dieser Stadt, in der Wohnen längst zum Luxusgut geworden ist. Das dachten die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses zunächst auch. Sie machten sich ans Werk, bastelten eine Homepage, berieten sich mit Experten des Mietshäuser Syndikats, warben um Direktkredite. Doch dann der Dämpfer: In einem Telefonat erklärte der Hauseigentümer plötzlich, das Ganze gehe ihm nun doch zu langsam, sei ihm zu unsicher. Er werde sich wieder auf die Suche nach anderen Käufern machen. Kurz darauf kamen bereits Interessenten zur Hausbesichtigung.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —      Wörthstraße 8; Mietshaus, neubarocker Eckbau, mit reichem Stuckdekor, 1894 von Franz Hammel.

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Kolumne * Materie

Erstellt von Redaktion am 10. April 2023

Die Letzte Generation ist zu religiös

Eine Kolumne von Kersten Augustin

KlimaktivistInnen der Letzten Generation. – Gerade an Ostern fällt auf, wie religiös die Letzte Generation eigentlich ist. Und dass das ein strategisches Problem für die Klimabewegung ist.

Oh, schon wieder vier Wochen um, neuer Monat, neue Kolumne. Aber worüber? Die Welt hat sich weitergedreht, aber immer nur um sich selbst statt auch mal nach vorne. Während ich verzweifelt nach einem Thema suche, kleben sich AktivistInnen vor dem Hamburger Elbtunnel fest und legen den Verkehr lahm. Danke, denke ich im ersten Moment, Kolumne gerettet. Klimakleber, das regt auf, das zieht immer. Und im zweiten: Scheiße, da muss ich morgen auch durchfahren, auf dem Weg in den Osterurlaub.

Mein letzter Rest Sympathie mit der Letzten Generation ist zuletzt deutlich schneller verschwunden als hartnäckige Kleberreste, und das liegt nicht an meiner persönlichen Betroffenheit. Ich verstehe einfach nicht, warum Linke, die sonst vor einem Kulturkampf von Rechts warnen, wenn Markus Söder mal wieder „Insektenburger“ sagt, tatsächlich glauben, dass sie ein Kulturkampf von Links irgendwie näher an ihr Ziel bringt: das Erreichen der Klimaziele. Nichts anderes ist die Verlagerung eines politischen Konflikts auf den Individualverkehr: Kulturkampf.

Gerade an Ostern fällt mir auf, wie religiös die „Letzte Generation“ eigentlich ist. Und dass das ein strategisches Problem für die Klimabewegung ist.

Es ist nicht nur der Name, der verrät, dass ihre Mitglieder im Konfirmationsunterricht besonders fleißig waren. Es ist die Selbstinszenierung als Märtyrer, die aus der Ablehnung durch die Mehrheit ihre Bestätigung zieht. Beim NDR schreibt ein Pastor, die Letzte Generation stünde „in der Tradition der Bergpredigt Jesu, und der Aufforderung, dem, ‚der dich auf die Wange schlägt, auch die andere darzubieten.‘“

Doomismus lähmt

Nicht nur die Letzte Generation ist quasi-religiös. Große Teile der klimabewegten Bevölkerung übernehmen die Rhetorik der kleinen Gruppe. Gerade haben 240 VertreterInnen diverser Parteien von der Linken bis zur CDU einen offenen Brief an Olaf Scholz geschickt. Auch sie bezeichnen sich als die Letzte Generation, die aufhalten könne, was uns drohe: „der globale Verlust unserer Kontrolle über die menschengemachte Klimakrise.“

War das Auto festgeklebt – oder hielten die Bullen ein Kreuz in den Händen ?

Auch, wer die Klimakrise ernst nimmt, darf diese Wortwahl in Frage stellen. Man überzeugt niemanden, indem man den Weltuntergang heraufbeschwört. Dieser Doomismus lähmt, statt zu bewegen. Die Klimakrise ist längst Alltag, sie tötet von Pakistan bis zum Ahrtal. Es ergibt keinen Sinn, von einer Gefahr in der Zukunft zu sprechen, wenn die Krise längst Gegenwart ist.

Jesus nimmt an Ostern die Schuld der Menschheit auf sich, um sie zu erlösen. Und in dieser Geste steckt auch das Problem der Letzten Generation und ihrer Anhänger. Statt die Menschen in ihren Autos zum gemeinsamen Kampf zu bewegen, übernehmen sie als Märtyrer die Last.

Sie nehmen die Wut der Autofahrer auf sich, die in der Mehrheit die Gefahr der Klimakrise längst erkannt haben, aber sich ohnmächtig fühlen, und kämpfen stellvertretend für die Erlösung. Aber das ist nicht empowernd, wie man heute sagt, sondern entlastend.

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Unten        —    Aufstand der Letzten Generation Aalen 2023-03-13

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Bolivien und Peru

Erstellt von Redaktion am 8. April 2023

La Paz: Gondelbahnen als attraktives lokales Verkehrsmittel

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Josef Estermann /   

Vor neun Jahren fuhr die erste Gondelbahn. Inzwischen gibt es in der bolivianischen Stadt zehn Linien. Ein Augenschein vor Ort.

Red. Josef Estermann hatte während 17 Jahren in Peru und Bolivien gelebt und gearbeitet. Kürzlich besuchte er alte Bekannte.

La Paz ist eine verrückte Stadt. Sie liegt in einem Kessel auf einer Höhe von 3200 bis 4000 Metern über dem Meeresspiegel. Am oberen Rand – von den Einheimischen Ceja oder «Augenbraue» genannt – beginnt die Andenhochebene (Altiplano) und damit die Satellitenstadt El Alto (wörtlich: «der Hohe»). Entgegen der Meinung vieler Ausländerinnen und Ausländer ist La Paz nicht die Hauptstadt Boliviens – diese ist Sucre –, sondern Sitz der bolivianischen Regierung.

Eine verkehrstechnische Herausforderung

La Paz und El Alto haben zusammen inzwischen rund zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, wobei sich das Verhältnis umgekehrt hat. 1950 war El Alto mit rund 2000 Bewohnerinnen und Bewohnern ein kleines Dorf auf der windigen und kalten Hochebene; heute hat die ehemalige Satellitenstadt mehr Einwohnerinnen und Einwohner als der Regierungssitz. Das Verkehrsaufkommen ist dementsprechend sprunghaft angestiegen, vor allem auf den Hauptverkehrsadern, welche die beiden Metropolen miteinander verbinden und den grossen Höhenunterschied überwinden.

Schon in den 1980er Jahren hatte die Stadtregierung von La Paz Pläne, die beiden Städte mit Luftseilbahnen miteinander zu verbinden. Die Umsetzung aber scheiterte an politischen Machtspielen, bis der ehemalige Staatspräsident Evo Morales zu Beginn seiner zweiten Amtszeit (ab 2011) die Initiative an sich riss und das Projekt in Rekordzeit umsetzte. Für die Überwindung der insgesamt fast tausend Höhenmeter war bis anhin ein riesiges Heer von Minibussen besorgt, die regelmässig die zum Teil schmalen und kurvenreichen Strassen verstopften und nicht selten wegen technischer Defekte steckenblieben.

Am 30. Mai 2014 konnte Evo Morales nach kurzer Projektierungsphase und ebenso kurzer Bauzeit die erste Gondelbahn, die «rote Linie», in Betrieb nehmen, welche den alten stillgelegten Bahnhof im Zentrum von La Paz mit El Alto verbindet. Die Linie ist 2349 Meter lang, die Fahrt dauert etwa elf Minuten. Sie führt von Taypi Uta («zentrales Haus») über die Mittelstation Ajayuni («wo die Seelen hausen») beim riesigen Friedhof der Stadt nach Jach’a Qhatu («grosser Markt») in El Alto. Auch die Haltestellen der anderen neun Linien tragen Aymara-Namen und sollen den neuen Wind versinnbildlichen, der mit der Regierung von Morales Einzug in Bolivien gehalten hat.

Täglich 400’000 Passagiere

Nach der roten Linie kamen die beiden anderen Landesfarben Boliviens, gelb und grün, für weitere Gondelbahnen zum Zug, die ebenfalls El Alto mit La Paz, allerdings dieses Mal mit den reicheren und tiefer gelegenen Vierteln in der südlichen Zone (Zona Sur) verbinden sollten. Heute gibt es insgesamt zehn verschiedene Gondelbahnen mit insgesamt 38 Haltestellen und einer Gesamtlänge von 32 Kilometern. Die farblich gekennzeichneten Linien sind wie ein Spinnennetz miteinander verbunden. Touristinnen und Touristen machen sich ein Spiel daraus, alle Strecken an einem Tag oder gar einem Vormittag zurückzulegen. Für die Einheimischen dagegen sind die Gondelbahnen ein schnelles, bequemes, sicheres und vor allem ruhiges Verkehrsmittel.

Pro Tag benutzen rund 400’000 Passagiere eine oder mehrere der insgesamt 1398 Gondeln. Bis heute haben diese über 400 Millionen Menschen transportiert. Die Konzession für den Bau und Betrieb der Gondelbahnen hat der bolivianische Staat an das österreichisch-schweizerische Konsortium Doppelmayr-CWA (Carrosserie-Werkstätte Aarburg) vergeben, aber die öffentliche Hand ist Eigentümerin und Nutzniesserin der Gondelbahnen. Der Einheitstarif für eine Linie beträgt drei Bolivianos (rund 40 Rappen), beim Umsteigen auf eine andere Linie zahlt man noch zwei Bolivianos; und der «Vorzugstarif» für RentnerInnen (ab 60), Schwangere, Studierende und Menschen mit einer Beeinträchtigung beträgt nur die Hälfte.

Das Gesamtprojekt, das noch nicht abgeschlossen ist, nennt sich Red de Integración Metropolitana (Netz zur Integration der Metropole) und ist als wichtiger Beitrag zur Bewältigung des zunehmenden Verkehrsaufkommens der beiden Städte konzipiert. Die Feinverteilung der Reisenden sollen Schnellbusse sicherstellen – in La Paz die Puma Katari, in El Alto die Wayna-Busse –, was allerdings nur zum Teil umgesetzt ist. Geplant sind eine Weiterführung der braunen (café) und der Bau einer neuen «goldenen» (dorado) Linie, welche die Stadtteile der südlich gelegenen wohlhabenderen Viertel verbinden soll. Böse Zungen behaupten, dass Letztere deshalb noch nicht gebaut sei, weil Evo Morales und sein Movimiento al Socialismo (MAS) sich für den stillen Staatsstreich rächen wollen, der ihn 2019 aus dem Amt gejagt hatte.

Grösstes urbanes Seilbahnnetz der Welt

Während die meisten Seilbahnen in der Schweiz dazu dienen, Personen auf Aussichtspunkte oder Güter in schwierig zugängliche Alpgebiete zu transportieren, sind die Seilbahnen von La Paz und El Alto in erster Linie städtische Verkehrsmittel. Die touristische Nutzung ist bloss ein Nebeneffekt und fällt, aufs Ganze gesehen, kaum ins Gewicht. Dabei spielt zwar die Überwindung der Höhendifferenz von fast tausend Metern eine entscheidende Rolle, aber einige Linien dienen auch der Verbindung einzelner Stadtteile untereinander. So gibt es drei Seilbahnlinien, die unterschiedliche Stadtteile von El Alto miteinander verbinden, sowie deren vier, die dasselbe in La Paz zum Ziel haben. Nur drei Gondelbahnen – rot, gelb und violett – verbinden die beiden Städte und damit den tiefergelegenen Süden mit dem höhergelegenen Norden miteinander.

Das soziale Gefälle wird sichtbar

Durch die Seilbahnen wurde vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der beiden Städte zum ersten Mal bewusst, wie eklatant die sozialen und lebensweltlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Stadtteilen sind. Wenn man zum Beispiel die gelbe und grüne Linie benutzt, wie dies viele Hausangestellte aus El Alto jeden Tag tun, dann schwebt man in etwas mehr als einer halben Stunde nicht nur von 4000 auf rund 3200 Meter Höhe hinunter, sondern über die gesamte Skala sozialer Klassen und ethnischer Zugehörigkeit hinweg.

Man oder frau startet in Qhana Pata, dem Ausgangspunkt in El Alto (der nicht ohne Grund «Aussichtspunkt» heisst), der zugleich das Zentrum der Geschäftstätigkeit der Aymara ist. Am Abhang hinunter nach La Paz und bis zur ersten Station Quta Uma kleben armselige und nur über steile Treppen oder Sandwege erreichbare prekäre Behausungen am rutschigen Berg. Schliesslich werden die Häuser immer solider und vor allem höher, aus Backstein und oft sogar schön verputzt, bis die Gondel in Supu Kachi das Ausgangsviertel von La Paz erreicht. Mit jeder Station wird es wärmer. In Chuqui Apu steigt man in die grüne Linie um, die an der Katholischen Universität und dem Olympiaschwimmbad vorbei und über mondäne Villen mit Pool nach Irpavi führt. Eine riesige Mall im US-Stil empfängt die Passagiere, aber auch die Aymara-Frauen, die zu ihren Señoras hasten, um Kinder zu hüten oder den Haushalt zu schmeissen.

Gondelbahnen als Mittel zur sozialen Integration

Tatsächlich erhalten die Armen Einblick in die Innenhöfe der Reichen, und tatsächlich sehen die Reichen (wenn sie denn überhaupt die Gondelbahn in Anspruch nehmen) die baufälligen Behausungen am Abhang, was ohne die Seilbahnen niemals so augenscheinlich möglich wäre. Aber führt dies auch zu einer sozialen Integration von an sich klar getrennten sozialen Sphären? Die von einer indigenen Regierung geplanten und schliesslich realisierten Gondelbahnen erfüllen vor allem die bis heute marginalisierten Gruppen der Aymara und Quechua mit einem neuen Stolz. Sie nennen diese denn auch «Mi Teleférico»: «meine Seilbahn».

Zwar haben sich die Staus im Zentrum von La Paz oder an den neuralgischen Punkten in El Alto nicht wirklich aufgelöst, aber ohne die Seilbahnen wäre das Verkehrschaos unvorstellbar. Es wären mindestens 20’000 zusätzliche Minibusse unterwegs, um die Gondelpassagiere zu transportieren. La Paz und El Alto sind näher zueinander gerückt, aber auch die einzelnen Stadtteile. Die unsichtbare «Apartheid», wie sie zuvor das soziale Leben in den beiden Metropolen bestimmt hat, ist jetzt für alle sichtbar geworden. Die Zona Sur, einstmals jener Stadtteil von La Paz, wo sich die Wohlhabenden unter ihresgleichen wähnen konnten, wird durch die Gondelbahnen immer mehr auch Ziel eines Ausflugs von Cholas (so werden die Aymara-Frauen mit ihren Reifröcken genannt) aus El Alto. Und nicht wenige Q’aras (Bezeichnung für weisshäutige Menschen) aus La Paz ergötzen sich an den Cholets in El Alto, jener Neo-Aymara-Architektur, die alpine Chalets im andinen Kontext zu Hunderten hochzieht.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Geld oder das Leben ?

Erstellt von Redaktion am 7. April 2023

Ökologie und Frieden: Was heißt heute Pazifismus?

Von    :      Daniel Cohn-BenditClaus Leggewie

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine steht auch die Friedensbewegung an einem Scheideweg, durchlebt sie eine neue Unübersichtlichkeit, die die alten Überzeugungen auf den Prüfstand stellt.

Die letzte – und schon damals neue – Friedensbewegung entstand als Teil der neuen sozialen Bewegungen in den 1960/70er Jahren, und zwar als Duo für „Umwelt & Frieden“. Ihr Codename lautete: Ökopax. Damals protestierte man so selbstverständlich gegen die zivile wie gegen die militärische Nutzung der Atomenergie. Man blockierte Mutlangen, den Standort der US-amerikanischen Pershing-Raketen, genauso entschieden wie Wyhl, Brokdorf und Wackersdorf als mögliche Standorte für Atomkraftwerke und Wiederaufbereitungsanlagen. Öko und Frieden: In diesem Doppelpack eroberten alternative Listen dann kommunale Parlamente, zog die grüne Partei in den Bundestag und in die Landtage ein, verbanden sich Umwelt- und Friedensgruppen über die deutsch-deutsche Grenze hinweg.

Diese neue Friedensbewegung,[1] die seit Ende der 1970er Jahre gegen den Nato-Doppelbeschluss kämpfte, schloss an ihre Vorläuferin, die Ostermarschbewegung der 1950er und 60er Jahre, an, die gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland und deren Eingliederung in westliche Militärallianzen opponiert hatte, nicht zuletzt deshalb, weil beides mutmaßlich die deutsche Wiedervereinigung verhinderte. Große Teile der (außer-)parlamentarischen Linken bis weit in die SPD hinein bevorzugten eine dauerhaft entmilitarisierte, neutrale Republik zwischen den Blöcken, waren gegen die Westbindung, die Bundeskanzler Konrad Adenauer Richtung Washington und sein Atom- und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in Richtung Paris (inklusive Atomwaffenbesitz) vorantrieben. Mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im französischen Parlament 1954 war dieser Streit zwischen Atlantikern und Gaullisten praktisch schon entschieden. Was alte und neue Friedensbewegung verband, war die tiefsitzende Aversion gegen alles Nukleare und „Amerika“. Dass sowjetische SS-20 auf Deutschland gerichtet waren, war für die meisten unter den 100 000 Friedliebenden 1983 im Bonner Hofgarten kein Thema, wie eine Leitfigur der Ökologiebewegung, André Gorz, damals anprangerte: „Alles ist darauf abgestellt, die sowjetische Empfindlichkeit nicht zu verletzen und als Vermittler zwischen dem Kreml und den westlichen Ländern aufzutreten. […] An Stelle von Breschnew hätte ich keinerlei Achtung für Leute, die imstande sind, sich gegen die Startbahn West in Frankfurt, gegen das Atomkraftwerk Brokdorf und gegen die Pershing 2 zu mobilisieren, die aber den Völkermord in Afghanistan, die biologischen Waffen der Sowjetunion, die SS-20, die Folterungen in der Tschechoslowakei und den Warschauer Putsch stillschweigend hinnehmen und das alles mit dem sibirischen Gas krönen.“[2]

Erst der russische Angriffskrieg hat vielen die Einsicht verschafft, wie blind dieser Pazifismus gegenüber dem sowjetischen, im Kern russischen Imperialismus war. Die historische Verantwortung für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 und die Ablehnung der bundesrepublikanischen Staatsideologie des Antikommunismus mündeten in die Idee, mit Moskau und Ostberlin für „Wandel durch Handel“ zu sorgen – was den von Gorz beklagten Nebeneffekt hatte, dass die Entspannungspolitik auf Regierungskontakte mit autoritären KP-Regimen fixiert war und den Kampf der Oppositionsbewegungen in den meist übersehenen Staaten Ostmitteleuropas ignorierte.

Es ist kein Zufall und nicht ohne Belang, dass die einzige Partei, die den Demokratiebewegungen gegenüber sensibel und solidarisch agierte, die Grünen waren, für die Frieden, Demokratie und Menschenrechte gleichrangig nebeneinander standen. Das Grundmuster der Regierungspolitik blieb jedoch auch nach 1990 erhalten und führte in der Putin-Ära zur umgekehrt proportionalen Zunahme der Energieabhängigkeit von Russland bei gleichzeitiger Abnahme der deutschen Verteidigungsbereitschaft.

Mit der dafür allzu oft in Anspruch genommenen noblen Idee des Pazifismus hatte und hat dies nichts zu tun. Die Intention des Pazifismus war nie, einem Aggressor vorauseilend die weiße Fahne auszurollen und auch die andere Backe hinzuhalten, sondern vielmehr den Angriffskrieg, bis ins 19. Jahrhundert eine unangefochtene Staatenpraxis, dauerhaft zu bannen und zu verbieten.[3] Sich dagegen notfalls mit Waffengewalt zu wehren, war niemals „bellizistisch“. Das schlagendste, aber stets heruntergespielte Beispiel ist die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch die Antihitlerkoalition, die nur durch Waffengewalt und Millionen von Opfern möglich war.[4] Diese Tradition des „Frieden schaffen mit Waffen“ wurde von der Friedensbewegung lange verdrängt. Doch Russlands Aggression fordert das ökopazifistische Milieu nun zum Umlernen auf – und auch dazu, die Ökopax-Allianz auf neue Grundlagen zu stellen.

Unmittelbar nach Beginn des russischen Überfalls war dieses Umdenken durchaus zu erkennen. Unter dem Slogan „Stand with Ukraine!“ rief Fridays for Future (FFF) im März 2022 mit zur Großdemonstration auf: „Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie die Energieimporte aus Russland stoppt: Schluss mit der Finanzierung des Kriegs – Schluss mit Öl, Gas und Kohle aus Russland. Das Ende von Nord Stream 2 – ein für alle Mal“, heißt es in dem Aufruf, und weiter: „Die Antwort darauf darf aber nicht die Investition in andere fossile Infrastrukturen, sondern muss die konsequente Energiewende weg von Kohle, Öl und Gas hin zu Erneuerbaren sein, um fossile Abhängigkeiten und Kriege zu beenden. […] Die ganze Welt muss sich gegen den Krieg stellen. Folgt dem Aufruf unserer ukrainischen Mitaktivist:innen und kommt mit uns auf die Straßen! End the war – end fossil fuels!“[5] Der Zusammenhang war somit klar erkannt: Russland führt nicht zuletzt einen globalen Energiekrieg, Klimaschutz und Unterstützung der Ukraine gingen zusammen.

Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981

Wie Friedens- und Ökologiebewegung auseinandergedriftet sind

Doch ein Jahr später hat sich der Wind in der Ökologiebewegung gedreht. Seither konzentrieren sich FFF, „Last Generation“ und die meisten Umweltverbände ganz auf den ökologischen und klimapolitischen Aspekt. Ihre Protestenergie fließt in Demonstrationsziele wie „Hambi“ und „Danni“, „Lützi“ und „Fecher“; dagegen übt man zivilen Ungehorsam und legt sich mit grünen Verantwortlichen für vermeintlich schmutzige Koalitionskompromisse in der Energie- und Verkehrspolitik an. Zurückhaltung übt man dagegen in der Kriegsfrage – genau wie die Gewerkschaften (aus Rücksicht auf ihre Linken-Kader), die Kirchen (in Verkennung gerechter Kriege) und wie andere Gruppen in ihrer Fixierung auf sexuelle und kulturelle Diversität – obwohl diese kaum irgendwo so sehr bedroht ist wie in Russland.

Diese Reduktion auf die eigenen, vermeintlichen Kernthemen ist ein fataler Fehler. Während der Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands in eine neue, auch für Deutschland existenzielle Phase tritt, sollten sich diese Organisationen und Bewegungen auf ihre Forderung „End the war!“ besinnen, bei der sich die Aufrüstung der ukrainischen Armee und die Forderung nach Verhandlungslösungen gerade nicht ausschließen. Und anders, als es die empiriefreien Appelle der „Manifest“-Unterzeichner suggerieren, ist es die mehrheitliche Überzeugung der Deutschen, dass es sowohl der Waffen als auch der Diplomatie bedarf. Worauf Wagenknecht, Chrupalla und Co. außerdem keine Antwort geben: Mit welchem Verhandlungspartner wäre denn gegenwärtig über einen dauerhaften Frieden zu reden – und über welche Faustpfande und Garantien? Das ewige Mantra von der angeblich allein friedensstiftenden „Diplomatie“ steht jedenfalls in gewaltigem Widerspruch zum Putinschen Desinteresse an Verhandlungen.

Jenseits des gescheiterten Budapester Abkommens oder der Minsker Floskeln werden Frieden und Sicherheit für die Ukraine nur per Nato-Beitritt erreichbar sein – beziehungsweise durch die Aufnahme in die Europäische Union, die analoge Beistandspflichten mit sich bringt, schon für den Fall, dass der Aggressionshunger Putins nach einem prekären Waffenstillstand wieder zunimmt. Die Ukraine ist undenkbar als neutraler Pufferstaat zwischen Ost und West; zu garantieren ist ihre Integrität und Unabhängigkeit nur als westliche Bündnisnation. Doch genau um das zu verhindern und den „kollektiven Westen“ nicht an Russlands Grenzen auszudehnen, ist Putin schließlich über das Land hergefallen. Der Ruf nach bloßer Diplomatie birgt daher keineswegs geringere Risiken für Deutschland und den Westen als die Positionen der leichtfertig als „Bellizisten“ Denunzierten, die zwischen militärischer Unterstützung und diplomatischen Verhandlungen keinen starren Gegensatz aufmachen.

Quelle       :          Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —       10. Globaler Klimastreik von Fridays for Future, Berlin, 25.03.2022

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KOLUMNE * IN RENTE

Erstellt von Redaktion am 4. April 2023

Von armen und reichen Freundinnen

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Eine Kolumne von Barbara Dribbusch

Manche Freundinnen unserer Kolumnistin sind chronisch krank und kriegen kaum Rente, andere haben geerbt. Wie geht man gut damit um?

Die kleine Geburtstagseinladung bei Vera hatte mir die Augen geöffnet: Wir müssen über Geld reden, erst recht im Alter. Ich hatte für Vera zum 70.Geburtstag ein, wie ich dachte, originelles Geschenk mitgebracht. Ein superleichter, faltbarer, teurer High-Tech-Camping-Stuhl war es. In Veras Mietshaus gibt es einen begrünten Hinterhof, sie hatte sich immer beklagt, dass dort keine Sitzgelegenheit existiere. Voilà! Dachte ich. Zu Veras Einladung in ihrer Einzimmerwohnung kam auch Gitta.

Gitta überreichte Vera einen Umschlag mit Geschenkband drumherum: „Ich dachte mir, das kannst du besser gebrauchen als irgendwelchen Schnickschnack“, sagte Gitta. Vera nahm den Umschlag mit einem verlegenen, aber auch erfreuten Lächeln an und bedankte sich. Kurz darauf sah ich, wie sie in der Küche den Umschlag öffnete und hineinlinste. Drinnen lagen ein 50-Euro- und ein 20-Euro-Schein, wie ich später erfuhr.

Mir dämmerte, dass Gitta das passendere Geschenk mitgebracht hatte. Wie konnte ich nur auf den doofen überteuerten Outdoor-Stuhl kommen? Vera ist schwer rheumakrank und lebt von einer kleinen Rente plus Grundsicherung, also auf Hartz-IV-Niveau. Sie hatte mir mal erzählt, wie schwierig es für sie sei, den Tierarzt für die Katze zu bezahlen, die ihr Ein und Alles ist. Ich hätte besser Geld schenken sollen, ganz einfach. Mit Freundin Hille sprach ich später über das Problem. Hille hat eine gute Rente, ist Erbin und schon lange mit Gisela, chronisch krank, Grundsicherungsempfängerin, befreundet.

„Da schämt man sich“

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Oft halten solche Freundschaften ja nicht, aber Hille hatte Gisi vor 40 Jahren in einer Psychiatrie-Ambulanz kennengelernt, die beiden sind inzwischen schon viele Kilometer zusammen durch Brandenburg gewandert und Hille hängt an Gisi, das weiß ich. Früher war das finanzielle Gefälle zwischen den beiden wohl auch nicht so gigantisch gewesen wie jetzt. „Ich kann’s dir jetzt sagen“, erzählte Hille, „ich hab einen Dauerauftrag eingerichtet für Gisi. 90 Euro in der Mitten jeden Monats, mit dem Erbe kann ich das auf Dauer durchhalten.“ Sie hatte zuvor Gisi immer mal wieder zwischendurch Geld geliehen, „aber frag mal eine Grundsicherungsempfängerin, wann sie dir das Geld zurückgeben kann. Bescheuert. Da schämt man sich“, schilderte Hille.

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Oben     —       

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2.) von Oben     —       Demonstration unter dem Motto „Wer hat der gibt!“ für die Umverteilung von Reichtum am 19. September 2020 in Berlin.

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Was ist los – Grönemeyer ?

Erstellt von Redaktion am 26. März 2023

„Klar gibt es reichlich Bekloppte“

Das Interview führte Dosi Akrap

Herbert Grönemeyer über sein neues Album. – Herbert Grönemeyers neues Album „Das ist los“ ist politisch, wie immer. Ein Gespräch über Krisendeutschland, Zuversicht und Ratgeber-Pop.

wochentaz: Herr Grönemeyer, was glauben Sie, welches Lied von Ihrer neuen Platte hat sich bei mir als hartnäckiger Ohrwurm eingenistet?

Herbert Grönemeyer: „Behutsam“?

Nein.

„Herzhaft“?

Nein.

„Das ist los“?

Genau. Knaller. „Das ist los“ – der Song zum Albumtitel. Eine schnippische Antwort auf die oft als unangemessen empfundene Frage „Was ist los?“.

Ja. Das kommt von meinem Produzenten Alex Silva, der Waliser ist. Immer, wenn ich ihn frage: „Was ist los?“, antwortet er „Das ist, was ist los!“ Er übersetzt das direkt aus dem Englischen „That’s what happens“. Alex fragt mich auch immer: „Was heißt eigentlich Samma?“ Das sage ich angeblich immer beim Autofahren.

Warum dann nicht „Samma“ oder „Hömma“ als Titel, sondern „Das ist los“?

Weil der Song erklären soll, wie ich jetzt gerade in der Badehose aussehe. Es soll eine Standortbeschreibung sein. Alex und ich haben nach 25 Jahren zum ersten Mal gemeinsam eine Nummer geschrieben. Wir sind wie ein altes Ehepaar, das von der Freude und der Albernheit erzählt.

Bankenkrise, Emirat / Schuldenbremse, Windradpark / Lifehacks, Burnout, Horoskop / Cis, binär und transqueerphob / Gucci, Prada, Taliban / Schufa, Tesla, Taiwanwahn …“ Klingt jetzt nicht gerade nach Ehealltag.

Sondern?

Nach Polittalk.

Sicher, alles ist politisch. Aber für mich ist das Politische immer selbstverständlicher Bestandteil meines Lebens und meiner Musik und nichts Besonderes.

Reden wir alle zu viel und zu oberflächlich über Politik?

Wir sind ja hier nicht beim Eisstockschießen. Die Lage, in der wir uns befinden, ist hochkomplex und nicht ungefährlich. Aber was macht das mit uns? Wo sind wir mit unseren Ängsten? Was bedeutet das für uns kulturell? Diese Fragen kommen zu kurz.

Was ist, Kid? Kriegst du alles mit?“, lautet der Refrain in „Das ist los“. Sind die Kids nicht mehr all right?

Oh doch. Die sind total all right. Es ist nur so, dass ich jetzt 67 werde. Ich versuche mir auf alles, was so auf mich reinprallt, einen Reim zu machen. Ich kann mir aber ja aufgrund meines Alters genehmigen, nicht mehr alles mitzukriegen. Aber wie kommt ein 40 Jahre jüngerer Mensch durch das ­Dickicht der Informationen? Was sind die Zwänge, was die Ängste? Die Zeile ist nicht als Anklage gemeint.

Wie dann?

Im Sinne einer sorgenden Nachfrage: Wie kommt ihr damit klar? Jede Generation hat ja ihre Themen, mit denen sie organisch verbunden ist. Ich bin mit Vietnam und Hippies groß geworden. Bei den Jungen heute habe ich das Gefühl, die Entfremdung von der Gesellschaft ist um ein Vielfaches größer.

Dazu passt der erste Satz auf dem Album: „Hoffnung ist grade so schwer zu finden“, aus dem vorab veröffentlichten Song „Deine Hand“. Ansonsten geht es auf der Platte aber meistens gut gelaunt zur Sache: mit treibendem Beat und Synthiesound, mit Witzigkeit und Mutmacherlyrik. Das hat dann so gar nichts mehr von Verzweiflung.

Für mich ist Kunst immer der Versuch, eine Perspektive zu erarbeiten. Kunst muss irgendwo hinleiten. Auch in der Trauer oder der Melancholie muss Kunst motivieren. Die Frage war: Schafft man es in dieser komplexen Zeit mit all den Ängsten eine Platte zu machen, die nicht larifari und trallalaheißassa hopsasa ist, aber trotzdem in sich eine Kraft birgt und Zuversicht erschließt? Worauf kann man sich stützen, was sind die Dinge, die positiv stimmen in dieser schweren Zeit? Und für mich ist die Hilfsbereitschaft der Menschen eben eine große Sache. Darüber wird viel zu wenig gesprochen. Wie haben in diesem Land eine beeindruckend erwachsene Attitüde, mit denen Geflüchteten begegnet wird. Das ist eben nicht nur heute mit Blick auf die Ukrainer so. Das war auch 2015 so. Da steckt eine große Form von Humanismus dahinter. Das ist eine großartige Basis für eine positive, gemeinschaftliche Entwicklung unserer Gesellschaft. Da hol ich mir meinen Nährstoff her.

Dafür, dass Sie auf einem Konzert in Wien sehr laut „Keinen Millimeter nach rechts“ gebrüllt haben, wurden Sie heftig attackiert.

Ich weiß schon seit 40 Jahren, dass ich nicht nur Fans habe. Wir sind eine diffuse Gesellschaft, ist doch klar, dass es unter 80 Millionen auch reichlich Bekloppte gibt. Und damit meine ich jetzt nicht die, die meine Musik nicht mögen. Aber es rennen hier doch nicht nur lauter Egoisten rum, das muss man einfach auch mal feststellen.

Nicht nur. Aber in Ostdeutschland brennen wieder Flüchtlingsheime. Und die CDU hat mit rassistischen Inhalten die Wahlen in Berlin gewonnen.

Das bekomme ich mit und das ist gemein und feige. Aber deswegen müssen wir ja nicht immer gleich in eine hochdramatische, pauschalisierende „Oh mein Gott, wie furchtbar“-Stimmung verfallen. Fakt ist, dass wir in Deutschland einer Million Menschen Obdach bieten. Die Gesellschaft ist erwachsener, als man denkt und weiter als die Politik. Natürlich ist es kein Zuckerschlecken, Geflüchtete bei sich aufzunehmen. Die Lösung kann aber nicht sein, die Leute abzuschieben oder nachts ins Kopfkissen zu beißen, weil man nicht mehr weiter weiß. Man muss offen thematisieren, dass es kompliziert ist.

Deutschland, eine Nation von Nachts-ins-Kopfkissen-Beißern?

Wir müssen nicht gleich durchdrehen, nur weil zwei prominente Frauen eine Demo machen. Das können wir schon aushalten. Das neue Deutschland hat jetzt seinen 30. Geburtstag hinter sich. Wir können doch nicht bei jedem Windstoß noch um Hilfe schreien wie kleine Kinder. Als eines der größten Länder Europas haben wir die Verantwortung, auch mal ein bisschen Ruhe zu bewahren.

In der Unruhe liegt die Kraft“ heißt es doch in Ihrem neuen Lied „Angstfrei“.

Ja. Aber damit meine ich, dass wir uns mehr Gedanken darüber machen müssen, was wir mal werden wollen, wenn wir groß sind. Was für ein Team wollen wir eigentlich sein? Wie verwirrt wollen wir sein? Wie verrückt? Dafür braucht es Unruhe. Es ist total unverschämt, dass es einen Ost-Beauftragten gibt, wo es doch gar kein Ostdeutschland gibt. Es gibt auch kein Westdeutschland. Bochum ist Westdeutschland. Bayern ist es nicht. Wir brauchen keinen Ost-Beauftragten, sondern einen Beauftragten für die Zukunft dieses Landes, einen Stab, der sich damit beschäftigt, wo dieses Deutschland in 50 Jahren sein soll. Der britische Ökonom Paul Collier beschreibt die alte Sozialdemokratie als eine Kultur des Füreinandereinstehens. Ich komme aus dem Ruhrpott, ich kannte diese Kultur. Die ist aber verloren gegangen. Wir müssen uns verpflichtet fühlen, uns Gedanken zu machen, wie wir da wieder hinkommen.

Glücklich der, der auch mal nichts weiß“, „Danke deinem Leben für die Zeit“, „Suche in deinem Leben keinen Sinn“, „Versuchs mit Eleganz, nimm es voll und ganz“ singen Sie in Ihrem neuen Song „Eleganz“. Wären Sie beleidigt, wenn man sagen würde, Herbert Grönemeyer macht Ratgeber-Pop?

Nein, da wär schon was dran. Ich lauf jetzt aber auch nicht als blauäugiger Depp rum. Eher so wie ein Fußballtrainer, dessen Team die ganze Zeit verliert, aber der trotzdem glaubt, dass in seinem Team alles steckt, er muss es nur rausholen. Aber „Eleganz“ ist jetzt nicht gerade der größte stilistische Beitrag meinerseits. Ist eher so mein „Don’t worry be happy“.

Wichtig ist nur, dass man Alltag kann“. Die Zeile macht mich fertig. „Nur“ Alltag?

Ich singe extra „Alltach“, damit man es auch versteht. Alltag ist eine elementare Herausforderung. Nur auf Glücksmomente warten kann jeder. Alltag ist harte Arbeit.

So ganz entschieden zwischen Unruhe und chillen ist Ihre Platte nicht. Im Lied „Genie“ singen Sie: „Du wälzt Probleme von links nach rechts, danach ist dir schlecht“.

Das ist schon besser. Also stilistisch gesehen.

Ihre Texte sind in Lyrikbänden erschienen und Sie dichten so wunderschöne Zeilen wie „Du verschaffst meinem Ich Übergewicht“. Kürzlich sprachen Sie im Münchner Lyrik Kabinett unter dem Titel „Die Worte müssen in die Musik“ mit dem Literaturwissenschaftler Michael Lentz über Ihre Texte. Er musste sehr oft lachen. Ich muss auch über Sätze lachen, von denen ich nicht weiß, ob Sie die lustig gemeint haben. Zum Beispiel: „Wer nicht strampelt, klebt an der Ampel und wartet auf Grün“.

Lachen Sie nur. Das will das Lied ja. Es geht ja in dem Text darum, nicht ständig um Erlaubnis zu fragen.

Ich muss lachen, weil ich dachte, das sei ein Appell, nicht darauf zu warten, bis die Ampelregierung was gegen die Klimakatastrophe tut.

Nee, darum ging es in dem Lied nicht. Dass die Grünen allerdings die Aktionen der Klima-Aktivisten als „nicht zielführend“ diskreditieren, finde ich absurd. Als müsste eine Bewegung bei der Regierung anrufen und fragen, ob es okay ist, wenn man morgen demonstrieren geht. In Deutschland sollte endlich was passieren, ohne dass man dafür vorher eine Unterschrift verlangt.

Es wird häufig die Entpolitisierung der Popmusik beklagt. Bei Ihnen bekommt man den Eindruck, Sie werden von Platte zu Platte politischer. Haben Sie das Gefühl, politisch verantwortlich zu sein?

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Oben       —         Herbert Grönemeyer – Herbert Grönemeyer singt seine offizielle Hymne „Komm zur Ruhr“ am 09.01.2010 auf der Eröffnungsfeier zur RUHR.2010 in Essen Zollverein. Im Hintergrund: Mark Kofi Essien

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Gefahren nicht erkennen

Erstellt von Redaktion am 24. März 2023

Nach der Flut ist vor der Flut

Ein Debattenbeitrag von Christian Groß und Gert G. Wagner

Naturgefahren nehmen zu, auch in Deutschland. Dennoch ist nur die Hälfte aller Wohngebäude dagegen versichert. Eine Reform der Versicherung tut not. Länder wie die Schweiz oder Spanien machen vor, dass starke Regulierung zum Erfolg führt.

Der Abschlussbericht des Weltklimarats IPCC sagt es deutlich: Der Klimawandel wird kurzfristig kaum mehr zu stoppen sein. Klimaschutz und Klimaanpassung können erst einmal nur die Schäden für Natur und Menschen verringern. Für die nahe Zukunft wird für alle Weltregionen ein Anstieg der Naturgefahren prognostiziert, darunter häufigere Überschwemmungen. In Deutschland weckt das Erinnerungen an die Flutkatastrophe im Ahrtal vom Sommer 2021, eines der schwersten Naturereignisse in der jüngeren Geschichte, das Politik und Bevölkerung wachgerüttelt hat.

Deutschland passt sich an den Klimawandel an: Die kürzlich vorgelegte Nationale Wasserstrategie und das geplante Klimaanpassungsgesetz sehen mehr bautechnische Vorsorge und planerische Maßnahmen vor. Darunter etwa die Schaffung von mehr Auslaufflächen für Gewässer. Doch wer oder was rettet die Existenz, wenn eine Katas­trophe das eigene Haus stark beschädigt oder ganz zerstört? Alle Ex­per­t*in­nen sind sich darin einig, dass private Wohngebäude flächendeckend gegen Naturgefahren, sogenannte Elementarschäden, versichert sein sollten. Doch darüber wird politisch gestritten.

Die Mi­nis­ter­prä­si­den­t*in­nen der Länder setzen sich für eine Pflichtversicherung gegen Elementarschäden ein, erst kürzlich brachte NRW eine entsprechende Initiative in den Bundesrat ein. Bundesjustizminister Buschmann lehnt eine Pflicht jedoch bislang ab. Er argumentiert, dass diese zwar mit der Verfassung vereinbar sei, wegen aktuell steigender Lebenshaltungskosten aber nicht in die Zeit passe. Seine Rechnung ginge allerdings nur dann auf, wenn die nächste Naturkatastrophe ewig auf sich warten ließe. Die Prognosen des IPCC und auch des Deutschen Wetterdienstes fallen deutlich düsterer aus.

Stand heute ist nur die Hälfte aller Wohngebäude gegen Elementarschäden versichert. Viele Bauvorschriften stammen aus einer Zeit vor dem Klimawandel und auch die bautechnische Vorsorge an Wohngebäuden ist oft unzureichend. Etwa zwei Drittel aller Häuser verfügen nicht über eine Rückstauklappe, die bei Überschwemmung das Eindringen von Kanalisationswasser verhindert. Daten des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen (SVRV) zeigen ein ähnliches Bild beim Schutz des Dachs vor Sturm- und Hagelschäden. Außerdem wird nach wie vor an zu stark gefährdeten Stellen gebaut oder wiederaufgebaut.

Welchen Beitrag könnte eine Reform der Elementarschadenversicherung zur Klimaanpassung leisten?

Oberstes Ziel muss die Schaffung einer flächendeckenden Versicherung aller Wohngebäude sein. Denn Naturgefahren, insbesondere Starkregen, können überall im Bundesgebiet auftreten, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Diese muss sich in der Höhe der Versicherungsprämie widerspiegeln, was individuelle und gesellschaftliche Anreize bietet, um bautechnische Vorsorge zu betreiben. Und anders als eine Einheitsprämie wären diese auch mit deutschem Verfassungsrecht vereinbar. Unbedingt sollten strenge Bauverbote in besonderen Gefahrenlagen, etwa in Gewässernähe, durchgesetzt werden. Mit ausreichend öffentlicher und privater baulicher Vorsorge ließen sich auch die Versicherungsprämien niedrig halten.

Hätte eine Reform Erfolg und müsste der Staat dann keine ungezielten Nothilfen mehr zahlen, würde das die Steu­er­zah­le­r*in­nen entlasten. Damit stünde auch die Einhaltung der Schuldenbremse durch zunehmende Extremwetterereignisse nicht immer wieder zur Disposition.

Der SVRV hat einen Vorschlag für ein solches Versicherungsmodell vorgelegt. Kern ist die Einführung einer verpflichtenden Basisversicherung gegen Naturgefahren. Der Basisschutz sieht einen hohen Selbstbehalt vor, den Ei­gen­tü­me­r*in­nen selbst tragen müssen. Das schafft einen starken Anreiz zur Vorsorge. Ähnlich wie in der Kfz-Versicherung könnte der Basisschutz auf freiwilliger Basis zu einer „Vollkasko“-Versicherung aufgestockt werden.

Anders als der SVRV setzen die deutschen Versicherer in ihrem Reformmodell weiter auf eine Lösung ohne Pflicht. Allen bisher nicht Versicherten soll die Elementarschadenversicherung an die bestehende Wohngebäudeversicherung angehängt werden, per sogenannter Zustimmungsfiktion. Wer nicht widerspricht, wird automatisch versichert. Umsetzen ließe sich allerdings auch das nur mit einer gesetzlichen Regelung.

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Oben      —     Caption: close-up shot of buildings flooded to rooflines with trees on roofs Original Filepath: F:\1\Katrina\Photography-Video-Audio-Slide Shows\Photography\Aftermath\Flooding\close-up shot of buildings flooded to rooflines with trees on roofs.jpg

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Unkonkret und fragwürdig

Erstellt von Redaktion am 23. März 2023

Der Berliner Klimavolksentscheid ist gut gemeint, aber schlecht gemacht:

Ein Debattenbeitrag von  MOHEB SHAFAQYAR

Der Berliner Klimavolksentscheid ist gut gemeint, aber schlecht gemacht: Konkrete Ideen fehlen – besonders zur sozialen Verträglichkeit von Maßnahmen.

Am Sonntag stimmen Ber­li­ne­r*in­nen per Volksentscheid darüber ab, ob das Land sich die Klimaneutralität 2030 gesetzlich verschreiben soll. Nur dann würde Berlin seinen Beitrag zum Erreichen des 1,5 °C-Zieles geleistet haben. Alles, was zu dieser menschlichen Überlebensfrage beiträgt, ist geboten.

Ein Schlüsselmoment meiner frühen Jugend hat mir erstmals die Dramatik der Klimakrise bewusst gemacht. Ich begegnete jemandem, die es für unbegreiflich hielt, dass Menschen Kinder in die Welt setzen – angesichts bevorstehender Klimakatastrophen. Ich hielt das für eine dramatisierende Pose; sie hatte auf gewisse Weise die menschliche Existenz in Frage gestellt. Nachdem ich mich intensiver mit den Auswirkungen der Klimakrise befasste, frage ich mich selbst, ob es rational vertretbar ist, sich in einer Welt fortzupflanzen, die auf dystopische Verteilungskämpfe um grundlegende Ressourcen zurast. Jeden „Kipppunkt“ hin zum Klimakollaps sehenden Auges zu überschreiten, fühlt sich entsprechend an wie ein gesellschaftlicher Todeskult.

Mit ‚Nein‘ stimme ich am 26.3.2023 beim Klima-Volksentscheid in Berlin also gewiss nicht, weil mir das Ziel oder die in Rede stehenden Maßnahmen zu „radikal“ wären. Ich stimme mit Nein, weil der Volksentscheid praktisch und symbolisch falsche Antworten und Signale zur Bekämpfung der Klimakrise aussendet. Es wird gesagt, dass die Abstimmung die Frage beträfe, Berlin 2030 klimaneutral zu „machen“. Nichts und niemand spricht gegen dieses Ziel. Überspitzt bleibt eher die Frage offen, warum am Sonntag nicht gleich über die Klimaneutralität ab Montag abgestimmt wird. Mir geht es ebenso wenig darum, ehrgeizige Ambitionen für falsch zu halten. Der Volksentscheid bewirkt aber das Entdemokratisieren und Banalisieren der eingangs beschriebenen menschlichen Existenzfrage, der des Klimas.

Im Gesetzesvorschlag selbst findet sich keine Vorstellung davon, wie das Ziel zu erreichen ist. Kein Wort dazu, welche Rolle der wohl relevanteste Bereich, der Verkehr, spielen soll. Anscheinend erachten es die In­itia­to­r*in­nen für hinreichend, ein Gesetz, das Berlin zum „Anstreben“ der Klimaneutralität für das Jahr 2045 anhält (Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz – EWG Bln), zu ändern, damit die Klimaneutralität um 15 Jahre vorgezogen und „verpflichtend“ wird. Stellen wir die im Volksentscheid benannten Maßnahmen und Änderungen den Zielen gegenüber, passt zur Illustration ein Vergleich: Am Sonntag könnte genauso die Frage zur Abstimmung stehen, alle Ber­li­ne­r*in­nen über ihre 15-jährige Verjüngung entscheiden zu lassen, die als erreicht gilt, wenn das Geburtsjahr in der Geburtsurkunde entsprechend gefälscht wird.

Dabei wird nicht der Gesetzgeber, also das Parlament, sondern der Senat, die Regierung, gesetzlich verpflichtet, Maßnahmen und Konzepte vorzulegen, wie Berlin innerhalb von 7 Jahren klimaneutral werden soll. Das ist eine gravierende und undemokratische Machtverschiebung, weil der Senat für sämtliche seiner Konzeptionen eine Carte blanche verliehen bekäme, im Rahmen des ihm per Volksentscheid auferlegten Klimaschutzes zu handeln. Kai Wegner von der CDU soll künftig im Roten Rathaus einen Masterplan vorlegen, wie die – nach allen seriösen Studien – unerreichbare Zielmarke der Klimaneutralität von Berlin bis 2030 erreicht werden soll.

Ihm soll dabei ein von der Umweltverwaltung berufener sogenannter Klimarat helfen. Ich denke nicht, dass Kai Wegner etwa den motorisierten Verkehr ins Auge fassen und damit sämtliche staatliche Sozialausgaben in Frage stellen wird, um Mittel, etwa für Sanierungsmaßnahmen freizumachen. Irgendwann, wenn absehbar wird, dass die Ziele nicht erreichbar sind (etwa, wenn schon 2025 die Reduzierung des CO2-Aussoßes um 70% nicht erreicht ist), soll der Senat ein „Sofortprogramm“ mit „verschärften Maßnahmen“ auflegen, um die um 15 Jahre vorgezogenen „Pflichten“ zu erfüllen.

Auch ganz ohne Gesetzgeber (durch seinen Einfluss als Gesellschafter) könnte oder müsste der Senat nun seinen Blick auf den öffentlichen Gebäudesektor ausweiten, da er auf die Privaten keinen Zugriff hat. Die Abschaffung sämtlicher den Landeseigenen Wohnungsgesellschaften mühsam auferlegten sozialen Verpflichtungen, wie zuletzt der Mietenstopp, können mit dem Volksentscheid legitimiert werden, damit dort Mittel für Einsparmaßnahmen frei werden. Das würde ermöglicht durch die vom Volksentscheid vorgesehene Entfernung des Gesetzespassus, wonach Maßnahmen keinen Einfluss auf Mieten haben dürfen. Ob der ihn ersetzende Passus, wonach mieterhöhende Maßnahmen durch staatliche Bezuschussung ausgeglichen werden sollen, haltbar und als Anspruch für Mie­te­r*in­nen heranziehbar wäre, sei dahingestellt. Denn einzelne Maßnahmen werden nicht so konkret auf ihre jeweilige Auswirkung zurückführbar sein können.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben        —   Photo credit: Coralie Giese, CDC <a href=“https://www.cdc.gov/globalhealth/countries/haiti/“ rel=“nofollow“>CDC works in Haiti</a> <a href=“https://emergency.cdc.gov/disasters/hurricane-matthew/index.asp“ rel=“nofollow“>2016 Hurricane Matthew – CDC International Response</a>

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Besser gewappnet sein

Erstellt von Redaktion am 20. März 2023

Europa muss es besser machen als China:

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Kohlemine in der Inneren Mongolei; 2005

Ein Debattenbeitrag von :    ELEONORA EVI, SANDRA DETZER, JORIS THIJSSEN, MARIE-PIERRE VEDRENNE

Echte Partner-schaften bilden und Industrien vor Ort aufbauen. Die EU-Kommission stellt ein neues Gesetz über kritische Rohstoffe vor. Ziel ist es, Krisen vorzubeugen sowie unabhängiger und nachhaltiger zu wirtschaften.

Wir alle in der Europäischen Union haben eine Vorstellung von Öl- und Gaskrisen. Die Älteren erinnern sich an die Ölkrise 1973, als arabische Länder ihre Öllieferungen einstellten. Die Jüngeren erleben gerade, wie Russland im Zuge des Angriffskrieges gegen die Ukraine Gas als Waffe einsetzt. Aber wer von uns hat je an eine Nickel-, Lithium- oder Kobalt-Krise als möglichen historischen Einschnitt gedacht? Was wäre, wenn uns China oder einige afrikanische Länder diese Metalle nicht länger lieferten? Spannen wir dann wieder Rettungsschirme und fragen uns, wie wir so naiv in sichtbare Abhängigkeiten geraten konnten?

Damit solche Krisen erst gar nicht entstehen, muss Europa für die Zukunft besser gewappnet sein. Darum ist es richtig, dass die EU-Kommission in Person von Binnenmarktkommissar Thierry Breton jetzt sein neues Vorhaben vorstellte: ein europäisches Gesetz über kritische Rohstoffe. Es soll uns helfen, über ausreichend kritische Rohstoffe wie Nickel, Lithium, Kobalt oder seltene Erden zu verfügen, damit nie ein europäisches Windrad oder eine europäische Solaranlage aus Rohstoffmangel keinen Strom liefert.

Noch kennen wir es nicht anders. Mangel an diesen kritischen Metallen, die wir meist in weiterverarbeiteter Form aus China beziehen, gab es bisher nicht. Das ist allerdings auch der Grund, warum wir in Europa nicht auf eine Rohstoffkrise vorbereitet sind.

Das neue europäische Gesetz markiert deshalb einen echten Neustart. Zum ersten Mal gibt sich Europa eine gemeinsame Strategie für kritische Rohstoffe. Es geht hier um elementarste Vorkehrungen für die eigene Sicherheit und den Klimaschutz.

Gerade für den Ausbau von Sonnen- und Windenergie als vorherrschende Energieträger ebenso wie für die Elektromobilität brauchen wir große Mengen kritischer Rohstoffe. Um sie über Jahre zuverlässig zu beschaffen, gibt uns der Raw Materials Act die nötigen Regeln. Das neue Gesetz schafft ein gemeinsames Verständnis für die Bedeutung kritischer Rohstoffen für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften. Es führt zu einem gemeinsamen Handeln der europäischen Akteure für sichere und diversifizierte Lieferketten. Es soll uns auf hohe ökologische und soziale Standards bei Bergbau und Weiterverarbeitung verpflichten.

Um damit erfolgreich zu sein, muss das Gesetz echte Partnerschaften zwischen den Ländern des Globalen Südens und der EU ermöglichen. Mit Investitionen in die Infrastruktur und die weiterverarbeitende Industrie vor Ort können wir echte Win-win-Situationen schaffen. Dabei sollte das Gesetz auch im Ausland hohe Umweltstandards und menschenwürdige Arbeitsplätze sicherstellen.

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Wer lernt Heute noch das lügen – wird auch Morgen noch betrügen. Die Luft in der EU wird besser, da der Dreck in China anwächst?

Europa muss seine strategische und industrielle Unabhängigkeit stärken. Es muss in der Lage sein, Wertschöpfungsketten für den Abbau und die Nutzung von Ressourcen innerhalb Europas zu schaffen. Das erfordert eine Reform der nationalen Gesetze, um kluge Bergbau-Regeln für die Einhaltung unserer Umweltambitionen umzusetzen und gleichzeitig bei der Rohstoffsouveränität voranzukommen. Mehr Unabhängigkeit müssen wir auch durch die Wiederverwendung von Rohstoffen gewinnen, die bereits im Umlauf sind. Das Gesetz setzt hier die richtigen Ziele: 10 Prozent der benötigten kritischen Rohstoffe sollen bis 2030 innerhalb der EU gefördert werden, 15 Prozent recycelt und 40 Prozent in der EU veredelt werden. Um diese Ziele zu erreichen, muss unser gesamter europäischer Industrieapparat in die Umgestaltungen einbezogen werden. Nur dann können wir Rohstoffe direkt in Europa nachhaltig nutzen, verarbeiten und wiederverwenden.

In der Vergangenheit verfügte bei der Rohstoffbeschaffung jedes europäische Land über seine eigenen Methoden. In Paris und Rom ließ man alte Verbindungen spielen, in Berlin vertraute man der Kraft der eigenen Großunternehmen. Das alles wird nun nicht mehr reichen.

Vor Ort in Ländern wie Simbabwe und dem Kongo haben chinesische Staatsunternehmen bereits umfangreich investiert und wollen es auch in Zukunft tun. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, denn auch China investiert damit in Energiewende und Klimaschutz. Doch wir Europäer müssen hier nicht nur mit China gleichziehen, sondern es besser machen: Nämlich indem wir die weiterverarbeitende Industrie, die sich heute oft in China befindet, vor Ort aufbauen. Nicht umsonst hat Simbabwe gerade den Export von unverarbeiteten Lithium verboten. Das Land wartet auf die Investoren vor Ort.

Quelle         :        TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Kohlemine in der Inneren Mongolei; 2005

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Die Politik der Ampel

Erstellt von Redaktion am 18. März 2023

Wie eine Wärmewende in den Städten umgesetzt werden kann

Hausbegrünung in Singapore

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von    :     Klaus Meier

Rund 20 Prozent aller deutschen Treibhausgas-Emissionen entstehen durch den Wärmeverbrauch der Gebäude. Das ist ungefähr so viel wie der Verkehrssektor ausstößt. Trotzdem haben sich ökologische und linke Strömungen bisher nur wenig mit dieser Frage auseinandergesetzt. Aber die explodierenden Gaspreise haben das Interesse an dieser wichtigen Frage des Klimaschutzes schlagartig erhöht. Die dabei auftretenden Fragen lauten: Wie können wir die Gebäude ökologisch heizen? Wie schnell kann der Umbau gehen und wie hoch sind die Kosten? Was ist von Habecks Wärmepumpenoffensive zu halten?

Dem grünen Wirtschaftsminister Habeck ist sicherlich zu glauben, das er klimapolitisch umsteuern will. Doch die ständigen Kompromisse, die er dabei eingeht, haben nicht nur zu überdimensionierten LNG-Terminals und extrem langfristigen Flüssiggas-Lieferverträgen geführt. Die grün getünchte Wärmewende hat vor allem eine Schlagseite: Sie orientiert vornehmlich auf Besserverdienende, die in Einfamilienhäusern wohnen. Sie können sich Wärmepumpen und Haussanierungen leisten und erhalten obendrein noch einen Großteil der staatlichen Fördermittel. Der ärmere Teil der Bevölkerung, der sich das nicht leisten kann, muss de facto weiter auf fossile Gas- und Ölheizungen setzen und lebt zudem noch in den schlechter gedämmten Wohnungen mit höheren Heizkosten. Habecks Politik beinhaltet aber nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern mit dieser Ausrichtung gerät die Wärmewende auch in eine politische Sackgasse. Das gilt besonders für die verdichteten urbanen Räume, wo die Masse der Bevölkerung wohnt. Wo liegt hier das Problem? Tatsächlich kann unter den beengten Platzverhältnissen in den Städten nur dann ausreichend Heizenergie bereitgestellt werden, wenn man industrielle Abwärme, saisonale Wärmespeicher oder Tiefengeothermie nutzt. Das ist aber nur im großen Maßstab möglich. Wärmepumpen in privaten Kellern können das nicht leisten. Ein wesentlicher Ansatzpunkt in den Städten ist aber das Fernwärmesystem. Eine ausreichende finanzielle Förderung vorausgesetzt, könnte das Netz tatsächlich sehr schnell ausgebaut werden. Denn es gibt in zahlreichen Städten bereits Leitungen, die als Brückenköpfe dienen könnten. Nach Ansicht des Energieeffizienzverbandes AGFW ließe sich der Fernwärmeanteil in Deutschland bis 2030 auf 30 Prozent verdreifachen. In den großen Städten mit über 100.000 EinwohnerInnen könnte damit rund die Hälfte des Wärmeverbrauchs gedeckt werden. In den mittelgroßen Städten mit mehr als 20.000 EinwohnerInnen wären es dann 20 Prozent und in den Kleinstädten immerhin 10 Prozent. Das wäre ein Anfang.

Nachteilig ist allerdings, dass die bestehenden Wärmenetze vornehmlich mit fossilem Erdgas und sogar Kohle betrieben wurden. Doch die zentralisierte Wärmeversorgung bietet für eine Dekarbonisierung einen großen Vorteil: Statt die Heizungen in zehntausenden Kellern umzustellen, müssen nur die Heizzentralen mit erneuerbaren Energien versorgt werden. Ein Beispiel ist unser nördliches Nachbarland Dänemark: Die meisten Wohnungen wurden hier bereits in der Vergangenheit an Fernwärmenetze angeschlossen. So konnte eine Wärmewende in Dänemark sehr schneller umgesetzt werden. Bereits 50 Prozent der Fernwärmenetze wurden bis jetzt dekarbonisiert. Und die Wärmeversorgung von Kopenhagen soll sogar schon 2025 CO2-neutral sein. Das ist ein Vorbild, an dem wir uns auch in Deutschland orientieren können.

Gärten in der Bucht von Singapore

Klaus Meier

Einladung zur Veranstaltung:

Ökologisch Einheizen

Keine neuen Öl- und Gasheizkessel mehr ab 2024? Neuer Ampelstreit.

Ökologische Wärmewende in den Städten: Wie kann das gehen?

Referent: Klaus Meier,

Ingenieur, Hochschuldozent, 7. März 2023, 19:00 Uhr

Bisher wird in Deutschland vor allem mit Öl und Gas geheizt. Die CO2-Emissionen liegen dafür bei rund 20 %. Ein Entwurf im Wirtschaftsministerium will ab nächstem Jahr den Einbau von fossilen Heizungen verbieten. Die FDP schießen bereits massiv dagegen.

Ohne ein schnelles Umsteuern bei der Gebäudewärme können die Klimaziele aber nicht erreicht werden. Doch auch Habecks Politik hat Schlagseite: Seine Wärmepumpenförderung orientiert einseitig auf Einfamilienhäuser und vergisst die Menschen in den städtischen Regionen.

Zum Inhalt: Unser Referent diskutiert, wie eine ökologische Wärmewende in den urbanen Räumen umgesetzt werden kann: Warum sind Wärmenetze ein zentrales Element? Wofür brauchen wir dann Wärmepumpen? Was ist mit Solarthermie, Tiefengeothermie und Wohnungssanierungen? Wie hoch sind die Umbaukosten? Wie schnell lässt sich eine Wärmewende umsetzen?

Zoom-Einwahldaten:

Meeting-ID: 760 632 6079 Kenncode: 230696

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von Redaktion am 18. März 2023

Beten und den Friseur fragen: – Auf Wohnungssuche

Vogelbeobachtung (8618362879).jpg

Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Sechs Monate, 147 Anfragen für Wohnungsbesichtigungen, vier Besichtigungstermine. Mietverträge: Null. Das ist unsere Erfolgsbilanz bei der Suche nach einer größeren Wohnung in Berlin. Im Moment haben wir 45 Quadratmeter und 2 Zimmer.

Freunde sagen, man brauche mehr Geduld. Man soll ein paar Jahre lang suchen, Tausende von Nachrichten schreiben und im unerwartetsten Moment wird es eine Wohnung geben, sagen sie. Man nimmt sie, denn sie ist zwar zu teuer, zu weit weg, in einem zu hässlichen Haus, aber drei beengte Zimmer statt zwei sind eine räumliche Revolution.

Anstelle von „beten und arbeiten“ müssen wir in Berlin also beten und E-Mails schreiben, Freunde fragen, die Verwaltung anrufen. Man sagt, Menschen täten auch andere Dinge. Zum Beispiel sechs Monatsmieten im Voraus zahlen. Oder bestechen.

Als wir Kinder waren, gab es im kommunistischen Polen einen Kultfilm. Er hieß „Miś“ (Bärchen). Darin gibt es eine Szene über einen Schwarzmarkt, auf dem Fleisch verkauft wird, das man nicht in einem normalen Geschäft bekommen konnte. Die Verkäuferin wirft einen hartnäckigen Kunden hinaus, indem sie ihn anschreit: „Was denken Sie denn, hier ist ein Zeitungskiosk, ich habe Fleisch hier!“.

In Rom Vor der Generalaudienz 2. Mai 2007

Vielleicht hilft hier der Himmelkomiker?

Unsere Generation wollte diesem System entfliehen. Nun haben wir das Gefühl, in Berlin hat es uns wieder. Es ist unmöglich, auf dem freien Markt eine Wohnung zu finden, es sei denn, man kann 3.000 Euro im Monat zahlen. Helfen soll angeblich ein Gespräch mit dem örtlichen Friseur. Auch an der Tür eines Gemüseladens in meiner Straße wurde kürzlich eine Wohnung inseriert. Freunde raten weiter: Eine Person mit einem deutsch klingenden Namen wird eher eine positive Antwort kriegen. Kein Kowalski oder Abdul – solche Namen haben keine Chance. Am besten ist es, Arzt oder Anwältin zu sein. Ist ein Philosoph etwa nicht in der Lage, die Miete pünktlich zu bezahlen?

In unserer Heimatstadt Warschau begann dieser Wahnsinn vor über einem Jahrzehnt. Die Preise stiegen von Tag zu Tag, und die schlechteste Wohnung mit Blick auf die Mülldeponie fand innerhalb von 15 Minuten einen Käufer. Heute kann man in Warschau keine Zweizimmerwohnung für weniger als 1.000 Euro mieten. Der Wohnungsmarkt wird eines der wichtigsten Themen des bevorstehenden Wahlkampfes sein.

In Warschau begann der Mieten-Wahnsinn schon vor einem Jahrzehnt

Quelles           :          TAZ-online           >>>>>         online

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Hass von oben

Erstellt von Redaktion am 17. März 2023

Gewalt gegen Schwarze aus Subsahara-Afrika

Wer Hass sät wird seine eigene Hinterlassenschaften ernten ! 

Ein Debattenbeutrag von Sadem Jebali

Der tunesische Präsident Kais Saied befeuert mit seiner Rhetorik Proteste und Hetze gegen Migration aus Subsahara-Afrika. Es kam auch zu Angriffen.

Eine Woche, nachdem ich in Tunis demonstriert hatte und nur Stunden nach meiner Ankunft in Berlin traf ich mich mit einer Gruppe Tunesier und Vertreter afrikanischer Einwandererorganisationen, die vor der tunesischen Botschaft in Charlottenburg protestierten. Die Polizeibeamten vor der Tür schienen sich zu wundern über die Slogans, die gerufen wurden: „Solidarität mit Migranten und papierlosen Migranten!“, „Die Diktatur von Kais Saied muss enden!“. Die tunesischen Diplomaten beobachteten das Spektakel von den Fenstern der Botschaft aus.

Die Wut der Demonstranten wurde von den Ereignissen des 21. Februar angestachelt. An diesem Tag verkündete der tunesische Präsident Kais Saied, dass der tunesische Sicherheitsrat über dringende Sicherheitsmaßnahmen gegen die große Zahl irregulärer Einwanderer aus Subsahara-Afrika berate. Nach Angaben der Organisation FTDES (Forum Tunisien des Droits économiques et sociaux) leben mehr als 20.000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara in Tunesien, was weniger als 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Während des libyschen Bürgerkriegs 2011 fand eine Million Flüchtlinge in Tunesien Zuflucht und blieb länger im Land – es war also keineswegs die erste Situation dieser Art.

In seiner Rede betonte der Präsident, es handele sich um eine Ausnahmesituation; schon länger sei ein Plan im Gange, Tunesiens demografische Zusammensetzung zu ändern. Nach der Revolution von 2011 sei viel Geld geflossen für die Ansiedlung illegal Eingereister aus Subsahara-Afrika – eine Anspielung auf den Druck aus Italien und der EU, die Migrationsströme einzudämmen. Saied betonte die Notwendigkeit, die Migrationswelle schnell zu beenden, da die Abertausenden Migranten aus dem südlichen Afrika Gewalt, Kriminalität und inakzeptable Praktiken ins Land brächten.

Nur Stunden nach der Rede trendeten migrantenfeindliche Sprüche in den sozialen Medien – frisch legitimiert vom politischen Diskurs. Einen Tag später nahmen Sicherheitskräfte willkürlich Schwarze Menschen auf den Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln fest. Videos machten die Runde, in denen Bürger Migranten angriffen und Familien aus ihren Wohnungen geräumt wurden. In den Regionen Tunis und Sfax wurden tätliche Angriffe gemeldet. In weniger als 48 Stunden waren die Schwarzen Communities gelähmt vor Angst. Man konnte stundenlang durch Tunis laufen, ohne auch nur eine Schwarze Person zu sehen. Auch Schwarze Tunesier wurden zum Ziel von Angriffen und in den sozialen Medien begannen Verleumdungskampagnen gegen tunesische Black-Rights-Aktivistinnen wie die Feministin Saadia Mesbah. In Guinea, Mali und der Elfenbeinküste wurden eilig Rückholflüge angesetzt für Menschen, die in den Botschaften in Tunis warteten.

Im Land begann eine lebhafte Debatte über Migration, in der sich die einfache Lesart durchsetzte, das Problem seien die durchreisenden Illegalen aus dem Süden, die in Tunesien lediglich ein Transitland sähen. Dass die vielen Flüchtenden etwas mit gescheiterten Wirtschaftsreformen, Inflation, Mangel an Grundnahrungsmitteln und Staatspleiten zu tun hatten, verschwand schnell aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Thema Migration und ob der Präsident denn nun recht oder unrecht habe mit seiner Haltung. Mich erinnerte das an rechtsextreme Bewegungen anderswo, etwa an die AfD in Deutschland. Was in Tunesien geschah, ist wie ein Lehrbeispiel für Massenmanipulation – dafür, wie man als nicht besonders weise politische Führungsfigur die öffentliche Meinung von sich weglenken kann.

Am 6. März gab das Saied-Kabinett eine erneute Stellungnahme ab, die folgendermaßen begann: „Tunesien ist überrascht über die Kampagne gegen angeblichen Rassismus in Tunesien. Tunesien weist die Anschuldigungen gegen den tunesischen Staat zurück. Wir sind ein Gründungsmitglied der Organization of African Unity (OAU), der späteren Afrikanischen Union, und haben stets nationale Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt unterstützt, vor allem in Afrika.“

Quelle      :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     President of Tunisia, H.E. Kais Saied and I met while I was in Tunisia and had productive discussions regarding the partnership between @USAID and the Government of Tunisia. We are committed to helping implement their ambitious democratic and economic reform agenda.

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Aus eins mach zwei:

Erstellt von Redaktion am 17. März 2023

Neuer Anlauf für Whistleblowing-Schutz

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der Schutz für Hinweisgeber:innen war an der Union im Bundesrat gescheitert. Nun versucht es die Ampelkoalition erneut und will der Union dabei den Teppich unter den Füßen wegziehen.

Diesmal soll es endlich klappen: Die Ampelkoalition unternimmt einen erneuten Anlauf, um Whistleblower:innen gesetzlich besser zu schützen. Erreichen will sie das mit einem waghalsigen Manöver, das die Union im Bundesrat ausbooten soll.

Eigentlich hatte der Bundestag bereits letztes Jahr ein Hinweisgeberschutzgesetz beschlossen. Doch weil das geplante Gesetz teils auch die Länder betroffen hat, war die Zustimmung des Bundesrats notwendig. Dort stellten sich die unionsgeführten Länder quer und blockierten das Gesetz. Es schieße weit über das Ziel hinaus und belaste vor allem kleine und mittlere Betriebe, begründete etwa der bayerische Justizminister Georg Eisenreich seine Ablehnung.

Mit den selben Argumenten hatte die Union noch zu Zeiten der Großen Koalition die längst überfälligen Regelungen verhindert. Bereits Ende 2019 trat die EU-Whistleblowing-Richtlinie in Kraft, umgesetzt ist sie hierzulande aber weiterhin nicht – trotz eines inzwischen laufenden Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission samt einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Aus eins mach zwei

Die Pattsituation soll nun ein neuer Ansatz auflösen. Hierfür hat die Regierung das Vorhaben in zwei Gesetze aufgeteilt, die heute in den Bundestag eingebracht werden: Das erste davon bleibt im Vergleich zum im Februar gescheiterten Entwurf praktisch unverändert. Es klammert aber alles aus, wofür die Zustimmung des Bundesrats erforderlich ist: etwa den Anwendungsbereich auf Landesbedienstete oder auf Körperschaften, die der Aufsicht eines Landes unterstehen.

Somit sollte sich der Löwenanteil des Gesetzes mit einer simplen Stimmenmehrheit im Bundestag beschließen lassen, hofft die Regierung. Es handle sich um ein Einspruchsgesetz, das könne die Union nicht verhindern, sagt eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums (BMJ).

Das zweite Gesetz ist nur ganz kurz gehalten und dient allein dazu, die obigen Ausnahmen gleich wieder aufzuheben. Zwar könnte es der Bundesrat – voraussichtlich Ende März – erneut durchfallen lassen, aber immerhin bliebe der Schaden verhältnismäßig begrenzt.

Davide Dormino - Anything to say.jpg

Vor allem aber würden die bisherigen Argumente der Union nicht mehr greifen, sagt der SPD-Abgeordnete Sebastian Fiedler: „Die wesentliche Kritik der Union hat sich ja nur auf Fragen der Wirtschaft bezogen“. Etwaige Kosten für die Wirtschaft oder ob es sinnvoll ist, auch anonyme Meldungen zuzulassen, sei in diesem Gesetzentwurf kein Thema. „Die Union müsste sich neue Argumente einfallen lassen, um das wieder abzulehnen“, sagt Fiedler.

Union hält sich bedeckt

Ob es dazu kommt, bleibt vorerst offen. Aus dem bayerischen Justizministerium heißt es auf Anfrage, dass „zum Abstimmungsverhalten Bayerns im Plenum des Bundesrates vor der Bundesratssitzung grundsätzlich keine Auskunft gegeben werden kann“. Auch Hessen, das zuletzt seine Zustimmung verweigert hat, hält sich bedeckt. Da Justizminister Roman Poseck „selbst im Bundestag dazu sprechen wird, möchte ich seiner Rede nicht vorweggreifen und verweise zunächst auf die morgige Debatte“, beschied gestern eine Sprecherin des Ministeriums.

Druck auf die Union könnte auch von anderer Seite kommen. Denn sollte die Länderkammer das abgespeckte Gesetz abermals zurückweisen, dann würde das schlicht darauf hinauslaufen, dass „die Länder ihre Mitarbeiter schlechter stellen“ als den Rest der Bevölkerung, der unter bestimmten Umständen Rechtsverstöße geschützt melden kann, sagt Kosmas Zittel vom Whistleblower-Netzwerk. „Es wäre geradezu absurd, wenn die Blockadehaltung der Unionsparteien im Bundesrat für ein Zwei-Klassen-Recht im öffentlichen Dienst sorgen würde“, heißt es in einem Blogbeitrag der Nichtregierungsorganisation.

Vertreter:innen der Ampel zeigen sich derweil zuversichtlich. „Es gibt für den Bundesrat keine inhaltlichen Kritikpunkte in diesem Gesetz, sodass es nur aufgrund sachfremder Erwägungen aufgehalten werden könnte“, teilt der Grünen-Abgeordnete Till Steffen mit. Ein solches Vorgehen habe es noch nie gegeben. „Es liegt an der Union, das Gesetz nicht weiter zu blockieren“, so Steffen. Sollte wider Erwarten das Ergänzungsgesetz ohne tatsächliche Begründung abgelehnt werden, „werden wir das weitere Vorgehen erneut diskutieren müssen“.

Denn vom Tisch wäre das Thema dann nicht: Eine Ausklammerung von Landesbeamt:innen vom Anwendungsbereich würde bedeuten, dass Deutschland die EU-Richtlinie weiterhin nicht vollständig umgesetzt hat. Das von der EU-Kommission angestrengte Verfahren würde also weiterlaufen, im Falle einer Verurteilung würde eine saftige Geldstrafe auf Deutschland zukommen. Das findet der SPD-Abgeordnete Fiedler nicht fair. Rechtlich habe er es selbst noch nicht geprüft, aber „wenn sie trotzdem dagegen stimmen, dann könnte man die Strafzahlungen theoretisch an die Länder weiterreichen“, sagt Fiedler.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —     Günter Wallraff bei einer Lesung während seiner Anti-Bild-Kampagne 1981

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DIE ERDE BEBT

Erstellt von Redaktion am 15. März 2023

– UND WAS MACHT ERDOĞAN?

von Ariane Bonzon

Während sich der türkische Präsident mit der Nothilfe sichtlich schwertat, war die Opposition sofort zur Stelle. Sie organisierte schnelle Unterstützung, wo staatliche Stellen versagten, und kritisierte sehr vernehmlich die Baupolitik. Trotzdem könnte der Langzeitherrscher auch diese Katastrophe überstehen.

Am 6. Februar 2022 erschütterten zwei gewaltige Erdbeben die Türkei und Syrien. In zehn türkischen Provinzen und in den vor allem von Kurden besiedelten Regionen in Nordsyrien gab es mehr als 50 000 Tote (Stand 6. März), von denen viele nicht mehr identifiziert werden konnten. Fast 2 Mil­lio­nen Menschen verloren ihr Zuhause, viele blieben mehrere Tage ohne Hilfe. Ganze Stadtviertel sind zerstört, die Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur ist in weiten Gebieten schwer beschädigt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von der „Katastrophe des Jahrhunderts“.

Nach dieser Katastrophe stellt sich allerdings auch die Frage nach der politischen Verantwortung Erdoğans und nach dem diplomatischen Einfluss, den sein Land künftig genießen wird. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai haben diese Fragen besonderes Gewicht.

Erdoğan hat allen Grund, eine Niederlage zu fürchten. Denn dann müsste er sich, nach 20 Jahren an der Macht, mitsamt seiner Entourage für zahllose in den letzten zehn Jahren begangene Verletzungen des Rechtsstaats verantworten und mit Anklagen wegen Betrug und Korruption rechnen. „Er­do­ğan weiß, dass er wegen Verrat und Unterschlagung vor dem obersten Gerichtshof landen wird, wenn er verliert“, erklärt Bayram Balci, Politikwissenschaftler am Centre de recherches internationales (Ceri).

Auch wenn der Präsident vor dem 6. Februar in Umfragen hinter den potentiellen Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP, Mitte-­links, laizistisch) zurücklag, stand es für ihn gar nicht so schlecht – obwohl klar war, dass Erdoğans großspurige Ankündigungen – 2023 sollte die Türkei zu den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt aufsteigen, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 000 US-Dollar pro Einwohner – nicht eintreffen werden.

Alles offen vor den Wahlen

Anfang Oktober 2022 erreichte die Inflation mit über 83 Prozent ihren Höchststand, bei Lebensmitteln stiegen die Preise sogar um 93 Prozent. Im letzten Jahrzehnt ist das BIP um 1903 US-Dollar auf 9327 US-Dollar gesunken, und auf der Weltrangliste der 50 größten Volkswirtschaften stand das Land 2021 auf Platz 19.

Aber der Präsident hatte noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Im September 2022 versprach er, 500 000 Sozialwohnungen zu bauen; vier Monate später kündigte er die Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent an. Damit legte er in den Umfragen ein paar Prozentpunkte zu. Eine weitere populäre Maßnahme war die Abschaffung des Mindestalters für den Renteneintritt. Bisher wurde fast 2 Millionen türkischen Beschäftigten eine Rente auch dann verwehrt, wenn sie die nötigen Beitragsjahre vorweisen konnten.

Erdoğans offensive Außenpolitik im Kaukasus und in Afrika oder die Bombardierung der autonomen Kurdengebiete in Nordsyrien wird auch nur im Westen kritisch gesehen. In der Türkei stößt diese Politik eher auf Zustimmung; auch die Oppositionsparteien sind mit Ausnahme der Demokratischen Partei der Völker (HDP, links, für kurdische Autonomie) dafür.

Konsens besteht auch hinsichtlich der Entscheidung, die Millionen syrischen Flüchtlinge abzuschieben, die einst als „Gäste“ kamen und nun unerwünscht sind.1 Und dass die Türkei erkennbar davon profitiert, dass sie die Sanktionen gegen Russland nicht mitmacht, stellt viele Wählerinnen und Wähler ebenfalls zufrieden. Vor dem 6. Februar war der Wahlausgang zwar keineswegs sicher, aber Erdoğan hatte durchaus eine Chance – zumal im Hohen Wahlausschuss (YSK) vor allem regimefreundliche Richter sitzen und das Fernsehen „fast ausnahmslos unter Kontrolle der Regierung steht“2 .

Und nun? Das zerstörerische Erdbeben hat auch die türkische Gesellschaft erschüttert. 14 Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen. Tagelang saß das ganze Land vor dem Fernseher, in dem rund um die Uhr und live über die Such- und Rettungsarbeiten berichtet und zu Spenden und Hilfen aufgerufen wurde. Zwei Tage nach der

Katastrophe sprach der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu in einer nüchternen und sehr ernsten Videoansprache den Opfern seine Anteilnahme aus, prangerte zugleich aber die Inkompetenz der Behörden an und auch die Desinformationskampagnen der Regierung. Am Ende erklärte Kılıçdaroğlu, es gebe einen großen Verantwortlichen für die Katastrophe, und das sei Er­do­ğan: „Zwanzig Jahre lang hat seine Regierung das Land nicht auf ein Erdbeben vorbereitet.“

Dieser Frontalangriff bedeutete eine radikale Wende. Damit brach der CHP-Vorsitzende die ungeschriebene Regel, an die sich seine Partei in der Vergangenheit im Namen der nationalen Einheit bei jedem Attentat und jeder militärischen Auslands­ope­ra­tion gehalten hatte, aber auch bei dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 oder bei der Verfolgung und Verhaftung kurdischer HDP-Abgeordneter in den vergangenen Jahren.

Die Opposition hat sehr rasch auf die Katastrophe reagiert, stellt der Sozialgeograf und Turkologe Jean-François Pérouse fest, der seit 1999 in Istanbul lebt. Sie eröffnete umgehend die Diskussion über den Umgang mit der Krise und das hyperzentralisierte Machtsystem, über die Günstlingswirtschaft und das Schneckentempo der Armee beim Einsatz in den Katastrophengebieten. Der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu fuhr sofort ins Katastrophengebiet. In der schwer betroffenen Region Hatay habe die CHP mit beispielhafter Effizienz geholfen, berichtet Pérouse, und „quasi anstelle des Staats die Infrastruktur wiederhergestellt“.

Auch Selahattin Demirtaş, der frühere Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP3 , der sich seit November 2016 in Edirne in Untersuchungshaft befindet, hat aus dem Gefängnis heraus den Staatspräsidenten für die nationale Katastrophe verantwortlich gemacht. Und darüber hinaus eine Wahlempfehlung für den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu ausgesprochen. Sollte die kurdische Basis der HDP auf ihren Vorsitzenden hören, könnte das Erdoğans Wahlniederlage besiegeln.

Für den Präsidenten geht es jetzt vor allem darum, von seiner politischen Verantwortung abzulenken und sich als „Retter“ und „Organisationsgenie“ zu inszenieren. Nur wenn ihm das gelingt, kann er noch auf einen Wahlsieg hoffen. Das ist auch das Leitthema von Erdoğans PR-Feldzug, für den er alle staatlichen Ressourcen mobilisiert.

Bei seinem ersten Besuch im Erdbebengebiet sprach er zuerst von der Hand des Schicksals, gegen das der Mensch machtlos sei, und gab lediglich „Lücken“ zu, da man „unmöglich auf so eine Katastrophe vorbereitet sein“ könne. Erst nach drei Wochen, am 27. Februar, hat sich Erdoğan in Adiyaman wegen der verspäteten Rettungseinsätze entschuldigt: „Wegen der verheerenden Auswirkungen der Beben und des schlechten Wetters konnten wir in Adiyaman in den ersten Tagen nicht so arbeiten, wie wir wollten. Dafür bitte ich um Entschuldigung.“

Quelle     :     LE MONDE diplomatie-online

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Oben     —        Aid collected in Eyüpsultan, Istanbul for the 2023 Gaziantep-Kahramanmaraş earthquakes

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Disziplin und Süßes

Erstellt von Redaktion am 12. März 2023

Eine polnische Mutter in Berlin

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Von Karolina Wigura

Als polnische Mutter in Berlin habe ich viel über die Deutschen gelernt. Vor allem über Gemeinsamkeiten jenseits der Grenzen und Mentalitäten.

Die „polnische Mutter“ ist ein Begriff, der die traditionelle Rolle der Frau in Polen als Beschützerin ihrer Kinder beschreibt: fürsorglich, geduldig und mit ganzem Herzen bei der Sache. Der Begriff wird sogar über die Grenzen hinweg verwendet. Meine israelischen Freundinnen sagen: „Sei nicht so eine polnische Mutter“, und meinen damit: „Sei keine Helikoptermutter.“

Ich selbst bin weit davon entfernt, eine überbehütende Mutter zu sein. Ich habe mein Berufsleben nie für meine Kinder geopfert, was nicht heißt, dass ich mich nicht um sie kümmere. Es ist jetzt 12 Jahre her, dass ich meine beiden Söhne zur Welt gebracht habe. Es war sowohl eine Zeit, in der ich mich sehr intensiv um die Kinder gekümmert habe, als auch die meiner größten beruflichen Erfolge. Ob es eine „Work-Life-Balance“ gibt, bezweifle ich – aber das hält mich nicht davon ab, eine Art Gleichgewicht zu suchen. Und da es schwierig ist, alles richtig zu machen, ­gehen meine Kinder oft ohne Mütze oder mit offener Jacke aus dem Haus, was sie aber nicht daran hindert, glücklich zu sein.

Auch wenn ich das Klischee der „polnischen Mutter“ nicht mag, bin ich sowohl Polin als auch Mutter. Deshalb ist es für mich sehr interessant, Deutsche – deutsche Mütter – zu treffen und zu erfahren, wie sie die Rolle der Frau und die Kindererziehung verstehen. Das Nachdenken über Fragen der Kindererziehung, über Elternrollen ist ein Schlüssel dafür, zu erkennen, was uns auf beiden Seiten der Oder und Neiße verbindet und was uns trennt.

Die besten Soziologen sind Fremde, sagte der Berliner Soziologe Georg Simmel. Ständiges Reisen, die Präsenz in verschiedenen kulturellen und geografischen Ordnungen, ein Lebensstil, der durch die Anzahl der Reisen etwas nomadisch ist – all das charakterisiert den Fremden aus dem berühmten gleichnamigen Aufsatz Simmels. Wenn das der Fall ist, spiele ich schon lange eine solche Fremden-Rolle.

Seit 2021 lebe ich in Berlin, vorübergehend mit nur einem Sohn. Mit dem anderen lebt sein Vater in Warschau, also bauen wir beide sozusagen zwei Denkmäler der selbstständigen oder manchmal auch alleinerziehenden Elternschaft. Durch die ständigen Reisen nach Berlin und Warschau fühlen wir uns als Bür­ge­r*in­nen zweier Städte, und diese Erfahrungen bilden unsere Identität als Familie.

Meine erste Erfahrung, wenn es um deutsche Kinder und ihre Erziehung ging, war … Stille. Polnische Kinder, so hat man den Eindruck, sind sehr laut, und sie sind überall. In den Kindergärten werden sie ausgiebig betreut, sodass sie, wenn sie in die Schule kommen, noch nicht so weit sind, ihr eigenes Verhalten und ihre Gefühle zu regulieren. Die Erfahrung der deutschen Einschulung war für mich in dieser Hinsicht äußerst lehrreich. All die Sechsjährigen, die entschlossen ihre Rucksäcke nehmen und ins Klassenzimmer marschieren, waren ziemlich beeindruckend. Die meisten Kinder, die in Polen aufgewachsen sind – unsere Schule ist deutsch-polnisch –, hatten ein kleines Problem mit dieser Selbstständigkeit. Sie mussten sie erst noch lernen.

Schwer zu sagen, welcher dieser Ansätze besser ist. In Polen, vor allem in Großstädten und an privaten Schulen, haben wir eine Entwicklung durchgemacht, die in Deutschland gerade erst ankommt und über die Der Spiegel kürzlich ausführlich geschrieben hat. Es ist eine Verschiebung weg von der Disziplin, hin zu einer demokratischeren Erziehung. In der Praxis bedeutet das oft mehr Chaos, aber die Kinder haben mehr Freiheit.

Eltern aus Polen finden es oft schwierig, sich im Berliner Schulsystem zurechtzufinden. All die Gymnasien ab der fünften oder ab der siebten Klasse und der Lateinunterricht ab 11 Jahren, oder auch nicht – all das kann sehr undurchsichtig erscheinen. Dazu der Zweifel, ob ein Schulwechsel nach der vierten Klasse nicht zu anstrengend ist für die Kinder. Aber als Mutter habe ich auch viel Hilfe von den Schulen erfahren, an denen ich meine Kinder anmelden wollte.

Antiautoritäres Polen? Nun ja: Die polnische Stiftung Dajemy Dzieciom Siłę (Wir geben Kindern Macht) hat vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass mehr als 40 Prozent der polnischen Kinder zu Hause Gewalt ausgesetzt sind und 57 Prozent Gewalt durch Gleichaltrige erfahren. Dazu kommt sexuelle Gewalt, die in Polen in Form von Skandalen nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Auch in Deutschland werden regelmäßig alarmierende Studien und Polizeistatistiken zu diesem Problem veröffentlicht.

Wir haben noch weitere gemeinsame Probleme auf beiden Seiten der Grenze. Depressionen und Suizide unter Kindern und Jugendlichen sind heute eine echte Zivilisationskrankheit. Ob das nun eine Auswirkung der sozialen Medien ist oder der Klimakrise oder letztendlich die verzögerte Wirkung der Pandemie – schwer zu sagen, aber es hilft, zu erkennen, dass dies in Polen und Deutschland gleichermaßen schlimm ist. So können wir Erfahrungen austauschen und uns gegenseitig helfen.

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Meine zweite grundlegende Erfahrung war die Art, in der hier die Kinder angesprochen werden. Die Deutschen sind dafür bekannt, dass sie sich gegenseitig auf die Finger schauen und schonungslos kritisieren. Das passiert einer Mutter mit einem Kind oft, auch in der Öffentlichkeit, und für mich war es schwer, mich daran zu gewöhnen. Doch während mich in Polen die Passanten auf der Straße ansprechen („Bitte sagen Sie Ihrem Kind, dass es beim Fahrradfahren vorsichtig sein soll!“), ist das in Deutschland anders: Die Passanten sprechen das Kind meist direkt an – Kinder werden hier also als eigenverantwortliche Subjekte betrachtet.

Meine dritte wichtige Erfahrung war die Art, wie ich als Mutter behandelt wurde. Hier habe ich zwei Arten von Erfahrungen gemacht, und paradoxerweise sind dabei „Polentum“ und „Mutter sein“ getrennt. Einerseits sind Klischees und Vorurteile gegenüber Polen weit verbreitet, die oft aus einem völligen Mangel an Wissen resultieren. Ich begegne diesen Stereotypen oft, zum Beispiel wenn jemand, der von meiner Nationalität gerade erfahren hat, den unbändigen Drang verspürt, mir einen Witz über polnische Autodiebe zu erzählen. Auf der anderen Seite kann aber eine alleinerziehende Mutter hier auf viel menschliches Mitgefühl und Hilfe zählen. Auch wenn ich noch nicht lange genug hier bin, um zu wissen, ob dies das Ergebnis der deutschen „Willkommenskultur“ ist, die sich über Jahrzehnte entwickelt hat, oder etwas anderes – erwähnenswert ist es allemal.

Ein Vorurteil über die Deutschen dagegen stimmt: Sie mögen keinen Lärm. Dafür sind sie berüchtigt, und Kinder stören sie oft. Von allen Erfahrungen, die ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe, war jedoch nur eine wirklich negativ. Es war eine Nachbarin, die an meine Wohnung klopfte, mich regelmäßig ermahnte, dass mein Sechsjähriger zu laut sei, und einmal, als er in Quarantäne war, drohte, deswegen die Polizei zu rufen.

Ex­per­t*in­nen für das menschliche Gehirn sagen, dass wir uns aus evolutionären Gründen besser an negative Erfahrungen erinnern, und sicherlich hat mich diese unangenehme Begegnung monatelang gestresst. Aber die Summe meiner positiven Erfahrungen übersteigt die negativen bei Weitem. Lasst uns also der Gerechtigkeit Genüge tun und über eine andere Nachbarin schrei­ben, die gerne Überraschungen macht, indem sie kleine süße Geschenke für meinen Sohn an die Klinke meiner Haustür hängt (zusammen mit Blättern, zum Beispiel: „Pass auf deine Zähne auf! Bitte iss nur eine Schokolade pro Tag“).

Oder die Frau, die mich vermeintlich auf der Straße anpöbelte, als mein Sohn hysterisch wurde. Sie fragte erst, ob ich Deutsch spreche, und sagte dann: „Tut mir leid, dass ich Sie störe, ich wollte Ihnen nur sagen, dass meine Tochter sich auch so benahm als Kind und es wirklich vorbeigehen wird, bitte halten Sie durch.“ Für jemanden, der ein sechsjähriges Kind als wichtigsten täglichen Begleiter hat, allein am Anfang seines Aufenthalts in einem fremden Land, bedeutet ein solches Zeichen von Empathie sehr viel. Die Frau blieb mir monatelang in Erinnerung.

Polen und Deutsche haben mehr gemeinsam, als man denkt – auch politisch stehen wir vor einer Reihe gleicher Probleme: Beides sind große Länder in der Mitte Europas, die viele gemeinsame Interessen und eine gemeinsame Grenze haben. Und doch sind unsere Beziehungen in der letzten Zeit eher unbefriedigend. Wir haben einen langen Prozess der Versöhnung hinter uns – und seit einem Jahr haben wir außenpolitisch das gemeinsame Ziel, der Ukraine zu helfen. Und trotzdem sah es, was unser Verhältnis angeht, lange nicht mehr so schlecht aus, und das ist nicht nur eine Frage der populistischen Propaganda der polnischen Regierung.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben       —       Berlin Panorama – River Spree 2010

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Aufbegehren im Iran

Erstellt von Redaktion am 9. März 2023

 Die Ruhe vor dem Sturm im Iran

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Ideologie macht Schule

Erstellt von Redaktion am 9. März 2023

„Das ist eine sehr stille, aber sehr deutliche Kritik“

Interview von Oskar Paul mit Jennifer Echhardt

Warum wollen Menschen kein Geld vom Staat, obwohl sie einen Anspruch darauf haben? Die Sozialwissenschaftlerin Jennifer Eckhardt glaubt: auch aus Protest. Ein Gespräch über Bedürftigkeit und Selbstermächtigung.

taz: Frau Eckhardt, wer in Deutschland arbeitslos ist, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld. Doch es gibt Menschen, die darauf verzichten. Wie viele sind das?

Jennifer Eckhardt: Die letzten Schätzungen gingen von rund 40 Prozent der Anspruchsberechtigten aus – im Bereich Arbeitslosengeld II.

So viele?

Ja. Und es gibt noch viele weitere Sozialleistungen. Wohngeld zum Beispiel. Wenn man alle Leistungen anschauen würde, dann kann man von noch höheren Zahlen ausgehen. Genaue Zahlen haben wir dazu aber derzeit nicht.

Wissen viele Menschen einfach nicht, dass sie einen Anspruch auf Sozialleistungen haben?

Diese Situation der vollkommenen Unwissenheit gibt es, glaube ich, kaum. Außer wenn es um besondere Zugangsprobleme geht, wie zum Beispiel bei Flucht oder Behinderung. Bei Sprachbarrieren ist es noch mal schwieriger.

Sie haben im Rahmen ihrer Forschung mit Menschen gesprochen, die ganz bewusst auf Sozialleistungen verzichten.

Das ist ein Problem, das selten gesehen wird. Wir sprechen viel über Sozialleistungsmissbrauch und Behördenversagen. Die Nichtinanspruchnahme findet im öffentlichen Diskurs aber kaum statt. Dabei zeigt sie ganz wesentlich an, dass etwas nicht funktioniert. Da sind Menschen, die sagen: „Das, was ihr da tut, das lehne ich ab.“

Was sind das für Menschen?

Das sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Ich habe früher in der Straßensozialarbeit gearbeitet, im Dortmunder Norden. Dort gibt es einen Platz, da kommen Wohnungslose, Drogenabhängige, aber auch Leute, die nach der Arbeit ihr Feierabendbier trinken wollen, zusammen. Und da ist mir das Thema immer vor die Füße gefallen, Nichtinanspruchnahme betraf viele, die da rumsaßen. Von potenziellen Bafög-Empfänger*innen, über Prostituierte, die Anspruch auf Wohngeld gehabt hätten, bis zu Handwerkern, die aufstocken hätten können, und Rentner*innen, die Angst um ihre kleine Eigentumswohnung hatten. Als Wissenschaftlerin habe ich dann später versucht, in dieser sozialen Praxis des Verzichts Regelmäßigkeiten zu finden.

Und?

Ich konnte in meiner Untersuchung mit Menschen sprechen, die eine bejahende Haltung zum Sozialstaat haben, auch zu einem Sozialstaat, der viel von Leis­tungs­emp­fän­ge­r*in­nen fordert. Aber die selbst nicht in dieser Art und Weise gegängelt werden wollen. Für Andere ist der Verzicht eine politische Positionierung.

Also Aktivismus?

Zwei meiner Ge­sprächs­part­ne­r*in­nen leben in einer sozialistischen Selbsthilfe – ohne Hilfe vom Staat. Sie wollen demonstrieren, dass man anders leben kann. Aber das ist ein Punkt, an den man erst mal kommen muss: Die Dinge als nicht gegeben sehen, sondern als veränderbar. Wenn jemand tagtäglich nur damit beschäftigt ist, sich irgendwie über Wasser zu halten, dann ist das schwierig. Und das gibt es auch: Menschen, die auf Essen verzichten. Da gibt es dann eine Woche lang Reis, eine Woche lang Nudeln und dann eine Woche warmes Wasser, bis dann von irgendwo wieder ein bisschen Geld reinkommt.

Warum verzichten Menschen auf Geld, wenn sie dann unter solchen Bedingungen leben müssen?

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Manche Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind über Jahre mit dem Sozialsystem in Berührung gekommen und haben über Jahre Zumutungen erlitten. Eine Person hat mir erzählt, dass sie im Jobcenter als Missgeburt bezeichnet worden sei, als zu alt, als zu kaputt für den Arbeitsmarkt. Einer anderen Person, einem gelernten Feinmechaniker, sei gesagt worden, er habe nichts gelernt, er sei zu alt. Er hat eine schwere Depression und das auf seinen Kontakt mit dem Jobcenter zurückgeführt. Diese Menschen haben durch den Verzicht der Zumutung ein Ende gesetzt und sich ihrer eigenen Menschenwürde wieder versichert.

Ließe sich die Nichtinanspruchnahme auch als ein Mittel zur Selbstermächtigung bezeichnen?

Ja, das würde ich sagen. Es geht auch um das Ausleben eines Eigensinns, darum zu sagen: „Ich bin ich und nicht nur euer Hartz-IV-Empfänger.“

Müssen wir anders über Bedürftigkeit sprechen?

Das Prinzip Eigenverantwortung führt dazu, dass wir uns selbst Bedürftigkeit nicht zugestehen. Und dann kommt uns auch immer mehr die Fähigkeit abhanden, die Bedürftigkeit des anderen zu sehen. In den Augen der Mehrheitsgesellschaft hat es der erwachsene, erwerbsfähige Mensch mitunter nicht verdient, unterstützt zu werden, weil er ja erwachsen und erwerbsfähig ist. Der ist selbst schuld. Aber jeder hat einen Grund, warum er oder sie in eine Situation geraten ist, die den Empfang von Sozialleistungen notwendig macht.

Ist es ein Problem für den Sozialstaat, wenn sich Menschen so von ihm abwenden?

Quelle        :            TAZ-online       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Eingang zum Jobcenter Region Hannover an der Vahrenwalder Straße 145 in Hannover. Die Einrichtung ist mittwochs geschlossen …

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Fukushima-Atom-Unfall

Erstellt von Redaktion am 8. März 2023

12 Jahre danach – Was haben wir daraus gelernt?

Dort, wo die Nieten schwitzen – werdem keine Einfälle blitzen. Weiter so… 

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer

Vor 12 Jahren, am 11. März 2011, begann mit dem Tōhoku-Erdbeben die Atomkatastrophe von Fukushima. In vier der sechs Reaktorblöcke gab es extrem schwere Unfallabläufe, teilweise mit Kernschmelzen und ein massives Entweichen von Radioaktivität. Es war einer dieser typischen schweren Atomunfälle, ein Katastrophenablauf, mit dem die Betreiber im Vorfeld nicht gerechnet hatten.

Glück im Unglück war ein gnädiger Wind, der in den Anfangstagen die extreme Radioaktivität aufs Meer hinaustrug und nicht in die nahe Metropolregion Tokio mit ihren 37 Millionen Menschen.

Wenige Monate nach den Kernschmelzen in den Atomanlagen von Fukushima Daiichi trafen der Betreiber Tepco und die japanische Regierung die Vereinbarung, den geschmolzenen Kernbrennstoff binnen eines Jahrzehnts aus den zerstörten Meilern zu bergen, doch wie so viele Versprechungen des japanischen „atomaren Dorfes“ ist dies nicht geschehen. Erfolgreich war allerdings die verharmlosende Nach-Unfall-PR, die heute Krisenkommunikation genannt wird.

12 Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima sind die Entschädigungen für die tatsächlichen Opfer der Katastrophe minimal. Doch ein Gericht in Tokio ordnete die Zahlung von 13 Billionen Yen (94,6 Milliarden Euro) Schadensersatz für die Aktionäre des Atomkonzerns an. (Eine Milliarde sind tausend Millionen). Es gibt wenige Urteile, die besser die „Westlichen Werte“ aufzeigen, für die Japan und der Westen leider immer mehr stehen.

Die Atomunfälle von Fukushima und Tschernobyl kamen viele Millionen Jahre zu früh. In einer alten, bundesweit verteilten Broschüre der deutschen Atomkonzerne stand sinngemäß: „Wenn die Vormenschenaffen im Alt-Tertiär vor 50 Millionen Jahren 20 Kernkraftwerke gebaut und seither betrieben hätten, dann hätte man einen solchen Unfall mit Kernschmelze und Freisetzung von Radioaktivität vielleicht einmal registrieren können“. Die alten, falschen Versprechungen von der hundert Prozent sicheren Atomkraft aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts werden auch 2023 wieder gemacht und Ängste vor einem Blackout durch den Atomausstieg gezielt geschürt …

Die internationale Atomlobby war nach Fukushima und Tschernobyl für kurze Zeit ein wenig in Deckung gegangen. Aufgegeben hat sie ihr profitables Geschäft nicht. Das globale atomare Dorf, die alten mächtigen Seilschaften funktionieren immer noch. Die atomar-fossile Lobby lässt die zukunftsfähigen Energien und die Energiewende bekämpfen, denn Strom aus Wind und Sonne ist schon lange kostengünstiger als Strom aus neuen Kohle- und Atomkraftwerken.

In Deutschland kämpfen einflussreiche Lobbygruppen und Parteien immer noch mit Angstkampagnen gegen die Abschaltung der letzten AKW und auch neue, wieder einmal 100 % sichere Atomkraftwerke werden geschickt ins Gespräch gebracht.

Nur die Vor-Fukushima Durchsetzungsstrategien wurden geändert. Mit den makaber-erfolgreichen Strategien, mit denen die Gefahren des Klimawandels und von Asbest heruntergespielt wurden, werden jetzt die Folgen des Reaktorunfalls verharmlost. Es sind nicht so sehr die Betreiber-Konzerne der alten AKW noch die neuen Atom-Start-Ups mit ihren gefährlich-unreifen Reaktor-Konzepten, die Laufzeitverlängerung und neue AKW fordern, sondern scheinbar unabhängige Bürgerinitiativen und Tarnorganisationen wie die Nuclear Pride Coalition. Die alte Gefahrtechnologie Atomkraft soll nach dem Willen der Strategen im Hintergrund mit dem Klimaschutz-Argument grüngewaschen werden. So wie die Verantwortlichen des bisher letzten Weltkrieges auf Wunderwaffen setzten, so setzen die Verantwortlichen im aktuellen, erneut verloren gehenden Krieg gegen Klima und Natur auch auf die Wunderwaffe Atomkraft.

Wenn jetzt nach Fukushima „sonnenarme“ Länder wie Saudi-Arabien, Jordanien, Türkei, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate teure AKW bauen wollen, dann geht es nicht in erster Linie um Energie oder Klimaschutz, denn Strom aus Wind und Sonne ist schon lange günstiger als Strom aus neuen Atomkraftwerken. Es geht um Proliferation, um zukünftige „Atomkraftwaffen“ und Macht. Jedes neue Land, das über Atomkraftwaffen verfügt, erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges und des damit verbundenen atomaren Winters. So könnte die Atomkraft tatsächlich einen makabren Beitrag gegen den Klimawandel und zur globalen „Abkühlung“ leisten. Der Neubau von AKW und der weltweite AKW-Export (nicht nur in Spannungsgebiete) sind ein globales Selbstmordprogramm.

Was haben wir aus der Reaktorkatastrophe von Fukushima gelernt? Mit den Unfällen von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima wurden wieder einmal die realen Gefahren dieser nicht menschengerechten Technologie aufgezeigt und der Ausstieg aus der gefährlichen und teuren Atomkraft eingeleitet. Und andererseits sind die alten atomaren Seilschaften mit geschickten neuen Durchsetzungsstrategien und atomarem Greenwash immer noch aktiv, um AKW-Gefahrzeitverlängerung und neue Atomanlagen durchzusetzen.

Der Kampf gegen Apokalypse-Blindheit, Klimakatastrophe, Artenausrottung, gegen die Wachstumsreligion und gegen globale Zerstörungsprozesse, der große Streit für eine umweltfreundliche Technik und eine menschengerechte Zukunft steht auch 12 Jahre nach Fukushima noch ganz am Anfang.

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein, (Alt-) BUND-Geschäftsführer, Bauplatzbesetzer 1975 in Wyhl

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Grafikquellen      :

Oben      —       Meeting with Fukushima Decontamination Team and staff from the JAEA Fukushima office. Hotel Sunroute Plaza, Fukushima. 9 October 2011. Copyright: <a href=“http://www.iaea.org/NewsCenter/Multimedia/Imagebank/index.jsp“ rel=“nofollow“>IAEA Imagebank</a> Photo Credit: Giovanni Verlini / IAEA

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Unten      —     Chainreaction carries on? 1986 Chernobyl – 2011 Fukushima – ???? Tihange Protest banner about the neclear katastrophe in Fukushima (Japan). Used at the protest march at 11th march 2017 in Essen, Germany

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Schneller, weiter, stopp

Erstellt von Redaktion am 5. März 2023

Das Anthropozän verlangt nach Genügsamkeit

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Von     :      WOLFGANG SACHS

Suffizienz ist das Zauberwort gegen den übermächtigen, die Natur und ihre Lebenswelten zerstörenden Menschen. Ressourcen einsparen ja, aber man kommt um die Erkenntnis nicht herum: Das umweltfreundlichste Produkt ist jenes, das man nicht gekauft hat.

Selten hat ein Zwischenruf derart Geschichte gemacht. Bei einer Tagung im mexikanischen Cuernavaca im Jahre 2000 konnte der Mainzer Paul J. Crutzen, Nobelpreisträger für seine Arbeiten zum Ozonloch, nicht mehr an sich halten: „Hören Sie auf, das Wort Holozän zu benutzen. Wir sind nicht mehr im Holozän. Wir sind im … im … Anthropozän!“ Erst verblüffendes Schweigen, dann in der Kaffeepause begann der Begriff zu fliegen, anfangs in Fachkreisen, dann bei einem breiten Publikum weltweit.

Was Crutzen damit meinte? Er hatte plötzlich eine Eingebung, dass die Erdgeschichte in eine neue Epoche eingetreten sei, das Anthropozän. Die Menschheit sei nun eine geologische Kraft, vergleichbar mit Vulkanausbrüchen und Erd­beben. Denn menschliche Aktivität gestaltet die Erdoberfläche und die Erdatmosphäre großräumig und dauerhaft. Das reiche von der globalen Klimaüberhitzung und ihren Folgen für Fauna und Flora über die Versiegelung von Böden und die Störung von Wasserkreisläufen, das rasante Schwinden der Artenvielfalt, die Anreicherung von Luft, Böden und Gewässern mit toxischen Substanzen bis hin zu einer rapide wachsenden Zahl von Menschen und Schlachtvieh. Man muss sich einmal vorstellen, was inzwischen die Forschung sagt: Das Gewicht der vom Menschen geschaffenen Masse, also die Summe aller Industrieanlagen, Häuser, Straßen, Schiffe, Geräte und Müllberge, erreicht in diesen Jahren das Gewicht der Biomasse auf der Erde, also die Summe der Wale, Nutztiere, Insekten, Pilze, Feldfrüchte, Bäume und der menschlichen Körper!

Angesichts dieses Epochenbruchs entpuppt sich die gängige Rede von der Umweltkrise als reine Augenwischerei: Es dreht sich nicht um Umweltschutz, sondern um Lebensschutz. Es dreht sich auch nicht um eine vorübergehende Krise, sondern um eine epochale Katastrophe. Nach 50 Jahren Umweltpolitik, also der hektischen Eindämmung von Schadenfolgen des heutigen Wirtschaftens, geht es heute darum, die Natur und ihre Lebensprozesse vor der Übermacht des Menschen zu retten. Das ist eine ganz andere Hausnummer. Es verlangt eine tiefgreifende Revision der gegenwärtigen Wirtschaft und darüber hinaus der expansiven Moderne insgesamt.

Das Gegenmittel zur expansiven Moderne heißt Suffizienz. Sie steht den technischen Errungenschaften der Moderne skeptisch gegenüber. Ihr zivilisatorisches Projekt besteht darin, die Ressourcen der Industriemoderne mit der Regenerationsfähigkeit der Biosphäre in Einklang zu bringen. Die Tugend der Genügsamkeit hat einen festen Platz von Aristoteles zu Konfuzius in den Weisheitstraditionen der Welt. Sie gilt es im Angesicht des Anthropozän wieder auszugraben. Dies ist umso mehr geboten, als die Strategie der Ressourceneffizienz ins Leere läuft, sobald die Einsparungen von den Gütermengen wieder aufgefressen werden. Effizienz heißt, die Dinge richtig zu machen, Suffizienz heißt, die richtigen Dinge tun. Denn in der expansiven Moderne dreht sich alles um das olympische Motto: um größere Geschwindigkeiten, um weitere Entfernungen, um wachsende Mengen an Gütern und Dienstleistungen. Gegen diesen Strom schwimmt die Suffizienz. Sie wird getragen von der sprichwörtlichen Erkenntnis, dass alles seinen Preis hat. So sind die technischen Meisterleistungen der Industriemoderne nur die eine Seite der Medaille, die andere heißt Ungleichheit und Naturzerstörung. Deshalb plädieren die Befürworter der Suffizienz dafür, mit dem Steigerungsimperativ des „schneller, weiter und mehr“ zu brechen. In diesem Sinne hat die Kunst des Unterlassens Vorrang in der Politik.

Dabei muss man sich von der populären Unterstellung lösen, die erneuerbaren Energien würden es schon richten, sie seien sogar unendlich verfügbar. Kein Zweifel, der Umstieg auf die Erneuerbaren ist unumgänglich, dennoch lässt sich die Frage nicht unterdrücken: Wo und in welchem Umfang? Die Grenzen des Strombedarfs müssen angesichts der Kosten für Material, Fläche und Landschaft diskutiert werden. Welcher Nutzen rechtfertigt die Unbill der Windturbinen und Solarzellen? Der Elektro-SUV, mit dem der gut situierte Städter herumfährt? Der Stromverbrauch für das Streaming von Filmen daheim anstelle des Kinobesuchs? Oder: all die Containerschiffe aus China und Fernlastzüge auf den Autobahnen, angetrieben von grünem Wasserstoff? Allenthalben kehrt die alte, zu oft verdrängte Frage wieder: Was ist genug? Was ist genug für alle und auf Dauer?

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Ohnehin sollte niemand davon ausgehen, dass ein Wirtschaftsmodell, das seit fast 200 Jahren auf fossilen Energieträgern basiert, mit erneuerbaren Energien unverändert fortgesetzt werden könnte. Suffizienz wird künftig als technisches Designprinzip betrachtet werden. So können Autos auf mittlere Geschwindigkeiten ausgelegt werden. Was wäre gewesen, wenn etwa das Pariser Abkommen von 2015 die Verpflichtung der 20 Automobilhersteller der Welt enthalten hätte, innerhalb von zehn Jahren kein Auto mehr zu produzieren, das schneller als 120 km/h fährt? Das wäre ein gewaltiger Bonus gewesen, um das 1,5-Grad-Ziel doch noch zu erreichen. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein zu großer Schritt für den Kapitalismus. Stattdessen ist der Anteil von SUVs und Geländewagen an den Neuzulassungen seit 2015 kontinuierlich gestiegen, auf aktuell 29 Prozent in Europa. Groß, schwer, hochmotorisiert, SUVs sind Klimakiller, ein Elektro-SUV ist so widersinnig, wie Butter mit einer Kreissäge zu schneiden. Während Verbrennungsmotoren hohe Geschwindigkeiten lange durchhalten können, müssen Elektroautos auf Reichweite achten. Sie sind daher ideale Fahrzeuge für mittlere Geschwindigkeiten.

Suffizienz lässt sich geografisch verstehen, gerade in Zeiten des Anthropozäns. Zum Beispiel: Wie kann man die Hälfte der Erde für Pflanzen und Tiere unter Schutz zu stellen? Das ist die entscheidende Frage für die Biodiversität an Land und im Meer. Wie viel Fläche ist genug für den Menschen? Ein heikles Thema, denn es berührt die Frage, ob es Grenzen gibt für den Bedarf an Wohnraum und für alle Arten von Büro-, Gewerbe- und Verkehrsflächen. In Deutschland jedenfalls ist die Fläche für Siedlung und Verkehr von 1992 bis 2020 um rund 20 Prozent und die durchschnittliche Wohnfläche von rund von 35 auf 47 Quadratmeter angewachsen, fast die Hälfte der Gesamtfläche der Bundesrepublik ist versiegelt. Angesagt ist, mit der bestehenden Bebauung auszukommen, was zu Verteilungskonflikten zwischen Miet- und Luxuswohnungen, Gewerbe- und Grünflächen, Gemeinschaftsgärten und Leerständen aller Art führt. Wie aus einer beschränkten Fläche mehr zu machen wäre, bewegt schon heute die Geister der Architekten, Bürger und Behörden rund um die Idee der „grünen Stadt“.

Auch in der Wirtschaft ist ein Geschäftsmodell des Weniger längst überfällig. Die Kreislaufwirtschaft, wenn sie denn kommt, ist nicht nur eine Frage des ökonomischen Kalküls, sondern auch eine Frage der Ehre: Mit Ausbeutern, egal ob von Ressourcen oder von Arbeitern, arbeitet man nicht zusammen. Zum Beispiel die Textilindustrie. Europa importiert sage und schreibe 63 Prozent der Textilien und 70 Prozent der Modeartikel vor allem aus Bangladesch, China und der Türkei. Während etwa die Baumwolle für ein T-Shirt aus Pakistan stammt, wird sie dann in der Türkei zu Garn gewebt, in Indien zu Stoff verarbeitet und in Bangladesch genäht, um schließlich auf dem europäischen Markt zu landen. Der übermäßige Verbrauch von Pestiziden in der Baumwollerzeugung, die Wasserverschmutzung durch das Färben der Stoffe und die schlechten Arbeitsbedingungen der Näherinnen sind allzu bekannt. Selbst ein hochwertiges Recycling würde den Ressourcenverbrauch bei ständig steigendem Konsum nicht absolut senken. Ressourcen einsparen ja, aber man kommt um die Erkenntnis nicht herum: Das umweltfreundlichste Produkt ist jenes, das man nicht gekauft hat. Eine lebensdienliche Wirtschaft wird daher ohne einen Schub an Suffizienz nicht zu haben sein. Für den Kapitalismus steht eine Bewährungsprobe besonderer Art an: Nur wenn es ihm gelingt, Wertschöpfung bei abnehmenden Gütermengen zu betreiben, wird er das 21. Jahrhundert überleben.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Violent electrical storm at sunset, attacks the California Mojave Desert

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Unten       —        Luftverschmutzung über Indonesien und dem Indischen Ozean, Oktober 1997; weiß markiert: von Feuern stammende Aerosole (Rauch) in den unteren Luftschichten; grün, gelb und rot: darüber liegender Smog in der Troposphäre

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Machterhalt um jeden Preis:

Erstellt von Redaktion am 4. März 2023

Erdoğan, Assad und das große Beben

Wie unter Schweinen füttern die Großen ihre Kleinen auf das Diese rund, fett und träge werden.

Von  :   Kristin Helberg

Das Jahrhundertbeben vom 6. Februar 2023 im Süden der Türkei und im Norden Syriens kannte weder Grenzen noch Nationalitäten. Es machte keinen Unterschied zwischen türkischen und syrischen Staatsbürgern, zwischen Einheimischen, Geflüchteten und Binnenvertriebenen, zwischen Türken, Arabern und Kurden.

Die Unterschiede, die bei der Bewältigung der Katastrophe und im Umgang mit den Betroffenen zutage treten, sind menschengemacht. Zunächst schienen Opfer und Helfer zusammenzurücken. Rettungsteams aus Dutzenden Ländern strömten in die Türkei, syrische Vereine in Europa sammelten Geld- und Sachspenden. Die internationale Solidarität half, politische Gräben zu überwinden. Nach Monaten der Feindseligkeiten empfing der türkische Außenminister seinen griechischen Amtskollegen im Erdbebengebiet, aller territorialen Streitigkeiten zum Trotz. Die seit mehr als dreißig Jahren geschlossene türkische Grenze nach Armenien wurde für die Erdbebenhilfe des Nachbarlandes geöffnet, obwohl beide Länder nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhalten. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi telefonierte zum ersten Mal überhaupt mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad, Jordanien schickte erstmals seit 2011 seinen Außenminister nach Damaskus.

Aber kann das Erdbeben auch die in der Südtürkei und in Nordsyrien verlaufenden Konfliktlinien aufbrechen? Kann es die verhärteten Fronten zwischen den Kriegsparteien im Syrienkonflikt aufweichen? Und wird es die humanitäre Not in den Vordergrund rücken – egal, wer die Bedürftigen sind und wo sie leben? Es sieht nicht danach aus. Immer wieder werden Hilfskonvois, die innerhalb Syriens von einem Einflussgebiet in ein anderes fahren wollen, blockiert. Nach zwölf Jahren Kriegswirtschaft steht an jedem Checkpoint eine Miliz oder Armeeeinheit, die sich bereichert und einen Teil der Lieferung für ihre eigenen Leute beansprucht. Mal fordert das Regime 40 von 100 Diesellastwagen für sich, mal verlangen extremistische Gruppen 40 Prozent der Güter, mal müssen sämtliche Hinweise auf die kurdische Herkunft der Ladung entfernt werden.

Hilfe über innersyrische Konfliktlinien hinweg gestaltet sich deshalb mühsam, sinnvoller ist die Unterstützung über die Türkei – auch aus geographischen Gründen, schließlich liegen die am schwersten vom Erdbeben betroffenen Gebiete direkt an der syrisch-türkischen Grenze.

Die Führungen in Ankara und Damaskus versuchen jedoch, die Krise für sich zu nutzen. Recep Tayyip Erdoğan will wiedergewählt, Assad rehabilitiert werden – der türkische Präsident kämpft im Inneren, Syriens Machthaber nach außen. Ihr Krisenmanagement zielt deshalb darauf ab, die eigene Position zu stärken, was am besten auf Kosten des jeweils anderen geht. Kein Schulterschluss in der Not, sondern Machterhalt um jeden Preis.

Die Rolle der westlichen Sanktionen

Während Erdoğan die interne Kritik an seiner Führung rechtzeitig vor den anstehenden türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit der Verhängung des Ausnahmezustands zum Schweigen bringen möchte, bemüht sich Assad um Normalisierung. Ausführlich berichten syrische Staatsmedien über Solidaritätsbekundungen und Hilfslieferungen aus dem Ausland – stets verbunden mit dem Hinweis, dass westliche Sanktionen die Versorgung der Erdbebenopfer behindern würden. Die Botschaft an die Syrerinnen und Syrer ist klar: Seht her, wir sind nicht allein, nur die Amerikaner und Europäer wollen uns zerstören.

Hatay Province, Turkey

Die Realität ist jedoch eine andere. Anders als im Irak in den 1990er Jahren gibt es im Falle Syriens keine umfassenden UN-Sanktionen, sondern nur Beschränkungen seitens der EU und der USA. Das Regime kann also mit Dutzenden anderen Ländern handeln, die Rohstoff- und Warenimporte aus Russland, Iran und China sicherten Assad in den vergangenen Jahren das Überleben. Für Europäer und Amerikaner ging es 2011 darum, ein Zeichen gegen die brutale Niederschlagung der Proteste zu setzen. Sie verhängten zwei Arten von Sanktionen – gegen Individuen und gegen Sektoren. Die einen zielen gegen mehrere Hundert Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen, die Assads Machtzirkel und dem Sicherheitsapparat nahestehen und für dessen Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind oder davon profitieren. Sie schränken den Handlungsspielraum der herrschenden Elite durchaus ein, auch wenn sie das Verhalten des Regimes insgesamt kaum beeinflussen können.

Die sektoralen Sanktionen betreffen bestimmte Wirtschaftsbereiche wie die Öl- und Gasindustrie, das Bankensystem, den Kraftwerksbau, Informationstechnologie zur Internet- und Telefonüberwachung sowie Militär- und Luxusgüter. Sie haben durchaus unbeabsichtigte negative Auswirkungen auf die Bevölkerung, vor allem im Zahlungsverkehr und bei der Energieversorgung. Deshalb sollten sie in Absprache mit der syrischen Zivilgesellschaft regelmäßig angepasst werden. Landwirtschaftliche Produkte, humanitäre Hilfe sowie Medikamente und medizinische Ausrüstung unterliegen dagegen keinen Sanktionen.

Experten verschiedener Institutionen fordern eine effektivere Umsetzung der gezielten Sanktionen, um die sektoralen Beschränkungen zum Teil aufheben zu können.[1] Denn während das Regime die Sanktionen umgeht, indem es Briefkastenfirmen mit komplexen Eigentumsverhältnissen schafft und Frachtschiffe umbenennt, leiden kleine bis mittlere Unternehmen sowie die Zivilbevölkerung unter den pauschalen Einfuhrverboten. Smart sanctions müssten Assads Schlupflöcher und Umgehungsinstrumente ins Visier nehmen, statt ganze Sektoren lahmzulegen, heißt es in den Berichten. Ein Beispiel ist der Finanzmarkt: Aus Angst vor westlichen Strafmaßnahmen lassen Banken häufig keinerlei Transaktionen mit Syrienbezug zu, selbst Spenden für die Erdbebenopfer verzögerten sich, wenn bei Überweisungen das Stichwort „Syrien“ angegeben werde, melden Hilfsvereine. Diese „Übererfüllung“ von Sanktionen schadet vor allem der notleidenden Bevölkerung und Nichtregierungsorganisationen.

Die darüber hinaus gehenden amerikanischen Bestimmungen im Rahmen des sogenannten Caesar Syria Civilian Protection Act, die seit 2020 in Kraft sind und sich gegen Dritte richten, die mit regimenahen Unternehmen oder Institutionen Geschäfte machen oder in Regimegebieten investieren wollen, wurden kurz nach dem Erdbeben für sechs Monate aufgehoben. Eine Geste des guten Willens seitens des US-Finanzministeriums, die Banken, Speditionen, Versicherungsgesellschaften sowie Fracht- und Logistikfirmen die Sicherheit gibt, für ihre Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Erdbebenkatastrophe nicht bestraft zu werden.

Hilfsmaßnahmen für die syrischen Opfer werden folglich nicht von westlichen Sanktionen verhindert, sondern vom Regime erschwert. Seit Jahren leiden die Menschen unter der Misswirtschaft und den mafiösen Strukturen des Assad-Regimes sowie den Folgen der jahrelangen Zerstörung durch die syrische und russische Luftwaffe. Transparency International erklärte Syrien Anfang des Jahres zum korruptesten Land des Nahen Ostens. Eine generelle Aufhebung der Sanktionen würde deshalb keineswegs zu einer besseren Versorgung der Menschen führen, sondern die klientelistischen Strukturen des Regimes stärken.

Endet Assads diplomatische Isolation?

In Wirklichkeit sind es die USA und die EU – allen voran Deutschland –, die die Menschen in den Regimegebieten seit zwölf Jahren über die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen versorgen. Diese von Assad zum eigenen Machterhalt instrumentalisierte milliardenschwere humanitäre Hilfe will das Regime nun um weitere Millionen für die Erdbebenopfer aufstocken. Es besteht darauf, dass internationale Unterstützungsangebote mit Damaskus koordiniert werden, was bedeutet, dass nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach Loyalität verteilt wird. „Was ihr nach Damaskus schickt, ist für uns verloren“, warnte ein Helfer im Norden per Videobotschaft.

Dennoch unterstützen viele Länder das Assad-Regime direkt – nicht nur enge Verbündete wie Russland, Iran, die Hisbollah und China oder arabische Nachbarn auf Versöhnungskurs wie Irak, Libanon, Oman, Algerien und, allen voran, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Assad bereits im März 2022 zum Staatsbesuch empfingen. Auch bislang zögerliche Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und Katar schickten Hilfe, sogar Italien flog humanitäre Güter über Beirut ein. Manche Regierung scheint die Erdbebenkatastrophe als Feigenblatt nutzen zu wollen, um den Gesprächsfaden mit dem syrischen Regime nach Jahren der Funkstille wieder aufzunehmen. Wer seine Beziehungen mit Damaskus ohnehin normalisieren wollte, hat jetzt eine günstige Gelegenheit.

Auch die Tatsache, dass die UN selbst bei einer Tragödie dieses Ausmaßes darauf bestehen, alles mit dem syrischen Regime zu regeln, hat Assads Position international gestärkt. Statt Nothilfe – etwa in Form von Baggern, Bergungsgerät, Generatoren, Treibstoff, Zelten und Wasseraufbereitung – von Anfang an großzügig und ohne das übliche bürokratische Prozedere über den zunächst einzigen Grenzüberhang Bab al-Hawa nach Nordsyrien zu lassen, dauerte es vier Tage, bis der erste UN-Konvoi mit regulärer humanitärer Hilfe die Menschen erreichte. Weitere Übergänge in Bab al-Salam und al-Rai passierten die UN-Lastwagen erst, als Assad eine Woche nach dem Beben ihrer dreimonatigen Nutzung zustimmte. Dabei kontrolliert nicht das Regime diese Grenzposten, sondern die oppositionelle Syrische Nationale Armee (SNA), Erdoğans islamistische Söldner, die in dem türkisch besetzten Gebiet zwischen Afrin und Jarablus als verlängerter Arm Ankaras fungieren. Aber weil das Assad-Regime formal der offizielle Vertreter Syriens bei den Vereinten Nationen ist, sprechen UN-Funktionäre stets in Damaskus vor – auch wenn es um humanitäre Hilfe für oppositionelle Regionen geht.

So erschien Assad mit seiner Zustimmung auf einmal als großzügiger Retter in der Not – und das, obwohl er nichts von „seiner“ Hilfe abgeben musste, sondern nur erlaubt hatte, die vom Westen finanzierte UN-Unterstützung auch seinen Landsleuten in Nord-Aleppo zugute kommen zu lassen. Für das Regime offenbar ein lohnendes Zugeständnis: ein wenig mehr UN-Hilfe für die „Terroristen“ in Nordsyrien, dafür aber die internationale Erkenntnis, dass es sich lohnt, mit Assad zu reden. Nach tagelanger Kritik an ihrer Arbeit fühlten sich die Vereinten Nationen in ihrer Strategie der Einbindung bestätigt.

Entscheidend für die Zukunft der Erdbebengebiete in Syrien wird sein, wie sich das Verhältnis zwischen Ankara und Damaskus entwickelt. Hält Erdoğan an der Besatzung Nordsyriens fest? Oder zieht er seine Truppen aus den zum Teil schwer zerstörten Gebieten ab und überlässt seine oppositionellen Statthalter ihrem Schicksal bzw. Assad? Wird er das Gebiet der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) – vereinfachend als kurdische Selbstverwaltung oder Rojava bezeichnet – weiter mit Drohnen und Artillerie angreifen lassen, um das PKK-nahe kurdische Autonomieprojekt zu zerstören? Oder einigt er sich lieber mit Assad auf eine schleichende Übernahme der Region durch das Regime? Und was wird aus den Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei? Wohin sollte die Regierung in Ankara sie zurückschicken, wenn auf der syrischen Seite der Grenze schon jetzt Millionen Menschen kein festes Dach über dem Kopf haben? Erdoğans Plan, in den türkisch besetzten Gebieten entlang der Grenze Unterkünfte für zurückkehrende Syrerinnen und Syrer zu bauen, hat sich durch das Erdbeben erledigt – die türkische Baubranche wird in nächster Zeit mit dem Wiederaufbau in der Südtürkei beschäftigt sein.

Quelle        :       Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Im Uhrzeigersinn von oben links: Eingestürzte Gebäude in der Provinz Hatay (zwei Bilder), Rettungsaktionen in Nordwestsyrien, die japanische Flagge auf Halbmast vor der Botschaft in Ankara und eine Zeltstadt in Kahramanmaraş

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Oury Jalloh – Das war Mord!

Erstellt von Redaktion am 4. März 2023

Oury Jalloh – Ablehnung der Verfassungsbeschwerde

File:BlackLivesMatter protest Berlin 2020-06-27 14.jpg

Wer legt diese Saat? Ein sich selber nennender „Werte Staat“ 

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von    :    Initiative in Gedenken an Oury Jalloh

Schutz der Täter steht über dem Recht der Angehörigen. Die Familie von Oury Jalloh geht zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

18 Jahre nachdem Oury Jalloh rechtswidrig festgenommen und im Dessauer Polizeigewahrsam schwer misshandelt und verbrannt wurde, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Einstellung aller Ermittlungen in Sachsen-Anhalt nachvollziehbar und somit rechtens und verfassungskonform sei. Damit hat nun auch die höchste Instanz der deutschen Justiz den Mord und das Verbrennen eines Menschen durch Polizeibeamte – entgegen aller Fakten und Beweismittel – negiert und das Opfer selbst zum Täter gemacht.

Die Karlsruher Richter*innen folgen in ihrem formalen Beschluss zur Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde der in höchstem Masse unwissenschaftlichen und einseitigen Argumentationslinie der sachsen-anhaltinischen Ermittlungsbehörden. Diese basiert einerseits uneingeschränkt auf den widersprüchlichen Aussagen und Schutzbehauptungen der Täter*innen aus dem Polizeirevier und stützt sich andererseits auf eine unprofessionelle und selektive Beweismittelerhebung: Von Beginn an haben die zuständigen Staatsanwaltschaften die wichtigsten Fragen nach der Brand- und Todesursache unbeantwortet gelassen. Selbst nach der Weisung des BGH von 2010 wurden die Ermittlungen weiter verschleppt, Aufträge für Gutachten manipuliert und Stellungnahmen der eigenen Expert*innen fehlinterpretiert oder gar ignoriert.

Auf diesen finalen Ablehnungsbeschluss musste der Bruder von Oury Jalloh, Mamadou Saliou Diallo, über drei Jahre warten – nur um dann erneut schmerzlich feststellen zu müssen, dass es seitens der deutschen Justiz keine Gerechtigkeit für den Mord an seinem Bruder geben darf. Der ungewöhnlich lange Zeitraum für die Entscheidung in einem so bedeutsamen Fall ist völlig inakzeptabel. Fragwürdig sind auch die 3 Monate, die es von der Beschlussfassung am 21.12.2022 bis zur Veröffentlichung am 23.02.2023 gedauert hat.

Mit dieser Entscheidung hat sich das Bundesverfassungsgericht selbst an der systematischen Vertuschung und Verschleppung eines offenkundig rassistischen Verbrechens, das darüber hinaus Teil einer Mordserie innerhalb der Dessauer Polizeibehörde ist, beteiligt.

Das ist eine weitere schwere Demütigung des Opfers und seiner Hinterbliebenen. Diese müssen seit über 18 Jahren leiden, während die verantwortlichen Täter*innen frei und ungestraft bleiben dürfen. Die deutsche Justiz hat damit erneut ein wichtiges und höchstrichterliches Signal an die deutsche Polizei gesendet: Ihr könnt weiterhin Menschen erschiessen, ersticken, erschlagen oder verbrennen – wir werden euch in jedem noch so offensichtlichen Fall beschützen!

Diese deutschen Zustände können und werden wir niemals akzeptieren. Wir werden unsere unabhängige Aufklärungsarbeit fortsetzen und gleichzeitig die Familie von Oury Jalloh bei ihrem Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterstützen. Der EGMR hat bereits in anderen Fällen betont, dass besonders bei Todesfällen in Gewahrsam eine Pflicht zur nachvollziehbaren Aufklärung der Todesumstände seitens des Staates besteht.

Oury Jalloh – Das war Mord! … und Mord verjährt nicht!

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

DL  – Berichtete 2012  :

Der Fall Oury Jalloh

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Grafikquellen          :

Oben        —      BlackLivesMatter Kundgebung auf der Straße des 17. Juni am Großen Stern in Berlin am 27. Juni 2020.

Author Leonhard Lenz       /        Source  :   Own work       /     Date : 27 June 2020

This file is made available under the Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

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Die Politik der Ampel

Erstellt von Redaktion am 3. März 2023

Wie eine Wärmewende in den Städten umgesetzt werden kann

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Klaus Meier

Rund 20 Prozent aller deutschen Treibhausgas-Emissionen entstehen durch den Wärmeverbrauch der Gebäude. Das ist ungefähr so viel wie der Verkehrssektor ausstößt. Trotzdem haben sich ökologische und linke Strömungen bisher nur wenig mit dieser Frage auseinandergesetzt. Aber die explodierenden Gaspreise haben das Interesse an dieser wichtigen Frage des Klimaschutzes schlagartig erhöht. Die dabei auftretenden Fragen lauten: Wie können wir die Gebäude ökologisch heizen? Wie schnell kann der Umbau gehen und wie hoch sind die Kosten? Was ist von Habecks Wärmepumpenoffensive zu halten?

Dem grünen Wirtschaftsminister Habeck ist sicherlich zu glauben, das er klimapolitisch umsteuern will. Doch die ständigen Kompromisse, die er dabei eingeht, haben nicht nur zu überdimensionierten LNG-Terminals und extrem langfristigen Flüssiggas-Lieferverträgen geführt. Die grün getünchte Wärmewende hat vor allem eine Schlagseite: Sie orientiert vornehmlich auf Besserverdienende, die in Einfamilienhäusern wohnen. Sie können sich Wärmepumpen und Haussanierungen leisten und erhalten obendrein noch einen Großteil der staatlichen Fördermittel. Der ärmere Teil der Bevölkerung, der sich das nicht leisten kann, muss de facto weiter auf fossile Gas- und Ölheizungen setzen und lebt zudem noch in den schlechter gedämmten Wohnungen mit höheren Heizkosten. Habecks Politik beinhaltet aber nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern mit dieser Ausrichtung gerät die Wärmewende auch in eine politische Sackgasse. Das gilt besonders für die verdichteten urbanen Räume, wo die Masse der Bevölkerung wohnt. Wo liegt hier das Problem? Tatsächlich kann unter den beengten Platzverhältnissen in den Städten nur dann ausreichend Heizenergie bereitgestellt werden, wenn man industrielle Abwärme, saisonale Wärmespeicher oder Tiefengeothermie nutzt. Das ist aber nur im großen Maßstab möglich. Wärmepumpen in privaten Kellern können das nicht leisten. Ein wesentlicher Ansatzpunkt in den Städten ist aber das Fernwärmesystem. Eine ausreichende finanzielle Förderung vorausgesetzt, könnte das Netz tatsächlich sehr schnell ausgebaut werden. Denn es gibt in zahlreichen Städten bereits Leitungen, die als Brückenköpfe dienen könnten. Nach Ansicht des Energieeffizienzverbandes AGFW ließe sich der Fernwärmeanteil in Deutschland bis 2030 auf 30 Prozent verdreifachen. In den großen Städten mit über 100.000 EinwohnerInnen könnte damit rund die Hälfte des Wärmeverbrauchs gedeckt werden. In den mittelgroßen Städten mit mehr als 20.000 EinwohnerInnen wären es dann 20 Prozent und in den Kleinstädten immerhin 10 Prozent. Das wäre ein Anfang.

Nachteilig ist allerdings, dass die bestehenden Wärmenetze vornehmlich mit fossilem Erdgas und sogar Kohle betrieben wurden. Doch die zentralisierte Wärmeversorgung bietet für eine Dekarbonisierung einen großen Vorteil: Statt die Heizungen in zehntausenden Kellern umzustellen, müssen nur die Heizzentralen mit erneuerbaren Energien versorgt werden. Ein Beispiel ist unser nördliches Nachbarland Dänemark: Die meisten Wohnungen wurden hier bereits in der Vergangenheit an Fernwärmenetze angeschlossen. So konnte eine Wärmewende in Dänemark sehr schneller umgesetzt werden. Bereits 50 Prozent der Fernwärmenetze wurden bis jetzt dekarbonisiert. Und die Wärmeversorgung von Kopenhagen soll sogar schon 2025 CO2-neutral sein. Das ist ein Vorbild, an dem wir uns auch in Deutschland orientieren können.

Klaus Meier

Einladung zur Veranstaltung:

Ökologisch Einheizen

Keine neuen Öl- und Gasheizkessel mehr ab 2024? Neuer Ampelstreit.

Ökologische Wärmewende in den Städten: Wie kann das gehen?

Referent: Klaus Meier,

Ingenieur, Hochschuldozent, 7. März 2023, 19:00 Uhr

Bisher wird in Deutschland vor allem mit Öl und Gas geheizt. Die CO2-Emissionen liegen dafür bei rund 20 %. Ein Entwurf im Wirtschaftsministerium will ab nächstem Jahr den Einbau von fossilen Heizungen verbieten. Die FDP schießen bereits massiv dagegen.

Ohne ein schnelles Umsteuern bei der Gebäudewärme können die Klimaziele aber nicht erreicht werden. Doch auch Habecks Politik hat Schlagseite: Seine Wärmepumpenförderung orientiert einseitig auf Einfamilienhäuser und vergisst die Menschen in den städtischen Regionen.

Zum Inhalt: Unser Referent diskutiert, wie eine ökologische Wärmewende in den urbanen Räumen umgesetzt werden kann: Warum sind Wärmenetze ein zentrales Element? Wofür brauchen wir dann Wärmepumpen? Was ist mit Solarthermie, Tiefengeothermie und Wohnungssanierungen? Wie hoch sind die Umbaukosten? Wie schnell lässt sich eine Wärmewende umsetzen?

Zoom-Einwahldaten:

Meeting-ID: 760 632 6079 Kenncode: 230696

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Die Veranstaltung wird getragen von:

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Wenn der Staat tötet:

Erstellt von Redaktion am 2. März 2023

 Wo es die Todesstrafe im Westen noch gibt, gilt sie als legitim und “human”

Westliche „Werte“ Demokratien haben sich immer angemaßt etwas Besseres zu sein!

Quelle        :     Berliner Gazette

Von Helmut Ortner

„Du sollst nicht töten!“ Dieses Gebot gilt weltweit als hohes Gut. Sieht ein Staat in seiner Rechtsordnung aber die Todesstrafe vor, gilt die Tötung als legitimiert. Ein Grundwiderspruch, der besteht, solange es die Todesstrafe gibt. Doch die historischen Legitimations-Argumente verlieren – zumindest in der westlichen Welt – an Zustimmung, wie der Autor und Journalist Helmut Ortner herausgefunden hat.

Im Jahre 1761 wird ein französischer Protestant namens Jean Calas aus Toulouse verurteilt und hingerichtet. Er wird für schuldig befunden, einen seiner Söhne umgebracht zu haben, weil dieser beabsichtigt hatte, zum Katholizismus überzutreten. M. de Voltaire, bereits auf der Höhe seines Ruhms, geht der Sache nach und setzt durch, dass der Fall erneut verhandelt wird. Dabei ergibt sich die Unschuld des Hingerichteten.

Noch ehe das Verfahren definitiv abgeschlossen ist, erscheint ein Buch, das für die nächsten hundert Jahre und darüber hinaus gleichsam das Manifest der Gegner*innen der Todesstrafe werden sollte. Es trägt den Titel „Über Verbrechen und Strafe“ und stammt aus der Feder von Cesare Beccaria, einem 25-jährigen Mailänder Juristen. Der Todesstrafe sind darin gerade einmal zehn Seiten gewidmet, doch diese Seiten sind es, die das Buch berühmt machen.

Hier wird das erste Mal die Todesstrafe als unrechtmäßig grundsätzlich verworfen, weil niemand das Recht habe, sich selbst zu töten und deshalb auch niemand imstande sei, ein solches Recht wirksam auf andere oder an die Gesellschaft abzutreten. Darüber hinaus wird das als ganz und gar nicht notwendig befunden, weil die lebenslange Freiheitsstrafe die Allgemeinheit nicht weniger gut vor dem Täter sichere als der Vollzug der Todesstrafe. Schließlich heißt es in dem Buch, die Abschreckung Dritter vom Verbrechen werde durch den Anblick des lebenslangen Leidens des Eingesperrten eher erreicht als durch das schnell vorübergehende Schauspiel der Hinrichtung.

Im Übrigen sei die Todesstrafe auch aus ethischen Gründen zu verwerfen, denn die Gesetze seien dazu bestimmt, veredelnd auf die Sitten der Menschen einzuwirken – und nicht ihnen ein Beispiel der Wildheit zu geben. Es sei daher widersinnig, wenn eben die Gesetze, welche die Tötung verpönten und bestraften, selbst eine Tötung begingen, wenn sie, um die Bürger*innen von Morden abzuhalten, selbst einen öffentlichen Mord anordneten.

Beccarias Buch, bald in zahlreiche Sprachen übersetzt, findet große Verbreitung. Nach dessen Lektüre wird auch M. de Voltaire zu einem leidenschaftlichen Gegner der Todesstrafe. Er begnügt sich nicht damit, Beccarias Argumente mit anderen Worten zu wiederholen; er ist es, der als einer der ersten die Möglichkeit des Justizirrtums als Einwand gegen die Todesstrafe ins Feld führt, den er als Justizmord bezeichnet. Eine Provokation in einer Zeit, in der das „Wohl des Staates“ im Mittelpunkt aller Vorstellungen steht.

Abschreckung und Vergeltung

In den letzten 250 Jahren haben sich – in der westlichen Welt – die Argumente für oder gegen die Todesstrafe vor allem auf zwei Grundsätze konzentriert: den der Abschreckung und den der Vergeltung. Die These, dass eine so unwiderrufliche Strafe wie der eigene Tod Menschen davon abhält, abscheuliche Verbrechen zu begehen, ist seit dem 18. Jahrhundert von zahlreichen Autor*innen angezweifelt worden. Strafrechtler, Psychologen, Mediziner, Politiker und Philosophen, wiesen auf zweierlei hin: Der rational planende Täter geht davon aus, dass er nicht gefasst wird, während diejenigen, die in der Erregung des Augenblicks eine schwerste Gewalttat wie etwa einen Mord begehen – und das sind die allermeisten – nicht in der Verfassung sind, die Folgen ihres Handelns abzuwägen oder zu kontrollieren, „es passiert“.

Dort, wo Statistiken den Abschreckungsbeweis erbringen sollen, ist ihr Erkenntniswert gering. Befürworter*innen wie Gegner*innen der Todesstrafe müssen sich eingestehen, dass der Beleg, ob die Abschaffung zu einer Zunahme und die Wiedereinführung zu einer Abnahme von Mordtaten geführt haben, noch aussteht. Richard J. Evans verweist darauf, dass es Indizien dafür gibt, dass Gesellschaften mit hoher Hinrichtungsrate und drakonischen Strafen dazu neigen, auch Gesellschaften mit einem hohen Maß an zwischenmenschlicher Gewalt zu sein. Kurzum, die Schwäche des Abschreckungsarguments ist evident, das konstatieren auch immer mehr Befürworter*innen der Todesstrafe. Also ändern sie ihre Rhetorik: nun plädieren sie für die Vergeltung.

Der Tod des Täters sei die einzig angemessene Reaktion der Gesellschaft, es dem Mörder heimzuzahlen. Das schwerste Verbrechen verdient die schwerste Strafe. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das Dilemma dieses in biblischer Tradition stehenden Rachegedankens besteht darin, dass das Vergeltungsargument willkürlich ist. Gleiches mit Gleichem zu beantworten, warum sollte das nur für Mord und nicht für andere Verbrechen gelten?

Warum nicht bei Körperverletzung, Diebstahl, Betrug? Das Vergeltungsprinzip wird aus gutem Grund nicht angewandt, um den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Niemand würde einem Straßenräuber, der bei seiner Attacke dem Überfallenen den Arm gebrochen hat, seinerseits als Strafe den Arm brechen wollen. Und was geschieht mit einem Mehrfachmörder? Wie will man den Täter wie in mittelalterlichen Hinrichtungsritualen mehrfach morden?

Bestrafung und Wiedergutmachung

Demokratische, moderne Justizsysteme – außer in den USA – haben dafür ein abgestuftes System der Bestrafung und Wiedergutmachung vorgesehen, von der Gefängnisstrafe bis zur Geldstrafe. Selbstjustiz soll es nicht geben. Der Staat allein besitzt das – ausgleichende – Gewaltmonopol. Warum also glauben die Befürworter*innen, ausgerechnet bei schwersten Straftaten wie Mord müsse die Gesellschaft ebenfalls mit Mord antworten? Hier wird der Ausnahmecharakter bemüht, es soll und muss ein Exempel statuiert werden: Tod für Menschen, die mit ihrer Tat so Abscheuliches, Grausames, Niederträchtiges getan haben, dass sie keine Milde verdienen. Die Todesstrafe soll keine normale Strafe, sondern eine Ausnahmesanktion für ein Ausnahmeverbrechen sein.

Nun wissen wir aus der deutschen Geschichte, dass der Begriff des „Ausnahmefalls“ sehr dehnbar und interpretationsfähig ist und den jeweiligen politischen Wirklichkeiten geschuldet sein kann. Im nationalsozialistischen Unrechtsstaat wurden Kritik am System, Zweifel am „Endsieg“ oder negative Äußerungen über den Führer als Wehrkraftzersetzung und Defätismus definiert, was ein Todesurteil zur Folge haben konnte. Die gnadenlose Urteilspraxis des Volksgerichtshofs gibt davon erschütterndes Zeugnis.

Was aber, wenn die Ausnahmerhetorik fragwürdig ist, die Abschreckungs- und Vergeltungsargumente keiner kriminologischen, kultursoziologischen und sozialpsychologischen Überprüfung standhalten, was bleibt dann als Legitimation? Die Todesstrafe als staatliches Symbol der Macht? „Der wichtigste rationale Grund gegen die Todesstrafe ist, dass es keine rationalen Gründe für sie gibt“, konstatiert Paul Bockelmann. „Sie leistet für die Bekämpfung von Verbrechen nichts, jedenfalls nichts, was nicht andere Strafen ebenso gut leisten können.“

Roger Hood, Professor für Kriminologie an der Universität Oxford, sagt: Die Todesstrafe ist willkürlich, unwirksam, anachronistisch und menschenverachtend – und er nennt vier zentrale Argumente für deren Abschaffung:

„Die Todesstrafe ist eine Strafe, die das grundlegende Menschenrecht auf Leben verletzt. Sowohl der Europarat als auch die Europäische Union haben erklärt, ‚die Todesstrafe hat keinen legitimen Platz im Justizsystem moderner zivilisierter Gesellschaften, ihre Anwendung kann mit Folter verglichen werden und als unmenschliche und entwürdigende Strafform gemäß Art. 3 der Europäischen Menschenrechtscharta betrachtet werden‘ (Empfehlung 1264, 1994).“

„Als utilitaristisches oder praktischeres Argument kann angeführt werden, dass es bislang keinen überzeugenden Beweis dafür gibt, dass die Verankerung der Todesstrafe im Gesetz und ihres Vollzugs eine bleibende Senkung der Mordraten bewirkt – oder jeder anderen Straftat, die mit Todesstrafe geahndet wird. Die Todesstrafe ist kein effektiveres Abschreckungsmittel als Alternativen wie lebenslange oder langjährige Freiheitsstrafen.“

„In rechtsstaatlichen Ländern (beispielsweise der USA), in denen Verfahrensgarantien einen fairen Prozess sicherstellen sollen, wird die Todesstrafe nur auf besondere Straftaten angewendet, oft werden mindernde Umstände bei der Urteilsfindung berücksichtigt, so dass die Todesstrafe nur in einer kleinen Anzahl der Fälle verhängt wird. Und doch zeigt sich auch hier, dass sich der gesamte Prozess bis zur Urteilsfindung nicht ohne ein inakzeptables Maß an Willkür, Ungleichheit und Diskriminierung umsetzen lässt.“

„Schließlich ein Argument, das bereits 1764 von Cesare Beccaria formuliert wurde: Dass die Todesstrafe in ihrer Botschaft grundsätzlich kontraproduktiv sei, da sie genau das Verhalten – beispielsweise Mord, Tötung – legitimiert, das sie zu bekämpfen versucht. Dies trifft besonders auf jene Fälle zu, in denen die Hingerichteten als Sündenbock erscheinen und mehr noch in jenen Fällen, in denen Unschuldige hingerichtet werden – eine unvermeidliche Konsequenz der Todesstrafe. Sie untergräbt also die Legitimität und die moralische Autorität des Rechtssystems insgesamt.“

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International argumentiert ähnlich. Erstens: Die Hinrichtung ist eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Form der Bestrafung. Zweitens: Die Wirksamkeit der Abschreckung ist nicht nachgewiesen. Und drittens: Die Todesstrafe wird von fehlbaren Menschen verhängt. Das impliziert auch in letzter Konsequenz Fehlurteile. Unschuldige Menschen werden hingerichtet.

Ächtung und Abschaffung

Was sagen Verteidiger*innen der Todesstrafe dazu? Sie räumen allenfalls ein, dass Justizirrtümer möglich, aber doch unerheblich sind, dass man Fehlurteile hinnehmen kann, sofern sie nur durch menschliche Fehlbarkeit verursacht sind. Der statistische Befund bezeugt jedoch, dass Justizirrtümer keineswegs selten sind und dass ein Todesurteil sehr stark von der Klasse, vom Status und der ethnischen Zugehörigkeit des betreffenden Täters, den jeweiligen politischen Verhältnissen sowie den Meinungen und dem Charakter der das Begnadigungsrecht ausübenden Macht abhängt.

Rechtssysteme werden letztlich von Menschen getragen, hier gehen subjektive Urteile ein, die wiederum stark von äußeren Faktoren beeinflusst werden. Etwa: An welchem Ort findet der Prozess statt? Steht gerade (beispielsweise in einem US-Bundesstaat) eine wichtige Wahl an? Welcher Täter ist zurechnungsfähig, wer verdient Milde? Solche Unwägbarkeiten können – das zeigt die Wirklichkeit – ein Urteil beeinflussen. „Auf dem Weg von der Theorie in die Praxis nimmt die Todesstrafe unweigerlich ein Maß an Willkür an“, stellt Richard J. Evans nüchtern fest.

In den vergangenen Jahren ist ein weltweiter Trend zur Abschaffung der Todesstrafe zu registrieren. Am Anfang des 21. Jahrhunderts – das zeigen die aktuellen Statistiken – ist Europa eine „todesstrafenfreie Zone“ und international lehnt eine deutliche Mehrheit aller Staaten die Anwendung der Todesstrafe ab. Dennoch ist der entscheidende Durchbruch auf dem Weg zur weltweiten Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe noch nicht gelungen. Sie ist Bestandteil der auf Religion basierenden Rechtskultur der islamischen Staaten des Mittleren Ostens sowie autoritärer Diktaturen in Asien und Afrika. Nirgendwo werden mehr Menschen exekutiert als in China, aber rechtsstaatliche Demokratien wie die USA oder Japan halten an der Todesstrafe fest.

Darüber hinaus ist die Zahl der Straftaten, auf die die Todesstrafe angewendet werden kann, in vielen Ländern noch hoch. Tatsächlich hat sich diese in den letzten 20 Jahren in zahlreichen Staaten noch vergrößert. China hält mehr als 60 Straftaten für todeswürdig, in mehr als 34 Ländern kann der Handel mit illegalen Drogen mit dem Tode bestraft werden, ebenso Sexual- und Wirtschaftsverbrechen.

Bei nationalen Krisen und innenpolitischen Machtkämpfen – nicht nur, wenn das Militär die Macht ergriff – wurde die Todesstrafe in vielen Fällen nach langen Jahren der Nichtanwendung wieder eingeführt. beispielsweise in einigen Karibikstaaten.

Sollten Cesare Beccaria und seine Anhänger*innen auferstehen und eine Karte mit der globalen Todesstrafen-Statistik zu Gesicht zu bekommen – sie wären enttäuscht. Bei allen Fortschritten: Das Festhalten an der Todesstrafe ist weiterhin weit verbreitet. Und selbst in den Ländern, in denen auf Todesstrafe verzichtet wird, basiert die Bestimmung des Strafmaßes für schwere Verbrechen auf den alten Gedanken der Abschreckung und der Vergeltung. Eine Tatsache, die den Befürworter*innen der Todesstrafe nicht entgeht. Ist Änderung in Sicht?

Besonders unter demokratischen Politiker*innen in den USA ist die Todesstrafe seit Längerem umstritten. Gerade hat der Gouverneur von Pennsylvania Josh Shapiro für seinen Bundesstaat Konsequenzen verkündet. Er teilte mit, er wolle während seiner Amtszeit keine Häftlinge hinrichten lassen. Shapiro war bei den Zwischenwahlen im November zum Gouverneur des Bundesstaats gewählt worden und trat sein Amt in Januar an. Er war kein ausgesprochener Gegner der Todesstrafe. Mehr als ein Jahrzehnt lang, auch noch in seiner Zeit als Generalstaatsanwalt, war er der Meinung gewesen, dass die Todesstrafe eine gerechte Strafe für schwerste Verbrechen sein kann, gestand er in einem Interview. Als jedoch die ersten Kapitalverbrechen in seinem Büro gelandet seien, habe er sich schwer damit getan, die Todesstrafe zu beantragen. „Als mein Sohn mich fragte, warum es in Ordnung sei, jemanden als Strafe für einen Mord zu töten, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen und erklären, warum.“

In den USA wird seit jeher über die Todesstrafe gestritten: juristisch, gesellschaftlich, politisch, moralisch – zunehmend polarisierend. Eine Enthauptung in Saudi-Arabien oder im Iran gilt als barbarisch, eine Exekution mit einer Giftspritze im eigenen Land als „human“. Die Notwendigkeit wird von vielen US-Bürger*innen noch immer kaum angezweifelt. Nur „rechtsstaatlich-modern“ soll sie vollstreckt werden. Laut dem „Death Penalty Information Center“ sind in den USA seit Wiederzulassung der Todesstrafe im Jahr 1976 mehr als 1560 Menschen hingerichtet worden – in Pennsylvania sind es drei. Allerdings wurde dort seit 1999 niemand mehr hingerichtet. Im ganzen Land sind aber allein seit Jahresbeginn sechs Verurteilte hingerichtet worden. Immerhin: 23 der 50 US-Bundesstaaten haben die Todesstrafe ganz abgeschafft. Und: die USA zählen nicht mehr zu den fünf Staaten mit den meisten Hinrichtungen.

Wenn ein wachsender Teil der Amerikaner*innen jetzt – wieder einmal – über Sinn und Legitimation der Todesstrafe nachdenkt, mag das auch mit der Tatsache zu tun haben, dass sie sich als Mittel der Prävention nirgendwo nachhaltig bewährt hat; ebenso mit der Einsicht, dass das gesamte Hinrichtungssystem zukünftig kaum mehr finanzierbar ist. Vielleicht aber auch mit der Erkenntnis, dass Europa, mit dem die USA so viele Werte und Überzeugungen teilt, in Fragen der Menschenrechte und Rechtspraxis Standards vorlebt, die zu keinen sozialen Gefährdungen führt.

„Das entscheidende Argument für die Ablehnung der Todesstrafe muss sein, dass es den Staat und damit uns alle, seine Bürger*innen, herabsetzt und entwürdigt, wenn er seine Macht dazu gebraucht, das Leben eines Menschen zu beenden“ schreibt Richard J. Evans. Nicht nur Amerikaner*innen sollten dem zustimmen.

Anm.d.Red.: Der Autor dieses Texts hat im Nomen Verlag das Buch „Ohne Gnade. Eine Geschichte der Todesstrafe“ vorgelegt.

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Oben       —     Karikatur von Gerhard Mester zum Thema Klimawandel und Kohleverbrennung: – Totschlagargument Arbeitsplätze (Stichworte: Globus, Erde, Klima, Kohle, Energie, Umwelt)

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Ein Klima des Wandels

Erstellt von Redaktion am 2. März 2023

Höhere Meeres­temperaturen lassen Hurrikans intensiver werden

Trinidad and Tobago (orthographic projection).svg

Aus Tobago und St.Lucia von Tom Mustroph

Die Auswirkungen des globalen Klimawandels treffen die karibischen Inseln hart. Doch es gibt Menschen, die dem vor Ort etwas entgegen­setzen. Zu Besuch bei Bienenprojekten und Korallenkindergärten in Tobago und St. Lucia.

Die Welt scheint noch in Ordnung in Charlotteville, einem kleinen Fischerort an der Nordküste Tobagos. Nur wenige Schwimmzüge vom Strand entfernt trifft man bereits auf große Meeresschildkröten und bunte, vielgestaltige Korallen. Blaue Doktorfische, wie Zebras gestreifte Zackenbarsche, gepunktete Juwelenbarsche und schier in allen Farben leuchtende Kaiserfische tummeln sich an den Riffs.

Der erste Eindruck aber trügt: Diese bunte Meereswelt ist stark bedroht. Als „ein Leben zwischen Hammer und Amboss“ bezeichnet die Meeresbiologin Lanya Fanovich die Situation. Sie arbeitet bei E.R.I.C., dem Environmental Research Institute Charlotteville. Das Institut ist in einigen Bungalows nahe am Strand untergebracht, dort sammelt man Daten über Meeresfauna und -flora. Vor allem aber richtet E.R.I.C. ein großes Meeresschutzgebiet ein, das sechs Seemeilen, das sind etwa elf Kilometer, von der Küste bis ins Meer reicht. Die Forschung, die Fanovich am E.R.I.C betreibt, wird also direkt umgemünzt in Maßnahmen zum Klima­schutz.

Das ist auch nötig, betont Fanovich gegenüber taz: „Wir hatten in den Jahren 2005 und 2010 größere Ereignisse von Korallenbleichen. Auslöser waren erhöhte Meerestemperaturen“, erzählt die Wissenschaftlerin. Bei einer Korallenbleiche verlieren die Tiere zunächst ihre Farbe, weil sie farbgebende Algen abstoßen, mit denen sie eigentlich in Symbiose leben. Schließlich sterben die Korallen ab.

„In den Jahren danach erholten sich die Korallen zwar etwas. Aber wir verzeichnen immer wieder Korallenbleichen in kleinerem Ausmaß“, sagt Fanovich. Stressfaktor für die Korallen sei, dass die Perioden höherer Temperaturen zunähmen und zugleich die kühleren Perioden zur Erholung nicht mehr ausreichten. Geschädigte Riffe bedeuteten zugleich weniger Nahrung und Schutzmöglichkeiten für Fische und Krebstiere.

Pigeon Point beach.jpg

Ein weiteres Problem sind Hurrikans. Die kühlen zwar die Oberflächentemperatur der Meere herunter. „Durch die generell erhöhte Meerestemperatur können Hurrikans aber mehr Energie aufnehmen, stärker und intensiver werden. Für die Korallenriffe wächst dadurch die Gefahr physischer Zerstörung“, erklärt Fanovich den Zusammenhang.

Diese Beobachtungen bestätigt Michael Taylor. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Tropical Storm Modelling, die für die gesamte Karibikregion Daten sammelt und daraus Modellszenarien erstellt. „Unsere Daten sagen nicht unbedingt, dass die Häufigkeit von Hurrikans zunimmt. Aber sie werden definitiv intensiver und nehmen schneller an Intensität zu als früher“, erzählt Taylor der taz in seinem Büro an der University of the West Indies in Kingston, Jamaika. Das bedeutet auch, dass die Schäden selbst an den Rändern eines Hurrikans dramatischer werden.

Taylors Daten sagen noch etwas anderes aus: „Klimawandel führt zu größerer Unberechenbarkeit. Wir haben nicht mehr die klassische Regenzeit und Trockenheit“, erklärt der Wissenschaftler. „In Perioden der Trockenheit gibt es jetzt stärkere Regenfälle, in der Regenzeit bleiben in kurzen Zeiträumen die gewohnten Niederschläge aus.“ Das hat enorme Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Landwirte sind verunsichert, welches der richtige Zeitpunkt für Aussaat und Pflanzung ist, und auch, welche Pflanzensorten am besten für die veränderten Bedingungen geeignet sind.“

Das Bild von Hammer und Amboss, das Fanovich für die Korallen vor Tobago benutzt hatte – es beschreibt auch gut die Situation der Bevölkerung in der Region. Landwirtschaft und Fischfang sind beeinträchtigt. Erhöhte Meerestemperaturen führen zu anderen Wanderrouten von Fischen, manche Arten landen gar nicht mehr in den Netzen. Dazu kommen die Wirbelstürme.

Nun seien Hurrikans immer schon ein Phänomen in den Tropen gewesen, sie waren lange vor uns Menschen da, wie Giles Romulus trocken bemerkt. Romulus ist Projektkoordinator im Small Grants Program des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, kurz UNDP. Romulus hat ein kleines Büro im Gebäude des Energieversorgers Carilec in Castries, der Hauptstadt von St. Lucia.

Höhere Meeres­temperaturen lassen Hurrikans intensiver werden – die Zerstörung nimmt zu

Er weiß, wovon er spricht, der Mann hat selbst viele Hurrikans erlebt. „Bei Hurrikan ‚Allen‘ im Jahr 1980 hätte ich beinahe mein Leben verloren“, erinnert er sich. „Ich ging damals noch zur Schule. Der Wind blies das Dach von unserem Schutzraum einfach weg.“ 18 Menschen starben damals auf St. Lucia. Das „große Problem“ mit den heutigen Hurrikans sei aber, sagt Romulus, „dass sie viel weniger berechenbar werden und auch immer stärker sind. Du weißt nicht, ob dein Haus danach noch steht“. Romulus sagt: „Wir zahlen für die Sünden, die wir in der Vergangenheit begangen haben.“

Bauen in Überschwemmungsgebieten gehört zu diesen Sünden. Begradigte Flussbetten, so dass die Fließgeschwindigkeit bei starken Regenfällen enorm ansteigt, ebenfalls. Und natürlich die globale Erwärmung, die all diese Probleme noch verschärft. „Ein Fluss mag an einem Tag noch ruhig, fast lethargisch wirken. Am nächsten Tag schwillt er aber zu einem brüllenden Monster an“, sagt Romulus.

In flächenmäßig größeren Ländern wie den USA gebe es zudem Raum für die Menschen, um auszuweichen. „Bei uns ist im Gefahrensfall die gesamte Insel betroffen. Du kannst nirgendwo Zuflucht finden, wenn das Hurrikangebiet 600 Quadratkilometer umfasst“, sagt Romulus. St. Lucias Oberfläche misst 617 Quadratkilometer – schon rein rechnerisch bleibt da nicht viel Platz für ­Rettung.

All das hat auf den karibischen Inseln zu einem Umdenken geführt. Nationale Resilienzprogramme wurden ins Leben gerufen. Die Insel Dominica will gar – als Folge des verheerenden Hurrikans „Maria“ im Jahr 2017 – die erste klimaresiliente Nation werden. Auch Romulus gehört zu den Machern. Mit vergleichsweise kleinem finanziellen Hebel – 50.000 Dollar beträgt gewöhnlich das Budget der Projekte – bewegt der gelernte Geograf viel. Unter den insgesamt 124 Projekten, die in den letzten zehn Jahren im Rahmen des Small Grants Program in St. Lucia finanziert wurden, befinden sich auch Imkerinitiativen.

„Bienen sind ein fantastischer Indikator für die Qualität der Umwelt. Als ich noch an der Universität arbeitete, war ein leitendes Prinzip bei unseren Feldforschungen, zu hören. Nimmt man ein ganzes Orchester aus Bienen, Mücken und Reptilien wahr, dann weiß man, dieser Wald ist in Ordnung“, sagt Romulus. „Hört man nichts, dann bedeutet das, die Pflanzen und Tiere sterben.“

Hafen von Scarborough

Viele der erhobenen Messdaten kommen den Menschen vor Ort nicht zu­gute. Wissenschaft ist oft neokolonial organisiert

Einmal sei eine Gruppe von Menschen mit Behinderung zu ihnen gekommen, sagt der Forscher. „Sie wollten etwas tun, um aus ihrer wirtschaftlichen Not herauszukommen. Sie wollten sich auf Bienen konzentrieren. Und weil bei uns, auch wegen der Umwelteinflüsse, die Bienenpopulationen rückläufig waren, haben wir das Projekt unterstützt“, erzählt Romulus. Er redet sich dabei in eine Begeisterung, die sein kleines Büro beinahe zum Explodieren zu bringen scheint.

Mittlerweile zählt der Honig des Iyanola Apiculture Collective aus St. Lucia zu den Bestsellern der nationalen Honigmesse und wird auch ins Ausland exportiert. Zudem ist ein ganzes Produkt­sorti­ment aus Bienenwachs für medizinische und kosmetische Anwendungen entstanden. In den Wäldern summt es wieder, Fauna und Flora sind diverser, zahlreiche Menschen fanden Arbeit.

„Bei einer Finanzierung durch unser Programm müssen drei Kriterien erfüllt werden. Eines ist Nachhaltigkeit: Werden dabei natürliche Ressourcen genutzt, ohne dass die Umwelt zerstört wird?“, erläutert Romulus. Das zweite Kriterium sei: Beseitigt es Armut? „Denn was nützt das beste Nachhaltigkeitsprojekt, wenn die Menschen weiter in Armut bleiben.“ Der dritte Aspekt sei die Aus- und Weiterbildung der Menschen.

Das mag alles klein klingen, ein Tropfen auf dem heißen Stein angesichts der immensen Herausforderungen durch den Klimawandel. Was können ein paar Bienenvölker auf einer kleinen Karibikinsel schon gegen den globalen Temperaturanstieg bewirken?

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Die Politisierung des Wetters

Erstellt von Redaktion am 1. März 2023

Demokratie in Deutschaland: Alle Macht geht nicht vom Volk aus.

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Narrenhände beschmierten Glas und Wände ?

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Von Tomasz Konicz

Der Umgang mit der Letzten Generation zeigt, was der Staat für die kommenden Massenproteste gegen die Klimapolitik plant – Kriminalisierung und Repression.

Vorbeugende Aufstandsbekämpfung – auf diesen etwas in Vergessenheit geratenen Begriff brachten Kritiker in den vergangenen, neoliberalen Dekaden all die Strafrechtsverschärfungen und Polizeigesetze, die derzeit gegen Klimaschützer Anwendung finden. Mehrere Wochen Knast mussten etwa Aktivisten der Protestgruppe „Letzte Generation“ im sogenannten Präventivgewahrsam erdulden, da laut richterlichem Beschluss Gefahr bestehe, dass sie sich erneut an Blockadeaktionen in München beteiligen könnten.

Dass Menschen „vorbeugend“ im Gefängnis landen können, ist eine relativ neue Strafrechtsverschärfung, die 2018 im Rahmen des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes im Eilverfahren von der CSU durchgepeitscht wurde. Damals regte sich noch Protest gegen diese polizeistaatlichen Gesetzesverschärfungen, die den bürgerlich-rechtsstaatlichen Grundsatz aushöhlen, wonach Bürger nur für nachweislich begangene Straftaten mit Gefängnisstrafen belegt werden dürfen. Etliche zivilgesellschaftliche Organisationen reichten damals Verfassungsbeschwerde ein – vergebens. Diese Regelung zum Präventivgewahrsam, die vorher aus gutem Grund im bundesdeutschen Strafrecht nicht vorkam, weckt nämlich Erinnerungen an die Schutzhaft der Nazis.

In den vergangenen Jahren haben die meisten Bundesländer ähnliche Regelungen eingeführt, die in der geschichtsvergessenen öffentlichen Debatte längst zur „Normalität“ geronnen sind. An der aktuellen Repression und Medienkampagne gegen die Blockierer der Letzten Generation kann somit das Ineinandergreifen von Strafrechtsverschärfungen, polizeistaatlichen Tendenzen, schleichendem Demokratieabbau und der sozioökologischen Krisendynamik des Spätkapitalismus studiert werden. Deswegen ist der Begriff „vorbeugende Aufstandsbekämpfung“ so passend. Die kapitalistischen Funktionseliten trauten schon vor einer halben Dekade ihrem eigenen System nicht; sie hatten ein schärferes Krisenbewusstsein als weite Teile der krisenblinden deutschen Linken. Der Staatsapparat bildete schon in der neoliberalen Ära ein instrumentelles, autoritäres und repressives „Krisenbewusstsein“ aus, das ganz auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in der Dauerkrise ausgerichtet ist.

Längst werden weitere Strafrechtsverschärfungen diskutiert. Wirtschaftslobbyisten und Politiker der CDU und FDP fordern, Klima-Aktivisten generell für 30 Tage in Gewahrsam nehmen zu können. Die CSU fabuliert von einer „Klima-RAF“, während Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) laut über Gefängnisstrafen für Klimademonstranten nachdenkt. Eingebettet sind diese repressiven Vorstöße in eine rechte Medienkampagne, bei der Klimaaktivisten für Verkehrsunfälle verantwortlich gemacht werden, die bei den Blockadeaktionen passieren. Hinzu kommen lautstark in den Medien verbreitete Umfragen, denen zufolge ein Großteil der Bevölkerung die Protestformen der „Letzte Generation“ ablehne.

Es handelt sich offensichtlich um eine Kampagne der üblichen rechten Verdächtigen von Springer („Klima-Chaoten!“), über CDU/CSU („Fünf Jahre Haft!“) bis zur AfD („Klimaextremisten“) gegen die Klimaschützer, die auch schlicht die Gunst der Stunde nutzen, um die Klimabewegung dauerhaft zu schwächen und möglichst rasch neue Repressionsinstrumente zu etablieren. Während die Justizminister von Bund und Ländern Anfang Dezember darüber diskutierten, ob die in Bayern praktizierte Präventivhaft gegenüber den „Klimaklebern“ bundesweit zur Anwendung gelangen solle, ging die Justiz Mitte des Monats in einer bundesweiten Razzia gegen die Letzte Generation vor. Der Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung laut Paragraf 129 Strafgesetzbuch. Die Aktionen zivilen Ungehorsams, die von der Letzten Generation praktiziert werden, könnten somit tatsächlich in die Nähe terroristischer Akte und des berüchtigten Paragrafen 129a („Bildung terroristischer Vereinigungen“) gerückt werden.

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Wann werden die Nichtwähler-innen in der Überzahl sein ?

Die Zeit dafür ist günstig. Denn es ist kalt. Mit der winterlichen Witterung und dem Krieg in der Ukraine verdrängen die Sorgen um die Heizkosten und die strauchelnde Wirtschaft die Angst vor der Klimakatastrophe. Der Horrorsommer 2022 gerät in der Bevölkerung, die dank kulturindustriellen Dauerbombardements ein öffentliches Erinnerungsvermögen von wenigen Wochen hat, schlicht in Vergessenheit. Die Vielfalt der ökologischen, sozialen und politischen Verwerfungen, in denen sich die kapitalistische Systemkrise manifestiert, führt schnell zu Orientierungslosigkeit und einem regelrechten crisis hopping, sobald die systemischen Krisenursachen ausgeblendet bleiben.

Im vergangenen Sommer, als die Flüsse Europas trocken lagen, als die Feuer wüteten und als die Hitze zahlreiche Todesopfer forderte, wäre ein solches Vorgehen gegen die Klimabewegung unmöglich gewesen. Die durch Hetzkampagnen generierten Mehrheiten, die sich nun hinter den Rufen nach härterem Strafen manifestieren, wären schlicht nicht zustande gekommen. Mit einer Repressionskampagne im „Winter“, also in der dunklen Jahreszeit, die angesichts von Temperaturen von knapp 20 Grad zur Jahreswende kaum noch ihren alten Namen verdient, nutzt die Rechte schlicht ein Zeitfenster zur Schaffung neuer, autoritärer Fakten. Die Entdemokratisierung und das Einüben neuer Repressionsmethoden müssen deshalb etabliert werden, bevor das nächste Extremwetterereignis die Menschen mit aller Macht daran erinnert, dass die Klimakatastrophe munter voranschreitet.

Das Wetter ist somit zu einem politischen Faktor geworden – es bringt Vorteile, die Witterung beim politischen Vorgehen zu berücksichtigen. Das liegt vor allem daran, dass die jahrzehntelang geübte Argumentation, wonach Klima und Wetter zwei verschiedene Dinge seien, nicht mehr greift. Zu deutlich manifestiert sich die Klimakrise in den konkreten Wetterphänomenen, als dass diese Halbwahrheit, die von Klimaleugnern gerne instrumentalisiert wurde, noch überzeugen könnte (Kein einziges extremes Wetterereignis weist sich ja selbst als Folge der Klimakrise aus). Die Repression der Klimabewegung muss zu einer Jahreszeit erfolgen, in der die Bevölkerung sich sorgt, wie die Wohnung zu heizen sei, ohne in Privatinsolvenz zu geraten.

Dieser politische Hebel kann aber auch von progressiven Kräften betätigt werden. Die nächste Feuer-, Hitze-, und Dürresaison kommt bestimmt, was auch die inzwischen katastrophale Züge annehmende Klimakrise zwangsläufig ins Zentrum der öffentlichen Debatte rücken wird. Und das werden die Witterungsverhältnisse sein, unter denen die Klimabewegung in die Offensive gehen kann, weil bei unerträglicher Hitze die meisten Menschen, die nicht über eine Klimaanlage verfügen, ganz selbstverständlich viel Verständnis für radikale Protestformen aufbringen werden. Das Wetter ist somit hochpolitisch geworden. Die alte, vom verkürzten Klassenkampfdenken geprägte 68er-Parole, wonach alle vom Wetter reden, nur die Linke nicht, muss somit ins Gegenteil verkehrt werden: Alle werden vom Wetter reden, es in das politische Kalkül und ihre aktivistischen Planungen als wichtigen Faktor aufnehmen.

Deswegen verfehlen die Verweise auf schlechte Umfragewerte der Klimabewegung, mit denen linksliberale Medien oder die Opportunisten und „Bewegungsmanager“ der Linkspartei die Klimablockierer von ihren den kapitalistischen Betriebsablauf störenden Protestformen abbringen wollen, den Kern dieser politischen Wetterdynamik. Das Gerede vom „Bärendienst“, den die Letzte Generation der Klimapolitik erweise, ist hohl. Die Klimakrise wird sich gänzlich unbeeindruckt von der Meinung des deutschen Bürgers weiter entfalten, was dann auch die Stimmung in der Bevölkerung kippen lassen wird – ähnlich den klimatischen Kipppunkten des globalen Klimasystems. Schon die verheerende Flutkatastrophe, die die Bundesrepublik 2021 mitten im Bundestagswahlkampf traf, kann durchaus als ein politischer Faktor, der den Grünen Auftrieb verschaffte, begriffen werden.

Die Klimakrise wird bei ihrem Voranschreiten der Klimabewegung weiteren Zulauf bescheren – und das hat seine simple Ursache vor allem darin, dass der Kapitalismus aufgrund seines Wachstums- und Verwertungszwangs schlicht nicht in der Lage ist, die Klimakrise irgendwie zu bewältigen. Kapital ist der sich selbst verwertende Wert. Es ist das Geld, das durch Verfeuerung von Energie und Rohstoffen in der Warenproduktion zu mehr Geld werden muss. Kapital kann sich an nahezu alles anpassen, nur nicht an sich selbst. Deswegen steigen global die CO2-Emissionen weiter an, wobei dieser Emissionsanstieg nur durch Weltwirtschaftskrisen kurzfristig unterbrochen wird.

Das Festkleben auf den Straßen, das die Letzte Generation praktiziert, ist eine aus dem Mut der Verzweiflung geborene Protestform, die instinktiv den alltäglichen kapitalistischen Betriebsablauf stört – Sie steht in scharfem Kontrast der nachgerade entwaffnenden politischen Naivität der Gruppe, die Appelle an die politischen Funktionsträger richtet, die Klimakrise doch bitteschön zu lösen. Sogar der Verfassungsschutz musste trotz der aktuellen rechten Kampagne feststellen, dass diese Gruppe nicht „extremistisch“ ist, da sie schlicht „Funktionsträger zum Handeln auffordert“. Das Problem bei dieser Herangehensweise besteht aber offensichtlich darin, dass die politischen Funktionsträger aufgrund der obig genannten kapitalistischen Systemwidersprüche nicht in der Lage sind, der Klimakrise sinnvoll zu begegnen.

Ohne Systemtransformation, ohne Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs ist eine Bekämpfung der Klimakrise unmöglich. Der Kapitalismus ist außerstande, effektive Klimapolitik zu betreiben. Dieser simple, von der Wertkritik seit Jahren thematisierte Zusammenhang hat sich inzwischen, allen Widerständen zum Trotz, auch in der Linken herumgesprochen. Und dies müsste nun auch praktische Konsequenzen nach sich ziehen. Statt der Spaltung der Klimabewegung durch Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Protestformen Vorschub zu leisten, käme es somit einerseits darauf an, dieses sich ausformende, radikale Krisenbewusstsein in der Klimabewegung zu verallgemeinern, um die Diskrepanz zwischen den radikalen Protestformen und den naiven Forderungen zu überwinden.

Bislang erfuhren in der Linken die ob ihrer Naivität belächelten „Klimakleber“ vor allem Kritik hinsichtlich der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Aktionen, wobei es sich zumeist um „soziale“ Modifikationen der linksliberalen Mahnungen handelte, wonach die Straßenblockaden die Stimmung gegenüber der Bewegung in der Bevölkerung kippen lassen würden. Zumeist griff man dabei – insbesondere im gewerkschaftsnahen Spektrum der Linkspartei – auf das Bild des Arbeiters zurück, der aufgrund einer Straßenblockade zu spät zur Arbeit komme. Tatsächlich illustriert die kapitalistische Klimakrise, dass es kein „revolutionäres Subjekt“ gibt, dass die Lohnabhängigen, die als „variables Kapital“ im Verwertungsprozess fungieren, ein binnenkapitalistisches Interesse daran haben, den Verwertungsprozess des Kapitals, der ihre ökologische Zukunft zerstört, zu prolongieren, um ihre soziale Gegenwart zu sichern. Dieser monströse Widerspruch könnte nur aufgelöst werden, wenn die Lohnabhängigen nicht mehr lohnabhängig sein wollten.

Der reaktionären, pseudolinken Kritik an der Letzte Generation, wie sie insbesondere vom Krisenopportunismus der Linkspartei praktiziert wird (siehe Konkret 10/2022), müsste eine radikale Kritik gegenübergestellt werden, die gerade auf die Herausbildung eines radikalen Krisenbewusstseins als conditio sine qua non emanzipatorischer Praxis abzielt: dass die Systemtransformation eine Voraussetzung ist, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Bei der Verteidigung der disruptiven Praxis der „Letzte Generation“ gilt es, ihre politische Naivität zu kritisieren. Gerade da es leider kein Revolutionäres Subjekt gibt, ist die Frage des Krisenbewustseins entscheidend: Ohne Bewusstsein darüber, dass das Kapital in seinem Verwertungszwang die Ursache der Klimakrise ist, ist ein emanzipatorischer Verlauf der anstehenden gesellschaftlichen Umbrüche nicht möglich. Der disruptiven Aktion muss die Einsicht in die Überlebensnotwendigkeit der Systemtransformation folgen.

Nur wer Macht in Händen hält, kann nötigende Einflüsse auf Andere ausüben.

 

Auch wenn es angesichts der Realitäten im Land, angesichts der allgemeinen Regression und Apathie in der Linken illusorisch erscheinen mag, so hat eine solch radikale Transformation der Klimabewegung durchaus Erfolgsaussichten. Die spätkapitalistische Ideologieproduktion befindet sich in einer strategischen Defensive, da sie letztendlich darauf hinausläuft, die Bevölkerung mit dem Verlust ihrer ökologischen Lebensgrundlagen zu versöhnen. Und ob dies dem Medienbetrieb samt Kulturindustrie gelingt, ist doch sehr die Frage. Die Einsicht der „Letzte Generation“, bei ihren Protesten ums kollektive Überleben zu kämpfen, muss somit nur auf die systemische Ebene gehoben werden, anstatt die Proteste als solche zu kritisieren. Immer deutlicher wird es sich in den kommenden Jahren abzeichnen, dass gerade ein Festhalten am Kapitalismus extremistisch ist – und nicht dessen Überwindung.

Dieser sich offen abzeichnende Abgrund, in den der Spätkapitalismus in seiner Agonie taumelt, lässt perspektivisch Ideologie überflüssig werden. Irgendwann wird das zerrüttete System sich Ideologie auch in den Zentren nicht mehr leisten können. Die Gefahr blanker Repression, nackter Gewaltherrschaft, mit der das System selbst in seinem Kollaps jedwede emanzipatorische Alternative erstickte, nimmt gerade aufgrund der Unmöglichkeit eines kapitalistischen Klimaschutzes rasch zu. Und es dürften gerade die kommenden extremen Wetterereignisse sein, die den Kampf um den Verlauf der Transformation, die sowohl emanzipatorischen Schüben wie auch staatlichen Repressionsmaßnahmen Auftrieb verschaffen dürften. Es sind nicht nur die absurd anmutenden Bemühungen des Apparats, aus den brav-bürgerlichen „Klimaklebern“, die sich bei ihren Aktionen schlicht auf das Grundgesetz berufen, eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren, die in diese Richtung deuten.

Somit müsste andererseits der Fokus progressiver und emanzipatorischer Kräfte auf dem Kampf gegen repressive, postdemokratische Tendenzen in Staat und Politik liegen. Nahezu zeitgleich mit dem Vorgehen gegen die Letzte Generation ist eine bizarr anmutende Verschwörung von Reichsbürgern, Adligen und ehemaligen Spezialkräfte-Kommandeuren der Bundeswehr ausgehoben worden, die nichts weniger als einen Staatsstreich in Deutschland plante. Diese Verhaftungen dürften einen (vorläufigen?) Warnschuss an all die rechten Seilschaften und Netzwerke im tiefen, brauen Staat der BRD darstellen, die angesichts der sich entfaltenden Krise ihre Chance wittern werden, mittels Faschismus ihr „Deutschland“ zu retten. Schon die Flüchtlingskrise ließ entsprechende Putsch-Planungen in Staat und Justizapparat der BRD aufkommen – und die Klimakrise dürfte diese faschistischen Tendenzen zur Etablierung einer offen terroristischen Krisenform kapitalistischer Herrschaft verstärken. Der Kampf um die Aufrechterhaltung der krisenbedingt schrumpfenden demokratischen Manövrierräume ist somit allein schon deswegen notwendig, damit nicht irgendwann die bloße Suche nach Systemalternativen zur kapitalistischen Dauerkrise als „extremistisch“ eingestuft und mit „Präventivhaft“ – oder dem bloßen Verschwindenlassen – bedacht wird.

erschien gekürzt in Konkret 02/2023

Tomasz Konicz schrieb in konkret 1/23 über den Rohstoffhunger des „grünen“ Kapitalismus

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Oben      —    Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes, die Grundrechte (Ursprungsfassung), am Jakob-Kaiser-Haus in Berlin

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 1. März 2023

Bussis auf der Berlinale, woanders wird gestorben

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KOLUMNE VON – ULI HANNEMANN

Wer ist größerer Infektionstreiber, die Coronale aka Berlinale oder Karneval? Gleichzeitig dreht Söder frei und das Morden in der Ukraine geht weiter.

Die Coronale geht in die zweite Woche. Die Berlinale meine ich natürlich, auf der eine Coronaparty nach der anderen gefeiert wird: Bussi, Bussi, wer will noch mal, wer hat noch nicht? Hier ist meine Kippe, da mein Glas und dort mein Schnodder – Virenschleudern aller Länder, vereinigt euch! Oder frei nach Wilhelm Busch: „Dass sie von dem Aerosole / eine Portion sich hole / wofür sie besonders schwärmt / wenn die Krankheit aufgewärmt.“

Unsere Berlinalefreundin war bei meiner Frau zu Besuch, ich bin so lange in meine kleine Wohnung zurückgezogen, die meine ukrainischen Gäste nach zehn Monaten hier wiederum Richtung Dnipro verlassen haben. Für sie kein guter Zeitpunkt, dem jedoch praktische Zwänge zugrundeliegen. Doch für mich kam diese Ringtauschmöglichkeit gerade zur rechten Zeit, denn ich war leider einmal mehr Corona-positiv. Da wollte ich die beiden Damen natürlich nicht anstecken. Das sollen sie schon bitte selbst tun, dafür sind die Berliner Filmfestspiele schließlich da.

Am Montag und Dienstag wetteiferte das Festival noch in harter Konkurrenz mit dem Karneval. Dessen aufgrund vieler Freiluftveranstaltungen geringeres Infektionspotenzial macht er locker durch Masse wett. Wo sich Millionen Bützchen geben, fällt auch für Freund Covid sein ungesundes Scherflein ab.

Am Aschermittwoch war dann alles vorbei. Freigetestet hatte ich mich am Vortag, nun drehte in Passau ein Volkstribun frei: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zog beim politischen Aschermittwoch der CSU fett vom Leder. Im Angesicht von 74.000 Alkoholtoten im Jahr („Bavarian way of life“) warnte er vor der Legalisierung von Cannabis und der düsteren „Woke-Wolke“, die „unseren weiß-blauen Himmel zu verdunkeln droht“.

Höhnender Volkstribun

Die Ampel-Koalition verhöhnte er als „schlechteste Regierung, die Deutschland je hatte“, was im Umkehrschluss ja implizit nur heißen kann: „Unter Adolf war nicht alles schlecht“, so wie ich es in meiner Jugend selbst noch häufig von Älteren zu hören bekam. Solche NS-Zombies hatte ich nämlich auch als Lehrer, bevorzugt für Geschichte. „Den Bock zum Gärtner machen“, würde man das heute nennen, damals war es Normalität.

Während hier gefeiert wurde, wurde woanders gestorben. Vor allem in den Erdbebenregionen in der Türkei und in Syrien, sowie in der Ukraine. Hier war die große Frage zum am 24. Februar sich erstmals jährenden Überfall Russlands: Was fällt den Russen „zur Feier“ dieses Tages wohl ganz besonders Fieses ein?

Denn ein symbolträchtiges Datum wie das einjährige Jubiläum ihres Terrorangriffs lassen sie üblicherweise nicht ungenutzt verstreichen. Schließlich stehen in Dnipro und anderswo noch immer ein paar Wohnhäuser, und die gut geschmierte Mordmaschinerie läuft bei solchen Gelegenheiten stets auf besonders hohen Touren; es wirkt, als begingen Mörder ihre Silvesterparty mit einem todbringenden Feuerwerk.

Putinflüsterer am Brandenburger Tor

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 28. Februar 2023

Erdbeben in Türkei und Syrien: – Alleingelassen

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Kolumne von Fatma Aydemir

Die türkische Regierung beschlagnahmt Hilfsgüter, die deutsche Regierung macht Visa kaum erreichbar. Wie können wir den Menschen jetzt helfen?

Fast drei Wochen ist nun das erste von einer Reihe verheerender Erdbeben in der Türkei und Syrien her, noch immer gibt es Menschen, die auf der Straße ausharren müssen. Betroffene aus der Südosttürkei bitten auf Social Media verzweifelt um Zelte, weil die Nächte so kalt sind draußen. Auch ihre Toten scheinen bislang nicht alle geborgen zu sein. Die türkische Regierung aber weist alle Vorwürfe zurück. „Schufte“ nannte Erdoğan kürzlich im Fernsehen jene Betroffenen, die behaupteten, der staatliche Katastrophenschutz helfe ihnen nicht.

Derweil häufen sich Berichte über beschlagnahmte Hilfsgüter. Die Regierung in Ankara wolle die Verteilung zentral organisieren, heißt es, in der Praxis aber verzögert das die Ankunft von Lebensmitteln, warmer Kleidung und Unterkünften in den betroffenen Gebieten. Das Gegenteil von gut ist auch nicht gut gemeint, sondern gleichgültig. Recherchen legen nahe, dass kurdische und alevitische Dörfer systematisch benachteiligt werden bei der Verteilung. Die Zivilbevölkerung ist somit in weiten Teilen des Gebiets auf sich allein gestellt und versucht, an den Verwaltungen und Beschlagnahmungen vorbei zu helfen. So gut wie es eben mitten in einer schweren Wirtschaftskrise geht.

Um mich herum beobachte ich immer mehr Menschen in der Diaspora, die mit relativ kleinen, aber originellen Initiativen versuchen, Geld zu sammeln, weil auch hier die bloße Spendenbereitschaft mit der steigenden Inflation sinkt. Mal wird für einzelne Orte gesammelt, zu denen ein direkter Kontakt besteht, mal für Vereine, die versuchen an die schwerer zugänglichen Orte beispielsweise in Nordsyrien zu gelangen.

KüFas (Küchen für alle) werden aus dem Boden gestampft, Konzerte organisiert, Märkte veranstaltet, Fundraiser-Partys geschmissen, T-Shirts gedruckt, Schreib-Coachings gegen Spenden angeboten. Aus der Ferne mag sich ein drei- bis vierstelliger Betrag, der mit so einer Initiative bestenfalls zustande kommt, nichtig anfühlen angesichts der großflächigen Verwüstung. Bedenkt man aber, dass der monatliche Mindestlohn in der Türkei bei 425 Euro liegt, kann wirklich jeder Euro eine warme Mahlzeit für jemanden bedeuten.

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Immer noch strenge Auflagen

Was kann man aber derzeit mehr tun, als Geld rüberzuschicken? Die Bundesregierung machte den syrischen, türkischen und kurdischen Communitys Hoffnungen, als nach dem ersten Erdbeben Visa-Erleichterungen angekündigt wurden. Viele Betroffene haben Verwandtschaft in Deutschland, bei der sie unterkommen könnten, bis es wieder bewohnbare Häuser und eine lebenswerte Infrastruktur gibt. Ernüchterung folgte, als die „Erleichterungen“ konkreter wurden, die alles sind, bloß nicht leicht: Für syrische Staatsbürger_innen ist es praktisch immer noch unmöglich, Visa zu beantragen, wenn sie nicht in der Türkei leben.

Für alle anderen hat das Visa-Verfahren derweil immer noch strenge Auflagen für Bürgschaften (500 Euro pro Gast pro Monat müssen vom Einladenden über die eigenen Fixkosten hinaus garantiert werden). Es bleibt auch die bürokratische Auflage, eine hier im Amt erstellte Verpflichtungserklärung im Original per Post in die Türkei zu senden, damit dort überhaupt ein Antrag gestellt werden kann.

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —       Rescatistas buscando sobrevivientes en el sitio de un edificio derrumbado en Hama, Siria, el 6 de febrero de 2023.

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Afrika im Afrobeat

Erstellt von Redaktion am 27. Februar 2023

Nie mehr Eintagsfliege sein

Ein Debattenbeitrag von Dominic Johnson

In immer mehr Ländern Afrikas bringt der Unmut der Menschen Außenseiter an die Macht, die zumindest für einen kurzen Moment Veränderung verheißen.

Als Kind hatte Sodea So Ne Kpekase große Pläne. Der kleine Kameruner machte gerne Musik, er bastelte mit Elektrogeräten und er wollte Wasserminister werden. Aber sein Vater hatte andere Ideen. Sein Sohn sollte das Vieh hüten, damit seine fünf Brüder und die große Schwester zur Schule gehen können.

Sodea sagte Nein und wurde von der Familie verstoßen, im Alter von 13 Jahren. Er biss sich alleine durch und landete doch noch auf der Hochschule. „Ich erlebte Fehlschläge, aber ich legte die Hände nicht in den Schoß,“ beschreibt er seinen Lebensweg im Informationsbrief seiner kamerunischen Jugendaktivistengruppe, der unter dem Motto „Gemeinsam die Welt verändern“ erscheint. Mittlerweile sitzt Sodea So Ne Kpekase im Jugendparlament von Kamerun, eine Plattform, in der Jugendliche so tun können, als seien sie Abgeordnete, sich als „Honorable“ bezeichnen, eine Amtsschärpe umlegen und diversen nützlichen Aktivitäten nachgehen, die Kameruns Staat vernachlässigt. Sodea zum Beispiel hilft Familien in seiner Heimatregionen, Geburtsurkunden für ihre Kinder ausgestellt zu bekommen – ein für viele Menschen mit hohen Hürden verbundener bürokratischer Prozess, ohne den aber keine Teilhabe am staatsbürgerlichen Leben möglich ist.

Sodeas Geschichte ist typisch in Ländern wie Kamerun, wo die meisten Menschen in Armut leben, Kinder die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, restriktive familiäre Vorgaben das Erwachsenwerden prägen und Aufstieg das Privileg weniger darstellt. Ökonomen zufolge haben nur 10 Prozent der kamerunischen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter überhaupt eine bezahlte Arbeit im formellen Sektor, der Rest überlebte informell als Prekariat. Anderswo sieht es nicht viel besser aus. Die meisten Menschen sehen das Leben der Reichen und Schönen an sich vorbeiziehen, während sie selbst nicht wissen, was ihre Kinder am nächsten Tag essen sollen.

In der Demokratischen Republik Kongo sagt das Sprichwort, der Durchschnittskongolese habe eine Lebenserwartung von täglich verlängerbaren 24 Stunden („24 heures renouvelables“). Ein politisches System, das dem Rechnung tragen könnte, muss erst noch erfunden werden. Demokratische Institutionen mit freien Wahlen bringen wenig, wenn die meisten Menschen den Status von Eintagsfliegen haben, die sich von Scheiße ernähren müssen und sich an der Wahlurne bloß zwischen unterschiedlichen Haufen entscheiden sollen. Hoffnung bestünde darin, gar keine Eintagsfliege mehr zu sein, aber diese Option steht nicht zur Wahl.

So haben regelmäßige demokratische Machtwechsel in Afrika ihren Glanz verloren. In Ghana oder Sambia, wo der Regierungswechsel zwischen etablierten politischen Kräften inzwischen Routine ist, hat sich das Leben dadurch nicht verbessert. Eher erscheinen solche Länder noch anfälliger für Wirtschaftskrisen, weil die neuen Regierungen immer vor allem die Hinterlassenschaften ihrer Vorgänger ausmisten müssen.

Immer öfter punkten daher politische Außenseiter, die gegen das System an sich antreten, als selbst ernannte Quereinsteiger und Heilsbringer, die der verelendeten Masse die Tore zum Paradies öffnen sollen. Wo 90 Prozent der Bevölkerung Außenseiter sind, kann echte Demokratie eigentlich gar nicht anders funktionieren. In Nigeria muss Peter Obi, der als Spitzenkandidat einer Minipartei antritt, die Wahlen gar nicht gewinnen, um Nigerias Wahljahr 2023 zu prägen: Er sagt dem Politestablishment den Kampf an, predigt in einem der korruptesten Länder der Welt Genügsamkeit und Einfachheit und landet damit an der Spitze mancher Umfragen. Obi ist in Wirklichkeit selbst längst Teil der Elite, aber er wirkt glaubwürdiger als seine Kollegen, weil er die Werte dieser Elite kritisiert.

William Ruto in Kenia gewann vergangenes Jahr die Präsidentschaftswahl mit der Selbstbezeichnung „hustler“ – jemand, der ständig irgendwelche Geschäfte am Laufen hat und sich durchboxt. Rutos Lebensgeschichte vom Armenjungen zum Millionär war überzeugender als die seines Konkurrenten Raila Odinga, der zwar für eine inklusivere Politik antrat, aber als Sohn eines Unabhängigkeitshelden den Makel des Dynastiezöglings nicht ablegen konnte. Von Exfußballstar George Weah in Liberia bis zum Millionär Sam Matekane in Lesotho reicht die Liste weiterer Außenseiter, die Wahlen gewinnen und an die sich immense Hoffnungen auf Veränderung knüpfen.

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben      —     „802727AI (R02109) 11-00.“ Available also through the Library of Congress Web site as a raster image.

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