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Archiv für die 'Kriminelles' Kategorie

Wagenknecht für unabhängige Untersuchung zu Nawalnys Todesumständen

Erstellt von Redaktion am 21. Februar 2024

Berlin.

Die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht hält eine unabhängige Untersuchung zu den

Todesumständen des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny für geboten.

Die russische Führung solle diese zulassen, um zu klären,

woran Nawalny gestorben sei, sagte sie am Dienstag in Berlin.

Sowohl die Haft als auch die Haftbedingungen von Nawalny seien

gravierende Menschenrechtsverletzungen gewesen, sagte Wagenknecht.

Auch wenn man die Umstände des Todes noch nicht kenne, könne man sagen:

»Es ist ziemlich klar, dass der Tod von Alexej Nawalny

in der Verantwortung des russischen Machtapparates liegt.

Ohne diese Haft und ohne diese Haftbedingungen würde natürlich Herr Nawalny noch leben.«

Wagenknecht sagte, eine Antwort auf dieses »furchtbare Ereignis«

wäre die sofortige Freilassung von Wikileaks-Gründer Julian Assange.

»Auch Julian Assange ist ein politisch Gefangener.

Auch er wird festgehalten, weil er Verbrechen aufgedeckt hat,

weil er in dem Falle amerikanische Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat.«

Auch bei Assange sei die Lage nach Aussage seiner Angehörigen so,

dass eine längere Haft dazu führen könnte, dass er diese nicht überlebe.

Carsten Koall/dpa   (dpa/jW)

Quelle:

https://www.jungewelt.de/artikel/470153.wagenknecht-f%C3%BCr-unabh%C3%A4ngige-untersuchung-zu-nawalnys-todesumst%C3%A4nden.html

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Schöne Worte reichen nicht

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Der Westen muss aufhören, die Brandstifter zu hofieren.

Wer in der Politik kein Pack hofiert – bleibt selber im dunkeln stehen !

Ein Debattenbeitrag von Manfred Dauster und Alexander Rhotert

28 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica schüren serbische Nationalisten alte Konflikte. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Verbrechen wohl in Vergessenheit geraten.

Am 11. Juli jährt sich der Genozid an 8.372 Bosniaken in Srebrenica zum 28. Mal. Obwohl es dank des ehemaligen Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, ein Gesetz gibt, das die Leugnung des Völkermords unter Strafe stellt, wird dieser vom bosnischen Serbenführer Milorad Dodik gebetsmühlenartig bestritten. Die fehlende Durchsetzung der Strafvorschriften des bosnischen Strafgesetzbuchs gegenüber denjenigen, die laut und deshalb auch vorsätzlich diese Vorschriften verletzen, legt deutlich die Defizite des Rechtsstaats offen.

Srebrenica steht exemplarisch für die von Serben begangenen Kriegsverbrechen. Warum verbeißt sich Dodik seit Jahren in Srebrenica und leugnet diesen ersten Völkermord in Europa nach 1945? Eben weil der Genozid ein Menschheitsverbrechen ist. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Gräueltaten wohl vergessen. Wer erinnert an die Belagerung Sarajevos – die längste Belagerung einer Hauptstadt in der Geschichte, bei der über 11.000 Bosniaken, Serben, Kroaten, Roma, Juden und Angehörige anderer Gruppen durch serbisches Artillerie- und Scharfschützenfeuer starben? Wer erinnert an die Zehntausenden zumeist bosniakischen Mädchen und Frauen, die in serbischen Vergewaltigungslagern in Foča, Višegrad und anderswo monatelang gefoltert wurden? Wer erinnert an die ausgemergelten Insassen der serbischen Konzentrationslager Trnopolje, Keraterm und Omarska, in denen Tausende Bosniaken und Kroaten ermordet wurden?

Was Dodik, aber auch den heutigen serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić bewegt, den Genozid immer wieder kleinzureden, ist die Tatsache, dass der Name Srebrenica für alle Zeiten mit der serbischen Geschichte verbunden sein wird – genau wie Auschwitz mit der deutschen Geschichte. Die Anerkennung dieser monströsen Verbrechen und der Schuld ist die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Aber daran ist der serbischen Führung nicht gelegen. Grund hierfür sind Pläne von Kumpanen des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, dessen großserbisches Projekt zu verwirklichen.

Vučić und sein Außenminister Ivica Dačić waren während der von Milošević angezettelten Kriege dessen Propagandisten. Vučić erklärte in einer Rede vor dem Parlament am 20. Juli 1995, dass man für jeden getöteten Serben 100 Bos­nia­ken umbringen werde. Gleichzeitig war der Genozid von Srebrenica in vollem Gange, unter Beteiligung von Spezialeinheiten des Belgrader Innenministeriums, die gefesselte Jugendliche mit Schüssen in den Rücken ermordeten.

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Trotz Vučić’und Dačić’Vergangenheit als Schergen Milošević’unterstützen die USA und weitere westliche Mächte die aktuelle serbische Regierung und betrachten sie Stabilitätsfaktor in der Region. Dabei hat erst Ende Mai das UN-Tribunal in Den Haag zwei Mitstreiter von Milošević, die ehemaligen Chefs des staatlichen serbischen Sicherheitsdienstes Jovica Stanišić und Franko Simatović, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz und für Bosnien von großer Bedeutung, denn die beiden wurden wegen ihrer Rolle während des Angriffskriegs Serbiens gegen Bosnien für schuldig befunden.

In Deutschland wird das kaum wahrgenommen. Erst vor Kurzem stellte ein Journalist einer deutschen Tageszeitung in Frage, ob Srebrenica tatsächlich das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Immerhin seien in Bleiburg im Mai 1945 mehrere Zehntausend Anhänger des faschistischen kroatischen Ustaša-Regimes von den kommunistischen Partisanen Josip Broz Titos umgebracht worden. Doch ein von der internationalen Strafjustiz anerkannter Völkermord wie der in Srebrenica ist nicht einfach mit anderen Kriegsverbrechen vergleichbar. Was der unwissenschaftliche und ahistorische Vergleich aber trotzdem bewirken kann, ist eine Retraumatisierung der Überlebenden des Genozids. Alle, die sich mit dem Thema Srebrenica beschäftigen, sollten sich mehr Zurückhaltung auferlegen und sensibler damit umgehen.

Vor einem Jahr, am 11. Juli 2022, hielt der Hohe Repräsentant Christian Schmidt eine „Nie wieder“-Rede in Srebrenica. Gleichzeitig beseitigten Serben im nur 15 Kilometer entfernten Kravica Spuren in einer Lagerhalle, in der serbische Soldaten im Juli 1995 über 1.300 Menschen ermordet hatten. Das UN-Tribunal hatte die Lagerhalle als Tatort deklariert. Diese Stätte des Grauens hätte Schmidt mit einer Unterschrift erhalten können.

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —   An exhumed mass grave in Potocari, Bosnia and Herzegovina, where key events in the July 1995 Srebrenica Massacre unfolded. July 2007.

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Die Hölle auf Erden

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Es gibt gute Gründe, Afghanistan zu helfen. 

Ein Debattenbeitrag von Theresa Breuer

Aber den Preis zahlen die Frauen und Mädchen. Für sie gibt es unter den Taliban keine Freiheit. Am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab und schlossen Mädchenschulen.

Kaum ein Land auf dieser Welt behandelt Frauen so schlecht wie das Taliban-Regime. In weniger als zwei Jahren haben die selbsternannten Gotteskrieger die Hölle auf Erden geschaffen. Nichts anderes hatten sie angekündigt. Die Taliban leben ihre menschenverachtende Geisteshaltung. Ihren Worten lassen sie Taten folgen – im Gegensatz zu unserer Bundesregierung.

Am Flughafen von Kabul spielten sich apokalyptische Szenen ab, als die Taliban im August 2021 in Kabul einmarschierten. Zehntausende Menschen versuchten zu fliehen, klammerten sich in ihrer Verzweiflung an Flugzeuge und stürzten in den Tod. Die Welt war entsetzt. Trotzdem mahnten konservative Politiker in Deutschland, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 kündigte Außenministerin Annalena Baerbock an: „Viele Menschen leben in täglicher Angst. Das gilt besonders für diejenigen, die mit uns für eine bessere Zukunft Afghanistans gearbeitet, daran geglaubt und sie gelebt haben. Am schwersten ist die Lage für die besonders gefährdeten Mädchen und Frauen. Gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung, und wir werden sie nicht im Stich lassen.“ Die Ampelregierung beschloss ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghaninnen und Afghanen. Es sollte gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgearbeitet werden. Die Zusammenarbeit war ein einziges Debakel.

Monatelang ließ das Innenministerium auf sich warten, bis Gefährdungskriterien für das Programm veröffentlicht wurden. Das Geschlecht allein hätte gereicht. Die Zeit raste. Schon am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab, schlossen Mädchenschulen und schlugen die anschließenden Proteste nieder.

Trotzdem hatten die Vereinten Nationen gehofft, die Taliban zur Einsicht bringen zu können. Ohne Erfolg. Im Mai verkündeten die Taliban die Burka-Pflicht. Frauen sollten ab sofort nur noch im Ganzkörperschleier das Haus verlassen dürfen. Das Gewand schränkt Sicht und Bewegungsfreiheit ein, es gleicht einem Gefängnis aus Stoff. Auf die Ankündigung folgte ein internationaler Aufschrei. Der Erlass war provokativ und völlig überflüssig. Die Burka ist keine Erfindung der Taliban. In vielen Teilen des Landes gehen Frauen ohne Burka nicht aus dem Haus – sofern es ihnen überhaupt erlaubt ist, das Haus zu verlassen. Warum ein Gesetz erlassen, das ungeschrieben seit Generationen gilt?

Ganz einfach, weil sie es können. Die selbsternannten Gotteskrieger haben eine Weltmacht gedemügt und bloßgestellt. Von den hehren Motiven, mit denen die USA und ihre Verbündeten den Krieg rechtfertigten, ist nicht viel übrig geblieben. Der überhastete Abzug ist zum Sinnbild westlicher Scheinheiligkeit geworden. Nun herrscht ein Terrorregime, mit dem der Westen nicht verhandeln will, es aber auch nicht ignorieren kann. Zu viel Elend würde die Aufmerksamkeit wieder auf Afghanistan lenken, Fragen von Schuld und Verantwortung aufwerfen. Niemand hat ein Interesse daran, Bilder von hungernden Kindern zu produzieren. Das ist verständlich, aber verschlimmert das Problem. Wir helfen dem Taliban-Regime zu überleben und opfern dafür die Frauen.

Das System der Taliban ist perfide. Indem der Erlass nicht Frauen selbst, sondern ihre männlichen Angehörigen bei Verstößen bestraft, macht es alle Männer in Afghanistan zu Komplizen der Taliban. Sie sind für das Verhalten ihrer Frauen verantwortlich, müssen dafür sorgen, dass die weiblichen Angehörigen die Regeln der Taliban befolgen. Der Erlass beraubt Frauen jeglicher Autonomie, gibt ihnen keine Chance mehr, sich gegen­ die Vorschriften aufzulehnen oder bei Widerstand ins Gefängnis zu gehen. Das Gesetz entmenschlicht Frauen, degradiert sie zu Eigentum ihrer männlichen Verwandten. Es schränkt nicht nur die Freiheit von Frauen ein, es gibt vor allem Männern in der Gesellschaft uneingeschränkte Macht.

Kaum eine Frau in Afghanistan wird sich einer Regel widersetzen, wenn am Ende nicht sie selbst, sondern ihr männlicher Vormund dafür bestraft wird. Wenn es doch eine Frau wagen sollte, wird sie wahrscheinlich keine Märtyrerin für Frauenrechte, sondern nur ein weiteres Opfer von häuslicher Gewalt. Afghanistan galt auch vor der Herrschaft der Taliban als eines der schlimmsten Länder für Frauen weltweit. Frauen werden von männlichen Angehörigen geschlagen, verstümmelt, mit Säure überschüttet und in Brand gesetzt. Als ein guter Ehemann gilt allein ein Mann, der seine Frau nicht grundlos schlägt.

Die Taliban machen es einem leicht, Afghanistan zu vergessen. Sie begehen keine Massaker und ziehen auch nicht plündernd oder vergewaltigend durch das Land. Sie schränken Rechte ein. Die internationale Staatengemeinschaft fordert, das zu unterlassen. Die Taliban unterlassen es, dieser Forderung nachzukommen.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —      Afghanistan collage, from left to right: 1. Bamyan province, 2. The Salang Pass between Parwan and Baghlan provinces, 3. Band-e Amir National Park in Bamyan province, 4. River in Nuristan province.

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Beobachter ausgeschlossen:

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Europarat wird Künstliche Intelligenz ohne Zivilgesellschaft regulieren

Was mag der wahre Grund sein, wenn freie Länder sich von ihren ehemaligen Hinterbänklern dirigieren lassen ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von          :     

Der Europarat will „Künstliche Intelligenz“ regulieren – allerdings ohne die Zivilgesellschaft. Überraschend hat er zivilgesellschaftlichen Organisationen den Beobachterstatus bei den Verhandlungen zu der KI-Konvention entzogen. Die Organisationen kritisieren die Entscheidung in einem offenen Brief.

Nicht nur die Europäische Union will „Künstliche Intelligenz“ (KI) regulieren, sondern auch der Europarat. Er hat vor mehr als einem Jahr Verhandlungen zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI-Konvention) aufgenommen. Der Europarat ist eine europäische internationale Organisation und kein institutionelles Organ der EU. Ihm gehören seit dem Ausschluss Russlands im vergangenen Jahr 46 Staaten an.

Die geplante KI-Konvention soll Staaten dazu verpflichten, keine Menschenrechte zu verletzen, wenn sie KI-Systeme entwickeln oder nutzen. Überraschenderweise hat der Europarat mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, die einen Beobachterstatus bei den Verhandlungen hatten, vor die Tür gesetzt. Das Vorgehen kritisieren zehn zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief (PDF), unter ihnen die Digitale Gesellschaft Schweiz und AlgorithmWatch.

Die Organisationen bedauern, „dass die verhandelnden Staaten beschlossen haben, sowohl Beobachter der Zivilgesellschaft als auch Mitglieder des Europarates von den formellen und informellen Sitzungen der Redaktionsgruppe des Übereinkommens auszuschließen.“ Damit untergrabe der Europarat seine Transparenz- und Rechenschaftspflichten. Außerdem stehe die Entscheidung im Widerspruch zur gängigen Praxis des Europarats und zum Mandat des CAI, wonach die Zivilgesellschaft zu dessen Arbeit beizutragen habe.

Die Digitale Gesellschaft Schweiz schreibt in einem Blogbeitrag über den Ausschluss:

Zu Beginn der Verhandlungen wurde die Wichtigkeit der Transparenz betont. Nun haben sich die aktuell verhandelnden Staaten jedoch dazu entschieden, insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen mit Beobachterstatus von den Diskussionen zur KI-Konvention auszuschließen. Auch die Mitgliedsorganisationen des Europarats, die derzeit nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt sind, wurden ausgeschlossen. Diskussionen und Entscheidungen sollen ohne die Anwesenheit von Beobachtern stattfinden. Sie sollen nur noch die Möglichkeit haben, gelegentlich Stellung zu nehmen. Beobachter sollen nicht mehr beobachten dürfen.

Bliebe es bei der Entscheidung, drohe die Konvention zu einem Papiertiger zu verkommen, so die Digitale Gesellschaft Schweiz weiter.

Transparenz untergraben

Trotz ihrer Enttäuschung unterstreichen die zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihrem offenen Brief die Notwendigkeit der KI-Konvention:

In den vergangenen Monaten haben sich die Standpunkte der einzelnen Länder dramatisch verändert. Das unterstreicht die Notwendigkeit, rasch ein globales Übereinkommen für den Umgang mit KI zu verabschieden. Sowohl die Gesellschaft als auch der öffentliche und private Sektor fordern nun weltweit neue Regeln für den Umgang mit KI.

Die Organisationen bekräftigen, den Verhandlungsprozess von außen weiter beobachten und kommentieren zu wollen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —      A picketer, David James Henry, carries a sign that reads „A.I.’s not taking your dumb notes!“

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Ich fühle mich begafft

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Meta legt KI-Systeme offen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von               :        

So genau wie nie verraten Facebook und Instagram nun, wie und wofür sie unsere Klicks überwachen. Die neue Transparenz von Meta beantwortet unser Autor mit Transparenz über seine Gefühle. Ein Kommentar.

Jetzt lässt sich im Detail nachlesen, was im Prinzip schon lange bekannt ist. Die Meta-Töchter Instagram und Facebook erfassen und verarbeiten so ziemlich alles, was Menschen auf ihren Plattformen machen. Daraus berechnen sie Prognosen über unser Verhalten.

Meta erklärt das auf einer neuen Infoseite, geordnet nach 22 Bereichen wie Facebook-Benachrichtigungen, Facebook-Feed, Instagram-Stories, Instagram-Reels. Für jeden Bereich berechnen Algorithmen ein Bündel aus Prognosen und werten teils dutzende Datenpunkte aus. Passend zum aktuellen KI-Hype spricht Meta von „KI-Systemen“.

Facebook berechnet etwa die Wahrscheinlichkeit, wie lange ich mir ein Foto anschauen werde, ob ich weiterscrolle, like oder kommentiere, ob ich mir weitere Kommentare zu dem Foto durchlese, ob ich mir das Foto später nochmal anschaue, und vieles mehr. Auf dieser Grundlage landen Inhalte in meinem Feed.

Bei vorgeschlagenen Kontakten („Personen, die du kennen könntest“) berechnet Facebook die Wahrscheinlichkeit, ob ich der Person auch wirklich eine Freundschaftsanfrage schicke. Dabei kann Facebook sogar sein Wissen über mir unbekannte Freundesfreund*innen nutzen. Denn Meta bezieht ein, „welcher Prozentsatz deiner Facebook-Freund*innen in irgendeiner Art mit der vorgeschlagenen Person verbunden ist, z. B. als Freund*innen von Freund*innen“. Das heißt: Facebook weiß über mein Umfeld mehr als ich.

Die Resonanz in mir ist Wut

Schon klar, all das sollte heute niemanden mehr überraschen. Wer nicht überwacht werden will, darf solche Dienste nicht nutzen. Ganz einfach. Das war schon vor Jahren bekannt. Aus gutem Grund bin ich längst allen Kontakten bei Instagram und Facebook entfolgt und habe die Apps von meinem Handy verbannt. Mit Genugtuung. Trotzdem ist damit für mich noch nicht alles gesagt.

Mir reicht das nicht, das ganze mit einer Geste der Abgeklärtheit als „no news“ zu deklarieren. Noch vor ein paar Jahren wollten sich Forschende mithilfe von Datenspenden zusammenstückeln, wie genau Facebook uns überwacht und uns Inhalte vorsetzt. Jahrelang haben Politiker*innen um das Digitale-Dienste-Gesetz gerungen, das Plattformen wie Meta mehr Transparenz abtrotzt. Der neue, zunächst freiwillige Blick hinter die Kulissen von Meta lässt sich als Folge von diesem Gesetz interpretieren. Jetzt haben wir die Transparenz, die wir all die Jahre verlangt haben.

Wenn ich darauf achte, welche Resonanz das in mir auslöst, dann bemerke ich Wut. Mich macht bereits wütend, mit welchen Worten Meta-Manager Nick Clegg die neue Infoseite präsentiert. Clegg schreibt von der „Beziehung“ zwischen mir und den Algorithmen. Über diese „Beziehung“ wolle man jetzt „offener“ sprechen. Als wäre Meta ein Kumpel, mit dem es in letzter Zeit etwas schwierig war. Doch jetzt fassen wir uns ein Herz und rücken wieder näher zusammen. Bullshit.

Die wollen meine Aufmerksamkeit ausbeuten

Die Beziehung zwischen Meta und mir ist ein Ausbeutungsverhältnis. Es gibt keine Augenhöhe, sondern ein unüberwindbares Machtgefälle. Der Konzern höhlt meine Privatsphäre aus, um meine Aufmerksamkeit auszubeuten. Meine Aufmerksamkeit wird durch algorithmisch optimierte Inhalte gefesselt und durch Werbung zu Geld gemacht. So ist das. Man kann dabei durchaus Genuss empfinden – das habe ich im Frühjahr am Beispiel von TikTok aufgeschrieben. Es macht mich nur wütend, wenn man das schönredet.

Aber gut, lassen wir uns kurz darauf ein, dass mein Kumpel namens Meta mit mir Beziehungsarbeit machen will. In diesem Fall müsste ich meinem Kumpel sagen: Tut mir leid, das reicht noch lange nicht, damit wir uns annähern. Unsere Beziehung war von Anfang an kaputt.

Jahrelang hat Meta nur vage offengelegt, wie seine Dienste mich überwachen. Dass Meta dazu jetzt mehr verrät, ist nichts wofür man dankbar sein sollte. Es ist das Mindeste, und es kommt zu spät. Selbst heute ist die Transparenz bei genauem Hinsehen nicht ganz aufrichtig. Die langen Listen mit Dutzenden Datenpunkten sind nicht vollständig. Überall steht dabei: „Zu den Signalen, die in diese Prognose einfließen, gehören“. Das heißt, da ist vielleicht noch mehr.

Aufdringlich, übergriffig, grenzverletzend

Ich habe mir ein paar Minuten lang durchgelesen, was Meta über mich auswerten kann, hier am Beispiel von Instagram Stories:

  • Wie viel Zeit du insgesamt damit verbracht hast, dir Stories dieses*dieser Verfasser*in anzusehen
  • Auf wie viele Stories du geantwortet oder diese geteilt hast sowie die Zeit, die du im Durchschnitt damit verbracht hast, dir jede einzelne Story anzusehen
  • Wie viele Stories du dir nicht angesehen hast
  • Die gesamte Anzahl an Stories in der Collection eines*einer Verfasser*in und wie oft du dir Stories dieser Person angesehen hast
  • Wie oft du dir Stories wiederholt angesehen hast, indem du zu ihnen zurückgekehrt bist

Ein häufig vorgebrachtes Argument lautet: Selbst wer nichts zu verbergen hat, sollte sich gegen Datensammelei und Tracking stark machen. Aus Solidarität mit anderen, für die Privatsphäre überlebenswichtig sein kann. Etwa Whistleblower*innen, Dissident*innen, Menschen, die wegen Rassismus oder Queerfeindlichkeit verfolgt werden. Ich finde das Argument überzeugend. Doch sogar ohne dieses Argument merke ich, wie sehr mich diese Datensammelei ganz persönlich ankotzt.

Egal, dass ich nichts zu verbergen habe. Egal, dass Meta das nur für Geld macht. Egal, dass kein Mensch Lust und Zeit hätte, all meine Daten mit eigenen Augen zu sichten. Egal, dass mir schon nichts Schlimmes passiert, wenn ich Facebook und Instagram nutze. Ich finde diese umfassende Dauerbeobachtung extrem aufdringlich, übergriffig und grenzverletzend.

Nein sagen

Was für ein Creep muss man eigentlich sein, um einen Dienst anzubieten, der genau erfasst, bei welchen Uploads ich hängen bleibe, weil sie mich vielleicht berühren, aufregen, erregen oder verängstigen? Das hat einfach niemanden etwas anzugehen.

Um es plastisch zu machen: Wenn ich mir durchlese, was Meta über mich erfasst, dann fühle ich mich begafft, als läge ich nackt auf einem OP-Tisch, frostweißes Scheinwerferlicht auf meinem Körper, und jemand schaut sich stundenlang mit der Lupe meine Pickel an.

Ich finde, das gehört verboten. Facebook und Instagram gehören gelöscht. Online-Kontakt mit Menschen habe ich lieber über Messenger, Ende-zu-Ende-verschlüsselt.

Ich will hier aber auch keinem Vorwürfe machen, der entgegnet: „Sorry, ich fühl’s überhaupt nicht. Ich werde weiter Instagram nutzen“. Alle ziehen ihre Grenzen anders, es gibt Schlimmeres. Mit der eigenen Empörungsenergie muss man auch irgendwie haushalten.

Trotzdem finde ich es wichtig, das mal auszusprechen. Ich lehne das ab, von Meta begafft zu werden. Man muss sich nicht damit abfinden, weil Milliarden Menschen das auch tun. Es ist OK, seine Grenzen so streng zu ziehen, und es ist OK mit Blick auf Facebook und Instagram zu sagen: Nein.

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Geist aus der Flasche

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Prigoschins Aufstand hat gezeigt,
wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist.

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Von Sarah Pagong

Prigoschins Aufstand hat gezeigt, wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist. Eben weil es auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen basiert. Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Am 24. September 2011 kündigte Wladimir Putin seine erneute Kandidatur für die Präsidentschaft an. Es ist der Beginn einer autoritären Wende in Russland, die das Land in den Folgejahren immer repressiver und immer diktatorischer werden lässt.

Dmitri Medwedjew, der vier Jahre lang das Präsidentenamt bekleidet hatte, trat nicht wieder an. Er galt als Vertreter der liberal orientierten Gruppen in Russlands Elite; jemand, der Russland vermeintlich nach innen modernisieren wollte, nach außen Ausgleich mit den USA suchte und der den aggressiven Einfluss von Russlands Sicherheitsdiensten ausbalancieren konnte. Im September 2011 wurde deutlich, dass er nur ein Instrument des Machtsystems des zurückkehrenden Präsidenten Putin war. Die vermeintliche Alternative war Schall und Rauch.

Dieses Machtsystem basiert auf der Konkurrenz unterschiedlicher Eliten und Interessengruppen. Informelle Netzwerke binden diese Personen an das System: persönliche Beziehungen, die Möglichkeit, finanziell zu profitieren, oder schlicht Komplizenschaft. Jede dieser Gruppen und Personen erfüllt einen Zweck für das System Putins und den russischen Staat. Sie kontrollieren Ressourcen oder Medien, sie mehren Putins persönlichen Reichtum oder mimen eine vermeintliche Opposition oder Alternative. Jewgeni Prigoschin war Teil dieses Systems. Im Unterschied zu Medwedjew jedoch drohte die Konkurrenz zwischen Prigoschin und anderen Teilen der Elite in letzter Zeit das System zu sprengen.

Prigoschin verbrachte zu Sowjetzeiten neun Jahre im Gefängnis. Er war verurteilt worden für Raub und Diebstahl. 1990, in den Zeiten des Umbruchs, kam er frei. In den Wirren der neunziger Jahre verkaufte er Hotdogs und gründete Restaurants. Reich wurde er durch staatliche Cateringaufträge, die ihm den Namen „Putins Koch“ einbrachten.

Er hat diesen Reichtum eingesetzt im Dienste des Systems. Prigoschin finanziert Trollfrabriken in Sankt Petersburg, und er hat die Gruppe Wagner zu dem gemacht, was sie heute ist: einem privaten Militärunternehmen, das russische Interessen in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika mit immenser Brutalität durchsetzt. Mit engen Verbindungen zur extremen Rechten und guten Kontakten zum russischen Staat agiert die Gruppe Wagner dort, wo Russland offiziell nicht eingreifen kann oder will.

Das Militärunternehmen erfüllt somit eine Funktion für den russischen Staat. Prigoschin hat es dabei nicht versäumt, seine eigene Macht und Bedeutung im russischen System zu steigern und sich neue Geldquellen zu sichern. Die Gruppe Wagner war immer auch ein Instrument der Ressourcenabschöpfung in ihren Zielländern. Der Einsatz für russische Interessen in Ländern wie Mali, Sudan oder Syrien kostet Prigoschin Geld, bringt ihm aber auch neuen Reichtum in Form von Gold oder Silizium.

Die Verbindung zwischen dem Machtsystem und Prigoschin war eine Symbiose, eine informelle Beziehung zu beiderseitigem Vorteil. Putin hat stets darauf geachtet, dass keine der Elitengruppen und -personen zu mächtig wird. Die Stabilität wurde gewahrt durch Konkurrenz zwischen den Eliten: um Ressourcen, Aufmerksamkeit, Informationen. Putin garantiert und symbolisiert dieses System als oberster Schiedsrichter.

Der Streit zwischen Prigoschin und der Führung des Verteidigungsministeriums, vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, stellte genau solch eine Rivalität dar. Sie hat sich jedoch unter dem Einfluss von Russlands Krieg gegen die Ukraine radikalisiert. Für Prigoschin und die Gruppe Wagner war der Krieg eine Chance auf mehr Macht und Einfluss. Gleichzeitig hat der Krieg den Bedarf an Ressourcen für dieses Machtstreben – militärische Ausrüstung, Munition, Personal – potenziert. Es reicht nicht mehr für alle. Putin hat diese Radikalisierung lange laufen und Prigoschin mit seinen zunehmend spitzen Kommentaren gewähren lassen. Letztlich hat diese Radikalisierung das System zu sprengen gedroht.

Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Das Ergebnis ist ein für alle sichtbares Moment der Schwäche und des Kontrollverlusts des russischen Staats. Einmal mehr zeigt sich, dass scheinbar stabile autoritäre Systeme fragil sind. Sie basieren auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen. Diese Balance ist anfällig, da sie auf informellen Arrangements aufbaut und nicht auf allgemein anerkannten und rechtsstaatlich durchgesetzten Regeln. Diese Schwäche hat sich am Wochenende des 23./24. Juni an drei Faktoren gezeigt: einem Verlust der Kontrolle über Information sowie einem über Teile des Territoriums und in mangelndem Strafvermögen.

Der Kreml und Putin verloren am Freitagabend die Kontrolle über die Information und das Narrativ. Prigoschin hat sich über soziale Medien und vor allem Telegram in den letzten Monaten einen eigenen Zugang zur russischen Bevölkerung geschaffen. Er ist nicht abhängig von staatlichen oder staatlich kontrollierten Medien, sondern er spricht die Menschen direkt, unmittelbar und auf authentisch wirkende Weise an. Der russische Staat konnte die Nachrichten über die Kontrolle von Rostow am Don und den anschließenden Vorstoß der Gruppe Wagner Richtung Moskau nicht kontrollieren oder gar leugnen. Putin war in einem Dilemma: Sagt er nichts, überlässt er Prigoschin das Feld. Äußert er sich, verleiht er Prigoschin weitere Reichweite und dessen Handeln Bedeutung. Er musste sich für Letzteres entscheiden, zu deutlich war das Schweigen wahrzunehmen. Die Rede Putins, mit der er am Samstagmorgen schließlich reagierte und die Prigoschin als Verräter brandmarkte, hat den Wagner-Chef in seinen Aussagen noch radikalisiert. Er griff Putin nun persönlich an. Die sich überhitzende Elitenkonkurrenz entwickelte sich von der Stütze des Systems nun endgültig zu dessen größtem Problem.

Das Machtsystem Russlands verlor auch die Kontrolle über Teile seines Territoriums. Die Gruppe Wagner konnte gegen nur begrenzten Widerstand Rostow am Don kontrollieren, einen zentralen Logistikknotenpunkt für den Krieg gegen die Ukraine, und über Woronesch weiter Richtung Moskau vordringen. In den Medien verbreiteten sich statt Bildern einer gezielten und massiven militärischen Antwort seitens des Staats vor allem solche von Baggern, die die Schnellstraße Richtung Moskau aufrissen. Das Ende dieses Aufstands wurde schließlich nicht militärisch herbeigeführt, sondern durch einen vom belarussischen Präsidenten vermittelten Deal. Der Brandmarkung Prigoschins als Verräter folgte nicht etwa eine machtvolle Reaktion, sondern eine Verhandlung, die dem Systemsprenger einen Kompromiss unterbreitete.

Den dritte Kontrollverlust bildet das unmittelbare Ausbleiben einer existenziellen Strafe. Das Machtsystem hat Kontrolle – neben der Belohnung von Gefolgschaft – auch immer über die Bestrafung von Abtrünnigen ausgeübt. Die zahlreichen getöteten, ins Exil getriebenen und in Lagern sitzenden Jour­na­lis­t:in­nen und Oppositionellen sind Zeugen solcher Strafen. Prigoschin jedoch hat genau dieses Schicksal zunächst einmal nicht ereilt. Sein „Marsch auf Moskau“ wurde nicht ultimativ bestraft – auch wenn berechtigte Zweifel bleiben, ob Prigoschin nicht doch noch einen hohen Preis zahlen wird. Die Verhandlung bescherte dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko dagegen ein unerwartetes Comeback. Er und Belarus bleiben von Russland abhängig, aber der Aufstand hat ihm nicht nur die Gelegenheit geboten, sich medienwirksam als Vermittler darzustellen, sondern auch als dem russischen Staat und der Sicherheit des Lands verschriebenen Verbündeten, der in der Krise zur Hilfe eilt.

Seit dem letzten Wochenende hat das Machtsystem Risse. Die Idee eines omnipotenten russischen Staats, eines allmächtigen russischen Präsidenten hat auch vorher nicht der Wahrheit entsprochen, aber nun ist die Sache für alle erkennbar, innerhalb und außerhalb Russlands. Putins Politik, seine Handlungen, seine Worte werden nun auf Anzeichen von Schwäche geprüft werden. Anstatt sich auf den Nimbus der Macht verlassen zu können, wird er stetig versuchen müssen, ihn wiederherzustellen.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen  

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Grafikquellen     :

Oben       —     Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Frankreich tut weh

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Polizist tötet Jugendlichen in Nanterre

Aus Paris von Rudolf Balmer

Im Pariser Vorort Nanterre hat ein Polizist einen Jugendlichen erschossen – schon wieder. Dieses Mal meldet sich auch Fußballstar Kylian Mbappé zu Wort.

Im Pariser Vorort Nanterre hat am Dienstagvormittag ein Verkehrs­polizist einen Jugendlichen im Verlauf einer Kontrolle mit seiner Dienstwaffe tödlich verletzt. Der 17-Jährige am Lenkrad eines Pkw habe versucht, sich einer polizeilichen Überprüfung seiner Papiere zu entziehen, und damit die beiden Beamten in Gefahr gebracht. Darum habe der Polizist zu seiner Verteidigung „in angemessener Weise“ reagiert, lautete dazu die erste offizielle Version. Suggeriert wurde damit, dass der Polizist zu seiner eigenen Verteidigung geschossen habe oder schießen musste.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen

Doch die Zweifel an dieser Notwehrthese sind erheblich: Im Internet war wenig später ein Video der Kontrolle zu sehen. Darauf ist deutlich zu erkennen, wie einer der Polizisten neben dem gestoppten gelben Mercedes den Fahrer mit seiner Pistole bedroht. Trotz des Verkehrslärms ist zu hören, wie einer der beiden Beamten unter anderem schreit: „Du bekommst eine Kugel in den Kopf!“ Daraufhin setzt sich das Fahrzeug im Schritttempo in Bewegung, und der verhängnisvolle Schuss fällt, der Wagen rollt noch ein paar Meter weiter, bis er an ein Verkehrsschild prallt. Der in der Herzgegend verletzte Jugendliche starb wenige Minuten später nach vergeblichen Wiederbelebungsbemühungen der Sanitäter einer Ambulanz.

Während Politiker des rechtspopulistischen Rassemblement national und der konservativen Partei Les Républicains sogleich das Vorgehen der Polizei in Nanterre verteidigten und deren Recht auf eine besondere Unschuldsvermutung in ihrem gefährlichen Kampf gegen Verbrecher unterstreichen, kommt von links scharfe Kritik an einer längst notorischen Polizeigewalt und dem laxen Umgang mit ihr von vorgesetzten Stellen und der Justiz.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen. Allein im Jahr 2022 sind 13 Personen von Polizisten getötet worden, weil sie sich angeblich der Kontrolle und einer eventuellen Festnahme entziehen wollten. Nur gegen fünf Beamte wurden Ermittlungen eingeleitet.

„Diese Situation ist unerträglich.“

Da sich diese Tragödien vor allem in konfliktreichen Außenquartieren ereignen und die Todesopfer meistens Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, ist in Anspielung an den emblematischen Fall George Floyd von einer „Amerikanisierung der französischen Polizei“ die Rede. Der Fußballstar Kylian Mbappé, der sich früher schon zum Thema Polizeigewalt geäußert hatte, erklärte auf Twitter: „Mein Frankreich tut mir weh, diese Situation ist unerträglich.“

Ausnahmsweise hat sich diesmal nun selbst Innenminister Gérald Darmanin, der sich sonst immer hinter seine Polizisten stellt, entsetzt geäußert: Die Bilder auf dem fraglichen Video seien „extrem schockierend“ und könnten „eine solche Reaktion (des Polizeibeamten) keinesfalls rechtfertigen“, sagte er vor Abgeordneten der Nationalversammlung.

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Oben     —       Gare de Nanterre-Préfecture, Nanterre.

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»Festung Europa«

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Oder: Was die Mauern mit uns machen

Von Volker M. HeinsFrank Wolff

Erneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen.

Einige dieser Bilder sind längst ikonisch geworden und haben sich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, leblos am Strand an der türkischen Mittelmeerküste. Das Bild zweier Golfer, deren Partie von einem Dutzend Flüchtlinge gestört wird, die jenen haushohen Zaun überwinden wollen, der nicht nur den Golfplatz rahmt, sondern der auch die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Oder vielleicht auch jenes Bild von der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem linksseitig des frisch errichteten Grenzzauns Dutzende Flüchtlinge zu sehen sind, die in der Kälte eng beieinander im Feuerrauch hocken, während rechts vom Nato-Zaun Grenzschützer in einem schweren Humvee-Geländewagen auf dem freigeräumten Kontrollweg patrouillieren.

Solche Schlüsselbilder erzählen wortlos ihre Geschichte. Eine Geschichte über extreme globale Ungleichheit, über Not und Verzweiflung und über das Antlitz der europäischen Abschottung. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer.

Auch als im Herbst 2021 Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen, Ägypten, dem Irak und dem Iran versuchten, über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, schlug ihnen massive Gewalt entgegen. Polnische Grenzbeamte trieben die Flüchtlinge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Verantwortlichen mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“. Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden erlassen, Zäune errichtet. Gelder flossen. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten. 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 an der Grenze zwischen Polen und Belarus bestätigt.[1] Die Europäische Union hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato versprach ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“. Im öffentlichen Diskurs kollidierte eine militarisierte politische Sprache des Selbstschutzes mit den Bildern von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten mit Entsetzen und dem Ruf nach Wahrung der Menschenwürde, des internationalen Rechts und der europäischen Werte. Doch welche Seite steht für Europa?

Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“[2] Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr dabei nicht bewusst zu sein.

Andere Politiker ließen dagegen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung von Bildern notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas im „Tagesthemen“-Interview im November 2021. Wir müssten sie „aushalten“, forderte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im selben Monat.[3] Diese Aussagen bezogen sich auf das Leiden an der europäischen Außengrenze, richteten sich aber allein nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich fertiggestellt wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie wird mit ihnen aber die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern adressiert. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der begrenzten „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind. Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, die ebenfalls auf Abwehr umschwenken soll. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere Politiker und Kommentatoren forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sein sollen.

Die Utopie Europas – als einer unberührten Insel

Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans „Utopia“. Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs besteht darin, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, sodass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist.[4] Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, wenn sie sich radikal nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Wer hinter Mauern lebt, lebt zunehmend von ihnen bestimmt. Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist.

Die Mördertruppe der Frotex gehört nicht in freie Länder

„Wir“, die Einheimischen, bleiben nicht unberührt von der Gewalt, die in unserem Namen „anderen“ an der europäischen Außengrenze zugefügt wird. Die westlichen Gesellschaften wandeln sich und nehmen selbst Schaden durch die gewaltsame Abwehr von Migranten. Die Gewalt gegen Menschen jenseits der Grenze wirkt auch auf die Menschen diesseits der Grenze. Diesseits der Grenze müssen Menschen ausgebildet und Apparate aufgebaut werden, die zur Ausübung von Gewalt an der Grenze bereit und fähig sind. Die rasant wachsenden Budgets für diese Apparate bedürfen – ob direkt beschlossen oder als Teil größerer Haushaltsposten – der parlamentarischen Zustimmung. In der Hoffnung, ihre Effizienz zu erhöhen, werden Grenzschutzakteure einer allzu strikten, unabhängigen Kontrolle entzogen. Dafür bedarf es diesseits der Grenze einer Öffentlichkeit, die entweder nichts über die Grenzgewalt und ihre Folgen für unschuldige Zivilisten erfährt oder die wegschaut, die Gewalt akzeptiert oder sie sogar aktiv begrüßt und unterstützt. Dies wiederum erfordert es, die kollektiven Affekte zu formen und der Bevölkerung einzureden, dass sie allen Grund hat, sich vor Migranten zu fürchten. All dies hat Folgen für den Rechtsstaat, die Medienberichterstattung und politische Mobilisierungen – Folgen, die in ihrer Summe eine Gefahr für die offene Gesellschaft darstellen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gefährdung immer intendiert ist. Die Vordenker und Planer der neuen Mauern gegen unerwünschte Migration mögen vielmehr darauf setzen, dass die Gewalt an den Grenzen verbleibt und nicht in die zu schützende Gesellschaft diffundiert. Die Vorstellung wird gestützt durch das altbekannte literarisch-philosophische Motiv der „schmutzigen Hände“, also der Vorstellung, dass man gelegentlich illegale oder unmoralische Maßnahmen ergreifen müsse, um höhere moralische Ziele wie den Schutz der freien Gesellschaft zu gewährleisten. Dieses Motiv übersieht jedoch die mögliche „moralische Korrumpierung“[5] des Kerns der Gesellschaft durch die Gewalt an ihren Rändern oder, in einer anderen Theoriesprache, die „Spillover-Effekte“, durch die Handlungen oder Ideen von einem gesellschaftlichen Bereich auf andere Bereiche übergreifen.[6]

In der politischen Theorie wird häufig argumentiert, dass stabile liberale Demokratien auf eine umfassende Migrationskontrolle und „geschlossene Grenzen“ angewiesen seien.[7] Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall, die liberale Demokratie wird durch die restriktiven Grenzregimes der Gegenwart beschädigt. Letztlich ist die Demokratie, wie als Erster der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, die einzige politische Ordnung, die darauf angelegt ist, die Bedingungen einer nach innen und außen geschlossenen, abgeschotteten Gesellschaft zu überwinden.[8] Sie verträgt sich daher nicht mit geschlossenen Grenzen.

Hinzu kommt, dass die Grenzen nicht für alle gleichermaßen geschlossen und die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind. Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend war allerdings, dass die Aufnahmebereitschaft bei jenen Flüchtlingen aus der Ukraine an ihre Grenzen stieß, die aus Afrika oder Asien stammten, aber in der Ukraine arbeiteten oder studierten.[9] Und ebenso irritierend waren viele implizit vergleichende Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“.[10] Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext.

Generell lässt sich festhalten, dass die Fluchtgründe weißer Flüchtlinge aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die syrischer Flüchtlinge vor und nach 2015, obwohl oft sogar die Truppen desselben Landes, nämlich Russlands, die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten.[11] Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge“.[12]

Solche Stimmen ignorieren, dass einige europäische Gesellschaften auch dann sehr wohl in der Lage sind, mit hohen Zahlen von Migranten konstruktiv umzugehen, wenn sich die Zuwanderung ungeplant vollzieht. Außerdem erinnern sie uns daran, dass wir über Rassismus sprechen müssen.

Die Grenzregimes der Gegenwart sind ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen. Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt und zum anderen eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral fördert durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche.[13] Die gewaltsame Migrationsabwehr ist nicht zu haben ohne eine Enthemmung der Machtausübung an den Grenzen. Das „tödliche Gift hemmungsloser Macht“ beschädigt aber nicht nur seine Opfer, sondern auch die Täter und ihre Gesellschaft, wie bereits Frederick Douglass, der große Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den USA, schrieb.[14]

In Europa entfalten sich die Konflikte um Migration und Grenzregimes vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses. Dieser Prozess führt einst verfeindete Staaten zusammen, setzt aber gleichzeitig mächtige Zentrifugalkräfte frei, die den Trend zur Abschottung Europas durch Ansätze einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten noch überbieten. Die offene Frage lautet also, wie die werdende europäische Gesellschaft aussehen wird. Wie offen wird diese Gesellschaft sein? Wie mächtig werden die neuen Mauern um Europa herum in unseren Köpfen werden? Und welche Bedeutung werden die „Würde des Menschen“ und die Menschenrechte haben, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen?[15]

Die neue Militanz Europas

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Oben           —       Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.

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Guatemala: Failed State

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Am 25. Juni wurde in Guatemala gewählt.

Guatemala City

Menschenrechte – davon hat auch in Europa kaum jemand etwas von gehört.

Ein Debattenbeitrag von Knut Henkel

Doch das Land wird von einer korrupten Elite kontrolliert. Daran sind die USA und die EU nicht unbeteiligt. Die letzte unabhängige Bastion der Demokratie war die Ombudsstelle für Menschenrechte.

Ganze 40 Jahre Haft für den Gründer und ehemaligen Direktor der kritischen Tageszeitung elPeriódico hat Guatemalas Staatsanwaltschaft am 30. Mai gefordert. Geldwäsche, Korruption und Erpressung werden dem 66-jährigen José Rubén Zamora vorgeworfen – belastbare Beweise: Fehlanzeige.

Der Fall ist der jüngste in einer langen Kette von Strafprozessen, die dazu dienen, diejenigen hinter Gitter zu bringen oder außer Landes zu drängen, die für ein anderes Guatemala stehen. José Rubén Zamora ist ohne jeden Zweifel so einer. Der hagere Mann mit dem zurückgekämmten Haar hat sich sein ganzes Leben lang für ein kritisches Mediensystem in Guatemala engagiert. Nun droht ihm, für Jahre weggesperrt zu werden – wie so vielen anderen auch.

Guatemala, das größte Land Mittelamerikas, dass hierzulande vielen für guten Kaffee, die Rui­nen der Maya-Hochkultur und wenigen für den überaus blutigen Bürgerkrieg (1960–1996) bekannt ist, schmiert ab. In gerade acht Jahren ist das Land, das im September 2015 noch als Hoffnung für einen „mittelamerikanischen Frühling“ galt, zu einem autoritären Regime mutiert. Die Präsidentschaftswahlen vom Sonntag, 25. Juni, sind dafür das beste Beispiel, denn erstmals wurde ganz offen manipuliert: nicht an der Urne und während der Stimmauszählung, sondern schon davor.

Indigene Kandidatin vorab ausgeschlossen

Schon vor der Wahl spielten sich zwei Gerichte, das Oberste Wahlgericht und das Verfassungsgericht, die Bälle zu: Drei Kandidat:innen, darunter die aussichtsreiche indigene Kandidatin Thelma Cabrera, waren von beiden Gerichten unter dubio­sen Begründungen von den Wahlen ausgeschlossen worden. Mit Edmond Mulet wartete am Ende ein vierter Kandidat auf sein endgültiges Urteil von der höchsten juristischen Instanz des Landes. Vieles deutete darauf hin, dass auch der ehemalige UN-Diplomat seine politischen Ambitionen beerdigen muss.

Thelma Cabrera.

Alles andere wäre eine Überraschung, denn viele der 17 Millionen Gua­te­mal­te­k:in­nen wissen, dass Richter und Richterinnen in Schlüsselpositionen in Guatemala mittlerweile handverlesen sind. Dafür sorgt ein intransparentes Nominierungssystem, das schon vor Jahren hätte reformiert werden sollen. Nun befindet es sich in den Händen einer korrupten und überaus mächtigen Allianz: des Pakts der Korrupten.

So wird das Bündnis aus Militärs, einflussreichen Unternehmerfamilien, korrupten Politikern und der organisierten Kriminalität genannt, das sich ab 2015 langsam reorganisierte und peu à peu die Institutionen übernahm. Die Justiz war zwischen 2007 und 2015 zu einem immer unbequemeren und unkalkulierbaren Faktor geworden.

Das hatte seinen Grund, denn seit dem Dezember 2006 war die UN-Kommission ­gegen Straflosigkeit in Guatemala (Cicig) im Einsatz und sorgte dafür, dass sich die Strukturen im Justizsektor spürbar änderten. Richter:innen, die die Hand aufhielten, wurden vor die Tür gesetzt, neue Gerichtshöfe eingerichtet. All das sorgte 2015 für eine demokratische Zäsur: den unfreiwilligen Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina.

Der ehemalige General des militärischen Geheimdiensts verlor, nachdem die Ermittlungsbehörden ordnerweise Beweise für Korruption ins Parlament gekarrt hatten, am 1. September 2015 seine Immunität. Am nächsten Tag trat er zurück, und 150.000 Menschen ­feierten vor dem Nationalpalast die für Guatemala vollkommen ungewohnte Sternstunde der Demo­kratie. Selbst Experten wie der Menschenrechtsanwalt Edgar Pérez witterten Morgenluft und sahen ein Land auf der Kippe: zwischen Demokratie und dem Rückfall in autoritäre Strukturen.

Zwei Jahre später, im Sommer 2017, sorgte Präsident Jimmy Morales für eine Zäsur: er attackierte die international hochgelobte UN-Kommission Cicig. Zentraler Grund für die Attacken aus dem Präsidentenpalast war die Tatsache, dass die Cicig nicht nur gegen einen Sohn und den Bruder des Präsidenten, sondern auch gegen Morales selbst wegen illegaler Wahlkampffinanzierung er­mittelte.

An den Parallelstrukturen gescheitert

Das war zu viel für den korrupten Präsidenten, der für eine mit ehemaligen Militärs durchsetze national-konservative Partei ange­treten war. Erst erklärte er den damaligen Direktor der Cicig, den kolumbianischen Richter und heutigen kolumbianischen Verteidigungsminister Iván Velásquez, zur unerwünschten Person und entzog dann der Cicig im September 2019 ihr Mandat.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Eine bittere Kiwi Ernte

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Die pontinische Ebene gehört zu den fruchtbarsten Gegenden Italiens. 

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Von  :    CHARLOTTE AAGAARD   —   KUSUM ARORA  —  FRANCESCA CICCULLI   —   STEFANIA PRANDI

Hier werden Kiwis angebaut, die in ganz Europa gegessen werden. Auf den Feldern arbeiten viele Inder. Oft unter unwürdigen Bedingungen, gefan­gen in einem System aus Schulden und Angst.

Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das Balbir Singh nie vergessen wird.

In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.

Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet hatten.“

Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit heute.

Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu dem italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.

Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo schließlich zur Polizei.

„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen waren oder bevor sie morgens aufstanden.

Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen Chef vor Gericht brachte.

Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle Instanzen gegangen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.

Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.

Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind sie zurückhaltend.

Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.

Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. Sein Fall sorgte für Schlagzeilen. Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie Lokalzeitungen berichteten.

Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.

In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.

Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.

Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.

Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.

Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden fehlten oft, sagt Omizzolo.

Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.

Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni Gioia.

Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.

Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem Bereich gibt.

Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.

Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, die er am selben Morgen gepflückt hatte.

Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro wert ist.

Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, schaute er weg und gab nur vage Antworten.

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Oben     —     Der Süden der Pontischen Ebene bei Terracina (Parco Nazionale del Circeo)

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Nach dem Canceln das Comeback

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Kolumne von Fatma Aydemir

Kevin Spacey im „Zeit-Magazin“. Wenn sie prominent sind, werden mutmaßliche MeToo-Täter schnell rehabilitiert. Das zeigt nicht nur ein aktuelles Interview mit Kevin Spacey.

Könnte nächsten Monat vielleicht schon das große Comeback-Interview mit Till Lindemann im Zeit-Magazin kommen? Schlagzeile: „Ich dachte, sie wollten es auch … Vielleicht hätte ich sie zuerst wecken sollen.“ Eine Journalistin könnte mit dem Popstar Gassi gehen, einen Kaffee to go in der Hand. Abends ginge man in eine verranzte Kneipe, in der jeder „den Till“ kennt und schätzt.

Von dem Buzz profitieren, den Skandale bringen

Natürlich würde man im Interview nicht über die Vorwürfe sexualisierter Gewalt sprechen, die eine ganze Reihe junger Frauen gegen Lindemann erheben. Man würde behaupten, das liege daran, dass das juristische Verfahren noch läuft, in Wahrheit ginge es darum, dass der Sänger nicht eingeschnappt ist und das Exklusivinterview kurzerhand abbricht, welches online natürlich auf Englisch übersetzt und bitte von allen internationalen Medien zitiert würde.

Lindemann dürfte sicher erzählen, wie schwer die Zeit war, nachdem sein Label bekannt gab, weniger Werbung für seine Platte zu machen, und eine Handvoll Leute sich tatsächlich mit Transpis vor dem ausverkauften Sta­dion­kon­zert trafen, um gegen den Rammstein-Auftritt zu protestieren. Erschütternd. Diese Cancel Culture zerstört doch jeden.

Das ist natürlich alles ausgedacht und rein hypothetisch, ich denke, die meisten Leser_innen verstehen den Zweck eines Konjunktivs. Es sei trotzdem noch mal erwähnt für poten­ziell mitlesende, übereifrige Anwaltskanzleien. Aber nur weil etwas ausgedacht ist, bedeutet das nicht, dass alles daran Humbug ist. Nachdem das Zeit-Magazin im vergangenen Monat ein so unkritisches Interview mit Quentin Tarantino druckte, als sei es 1996, legte das Lifestyleheft diese Woche nach, mit einem exklusiven Interview mit US-Schauspieler Kevin Spacey.

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Genau, der Kevin Spacey, dem von mehreren Männern sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung vorgeworfen werden. In zwei Prozessen wurde er freigesprochen, der dritte steht noch an, in London. Kann man machen, Spacey kurz vor dem wichtigen Prozess auf ein Käffchen zu treffen und das Cover dafür freizuräumen. Aber mit welchem Motiv? „Vielleicht hofft er, dass ein europäisches Medium wie das Zeit-Magazin weniger scharf über ihn berichtet, als es ein amerikanisches Medium tun würde“, mutmaßt der Text jedenfalls über das Motiv des Schauspielers, um dann genau das zu machen: Kuscheln – und zwar mit Ansage.

Am Ende haben alle was davon

Wie schnell mutmaßliche Täter von diesem Kaliber rehabilitiert werden können, zeigt diese Woche auch ein Auftritt von Filmstar Ezra Miller bei einer Filmpremiere in Hollywood. Miller wurde von mehreren Frauen Körperverletzung und Belästigung vorgeworfen. Außerdem steht Miller im Verdacht, eine Art Kult zu unterhalten und vorrangig junge Fans unter Drogen zu setzen.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesesen

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Unten      —    Kevin Spacey on the set of House of Cards during Maryland Gov. Martin O’Malley’s visit in 2013.

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Die Illusion der Kontrolle

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Die Grünen bezahlen für ihr Ja einen Preis

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Von:      Stefan Reinecke

Der EU-Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration, er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen. Der Kompromiss befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer Kontrolle unterwerfen kann.

Der Mann ließ im Bundestag kein gutes Haar an dem Asylkompromiss. „Anstatt das Asylrecht zu bewahren, soll es nun so weit eingeschränkt werden, dass das einer Abschaffung gleichkommt“, sagte der Bündnisgrüne. Man errichte „Mauern aus Gesetzen und Abkommen“, um sich die Geflüchteten vom Leib zu halten und sie schnell in Drittstaaten zu entsorgen. Wer aus einem Nachbarland kam, hatte kein Recht auf Asyl mehr. Das war ungefähr so, als wenn Irland beschließen würde, dass nur, wer zu Fuß kommt, Asyl beantragen darf.

Diese Szene spielte sich 1993 ab. Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90, redete vergeblich der SPD ins Gewissen. Das Grundgesetz wurde mit SPD-Stimmen geändert.

Der Asylkompromiss vor 30 Jahren und der EU-Asylkompromiss 2023 ähneln sich im manchem. Das Ziel ist: Migranten abschrecken. Dafür werden die Rechte von Asylbewerbern beschnitten, ohne das Asylrecht komplett zu streichen. Auch der Schmierstoff dieser Operation ist ähnlich: Es ist die Konstruktion der sogenannten sicheren Drittstaaten. Ein syrischer Flüchtling, der aus der Türkei in die EU kommt, kann künftig wieder zurückgeschickt werden – auch wenn er in der EU Anrecht auf Asyl hat. Ob und wie oft das passieren wird, ist offen. Aber es ist möglich. Auch die Asylzentren, Kernstück der EU-Reform, folgen einem Vorbild, das 1993 in Deutschland erfunden wurde. Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen, landen seitdem nicht in Deutschland, sondern in einer Art Transitraum, in dem die „Fiktion der Nichteinreise“, so der juristische Ausdruck, gilt. Auch in den geplanten EU-Asylzentren finden sich Geflüchtete in einem fiktiven Europa wieder.

Bekannte Argumente, gemischte Gefühle. Das Ganze wirkt wie ein Remake. Nur die Grünen spielen diesmal nicht die tapfere Opposition, sondern die Rolle der SPD. Halb fallen sie, halb zieht es sie hin. Am Ende werden sie wohl, nach ausreichend öffentlich dargebotener Zerknirschung, dem stählernen Gebot der Realpolitik folgen.

Auch wenn die Rhetorik 2023 nicht so aggressiv und fremdenfeindlich klingt wie 1993, tauchen in dem Diskurs ähnlich suggestive Bilder auf. In Talkshows und Bundestagsdebatten werden – mehr oder weniger verklausuliert – drei Erzählungen bedient. Alle drei haben die gleiche Botschaft: Wir müssen uns schützen. Das erste Bild: „Nur ganz wenige Migranten sind Verfolgte. Das Gros sind Wirtschaftsflüchtlinge.“

So ist es nicht – jedenfalls derzeit. Im Jahr 2022 bekamen fast drei Viertel aller Asylsuchenden Schutz und wurden als Verfolgte anerkannt. Nur in 28 Prozent der Fälle wurde der Asylantrag als unbegründet abgelehnt. Trotzdem werden Flüchtlinge generell als Schwindler verdächtigt.

Das zweite Bild: „Die illegalen MigrantInnen kommen nach Deutschland – und arbeiten dann nicht.“ Auch das stimmt so nicht. Es ist kompliziert, die Daten etwas schütter. Aber: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist aus demografischen Gründen günstig. Auch Ungelernte werden verzweifelt gesucht. So gehen Experten davon aus, dass trotz Hürden wie der Sprache rund 55 Prozent jener Migranten arbeiten, die 2015/16 nach Deutschland kamen. Tendenz steigend. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist aufwendig und kostspielig. Aber Leute, die hier sind, auszubilden ist effektiver, als Arbeitskräfte in der Ferne zu umwerben, die dann lieber nach Kanada gehen. Das Bild vom Flüchtling, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, ist jedenfalls falsch.

Wer Menschen ausschliesst – sperrt sich selber ein !

Drittens: „Wir müssen an der Grenze durchgreifen und die illegalen Migranten (böse, weil Wirtschaftsflüchtlinge) von den verfolgten Asylsuchenden (nehmen wir auf, weil wir gute Menschen sind) trennen.“ Dieses Bild ist vielleicht das wirksamste. Und abgründigste. Es legt nahe, dass die Politik an der Grenze für Ordnung sorgen kann, wenn sie es nur will. Hart, aber fair. Repressiv, aber gerecht. Man muss nur entschlossen das richtige Anreiz- oder vielmehr Abschreckungssystem etablieren – schon lässt sich globale Migration steuern, und das Problem ist wenn nicht gelöst, so doch entscheidend gemildert. Dieses Bild ist so fatal, weil es eingängig und schwer zu widerlegen ist. Migration ist ein vielschichtiger, komplexer, verwirrender, sich wandelnder Prozess. Gerade deshalb ist es attraktiv, an einfache, gerade Lösungen zu glauben, die man sich nur trauen muss.

Diesem Geist entspricht der EU-Asylkompromiss mit den geplanten haftähnlichen Lagern und verkürzten Verfahren. Er befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer weitgehenden Kontrolle unterwerfen kann.

Doch das wird nicht so sein – und das ist der Unterschied zwischen 1993 und 2023. Deutschland gelang es damals auch mittels Drittstaaten, Zahlen radikal zu senken: von fast einer halben Million im Jahr 1992 auf 19.000 im Jahr 2007. Die Bundesrepublik machte sich einen schlanken Fuß auf Kosten geduldiger Nachbarn. Als 2011 auf Lampedusa Tausende Flüchtlinge ankamen, erklärte CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einer bemerkenswerten Mixtur aus Dummheit und Arroganz, das sei Italiens Problem. Das kam 2015/16 als Bumerang zurück.

Die Lage in der EU ist 2023 anders. Denn die dienstbaren Drittstaaten, die Flüchtlinge abwehren, existieren so nicht. Die EU hat zwar moralisch abgründige Deals mit Autokraten in Afrika geschlossen, die rosafarben „Mobilitätspartnerschaften“ getauft wurden. Entwicklungshilfe und Handelsvergünstigungen für Länder wie Ägypten, Marokko und Niger wurden an die Bedingung gekoppelt, Migrantenrouten zu unterbrechen. Die EU hat kreativ ein komplexes Netz entworfen, um zweifelhafte Regime mit Geld dazu zu bringen, Abgeschobene wieder zurückzunehmen.

Staatsgrenzen zeichnen sich nicht mehr, wie der Staatstheoretiker Thomas Hobbes einst schrieb, dadurch aus, dass sie „bewaffnet sind und auf die anliegenden Nachbarn gerichtete Kanonen haben“. Grenzen im globalen Kapitalismus sind flexible, oft nach vorne verlagerte Systeme, mit denen sich die reichen Zentren die Zuwanderung aus den armen Peripherien vom Leib zu halten versuchen. Der Soziologe Steffen Mau hat diese Grenzen mit ausgefeilten Überwachungssystemen und diffusen Rechtsräumen griffig als „Sortiermaschinen“ beschrieben. Sie haben etwas Ausuferndes. Im Vergleich mögen die Grenzen der Ära der klassischen Nationalstaaten mit ihren Schlagbäumen wenn nicht harmlos, so doch verlässlich und übersichtlich erscheinen.

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Doch so beängstigend diese Sortiermaschinen mitunter wirken – sie sind prekär, anfällig, fragil. Die EU ist auf die politischen Kalküle autokratischer Regime angewiesen. Die EU verfügt nicht über die imperiale Macht, den (nord)afrikanischen Staaten den eigenen Willen zu diktieren. Einzelne europäische Länder haben mehr als 300 Rücknahmeabkommen mit Staaten geschlossen, um Migranten wieder loszuwerden – mit durchwachsenem Erfolg. Fast 80 Prozent der Abschiebebefehle wurden 2021 in der EU nicht umgesetzt. Auch der gerade heftig umworbene tunesische Staatschef hat wenig Neigung, als Europas gekaufter Grenzpolizist zu gelten.

Die Sortiermaschinen funktionieren manchmal, mal stottern sie, mal fallen sie aus, dann laufen sie wieder auf Hochtouren. Migration ist nur bedingt regulierbar. Sogar die repressive Grenze zwischen Mexiko und den USA, an der Trump brutal Tausende Kinder von ihren Eltern trennte, funktioniert – aus US-Sicht – nur wie ein mehr oder weniger guter Filter. Auch unter Joe Biden werden Millionen festgenommen, abgewiesen, abgeschoben. Trotzdem leben in den USA mehr als elf Millionen sogenannte illegale Migranten.

In einem hoch vernetzten, weltumspannenden Markt mit extremem Wohlstandsgefälle, in dem Kapital und Waren, Informationen und Datenströme so frei und schnell wie nie zuvor fließen, ist es ein Kinderglaube, dass man Flüchtlinge nach Belieben stoppen und in brauchbare und lästige aufteilen kann. Im globalen Dorf weiß man auch in Ecuador und Nigeria, welche Migrationsrouten gerade funktionieren.

Die Idee, man werde mit dem EU-Kompromiss nun „die Zahlen in den Griff kriegen“, so CSU-Mann Manfred Weber, hat etwas Einfältiges. Denn wer in Westafrika viel Geld investiert, den Tod in der Sahara und das Ertrinken im Mittelmeer riskiert, sich Schlepperbanden anvertraut, Kriminelle und Frontex einkalkuliert, der wird sich kaum davon abschrecken lassen, dass die EU beschleunigte Verfahren einführt. Dieser Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration. Er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen.

Quelle          :            TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Der Mehrweg-Verhinderer:

Erstellt von Redaktion am 7. Juni 2023

McDonald’s’ EU-Lobbying

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng /   

Die EU sagt Einwegverpackungen den Kampf an. McDonald’s wehrt sich vehement – unter anderem mit einer fragwürdigen Studie.

Littering, Müllexporte, To-Go-Welle, Online-Bestellungen – das Problem hat viele Namen. Europa produziert zu viel Müll. Viel zu viel. Vor allem eine Sorte Müll ist stossend: Jeder Einwohner der EU verursacht pro Jahr 180 Kilogramm Verpackungsmüll.

Zwei Fünftel des in der EU verwendeten Plastiks und die Hälfte des verwendeten Papiers sind für Verpackungen vorgesehen. EU-Einwohner werfen jedes Jahr 14 Millionen Tonnen Plastikverpackungen weg.

Die EU auf dem langen Weg zum Mehrweg

Die EU versucht seit Jahren, diesen Müll durch Recycling und Kreislaufwirtschaft zu reduzieren. Seit Januar 2023 gilt beispielsweise in Deutschland die Mehrwegpflicht: Jedes Restaurant, das To-Go-Lebensmittel anbietet, muss auch Mehrwegverpackungen anbieten. Die Einführung läuft zwar harzig, aber immerhin. Bisher wird gegen Verstösse kaum durchgegriffen.

Ab 2030 will die Europäische Union Einwegverpackungen in Restaurants und Cafés verbieten und den Anteil der Mehrweg-Lösungen im Take-Away auf 10 Prozent erhöhen.

Die umfangreichste Lobbyarbeit, die jemals im EU-Parlament beobachtet wurde

Das klingt nicht nach einer bahnbrechenden Umwälzung. Dennoch stösst das Gesetzesvorhaben bei den Anbietern auf heftigen Widerstand. Besonders vehement wehrt sich die Fast-Food-Kette McDonald’s.

McDonald’s produziert weltweit eine Million Tonnen Verpackungsmüll pro Jahr. Nach einer Recherche des Umweltmediums «DeSmog» betreibt das Unternehmen die umfangreichste Lobbyarbeit, die jemals im Europäischen Parlament beobachtet wurde, um das Gesetz zu verhindern oder seine Einführung hinauszuzögern.

So beschreibt es Jean-Pierre Schweitzer, stellvertretender Politikmanager für Kreislaufwirtschaft beim Europäischen Umweltbüro (EEB). Gegenüber «DeSmog» bezeichnet er das Gesetz als das «am stärksten lobbyierte Dossier, das viele Menschen im [EU-]Parlament je erlebt haben».

Zusammen mit einer Reihe von Verpackungsherstellern und Handelsverbänden wandte sich die Fast-Food-Kette Ende April schriftlich an die europäischen Entscheidungsträger. Die Gruppe forderte, den Gesetzgebungsprozess für wiederverwendbare Verpackungen in Europa zu pausieren.

Die Forderung folgte dem zunehmendem Druck aus der Branche im vergangenen Jahr. Seit Juni 2022 hätten McDonald’s und andere einschlägige Interessengruppen drei Studien finanziert, zwei Websites eingerichtet und mehrere Artikel gesponsert, zählt «DeSmog» auf. Das Gesetzesvorhaben wird darin mit der Behauptung angegriffen, es würde die europäischen Netto-Null-Ziele untergraben.

Was es mit der Kearney-Studie auf sich hat

Einer im Februar 2023 veröffentlichten Studie der Unternehmensberatung Kearney, die McDonald’s finanziert hatte, folgte ein Lobbying-Sturm im EU-Parlament. Vertreter der Verpackungsindustrie trafen sich im Februar 177 Mal mit EU-Abgeordneten. Während des gesamten vorangegangenen Jahres habe es 112 Treffen gegeben.

Aktivisten und auch einige Akademiker beschuldigen McDonald’s, mit der Studie «No Silver Bullet» wissenschaftlich zweifelhafte Fakten zu veröffentlichen.

Die Zahl, die angeblich alles ändert

Wie so oft geht es dabei um Details. Die Kearney-Studie nimmt an, dass Mehrweggeschirr drei Mal wiederverwendet wird. Kearney bezieht sich dabei auf «Pilot-Daten» von McDonald’s aus mehreren europäischen Ländern. Eine bei weitem zu pessimistische Annahme, sagen die Kritisierenden. Eine im März veröffentlichte Studie in den USA kam zu dem Ergebnis, dass sich die Klimaschädlichkeit eines Behälters um über 50 Prozent reduziert, wenn dieser 20 Mal verwendet wird statt nur einmal.

Ebenfalls im März 2023 finanzierte McDonald’s einen Sponsored-Content-Artikel in «Politico EU». In diesem behauptet der Konzern ebenfalls, dass «Mehrwegverpackungen kontraproduktiv für die Ziele des Green Deal sind». Im bekannten Brussels Playbook-Newsletter des gleichen Mediums wird McDonald’s zitiert mit «Die Treibhausgasemissionen würden um bis zu 50 Prozent beim Essen im Restaurant und um 260 Prozent im Take-Away steigen, wenn Europa auf Mehrwegverpackungen umsteigen würde.»

Die Europäische Kommission geht im Gegenteil davon aus, dass das geplante Mehrweggesetz den CO2-Ausstoss bis 2030 um 23 Millionen Tonnen pro Jahr reduzieren kann. Die Kommission schätzt ausserdem, dass das neue Verpackungsgesetz die Kosten für Umweltschäden bis 2030 um 6,4 Milliarden Euro senken und zu Einsparungen von über 45 Milliarden Euro führen könnte.

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Judith Hilton, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Verpackungs-Recycling an der Universität Portsmouth, sagt zu «DeSmog»: «Die grössten Emissionen entstehen bei der Gewinnung und Produktion [von Plastikverpackungen aus Rohstoffen]. Alles, was in diesem Bereich reduziert wird, wird einen gewaltigen Unterschied in Bezug auf Emissionen, Toxizität und Schäden für die lokale Bevölkerung machen.»

Warum die Branche keine wiederverwendbaren Verpackungen will

Bleibt die Frage, warum sich McDonald’s und andere Fast-Food-Ketten mit so grossem Aufwand gegen ein Gesetz wehren, das mit 10 Prozent Mehrweg-Anteil im Take-Away binnen sieben Jahren nicht einmal besonders ambitioniert ist.

Dass McDonald’s und andere Fast-Food-Riesen wandlungsfähig sind, haben sie mehrmals bewiesen. Machte der Burgerbrater einst Werbung für sein Rindfleisch, gibt es inzwischen McPlant-Patties und -Nuggets, Holzlöffel und Pappstrohhalme. Die einst in Styropor-Verpackungen erhältlichen Burger kommen mittlerweile in einer beschichteten Pappbox. Wobei auch die Beschichtung problematisch ist, weil sie potenziell gesundheitsgefährdende Chemikalien enthält (Infosperber berichtete).

Die Kearney-Studie warnt davor, dass die Umstellung auf Mehrweg-Geschirr zwischen 2 und 20 Milliarden Euro an Anfangsinvestitionen kosten könnte. Allein in Deutschland machte McDonalds im vergangenen Jahr geschätzte 4,2 Milliarden Euro Umsatz.

«In vielen Fällen verkaufen Unternehmen die Verpackung und nicht den Inhalt.»

Judith Hilton, Spezialistin für Verpackungs-Recycling, Universität Portsmouth

Die Rücklaufquote von Mehrwegverpackungen lässt sich erhöhen, wenn alle Restaurants dieselbe Verpackung verwenden. Das haben andere Verpackungsformen und -modelle wie das deutsche Dosenpfand gezeigt.

Standardisierung geht allerdings zu Lasten eines individuellen Markenauftritts. Bei sonst grösstenteils austauschbaren Produkten ist die Verpackung ein wichtiger Werbeträger. «In vielen Fällen verkaufen die Unternehmen die Verpackungen und nicht den Inhalt», sagt die Verpackungsspezialistin Hilton. Hamburger von Burger King würden dann schlimmstenfalls gleich verpackt wie solche des Konkurrenten McDonald’s. Oder noch schlimmer: Ein Kunde käme mit einer Burger-King-Schachtel vorbei, um sich einen Big Mac abzuholen.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 4. Juni 2023

Journalismus und sexualisierte Gewalt: – Das Wagnis, zu sprechen

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Kolumne von Fatma Aydemir

Wer über prominente Männer und sexualisierte Gewalt berichtet, erntet Hass. Nicht die Fälle gelten als das Problem, sondern das Schreiben darüber.

Die unangenehmsten Reaktionen kommen immer zum Thema sexualisierte Gewalt. Egal, ob es sich um Vergewaltigungsvorwürfe gegenüber prominenten Männern handelt oder um den Umgang mit dem Thema Konsens und Sex in der linken Szene: Wer als Journalist_in über diese Fälle berichtet, sei es auch nur im Konjunktiv oder anonymisiert, wird mit so vielen und teilweise so hässlichen Zuschriften überhäuft, dass er_sie (meistens sie) es sich in der Folge dreimal überlegen wird, ob ein Artikel die Kopfschmerzen, die bereits vorprogrammiert sind, wert ist.

Je reicher der mutmaßliche Täter, desto schneller flattert dann auch die Post von dessen Anwälten herein. Aber verwundernd ist doch viel eher, wie Unbeteiligte häufig Partei ergreifen für Beschuldigte, als sei nicht die Allgegenwärtigkeit sexualisierter Gewalt das Problem, sondern das Sprechen und Schreiben darüber.

Natürlich geht es auch immer um das juristische Problem der Verdachtsberichterstattung. Beweislage und Zeug_innenaussagen müssen geprüft, Beschuldigte konfrontiert werden, um mit journalistischer Neutralität über solche Fälle berichten zu können. Wie aber steht es um die Kolumnenform oder den Meinungsbeitrag? Diese Formate leben ja nicht von investigativen Ansprüchen und Objektivität, sondern davon, Debatten, die sowieso in der Welt sind, genauer anzuschauen und zu bewerten. Sie wollen parteiisch sein, das ist in ihrem Kern angelegt. Und man kann durchaus eine Haltung formulieren, ohne falsche Tatsachen zu behaupten. Das ist ja das Interessante an Fällen von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch: Sie sind niemals Einzelfälle, wir alle sind in irgendeiner Weise in sie verwickelt. Die Frage ist nur, inwieweit wir bereit sind, uns damit auseinanderzusetzen.

Wenn es nach den Anwälten der Beschuldigten, aber auch nach den fleißigen Leser_innen und Kommentator_innen solcher Beiträge ginge, sollte man Vorwürfe sexualisierter Gewalt gar nicht erst öffentlich thematisieren dürfen, bis ein gerichtliches Urteil vorliegt. Das ist aus vielerlei Hinsicht völlig absurd, denn selten kommt es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren, und noch viel seltener gibt es eine Beweislage, die es dem Gericht ermöglichen würde, einen Täter zu verurteilen. Was Berichterstattung aber möglich macht, gerade wenn es um prominente Beschuldigte geht: Es kommen neue Betroffene hinzu, die sich bislang nicht getraut hatten, über ihre Erfahrungen zu sprechen.

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Scham überwinden

Weil ihr Umfeld ihnen vielleicht einredete, sie seien selbst schuld, wenn sie sich auf Aftershowpartys mit Rockstars herumtrieben. Weil sie sich vielleicht schämten, mit dieser Geschichte öffentlich assoziiert zu werden. Weil sie bereits wissen, dass niemand ihnen glauben wird. In den meisten Fällen aber ist es schlicht das Unsichtbarbleiben der Systematik dahinter: Niemand ahnt, dass auf jedem Konzert dieser hypothetischen Band jungen Mädchen K.O.-Tropfen verabreicht werden und sie schlicht nicht in der Lage sind, Einvernehmen zu formulieren, wenn der Frontsänger der hypothetischen Band sich ihnen sexuell nähert. Niemand weiß, dass sie sehr viele sind, bis auf Social Media erste Erfahrungsberichte auftauchen und Journalist_innen das Thema aufgreifen und nach weiteren Betroffenen recherchieren.

Quelle       :        TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Zu – JULIAN ASSANGE

Erstellt von Redaktion am 14. Mai 2023

DIE WAHREN VERRÄTER VON JULIAN ASSANGE SIND GANZ IN DER NÄHE

Quelle:    Scharf  —  Links

Von  : Von John Pilger (12. März 2023), übersetzt von Daniela Lobmueh

Dies ist eine gekürzte Fassung einer Rede von John Pilger, die er am 10. März in Sydney hielt, um die Einführung von Davide Dorminos Skulptur von Julian Assange, Chelsea Manning und Edward Snowden, „Figuren des Mutes“, in Australien zu feiern.

Ich kenne Julian Assange, seit ich ihn 2010 in London zum ersten Mal interviewt habe. Ich mochte sofort seinen trockenen, dunklen Humor, der oft mit einem ansteckenden Kichern daherkommt. Er ist ein stolzer Außenseiter: scharfsinnig und nachdenklich. Wir sind Freunde geworden, und ich habe in vielen Gerichtssälen gesessen und zugehört, wie die Tribünen des Staates versuchten, ihn und seine moralische Revolution im Journalismus zum Schweigen zu bringen.

Mein persönlicher Höhepunkt war, als sich ein Richter am Royal Courts of Justice über seinen Richtertisch lehnte und mich anknurrte: „Sie sind nur ein umherziehender Australier wie Assange.“ Mein Name stand auf einer Liste von Freiwilligen, die für Julian eine Kaution stellen wollten, und dieser Richter erkannte in mir denjenigen, der über seine Rolle im berüchtigten Fall der vertriebenen Chagos-Insulaner berichtet hatte. Ungewollt machte er mir damit ein Kompliment.

Ich habe Julian vor kurzem in Belmarsh gesehen. Wir sprachen über Bücher und die beklemmende Idiotie des Gefängnisses: die fröhlich-klatschenden Slogans an den Wänden, die kleinlichen Strafen; sie lassen ihn immer noch nicht in den Fitnessraum. Er muss allein in einem käfigartigen Bereich trainieren, an dem ein Schild davor warnt, den Rasen zu betreten. Aber es gibt keinen Rasen. Wir haben gelacht; für einen kurzen Moment schien manches gar nicht so schlimm zu sein.

Das Lachen ist natürlich ein Schutzschild. Als die Gefängniswärter begannen, mit ihren Schlüsseln zu klimpern, wie sie es gerne tun, um anzuzeigen, dass unsere Zeit abgelaufen war, wurde er still. Als ich den Raum verließ, hielt er seine Faust hoch und ballte sie, wie er es immer tut. Er ist die Verkörperung von Mut.

Zwischen ihm und der Freiheit stehen diejenigen, die das Gegenteil von Julian sind: Sie kennen keinen Mut, keine Prinzipien und keine Ehre. Damit meine ich nicht das mafiöse Regime in Washington, dessen Verfolgung eines guten Mannes uns alle einschüchtern soll, sondern vielmehr diejenigen, die immer noch behaupten, in Australien eine gerechte Demokratie zu führen.

Anthony Albanese hat schon lange vor seiner Wahl zum australischen Premierminister im vergangenen Jahr seine Lieblingsfloskel „Genug ist genug“ in den Mund genommen. Er hat vielen von uns, auch Julians Familie, große Hoffnung gemacht. Als Premierminister fügte er dann noch hinzu, dass er „kein Verständnis“ für die Taten von Julian habe. Offensichtlich mussten wir sein Bedürfnis verstehen, seinen wohlversorgten Hintern zu schützen, falls Washington ihn zur Ordnung rufen sollte.

Wir wussten, dass es außergewöhnlichen politischen, wenn nicht gar moralischen Mut erfordern würde, wenn Albanese sich im australischen Parlament – demselben Parlament, das im Mai US-Präsident Joe Biden die Ehre geben wird – erheben und sagen würde:

Als Premierminister ist es die Verantwortung meiner Regierung, einen australischen Staatsbürger nach Hause zu holen, der eindeutig das Opfer einer großen, rachsüchtigen Ungerechtigkeit ist: ein Mann, der für die Art von Journalismus verfolgt wurde, die ein wahrer Dienst an der Öffentlichkeit ist, ein Mann, der nicht gelogen oder getäuscht hat – wie so viele seiner Nachahmer in den Medien -, sondern der den Menschen die Wahrheit darüber gesagt hat, wie die Welt funktioniert.

Ich fordere die Vereinigten Staaten auf“, könnte ein mutiger und moralischer Premierminister Albanese sagen, „ihren Auslieferungsantrag zurückzuziehen: die bösartige Farce zu beenden, die Großbritanniens einst bewunderte Gerichte befleckt hat, und die bedingungslose Freilassung von Julian Assange zu seiner Familie zu ermöglichen. Dass Julian in seiner Zelle in Belmarsh verbleibt, ist ein Akt der Folter, wie der Berichterstatter der Vereinten Nationen es genannt hat. So verhält sich eine Diktatur‘.

Leider stößt mein Tagtraum, dass Australien sich um Julian kümmert, an seine Grenzen. Das Schüren von Hoffnungen durch Albanese kommt nun einem Verrat gleich, für den ihn das historische Gedächtnis nicht vergessen und viele ihm nicht vergeben werden. Worauf wartet er dann noch?

Erinnern wir uns daran, dass Julian 2013 von der ecuadorianischen Regierung politisches Asyl gewährt wurde, vor allem weil seine eigene Regierung ihn im Stich gelassen hatte. Allein dafür sollten sich die Verantwortlichen schämen: nämlich die Labor-Regierung von Julia Gillard.

Gillard war so erpicht darauf, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, um WikiLeaks für seine Wahrheitsfindung zu stoppen, dass sie wollte, dass die australische Bundespolizei (AFP) Assange verhaftet und ihm seinen Pass wegnimmt, weil er, wie sie es nannte, „illegal“ publiziert. Die AFP wies darauf hin, dass sie keine solchen Befugnisse habe: Assange habe kein Verbrechen begangen.

Es ist, als ob man Australiens außergewöhnlichen Souveränitätsverzicht daran messen könnte, wie es mit Julian Assange umgeht. Gillards pantomimische Kriecherei vor beiden Häusern des US-Kongresses ist auf YouTube zu bestaunen. Australien, so wiederholte sie, sei Amerikas „großer Freund“. Oder war es ‚kleiner Freund‘?

Ihr Außenminister war Bob Carr, ein weiterer Politiker der Labor-Maschine, den WikiLeaks als amerikanischen Informanten entlarvte, einen von Washingtons nützlichen Jungs in Australien. In seinen veröffentlichten Tagebüchern prahlte Carr damit, Henry Kissinger zu kennen; tatsächlich lud der große Kriegstreiber den Außenminister zum Zelten in die kalifornischen Wälder ein, wie wir erfahren.

Australische Regierungen haben wiederholt behauptet, Julian habe volle konsularische Unterstützung erhalten, was sein gutes Recht ist. Als sein Anwalt Gareth Peirce und ich den australischen Generalkonsul in London, Ken Pascoe, trafen, fragte ich ihn: „Was wissen Sie über den Fall Assange?

‚Nur das, was ich in der Zeitung gelesen habe‘, antwortete er lachend.

Heute bereitet Premierminister Albanese dieses Land auf einen lächerlichen Krieg mit China unter amerikanischer Führung vor. Milliarden von Dollar sollen für eine Kriegsmaschinerie aus U-Booten, Kampfjets und Raketen, die China erreichen können, ausgegeben werden. Die Kriegstreiberei der „Experten“ in den ältesten Zeitungen des Landes, Sydney Morning Herald und Melbourne Age, ist eine nationale Peinlichkeit, oder sollte es zumindest sein. Australien ist ein Land ohne Feinde, und China ist sein größter Handelspartner.
Diese geistesgestörte Unterwürfigkeit gegenüber der US-Aggression ist in einem außergewöhnlichen Dokument mit der Bezeichnung „US-Australia Force Posture Agreement“ niedergelegt. Darin heißt es, dass die amerikanischen Truppen die „ausschließliche Kontrolle über den Zugang zu [und] den Einsatz von“ Waffen und Material haben, die in Australien in einem Angriffskrieg eingesetzt werden können.

Dazu gehören mit ziemlicher Sicherheit auch Atomwaffen. Albaneses Außenministerin Penny Wong „respektiert“ das ambivalente Schweigen der Amerikaner zu diesem Thema, hat aber offensichtlich keinen Respekt vor dem Recht der Australier, es zu erfahren.

Eine solche Unterwürfigkeit gab es schon immer – nicht untypisch für eine Siedlernation, die noch immer keinen Frieden mit ihren indigenen Ursprüngen geschlossen hat – aber jetzt ist sie gefährlich.

China als die gelbe Gefahr passt wie die Faust aufs Auge zu Australiens rassistischer Vergangenheit.* Es gibt jedoch noch einen anderen Feind, über den nicht gesprochen wird. Das sind wir, die Öffentlichkeit. Wir haben das Recht, es zu wissen. Und unser Recht, Nein zu sagen.

Seit 2001 wurden in Australien 82 Gesetze erlassen, um die schwachen Rechte auf Meinungsäußerung und abweichende Meinungen zu beschneiden und die Kalte-Kriegs-Paranoia eines zunehmend geheimen Staates zu schützen, in dem der Leiter des wichtigsten Nachrichtendienstes ASIO Vorträge über die Disziplin der „australischen Werte“ hält. Es gibt Geheimgerichte, geheime Beweise und geheime Justizirrtümer. Australien gilt als Vorbild für den Meister jenseits des Pazifiks.

Bernard Collaery, David McBride und Julian Assange – zutiefst moralische Männer, die die Wahrheit sagten – sind die Feinde und Opfer dieser Paranoia. Sie und nicht die edwardianischen Soldaten, die für den König marschierten, sind unsere wahren Nationalhelden.

Was Julian Assange betrifft, so hat der Premierminister zwei Gesichter. Das eine Gesicht lässt uns hoffen, dass seine Intervention bei Biden zu Julians Freiheit führen wird. Das andere Gesicht schmeichelt sich bei ‚POTUS‘ ein und erlaubt den Amerikanern, mit ihrem Vasallen zu tun, was sie wollen: Ziele zu setzen, die für uns alle in einer Katastrophe enden könnten.

Wird Albanese Australien oder Washington in Bezug auf Julian Assange unterstützen? Wenn er „aufrichtig“ ist, wie die eher blauäugigen Anhänger der Labor Party sagen, worauf wartet er dann noch? Wenn es ihm nicht gelingt, Julians Freilassung zu erreichen, wird Australien aufhören, souverän zu sein. Wir werden kleine Amerikaner sein. Offiziell.

Hier geht es nicht um das Überleben einer freien Presse. Es gibt keine freie Presse mehr. Es gibt Zufluchtsorte im Samizdat, wie diese Seite. Es geht in erster Linie um Gerechtigkeit und unser wertvollstes Menschenrecht: frei zu sein.
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*Anm.d.Übers.: Australien war bis 1973 ein rassistisches Apartheitsregime wie Südafrika, dann beendete der Labour-Premier Gough Witlam (der „Willy Brandt Australiens“) die Rassentrennung. 1975 wurde er dafür und für weitere Reformen durch eine Justizintrige der Britischen Krone gestürzt, dieser Hochverrat wurde nie zugegeben und Witlams bahnbrechende Reformen werden bis heute weitgehend aus dem Gedächtnis der westlichen Öffentlichkeit gelöscht. (übersetzt von Daniela Lobmueh)

Siehe auch:

Assange-Schauprozess: Unrechtsstaat wirft Nebelkerzen

http://www.scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews%5bpointer%5d=14&tx_ttnews%5btt_news%5d=74963&cHash=21478b711c

Das Blut von Assange wird an Baerbocks Händen kleben

https://linkezeitung.de/2022/08/09/das-blut-von-assange-wird-an-baerbocks-haenden-kleben/

Vereinigtes Königreich: Gefängnisleitung verwehrt NGO „Reporter ohne Grenzen“ Besuch von Assange

www.scharf-links.de/44.0.html

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Zwei tödliche Jahrzehnte

Erstellt von Redaktion am 8. April 2023

Für Medienschaffende: 1.657 Medienschaffende seit 2003 getötet

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von        :         RSF

Am heutigen Freitag (07. April) vor genau 20 Jahren wurde der deutsche Journalist Christian Liebig im Irak getötet. Aus diesem Anlass blickt Reporter ohne Grenzen (RSF) auf zwei besonders tödliche Jahrzehnte für Medienschaffende zurück: Seit 2003 kamen bis 7. April insgesamt 1.657 Journalistinnen und Reporter bei oder wegen ihrer Arbeit ums Leben, durch Morde oder Auftragsmorde, bei Überfällen, Angriffen in Kriegsgebieten oder nach schwersten Verletzungen. Im Schnitt sind das mehr als 80 im Jahr.

„Hinter jeder nackten Zahl steht ein unermesslicher Verlust für die Angehörigen, und ein Verlust im Kampf um die Pressefreiheit weltweit“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Für uns ist das ein Ansporn, jeden Tag weiter zu kämpfen, für besseren Schutz in Krisen- und Kriegsgebieten, für wirksamere Gesetze und gegen die Straflosigkeit. Wenn die Täterinnen und Täter straflos davonkommen, werden immer wieder Journalistinnen und Reporter sterben.“

Christian Liebig war für den Focus in den Irak gereist und begleitete dort als „embedded journalist“ eine Einheit der US-Armee. Die US-geführte Invasion im Irak hatte am 19. März begonnen. Am 7. April 2003 schlug eine Rakete im Hauptquartier der Einheit ein und tötete Liebig, seinen spanischen El-Mundo-Kollegen Julio Anguita Parrado und zwei Soldaten. Seit 2003 sind im Irak insgesamt 300 Medienschaffende ums Leben gekommen. Der Irak ist damit vor Syrien mit 280 Getöteten das gefährlichste Land für Journalistinnen und Reporter der vergangenen 20 Jahre. Auf dieser Liste folgen Afghanistan, der Jemen, die Palästinensischen Gebiete und Somalia.

Die meisten Medienschaffenden kamen 2012 ums Leben. Für die 143 getöteten Journalistinnen und Journalisten waren vor allem die verschiedenen Parteien des syrischen Bürgerkriegs verantwortlich. Ein Jahr später, 2013, starben weitere 136 Medienschaffende. In der Folge gingen die Zahlen zurück, ab 2019 verzeichnete RSF historisch niedrige Zahlen. 2021 starben weltweit 51 Journalistinnen und Reporter, im vergangenen Jahr 60.

In Europa ist Russland das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden

In Europa bleibt Russland das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden. Seit der Machtübernahme durch Wladimir Putin im Jahr 2001 hat es in Russland vermehrt systematische Angriffe auf die Pressefreiheit gegeben, darunter mindestens 37 tödliche wie den Mord an Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006. Der umfassende russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit 24. Februar 2022 ist einer der Gründe für die hohen Todeszahlen in der Ukraine, die zweithöchsten in Europa. Dort wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten 20 Medienschaffende getötet, acht von ihnen seit der Invasion, nahezu alle anderen in den seit 2014 umkämpften Gebieten. Die Türkei steht mit neun getöteten Medienschaffenden auf Rang drei, gefolgt von Frankreich. Dort töteten Terroristen beim Terroranschlag auf das Büro der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris im Jahr 2015 acht Medienschaffende.

Dass Journalistinnen und Journalisten dort besonders gefährdet sind, wo Kriege oder bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden, liegt nahe. Allerdings ist die Zahl der jährlich in Kriegsgebieten getöteten Medienschaffenden zuletzt gesunken; in den vergangenen drei Jahren waren es jeweils nicht über 20. Abgesehen davon, dass die Intensität einiger Kriege abgenommen hat, spiegeln diese Zahlen auch die Wirksamkeit der von den Nachrichtenorganisationen ergriffenen Präventiv- und Schutzmaßnahmen wider.

Dennoch sind auch Länder, in denen offiziell kein Krieg stattfindet, häufig keine sicheren Orte für Journalistinnen und Journalisten. Seit 2003 sind sogar mehr Medienschaffende in offiziell friedlichen Gebieten getötet worden als bei der Kriegsberichterstattung. Vor allem Recherchen zum organisierten Verbrechen und zu Korruption sind extrem gefährlich.

Das trifft in besonderem Maße auf Mexiko zu, aber auch auf Brasilien, Kolumbien und Honduras. 2022 war der amerikanische Doppelkontinent die gefährlichste Region der Welt, dort hat Reporter ohne Grenzen 47 Prozent aller getöteten Medienschaffenden gezählt. Auch in Asien sind die Zahlen zum Teil sehr hoch: Auf den Philippinen wurden in den vergangenen 20 Jahren 107 Medienschaffende getötet, in Pakistan 94 und in Indien 59.

Auch Journalistinnen vermehrt unter den Opfern

95 Prozent aller getöteten Medienschaffenden sind Männer. Dennoch steigt auch die Zahl getöteter Journalistinnen an, in manchen Jahren sprunghaft. Im Jahr 2017 etwa kamen zehn Journalistinnen ums Leben, gegenüber 65 männlichen Journalisten. In den vergangenen 20 Jahren wurden insgesamt 79 Journalistinnen getötet, oftmals nachdem sie zu Frauenrechten recherchiert hatten.

Reporter ohne Grenzen zählt als „getötet“ nur Medienschaffende, die unter das Mandat der Organisation fallen. Dieses umfasst alle Personen, die regelmäßig im Haupt- oder Nebenberuf Nachrichten, Informationen und Ideen sammeln, verarbeiten und verbreiten, um dem öffentlichen Interesse zu dienen, wobei sie die Grundsätze der Meinungsfreiheit und der journalistischen Ethik beachten. Die Frage, ob eine Person unter das RSF-Mandat fällt, ist eine Einzelfallentscheidung, die jeweils nach detaillierter Prüfung erfolgt.

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Demokratie mit Lücken

Erstellt von Redaktion am 25. März 2023

Israel und die fehlende Verfassung des Landes

Jeder Politiker findet immer noch Mitschuldige welche sie hofieren. Würden solche – z.B. von der westlichen Welt ignoriert werden, würden sich die Situationen sehr schnell ändern. 

Von Joseph Croitoru

Die Kampagne der israelischen Rechten gegen den Obersten Gerichtshof begann lange vor der letzten Wahl. Ein Problem ist die fehlende Verfassung des Landes. In der „konstitutionellen Revolution“ sehen liberale Kreise bis heute die angemessene Umsetzung eines spezifisch jüdischen Gerechtigkeitsempfinden.

Israel erlebt derzeit eine tiefe konstitutionelle Krise. In ihrem Kern steht ein Autoritätskonflikt zwischen Parlament und Exekutive einerseits und dem sich als juristische Kontrollinstanz begreifenden Obersten Gerichtshof (OGH) andererseits. Seine Wurzeln liegen in der Gründerzeit des israelischen Staates. Dessen Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 folgte der Vorgabe des UN-Teilungsplans für Palästina vom November 1947, die vorsah, dass die zu wählende „verfassungsgebende Versammlung“ des jüdischen Staates eine Verfassung verabschiedet. Das Gremium wurde wegen des noch andauernden arabisch-israelischen Kriegs erst Anfang 1949 gewählt und erklärte sich im Februar zum israelischen Parlament (Knesset). Zur Verabschiedung einer Verfassung kam es indes nicht, weil sich die Abgeordneten über ihren Charakter nicht einigen konnten – oder wollten. Nicht unähnlich zu heute war die damals tonangebende Regierungspartei – David Ben Gurions sozialistische „Partei der Arbeiter Eretz Israels“ (MAPAI) – nicht gewillt, ihre Vollmachten von grundlegenden Rechtsnormen einschränken zu lassen. Ben Gurions Haltung wurde von seinen religiösen Koalitionspartnern mitgetragen, für die als Verfassungsgrundlage nur das jüdische Religionsgesetz in Frage kam. Dagegen wehrten sich Säkulare von links wie rechts. Im Juni 1950 kam es schließlich zu einer Kompromisslösung, als die Knesset entschied, verfassungsähnliche Strukturen in Form von einzelnen Grundgesetzen zu schaffen. Bis heute wurden dreizehn solcher Gesetze verabschiedet.

Das Fehlen einer Verfassung hatte weitreichende Folgen. Der junge israelische Staat übernahm große Teile des britisch-kolonialen Mandatsrechts, das teilweise auf osmanischem Recht gründete. Mit diesen übernommenen Gesetzeswerken war das Selbstverständnis des Staates Israel als Demokratie aber nur begrenzt vereinbar. Eine weitere Konfliktquelle stellte der doppelte Anspruch des Staates dar, demokratisch und zugleich exklusiv jüdisch zu sein. Diese Widersprüche sollte der Oberste Gerichtshof lösen. Dieser wurde schon im Sommer 1948 vom provisorischen israelischen Staatsrat ins Leben gerufen; die anfängliche Zahl von fünf amtierenden Oberrichtern wurde mit den Jahren sukzessive erhöht, zuletzt 2009 auf fünfzehn. Die vom OGH ausgeübte Normenkontrolle sollte Gesetzesmissbrauch durch den Staat verhindern. Allerdings unterwarfen sich die Oberrichter bis in die sechziger Jahre weitgehend dem Primat der nationalen Sicherheit und stellten sich auch dann hinter die Regierung, wenn die sich nicht gerade demokratiekonform verhielt. So etwa bei der sogenannten administrativen Haft ohne Strafverfahren – ein Erbe des britischen Mandatsrechts, von dem vor allem Palästinenser bis heute betroffen sind.

Weil sich die Oberrichter bei ihren Entscheidungen in Ermangelung einer Verfassung auf die Gleichheit postulierende israelische Unabhängigkeitserklärung wie auch auf die Rechtsprechung in westlichen Demokratien oder sogar auf die Bibel beriefen, kam es gelegentlich doch zu Konflikten mit dem Gesetzgeber. So beispielsweise, als der OGH 1969 ein Parteifinanzierungsgesetz für ungültig erklärte und die regierende Arbeitspartei auf der Vormacht des Parlaments bestand. Den Richtern warf sie Inkonsequenz vor mit dem Argument, dass sie die Regierung doch bei weit problematischeren Fällen wie Hauszerstörungen oder der Ausweisung palästinensischer Terroristen unterstützten. Die Ultraorthodoxen standen mit den meist säkularen Oberrichtern ohnehin laufend auf Kriegsfuß, besonders dann, wenn sie in die Rechtsprechung der religiösen Gerichte eingriffen.

Die bislang bedeutendste Wende in Israels Rechtskultur vollzog sich zu Beginn der neunziger Jahre. Als es in der Zeit der großen Koalition von Arbeitspartei und Likud in den späten achtziger Jahren zum politischen Stillstand kam, formierte sich im Land eine Protestbewegung, die strukturelle Reformen forderte. Mit ihrer Initiative „Verfassung für Israel“ verfolgten damals mehrere Rechtsprofessoren das Ziel, einen umfangreichen Grundrechtskatalog zur Verabschiedung zu bringen. Zwar scheiterten sie am Widerstand der Ultraorthodoxen, doch gelang es schließlich ihrem Mitstreiter Amnon Rubinstein, Juraprofessor und Abgeordneter der liberalen „Shinui“-Partei, 1992 zwei neue Grundgesetze mit verfassungsähnlichem Charakter einzubringen: Sie wachen über die Berufsfreiheit und die „Würde und Freiheit des Menschen“.

Berlin and Israel walls

Willige Helfer gesucht und gefunden! 

Damit lag ein konstitutioneller Referenzrahmen für Menschenrechte vor, auf den der OGH zurückgreifen konnte, was er auch energisch tat. Konservative israelische Juristen beklagten sich schon bald über dieses Vorgehen. Sie warfen den Oberrichtern „richterlichen Aktivismus“ vor, über dessen Nutzen und Nachteil in Israels juristischen Zeitschriften nun kontrovers diskutiert wurde. Zu den Befürwortern eines selbstbewussteren Auftretens des OGH gehörte auch der international angesehene und damals an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrende Rechtsprofessor Aharon Barak. 1993 vertrat er in einer wegweisenden Abhandlung die Ansicht, dass der OGH sich nicht mit der Rolle eines punktuellen Korrektivs des Gesetzgebers begnügen sollte. Weil es keine Verfassung gebe, sollten die Oberrichter die gesamte israelische Rechtsprechung Schritt für Schritt der Lebensrealität im Land anpassen und überall dort korrigierend eingreifen, wo die Gesetzgebung Lücken aufweise.

Die Fachdebatten der Juristen wuchsen sich zu regelrechten Grabenkämpfen aus, als 1995 Aharon Barak zum Präsidenten des OGH gewählt wurde. Moshe Landau, Amtsvorgänger und Zionist der alten Garde, warnte die Oberrichter schon damals davor, die neuen Grundgesetze dazu zu nutzen, die Rechte des Individuums über die Interessen der Allgemeinheit zu stellen und so den Egoismus in der israelischen Gesellschaft zu stärken. Ungeachtet solcher Bedenken wuchs die Bedeutung des OGH kontinuierlich. In dieser in Israel als „konstitutionelle Revolution“ bezeichneten Entwicklung sehen liberale Kreise bis heute die angemessene Umsetzung eines aus ihrer Sicht spezifisch jüdischen Gerechtigkeitsempfindens. Der OGH war aber schon unter seinem Präsidenten Barak, dessen Amtszeit bis 2006 dauerte, von unterschiedlichsten Seiten heftiger Kritik ausgesetzt. So warfen Menschenrechtler und Besatzungsgegner dem Gericht Verrat an den eigenen Prinzipien vor, weil es willkürliche Internierungen und auch Folter von Palästinensern wiederholt abgesegnet hatte. Für die ultranationalistischen Siedler und auch die Ultraorthodoxen verkörpert der OGH bis heute eine „Rechtsdiktatur“ – und nicht nur für sie.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Oben      —     President Donald J. Trump delivers remarks with Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu Tuesday, Jan. 28, 2020, in the East Room of the White House to unveil details of the Trump administration’s Middle East Peace Plan. (Official White House Photo by Shealah Craighead)

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« Jetzt ist die Zeit ! »

Erstellt von Redaktion am 21. März 2023

Der Deutsche Evangelische Kirchentag übt Zensur aus

Auf schwarze Seelen fällt kein Segen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :        Andreas Zumach /   

Die Vertreibung und Flucht von 750’000 Palästinenserinnen und Palästinensern 1948 darf man am Kirchentag nicht thematisieren.

«Jetzt ist die Zeit!» – unter diesem biblischen Motto aus dem Markus-Evangelium findet vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) statt. Erwartet werden bis zu 100’000 TeilnehmerInnen.  «Wichtige Themen der Zeit werden diskutiert, Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit… und der Würde des Menschen gestellt», kündigt der DEKT in seinen Einladungen und Werbematerialien für die Grossveranstaltung an.

Der Präsident des Kirchentages, Bundesminister a.D. (Verteidigung und Innen) Thomas de Maizière (CDU) betont: «Wir brauchen einen offenen, ehrlichen Austausch untereinander, um der Zeit gerecht zu werden und gemeinsame Schritte zu gehen.»

Die Ausstellung wurde schon in über 150 Städten gezeigt

Diese wohlklingenden Ankündigungen gelten allerdings nicht für das Konfliktthema Israel/Palästina. Die Wanderausstellung «Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948» thematisiert die Vertreibung und Flucht von rund 750’000 PalästinenserInnen im Jahr 1948 – zunächst durch jüdisch-zionistische Milizen und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 durch die Streitkräfte des Landes – darf ausgerechnet zum 75. Jahrestag dieses Geschehens auf dem Kirchentag DEKT in Nürnberg nicht gezeigt werden.

Nur mit dieser Verbotsauflage erhielt der Verein «Flüchtlingskinder im Libanon» (FiL) e.V., der die Nakba-Ausstellung im Jahr 2008 aus Quellen israelischer Historiker konzipiert hatte, von der DEKT-Geschäftsstelle in Fulda die Zulassung für einen Stand auf dem Markt der Möglichkeiten beim Nürnberger DEKT.

Dieses von DEKT-Generalsekretärin Kristin Jahn und der für das Kirchentagsprogramm verantwortlichen Studienleiterin Stefanie Rentsch im November letzten Jahres übermittelte Verbot kam sehr überraschend. Denn auf vergangenen Kirchentagen seit 2010 wurde die Nakba-Ausstellung ohne Probleme gezeigt. Ebenfalls seit 2008 in über 150 Städten im In-und Ausland, auch in Basel, Bern, Biel, St. Gallen, Zürich und Bülach sowie bei der EU in Brüssel und der UNO in Genf.

Die Verantwortlichen drücken sich um eine Begründung

Für die Verbotsentscheidung gaben Jahn und Rentsch auch auf mehrfache Nachfragen hin keine Begründung. Die Entscheidung habe das für «das Programm des Kirchentages gesamtverantwortliche DEKT-Präsidium» getroffen «nach vorheriger Durchsicht und Prüfung» der Bewerbung des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon «durch ein vom Präsidium eingesetztes Expertengremium».

Auch zahlreiche schriftliche Nachfragen bei dem «gesamtverantwortlichen» Präsidium nach den Gründen für das Verbot seit November letzten Jahres wurden bis Ende Februar nicht beantwortet. Selbst langjährige ehemalige Mitglieder des Präsidiums wie die frühere Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser und ihr Mann, der ehemalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, erhielten keine Antwort.

Photo of the village or town

Der aktuelle Kirchentagspräsident Thomas de Maizière reagiert auf Briefpost an seine Dresdner Anschrift bisher nicht. Anfragen per E-Mail-Schreiben an sein Büro lässt der Kirchentagspräsident durch seine Mitarbeiterin, die Flensburger CDU-Landtagsabgeordnete Uta Wentzel mit diesen Worten abwimmeln: «Das Schreiben wurde gar nicht gelesen und daran besteht auch überhaupt kein Interesse. Wenn Sie vom DEKT keine Antwort auf Ihre Frage erhalten, müssen Sie sich halt damit abfinden.»

Von den übrigen 30 Mitgliedern des Präsidums (darunter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, BWI-Staatssekretär und ATTAC-Mitbegründer Sven Gigold sowie BGH-Präsidentin Bettina Limperg) und den acht «ständigen Gästen» des Präsidiums aus der für den DEKT in Nürnberg gastgebenden Bayerischen Landeskirche, darunter Bischof Heinrich Bedford Strohm, antworteten nur wenige, die an die DEKT-Geschäftsstelle in Fulda verwiesen.

Auffällig viele der Angefragten erklärten zudem, sie seien gar nicht auskunftsfähig. Denn sie hätten an der Präsidiumssitzung, auf der das Verbot der Nakba-Ausstellung beschlossen wurde, gar nicht teilgenommen. Das wirft Fragen auf: Gab es überhaupt eine solche Sitzung? Und wenn ja: Existiert ein ordentliches Sitzungsprotokoll, aus dem Beschlüsse und ihre Begründungen hervorgehen? Wenn nicht: Von welchem Personenkreis wurde das Verbot tatsächlich beschlossen?

Wer die Mitglieder des «Expertengremiums» waren, das zum Verbot der Nakba-Ausstellung geraten hat, hält der DEKT bislang ebenfalls geheim. Nach informellen Informationen aus Kirchentagskreisen soll ein Experte (möglicherweise der einzige?) Christian Staffa gewesen sein, der Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Staffa ist auch im Vorstand der seit 1961 bestehenden «AG Juden und Christen» beim DEKT.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist auskunftspflichtig

Das Verbot der Nakba-Ausstellung auf dem Nürnberger Kirchentag ist ein unakzeptabler Akt der Zensur und des Eingriffs in die Meinungsfreiheit. Der DEKT verhindert damit den demokratischen Dialog. Der bisherige Umgang des DEKT mit Fragen nach einer Begündung des Verbots ist willkürlich und selbstherrlich. Und das DEKT-interne Verfahren, das zu dem Verbot geführt hat, ist offensichtlich nicht einmal für Mitglieder des «gesamtverantwortlichen» Präsidiums transparent.

Der DEKT ist zwar ein Verein. Aber die Grossveranstaltung in Nürnberg ist keine Privatveranstaltung. Sie wird ausser durch Ticketverkäufe, Spenden und Sponsoring ganz wesentlich mit öffentlichen Geldern (Kirchensteuern und anderen Zuschüssen) finanziert. Aus diesem Grund ist der DEKT auskunftspflichtig.

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Erdbeben in Syrien

Erstellt von Redaktion am 6. März 2023

Eine Politisierte Katastrophe

Zwei Lumpen welche von Ihresgleichen immer wieder Empfangen werden.

Ein Debattenbeitrag von Ibrahim Murad

Assad und Türkei-treue Gruppen in Syrien nutzen das Erdbeben für den Machterhalt. Ihnen sollten international bindende Grenzen gezogen werden.

Millionen von Syrern und Türken wachten am 6. Februar im Morgengrauen auf und sahen die Verwüstung, die das große Erdbeben mit mehr als 50.000 Toten hinterlassen hatte. In Syrien ist das Ausmaß der Zerstörung für viele durchaus mit der Verwüstung durch den Bürgerkrieg vergleichbar.

Trotz der humanitären Notlage, deren Folgen und Auswirkungen noch jahrelang andauern werden, nutzen sowohl der syrische Diktator Assad als auch die von der Türkei unterstützte syrische Opposition die Katastrophe aus, um von der Tragödie politisch zu profitieren. Assad sucht nach persönlichem und politischem Gewinn, indem er sich als Retter in der Not inszeniert, der versucht, dem ganzen Land zu Hilfe zu eilen. Mit Erfolg: Die USA haben die Sanktionen gegen Syrien nun gelockert, damit Hilfeleistungen überhaupt funktionieren können. Großbritannien und die EU sind diesem Beispiel gefolgt und haben ebenfalls die Sanktionen gelockert, sodass nun sanktionierte Einrichtungen und Personen humanitäre Hilfsgüter erhalten können – für Assad ein Prestigegewinn.

Doch das Bild des barmherzigen Samariters hat einen gewaltigen Riss. Wie brutal und skrupellos das Assad-Regime in Wirklichkeit ist, zeigt sich selbst in solch einer Situation. Kurdische Viertel und Dörfer im stark vom Erdbeben getroffenen Aleppo, das unter Kontrolle des Regimes steht, werden von Truppen der syrischen Regierung belagert und blockiert. Gleichzeitig werden Hilfsgüter, die den Erdbebenopfern zur Verfügung gestellt worden sind, von regimetreuen bewaffneten Gruppen geraubt und auf den Märkten den Opfern verkauft.

Auch wirkt es, als böte das Erdbeben eine Gelegenheit für Assad, den Prozess der Normalisierung mit der arabischen Welt zu beschleunigen, insbesondere nachdem viele arabische Staaten die dringende Hilfe direkt mit der syrischen Regierung koordiniert und nach Damaskus geschickt haben. Konkreter wurde es, als Assad mit den Besuchen des ägyptischen Außenministers Sameh Shoukry und des jordanischen Außenministers Ayman Safadi zum ersten Mal seit 2011 wieder hochrangige Diplomaten aus diesen beiden Staaten empfing. Assad selbst besuchte kürzlich in einer offiziellen Staatsvisite den Golfstaat Oman – sein erst zweiter Besuch eines arabischen Landes seit 2011. Die Zeichen stehen also auf Normalisierung der Beziehungen zur arabischen Welt.

In den Jahren des Bürgerkriegs war Assad mit Ausnahme von Russland und des Irans auf der diplomatischen Bühne isoliert. Nun, nach dem Erdbeben, scheint es zumindest in den Beziehungen zur arabischen Welt wieder vorwärtszugehen. Denkbar ist auch, dass der von Russland und dem Iran unterstützte Annäherungsprozess zwischen Syrien und der Türkei wegen der gemeinsamen Herausforderungen nach dem Erdbeben intensiviert wird. Ankara war in den vergangenen Jahren ein zentraler Unterstützer der syrischen Opposition.

Assad scheint es also zu gelingen, die Barriere regionaler und internationaler Embargos zu durchbrechen. Gleichzeitig versucht er, die Legitimität seines Regimes zu beweisen. Er hat Botschaften an die syrische Opposition und „nicht verbündete“ Länder gesandt, in denen er erklärt, dass sein Regime bleiben und er weiterhin die Angelegenheiten im Land kontrollieren werde.

Aber nicht nur Assad nutzt das Erdbeben für sich. Auch bei seinen politischen Kontrahenten im Land, in Nordwestsyrien, sind bewaffnete Gruppen, die loyal zu Ankara sind, damit beschäftigt, die bereitgestellte Hilfe untereinander aufzuteilen und zu stehlen. Berichte und Videos aus der von der Türkei besetzten Region Afrin haben enthüllt, dass bewaffnete Fraktionen die vom Ausland geschickten Hilfsgüter beschlagnahmt und auf den Märkten weiterverkauft haben.

Assad sucht nach persönlichem und politischem Gewinn, indem er sich als Retter in der Not inszeniert

Im einst mehrheitlich kurdischen Afrin werden die noch übrig gebliebenen Kurden trotz dieser Katastrophe systematisch von Ankara und der bewaffneten Opposition diskriminiert und bei der Verteilung der Hilfsgüter umgangen. So wird auch gegen politisch unliebsame Betroffene des Erdbebens vorgegangen, vor allem, wenn es Kurden sind.

Die von Ankara unterstützte syrische Opposition verweigerte auch die Weiterfahrt von Hilfskonvois, die von der kurdischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens für die Regionen Nordwestsyriens bereitgestellt waren. Offenbar erlaubte es Ankara nicht. Trotz des Ausmaßes der humanitären Katastrophe laufen die Konfliktparteien im Land immer noch gegen die Zeit. Auf Kosten von Millionen Syrern wird die Erdbebenkatastrophe politisiert.

Al-Qaida-Ableger bekommt Erdbebenhilfe

Quelle         :         TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben       —       During his visit to Iran, Syrian President Bashar al-Assad met with Iranian leader Seyyed Ali Khamenei

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Oury Jalloh – Das war Mord!

Erstellt von Redaktion am 4. März 2023

Oury Jalloh – Ablehnung der Verfassungsbeschwerde

File:BlackLivesMatter protest Berlin 2020-06-27 14.jpg

Wer legt diese Saat? Ein sich selber nennender „Werte Staat“ 

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von    :    Initiative in Gedenken an Oury Jalloh

Schutz der Täter steht über dem Recht der Angehörigen. Die Familie von Oury Jalloh geht zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

18 Jahre nachdem Oury Jalloh rechtswidrig festgenommen und im Dessauer Polizeigewahrsam schwer misshandelt und verbrannt wurde, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Einstellung aller Ermittlungen in Sachsen-Anhalt nachvollziehbar und somit rechtens und verfassungskonform sei. Damit hat nun auch die höchste Instanz der deutschen Justiz den Mord und das Verbrennen eines Menschen durch Polizeibeamte – entgegen aller Fakten und Beweismittel – negiert und das Opfer selbst zum Täter gemacht.

Die Karlsruher Richter*innen folgen in ihrem formalen Beschluss zur Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde der in höchstem Masse unwissenschaftlichen und einseitigen Argumentationslinie der sachsen-anhaltinischen Ermittlungsbehörden. Diese basiert einerseits uneingeschränkt auf den widersprüchlichen Aussagen und Schutzbehauptungen der Täter*innen aus dem Polizeirevier und stützt sich andererseits auf eine unprofessionelle und selektive Beweismittelerhebung: Von Beginn an haben die zuständigen Staatsanwaltschaften die wichtigsten Fragen nach der Brand- und Todesursache unbeantwortet gelassen. Selbst nach der Weisung des BGH von 2010 wurden die Ermittlungen weiter verschleppt, Aufträge für Gutachten manipuliert und Stellungnahmen der eigenen Expert*innen fehlinterpretiert oder gar ignoriert.

Auf diesen finalen Ablehnungsbeschluss musste der Bruder von Oury Jalloh, Mamadou Saliou Diallo, über drei Jahre warten – nur um dann erneut schmerzlich feststellen zu müssen, dass es seitens der deutschen Justiz keine Gerechtigkeit für den Mord an seinem Bruder geben darf. Der ungewöhnlich lange Zeitraum für die Entscheidung in einem so bedeutsamen Fall ist völlig inakzeptabel. Fragwürdig sind auch die 3 Monate, die es von der Beschlussfassung am 21.12.2022 bis zur Veröffentlichung am 23.02.2023 gedauert hat.

Mit dieser Entscheidung hat sich das Bundesverfassungsgericht selbst an der systematischen Vertuschung und Verschleppung eines offenkundig rassistischen Verbrechens, das darüber hinaus Teil einer Mordserie innerhalb der Dessauer Polizeibehörde ist, beteiligt.

Das ist eine weitere schwere Demütigung des Opfers und seiner Hinterbliebenen. Diese müssen seit über 18 Jahren leiden, während die verantwortlichen Täter*innen frei und ungestraft bleiben dürfen. Die deutsche Justiz hat damit erneut ein wichtiges und höchstrichterliches Signal an die deutsche Polizei gesendet: Ihr könnt weiterhin Menschen erschiessen, ersticken, erschlagen oder verbrennen – wir werden euch in jedem noch so offensichtlichen Fall beschützen!

Diese deutschen Zustände können und werden wir niemals akzeptieren. Wir werden unsere unabhängige Aufklärungsarbeit fortsetzen und gleichzeitig die Familie von Oury Jalloh bei ihrem Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterstützen. Der EGMR hat bereits in anderen Fällen betont, dass besonders bei Todesfällen in Gewahrsam eine Pflicht zur nachvollziehbaren Aufklärung der Todesumstände seitens des Staates besteht.

Oury Jalloh – Das war Mord! … und Mord verjährt nicht!

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

DL  – Berichtete 2012  :

Der Fall Oury Jalloh

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Oben        —      BlackLivesMatter Kundgebung auf der Straße des 17. Juni am Großen Stern in Berlin am 27. Juni 2020.

Author Leonhard Lenz       /        Source  :   Own work       /     Date : 27 June 2020

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Eine Kriegs-Erklärung

Erstellt von Redaktion am 27. Februar 2023

Abweichende Bemerkungen zur Weltlage

Kriegserklärung Erster Weltkrieg.jpg

So –  wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      : Renate Dillmann

Seit dem 24.2.2022 führt Russland Krieg in der Ukraine. Seitdem sind viele Menschen ums Leben gekommen – Menschen mit russischer oder mit ukrainischer Staatsangehörigkeit, Zivilisten und vor allem Soldaten. Warum gibt es diesen Krieg? Wofür sind diese Menschen gestorben?

Vermutlich wird am Jahrestag des Kriegsbeginns in den Mainstream-Medien erneut mit ausgestrecktem Zeigefinger auf „Putin“ als den alleinigen Verantwortlichen gedeutet. Einen Schuldigen zu benennen ist allerdings alles andere als eine Erklärung zu liefern.Das soll im Folgenden versucht werden. Dazu sind einige grundsätzliche Überlegungen zur modernen Staatenkonkurrenz nötig – ebenso wie eine Betrachtung des konkreten Falls.

Kapitalismus, Staatenkonkurrenz und Krieg

Moderne Staaten leben nicht davon, fremde Territorien zu erobern, sondern davon, ein möglichst grosses Wirtschaftswachstum zustande zu bringen. Ihre Aussen- und Geopolitik bezieht sich deshalb im Prinzip gleich auf die gesamte Welt. Insbesondere für die erfolgreichen und wichtigen Staaten gilt: Kein Stückchen Erde ist für sie uninteressant, keine Insel, keine Schifffahrtspassage, kein Punkt im erdnahen Weltraum wird ausser Acht gelassen – einen Standpunkt des „Geht uns nichts an“ gibt es in ihrer Aussenpolitik einfach nicht.

Seit 1990 kann man von einer weltweit gültigen Geschäftsordnung sprechen: Im Prinzip herrscht freier Austausch von Waren und Kapital auf dem gesamten Globus und in ihrer Souveränität anerkannte Nationalstaaten konkurrieren untereinander um den Nutzen aus diesem globalen Geschäft. Im Völkerrecht haben sie sich dazu verpflichtet, ihre „internationalen Streitigkeiten“ (von deren Fortexistenz also ausgegangen wird) nach Möglichkeit friedlich auszutragen bzw. die Vereinten Nationen über die erforderlichen Massnahmen entscheiden zu lassen. Diese „Ordnung“ der Welt im Geist weltweit freier kapitalistischer Konkurrenz ist einerseits das Resultat der Entkolonialisierung, die die USA noch zusammen mit der Sowjetunion gegenüber den ehemaligen Kolonialstaaten, insbesondere England und Frankreich, durchgesetzt haben. Und sie ist das Resultat des Kalten Kriegs, an dessen Ende sich der „totgerüstete“ kommunistische Ostblock selbst aufgelöst hat.

Das Ende des Kalten Kriegs – den westlichen Bevölkerungen wurde stets die Existenz des kommunistischen Störenfrieds als Grund für den Unfrieden auf der Welt genannt – hat allerdings nicht für ein Ende des weltweiten Aufrüstens gesorgt, schon gar nicht bei den Nato-Staaten, die ihr Militärbündnis nach der Auflösung des Warschauer Pakts keineswegs ad acta gelegt haben. Das ist auch kein Wunder. Die nun „endlich“ weltweit geltende Geschäftsordnung, die ihrerseits Resultat gewaltsamer Auseinandersetzungen ist, bringt aus sich heraus permanent harte Gegensätze zwischen den Staaten zustande und ist kein Verhältnis wechselseitigen Vorteils, keine win-win-Situation, wie gerne behauptet wird. Handel und Kapitalverkehr zwischen kapitalistischen Nationen dienen schliesslich dazu, dass sich aneinander bereichert wird. Auch wenn es Phasen gibt, in denen davon geschwärmt wird, dass Handels- und Investitionsverträge allen Beteiligten von Nutzen sind und es für alle aufwärts geht – letztendlich werden die Erfolge eines Landes auf Kosten eines anderen errungen; das zeigt sich spätestens auf der Ebene der Konkurrenz der Währungen.

Die Klagen westlicher Politiker und Journalisten darüber, dass China einen ungeheuren Aufstieg als Wirtschaftsnation hinlegt, bieten übrigens ein gutes Beispiel. Während ja ansonsten gerne lauthals betont wird, dass die Entwicklungsländer sich durch Teilnahme am Weltmarkt aus ihrer Lage herausarbeiten sollen, um so Hunger und Unterentwicklung hinter sich zu lassen, ist de facto kein westliches Land froh darüber, dass China – früher einmal das „grösste Entwicklungsland der Welt“ – genau das geschafft hat und zu den führenden Staaten dieser Erde aufsteigt. Die Befürchtungen über die weiteren Konsequenzen von Chinas neuen Fähigkeiten, die jede Woche lauter werden, zeigen ziemlich deutlich: Deren Erfolg nimmt „uns“ (der BRD, den USA usw.) etwas weg, geht auf „unsere“ Kosten.

Geostrategische Konkurrenz: ohne absichernde Gewalt kein erfolgreiches Geschäft

Schon an den internationalen Absprachen, die dem Handeln der Unternehmer vorausgehen, ist ersichtlich, dass das länderübergreifende und weltumspannende Geschäft nicht ohne Gewalt auskommt. Staatliche Souveräne zwingen sich wechselweise zur Anerkennung ihrer Existenz und handeln – unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Erpressungsmittel – die Bedingungen des globalen Geldverdienens aus: Das ist die schöne „regelbasierte Weltordnung“, die nach Ansicht der USA unbedingt gegen Angriffe geschützt werden muss, so der US-Verteidigungsminister Esper auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020. Wenn auf dieser Basis „friedlich“ gehandelt wird, macht das das Schiessen natürlich keineswegs überflüssig. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat diesen Zusammenhang im Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio ausgesprochen:

„Meine Einschätzung ist aber, dass wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Grösse mit dieser Aussenhandelsorientierung und damit auch Aussenhandelsabhängigkeit wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg. […] Es wird wieder Todesfälle geben. […] Man muss auch um diesen Preis am Ende seine Interessen wahren. […]“

Während Horst Köhler für seine Bemerkungen im Jahr 2010 als Bundespräsident noch zurücktreten musste, sind seine Gedanken inzwischen (wenn vielleicht auch noch nicht ganz in „der Breite der Gesellschaft“, so doch) an ihrer Spitze angekommen. Die Verantwortlichen für die deutsche Sicherheitspolitik sprachen die Verknüpfung von aussenwirtschaftlichen Interessen der Nation und militärischen Sicherheitsfragen schon lange vor der „Zeitenwende“ von Olaf Scholz offen aus. „Wohlstand und Volkseinkommen sind in Deutschland in hohem Masse abhängig von funktionierenden Rahmenbedingungen – in Europa und in der Welt. Deutschland ist eng in internationale Handels- und Investitionsströme eingebunden. Unser Land ist in besonderem Masse auf gesicherte Versorgungswege, stabile Märkte sowie funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme angewiesen. Diese Abhängigkeit wird weiter zunehmen.“ („Weissbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ 2016)

Das deutsche Staatswesen und seine wirtschaftlichen Interessen brauchen eine Armee, die überall auf der Welt die „Verantwortung“ für funktionierende Rahmenbedingungen übernehmen muss. Dass das „Weissbuch“ Deutschlands weltweite Gewinninteressen dabei als „Abhängigkeiten“ fasst, mag logisch etwas zweifelhaft sein, ist aber die durchaus übliche Selbstdarstellung auf dem Feld der internationalen Politik. Die hat gleichzeitig den überaus schönen Effekt, dass die „Abhängigkeiten“ eines Landes und damit die Notwendigkeiten, zu intervenieren und zu „verteidigen“ umso mehr wachsen, je erfolgreicher seine Wirtschaftsunternehmen auf dieser Erde tätig sind und andere Nationen von sich abhängig gemacht. Kein Wunder also, dass sich die USA, die wirtschaftsmächtigste Nation der heutigen Welt, die mit Abstand teuerste Armee leisten, überall Stützpunkte (an die 1000 weltweit) unterhalten und meist mehrere Kriege gleichzeitig führen, während andere „Fälle“ schon (bzw. noch) mit Wirtschaftskriegen, in denen man sämtliche Wirtschaftsbeziehungen nun als Waffen nutzen kann, zur „Vernunft“ gebracht werden.

Die ganze Gewalttätigkeit und Aggressivität der heutigen Weltordnung ist eben nicht – wie es in der Presse oft dargestellt wird – Ausdruck egomanischer, durchgeknallter Politiker. Sie ist vielmehr Ausdruck dessen, in welchem Umfang unversöhnliche Gegensätze die Wirtschaftsinteressen kapitalistischer Staaten bestimmen – also von Akteuren, die alle dasselbe wollen, nämlich Geld aneinander verdienen und sich dabei mit ihren Interessen unvermeidlich in die Quere kommen.

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Die „regelbasierte Weltordnung“ und ihre Störenfriede Dass eine solche Welt ständig „geordnet“ werden muss, ist also kein Wunder. Und ebenso wenig, dass die ständige (Wieder-)Herstellung dieser Ordnung das Werk der Macht ist, die erstens von der weltweiten Konkurrenz ökonomisch am meisten profitiert, weil sie mit ihrem Dollar bei fast jedem Geschäft mit-verdient und die zweitens dank ihrer überlegenen Militärmacht in der Lage ist, die Durchsetzung der Gleichung von Recht und US-amerikanischem Nutzen zu erzwingen. Für die USA, die sich diese globale Geschäftsordnung in zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg erkämpft hat, stellen Störungen der für sie sinnreich eingerichteten Ordnung ein absolutes Ärgernis dar.

  • Ein solcher Störfall liegt vor, wenn ein Rohstoff-reiches Land seine Bodenschätze dem Zugriff us-amerikanischer kapitalkräftiger Konzerne entreisst und unter nationale Regie stellt, um mehr beim Verkauf zu verdienen und davon nationale Entwicklungsprojekte zu fördern. Die Liste der deshalb von Wirtschaftskriegen, Putschs oder regelrechten Kriegen betroffenen Länder ist lang (Iran 1953, Guatemala 1954, Chile 1973, Irak 2003, Libyen 2011); dazu kommen einige gescheiterte oder noch nicht beendete Versuche in Venezuela, Bolivien, schon wieder der Iran …
  • Dass Staaten der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht gewachsen sind und darüber ruiniert werden, kann vom Standpunkt der Weltmacht weitere Eingriffe nötig machen. Negative, zerstörerische Resultate – das Verhungern des Volks, seine massenhafte Flucht, der Zusammenbruch von Währung und Staatsgewalt – sind vor Ort hinzunehmen, ohne dass sich dagegen gewehrt werden soll. Das zu erzwingen, gehört zur „Verantwortung“, die die führenden kapitalistischen Nationen für die Geschäftsordnung übernehmen, die ihnen nutzt.
  • In Afghanistan, einem für das weltweite Geschäft eher unbedeutenden Land, haben die USA mit ihrem „war on terror“ exemplarisch gezeigt, was passiert, wenn man Feinde der USA und ihrer Weltordnung unterstützt (Feinde, die sie übrigens selbst als Mittel im Kampf gegen die Sowjetunion ausgerüstet hatten).

Die wichtigste Art von Störfällen, zumindest aus us-amerikanischer Sicht, ist allerdings anderer Natur. Es sind selbstverständlich die Staaten, denen es als Teilnehmer in dieser Weltordnung gelungen ist, zu ernsthaften Konkurrenten der amerikanischen Hegemonie zu werden.

Deutscheuropa, Russland und China

Da ist erstens das EU-Projekt. Dessen ökonomische Führungsmacht Deutschland hat ihren wirtschaftlichen (Wieder-)Aufstieg nach dem 2. Weltkrieg zwar bisher im Bündnis mit und untergeordnet unter die USA vollzogen. Für die USA waren die europäischen Nato-Partner und die BRD als Frontstaat unverzichtbar beim Niederringen der UdSSR, von dem Deutschland mit dem Zugewinn an Volk, Territorium und Macht in besonderer Weise profitiert hat. Mit ihrem Binnenmarkt, einer Gemeinschaftswährung, die dem Dollar Konkurrenz macht, und ihrer Ausdehnung ist die EU allerdings inzwischen zu einem Staatenbündnis geworden, dessen Entwicklung in Washington mit wachsendem Misstrauen betrachtet wird. Die amerikanischen Think-tanks haben praktisch in den letzten Jahren einiges initiiert, um das Euro/EU-Projekt zu stören – von den US-hörigen Osteuropäern bis zur Förderung des englischen Brexits.

Da ist zweitens Russland, dessen aus westlicher Sicht wunderbarer ökonomischer Ausverkauf und staatlicher Zerfallsprozess unter Jelzin von seinem Nachfolger Putin gestoppt wurde. Unter dessen Präsidentschaft hat sich das Land ökonomisch und politisch konsolidiert – wenn es im Aussenhandel auch vor allem vom Verkauf seiner Rohstoffe und Waffen lebt. Auch wenn Russland damit kein ernsthafter ökonomischer Konkurrent der USA ist, betreibt es heute (erneut) eine aktive Aussenpolitik, die den westlichen Interessen an einigen Stellen der Welt in die Quere kommt – in Zentralasien (den Ex-Sowjetrepubliken), in Syrien, in Libyen, in Mali. Vor allem aber stösst den USA unangenehm auf, dass das Land aus Sowjetzeiten über eine Atomstreitmacht verfügt, die ihrer eigenen gewachsen ist, und das in diesem Sinne tatsächlich souverän (= militärisch nicht ohne weiteres erpressbar) ist.

Da ist drittens und vor allem das kapitalistisch gewendete China als neu aufsteigende ökonomische wie politische Grossmacht. Dieses Land wird aufgrund von Grösse und Bevölkerungszahl die USA in absehbarer Zeit als wichtigste kapitalistische Macht auf dem Globus ablösen. Und es bezieht mit seinen aussenwirtschaftlichen Initiativen in Asien, Afrika und Südamerika, inzwischen auch in Zentralasien und Südeuropa (Stichwort: Neue Seidenstrasse), viele Staaten mit Geschäfts- und Kreditangeboten auf sich und arbeitet damit aktiv an einer „multipolaren Weltordnung“. Das setzt allerdings voraus, dass seine Entwicklung zur kapitalistischen Grossmacht ungestört weiter verläuft, was die USA deshalb mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, ökonomisch wie politisch. Gegen diese Rivalen verteidigen die USA zurzeit ihre bisherige Sonderstellung als Welt- und Weltordnungsmacht: Eine zweite Macht auf Augenhöhe dulden sie in ihrer Weltordnung, die sie schliesslich zu ihrem Nutzen eingerichtet haben, erklärtermassen schlicht nicht. Nebenbemerkung: Man kann hier erneut sehen, ein wie anspruchsvolles (um nicht zu sagen „aggressives“) Ziel „Verteidigung“ ist… Die Mittel, die sie dafür einsetzen, reichen von ökonomischen bis zu politisch-militärischen. Sie greifen zentrale Momente an, aus denen diesen Staaten ihre Macht beziehen: den chinesischen Warenhandel, den russischen Rohstoffexport, die deutsch-russischen Energie- und sonstigen Geschäfte – und sie zögern nicht, dafür wesentliche Momente ihres „freien Welthandels“ zu instrumentalisieren oder ausser Kraft zu setzen (aggressive Schutzzollpolitik, Kampf gegen wichtige ausländische Unternehmen wie VW und Huawei). Sie bedrohen Russland und China mit ihren Allianzen (Nato, Aukus) und sie versuchen, sich das deutsche Europa dauerhaft unterzuordnen bzw. es durch die neuen Nato- und EU-Staaten Osteuropas zu spalten. Kein Wunder, dass sie dabei auf Widerstand treffen – auch ihre Konkurrenten „verteidigen“ sich dabei selbstverständlich nur: ihre besonderen ökonomischen Interessen wie ihren Willen zum Aufstieg nämlich.

Nicht nur Russland will den Ukraine-Krieg

Russland wehrt sich mit dem Krieg in der Ukraine, der übrigens ebenso völkerrechtswidrig ist wie der Nato-Krieg in Jugoslawien, der Afghanistan- und der Irak-Krieg, gegen eine weitere Ost-Ausdehnung der Nato. Putin hatte zuvor in unzähligen diplomatischen Initiativen Respekt für die russischen Sicherheitsinteressen verlangt, die ein weiteres Heranrücken westlicher Armeen und Raketenbasen und ein Infragestellung der russischen Schwarzmeer-Flotte nicht erlauben – ein Verlangen, dessen Berechtigung von einigen westlichen Militärs durchaus begriffen wird, wie die Stellungnahmen von Harald Kujat, Erich Vad und Jacques Baud belegen. Nachdem die westlichen Staaten darauf nicht eingegangen sind und eine Nato-Mitgliedschaft der seit 2014 massiv mit westlichen Waffen aufgerüsteten Ukraine kurz bevorstand, hat Putin den laufenden Krieg begonnen – als „militärische Spezialoperation“, d.h. mit angekündigt begrenzter Reichweite und Dauer. Heute besteht das unmittelbare russische Kriegsziel wohl in der Sicherung der Donbass-Republiken sowie der Krim und der dort stationierten Schwarzmeer-Flotte.

Wenn Russland sich damit durchsetzen könnte, wäre das allerdings – auf einer höheren Ebene – gleichzeitig ein Durchbrechen des Weltgewaltmonopols, wie es die USA für sich in Anspruch nehmen: Nur sie dürfen ungestraft Krieg führen auf der Welt und nur sie erlauben anderen Staaten, so etwas ungestraft zu tun. Nur sie dürfen Grenzen verschieben, Separatisten ins Recht setzen oder verbieten.

Insofern stellt dieser Krieg in der Tat einen Anschlag auf die geltende unipolare Weltordnung dar – ein Grund dafür, dass ihn viele Länder insbesondere aus dem globalen Süden keineswegs verurteilen und sich auch nicht an den geforderten Wirtschaftssanktionen beteiligen, die ihre miserable Lage in der Weltmarktkonkurrenz noch weiter verschlechtern würden.

Die USA nutzen diesen Krieg gleich mehrfach. Sie schädigen Russland durch einen Stellvertreterkrieg auf dem Territorium der Ukraine und „bis zum letzten Ukrainer“ militärisch massiv. Durch den parallel geführten (und ebenfalls völkerrechtswidrigen) Wirtschaftskrieg versuchen sie, die ökonomischen Grundlagen Russlands zu attackieren – den Handel mit Öl, Gas und Waffen.

Sie schlagen ihrem guten „Freund und Alliierten“ Deutschland seine bislang vorteilhafte Energie-Versorgung mittels russischem Öl und Gas aus der Hand, schrecken dabei auch vor staatsterroristischen Akten nicht zurück und verderben ihm – aus ihrer Sicht möglichst dauerhaft – sein Russland-Geschäft sowie seine (zeitweise) guten diplomatischen Beziehungen zu Moskau, die ihm auch eine gewisse Distanz zur verlangten Unterordnung unter die US-Politik erlaubt haben. Sie stellen ihren Hauptrivalen China vor die Gretchenfrage, ob es dem neuen „Paria“ der Weltordnung weiter die Stange halten will und dafür erneut ökonomische Boykott-Massnahmen riskiert. Das in den letzten Jahren zustande gekommene Bündnis zwischen China, dem wichtigsten ökonomischen Rivalen, und Russland, dem wichtigsten militärischen, war nämlich aus US-Sicht untragbar – ebenso übrigens, wie es ein „eurasischer Wirtschaftsraum“ gewesen wäre, in dem die EU und Russland friedlich-produktive Beziehungen entwickelt hätten.

Die einzige Einschränkung dieser Kriegspolitik, die zurzeit scheinbar ohne jede Furcht vor einer nuklearen Eskalation eine „rote Linie“ nach der anderen überschreitet, stellt bei US-Militärs und -Medien die Frage dar, ob die an und für sich nützliche Schädigung Russlands nicht zu viele Mittel bindet. Eigentlich werden die ja für Wichtigeres gebraucht und China soll nicht schon wieder Nutzniesser einer weiteren Krise sein.

Grossbritannien nimmt den Ukraine-Krieg als Chance, sich durch seine forsche militärische Unterstützung der Kiewer Regierung (die auch die Verhinderung eines „zu frühen“ Friedensschlusses mit den Russen durch Boris Johnson einschloss) als die wirkliche europäische Führungsmacht jenseits der EU in Szene zu setzen – so etwa nach dem Motto: Ein potentes Militär hat das alte Empire immer noch und kann durch diese Machtentfaltung das „deutsche Europa“, mit dem London seit dem Brexit in einer neuen Konkurrenz steht, möglicherweise im seinem Sinne neu ordnen. Kein Wunder, dass dabei erneut die alten Bündnislinien (mit Polen gegen Deutschland) zum Zug kommen.

Die aufstrebende Grossmacht EU und ihre deutsche Führungsmacht wollen nicht hinnehmen, dass Russland sich seiner weiteren Einkreisung entgegenstellt und sich herausnimmt, dafür Gewaltmittel einzusetzen. Das ist der Kern von Baerbocks Behauptung, man sei in einer „neuen Welt“ aufgewacht, in der wieder Krieg in Europa geführt werde. „Krieg in Europa“ gab es selbstverständlich auch schon vorher wieder – ob in Nordirland oder Jugoslawien, nur wurde er da von den „richtigen“ Mächten geführt. Russland dagegen soll das nicht erlaubt sein; ihm steht das Recht auf Kriegführen auf diesem Kontinent nicht zu. Deshalb „muss“ das Land in seine Schranken gewiesen werden.

Insofern will die EU, will Deutschland diesen Krieg – als erfolgreiche Verteidigung der Ukraine gegen Russland, an deren Ende ein russisches Staatswesen stehen soll, das nicht mehr in der Lage ist, Krieg zu führen und das dann idealiter in seine Einzelteile zerfällt. Zugleich ist das ein – weiterer – Versuch der EU wie Deutschlands, sich im Rahmen der Kriegsbeteiligung zu profilieren und von den USA zu emanzipieren.

Gleichzeitig wird innerhalb der EU die sowieso schon immer vorhandene Konkurrenz darum, wer in ihr das Sagen hat, an einem neuen Gegenstand ausgetragen: Wer macht Russland am entschiedensten, forschesten und rücksichtslosesten fertig? lautet der neue innereuropäische Wettbewerb. (Nebenbemerkung: Es ist doch aufschlussreich, was eine „Führungsmacht“ in der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten EU ausmacht!)

Das hat Folgen. Wie schon gesagt, schaden die Wirtschaftssanktionen Deutschland am meisten, weil es die profitabelsten Beziehungen zu Russland unterhielt (s.o.). Es musste im Zuge der westlichen Wirtschaftssanktionen den Zugriff auf die günstigen russischen Energielieferungen ebenso aufgeben wie einen Grossteil seines Russland-Geschäfts. Dass es sich die Sprengung der Nordstream-Pipeline durch seine Verbündeten bieten lassen muss, sorgt sicher nicht nur in Washington für Freude, sondern auch bei den EU-Partnern, vor allem in Warschau, das diese Pipeline immer aufs Schärfste bekämpft hatte. Militärisch liefert Deutschland massiv – und gleichzeitig steht die deutsche Regierung angesichts der stetigen Forderungen der osteuropäischen Staaten als ewiger „Zauderer“ da, der an „Führungskraft“ verliert. Aktuell versucht die deutsche Politik zwar, diesen Eindruck wieder umzudrehen angesichts dessen, dass nach dem vorherigen lauten Getöse inzwischen nur noch Deutschland Panzer zu liefern scheint. Es scheint allerdings fraglich, was damit aus der deutschen Kalkulation, sich keineswegs auf „gefährliche Alleingänge“ einzulassen, geworden ist.

Polen jedenfalls sieht sich, wie die Tagesschau bestürzt feststellt, inzwischen als das neue „Gravitationszentrum“ Europas, das gemeinsam mit den Balten die Eskalation gegen Russland vorantreibt. Und selbstverständlich ist sich auch Frankreich wieder schuldig, als stärkste Militärmacht der EU aufzutreten, an die eigene atomare Streitmacht zu erinnern und Selensky mit französischem Militärgerät zu beliefern…

Nicht zuletzt will die Ukraine selbst diesen Krieg. Zwar wird von diesem Land und seinen Bewohnern vermutlich nicht viel übrig bleiben, wenn es so weitergeht. Das hindert seine politische Führung allerdings überhaupt nicht, immer weitere „schwere Waffen“ zu fordern und Verhandlungen vor einem „Siegfrieden“ auszuschliessen, der, Stand heute, auch die Rückeroberung der Krim beinhalten soll (womit Russlands Schwarzmeerflotte und sein Zugang zum Mittelmeer attackiert wird).

Dieses Land führt hier eine Art verspäteten Staatsgründungskrieg gegen Russland – und dafür ist offenbar kein Opfer zu hoch. Das Leben der eigenen Bevölkerung ist jedenfalls nicht der Massstab, an dem Selensky seine Kriegsstrategie ausrichtet – und das russischer Soldaten und Bürger sowieso nicht, denn Russen hat „unser Held“ in Kiew längst zu einer Art von Untermenschen erklärt. Natürlich ist damit auch ein hartes Ausgrenzungs- oder Unterordnungsprogramm gegenüber den 30 Prozent ethnischer Russen in der ukrainischen Bevölkerung auf der Tagesordnung. Russische Sprache, russische Literatur und Musik wurden im letzten Jahr als kulturelle Waffen des Feindes ebenso verboten wie elf Oppositionsparteien (die Kommunistische Partei hatte es schon 2015 erwischt). Die Medien sind gleichgeschaltet; viele Kritiker der Regierung und des Maidan-Putsches von 2014 verhaftet. Dass fast die Hälfte der Bevölkerung die „ukrainische Heimat“ inzwischen verlassen hat, stört nicht, auch wenn nach der inzwischen siebten Mobilisierung (Männer bis 60 Jahre) das menschliche Material knapp wird. Denn die Mittel für diesen Krieg bezieht das ukrainische Militär aus der westlichen Waffenhilfe. Die eigene Bevölkerung und die eigene Wirtschaft sind als Basis der staatlichen Ansprüche wesentlich weniger ertragreich. Also muss sich die Ukraine mit ihrem Krieg vor allem weiterhin für die westlichen Staaten interessant machen: So viel Milliarden Dollar und so viel weltweite Aufmerksamkeit würde sie ohne den Gegner Russland jedenfalls nie bekommen.

Fazit

Der jetzt seit einem Jahr laufende Krieg in der Ukraine ist kein singulärer russischer Verstoss gegen das Völkerrecht, wie er von Seiten westlicher Regierungen und der Mainstream-Medien behauptet wird. Völkerrechtsverstösse dieser Art haben „westliche Staaten“ und ihre Verbündeten in den letzten dreissig Jahren in grosser Zahl begangen. Er ist auch kein Anschlag auf ein Prinzip namens Weltfrieden, das angeblich allen Staaten dieser Welt am Herzen liegt. Und er ist, wenn es noch zur Eskalation oder gar zum Nuklearkrieg kommt, auch kein tragischer Prozess, in den die Beteiligten wieder einmal „schlafgewandelt“ sind.

Nein, die Gründe für diesen Krieg, die beteiligten Staaten und die Strategien ihrer Regierungen liegen in der von den USA nach dem 2. Weltkrieg durchgesetzten „regelbasierten Weltordnung“ selbst.

Die Regel dieser Ordnung besteht darin, dass auf der ganzen Welt freier Handel und Kapitalverkehr zwischen souveränen Staaten stattfindet. Diese Konkurrenz um den Nutzen aus dem weltweit stattfindenden Geschäft enthält in sich notwendig die harten Gegensätze, die sämtliche Staaten dazu veranlassen, ihre ökonomische Konkurrenz bereits im Frieden (!) durch eine geostrategische zu ergänzen und dafür prophylaktisch nach Kräften aufzurüsten.

Im laufenden Krieg kämpfen Russland, die USA, Grossbritannien, das deutsche Europa mit all seinen inneren Widersprüchen und die Ukraine selbst um ihre Stellung in der internationalen Konkurrenz der Staaten – so etwas geht letzten Endes nicht anders als mit Krieg.

Dafür sterben die ukrainischen Soldaten, die russischen Soldaten und die betroffenen Zivilisten in der Ukraine. Und dafür werden die Menschen in allen beteiligten Kriegsparteien in Haftung genommen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —   Erklärung des Kriegszustandes des Deutschen Kaiserreiches am 31 Juli 1914, der Beginn des Ersten Weltkrieges. Unterzeichnet von Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais in Potsdam. Gegengezeichnet vom Reichkanzler Bethmann-Hollweg.

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Unten        —      Авдеевка после обстрелов. Фото: ФБ Вячеслав Аброськин

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Guantanamo-Entlassungen

Erstellt von Redaktion am 23. Februar 2023

Guantanamo-Entlassungen: Die USA in der Verantwortung

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng / 

Das Leben eines ehemaligen Guantanamo-Häftlings ist eine fortgesetzte Gefangenschaft ohne Rechte und ohne Perspektive.

Viele ehemalige Guantanamo-Häftlinge führen ein elendes Leben. Den Terror-Stempel werden sie nicht mehr los, obwohl einige wohl nie ein Verbrechen begangen haben. Die USA kümmern sich kaum um ihren Verbleib.

Sabri al-Qurashi sei ein begabter Maler, schreibt die Journalistin Elise Swain, die sich über Monate per Internet mit dem ehemaligen Guantanamo-Häftling unterhalten hat. Für den «Intercept» berichtet sie über sein Leben in Kasachstan, wo er bis heute keinen Aufenthaltsstatus und damit auch keine Rechte hat. Der Jemenit malt ruhige Landschaftsbilder, aber auch Szenen aus der Gefangenschaft. Die Malerei helfe ihm, die Hoffnung nicht zu verlieren, sagt er.

Von Saudi-Arabien über Kandahar nach Guantanamo

2014 wurde al-Qurashi nach 13 Jahren aus Guantanamo entlassen. Ein freier Mann ist er bis heute nicht. Eigentlich, sagt er, sei es «jetzt genauso schlimm wie in Guantanamo, in vielerlei Hinsicht sogar noch schlimmer». Im US-Gefangenenlager in Kuba habe er gewusst, dass die Gefangenschaft enden würde. Ob sein jetziges Leben, das man nur als elend beschreiben kann, sich jemals zum Besseren wendet, weiss er nicht.

Festgenommen wurde der heute 52-Jährige auf einer Geschäftsreise nach Pakistan, die ihn nach Aufzeichnungen des Journalisten Andy Worthington auch nach Afghanistan führte. Er sei unterwegs gewesen, um Parfümöle bei den Herstellern zu kaufen, sagt al-Qurashi. Die Reise endete im US-Gefängnis von Kandahar. Von dort wurde er nach Guantanamo geflogen. «Der schlimmste Tag in meinem Leben», sagt er.

Der «Intercept» nimmt an, dass ein Warlord oder die afghanischen Polizei al-Qurashi verkauft hat. Die US-Armee bezahlte kurz nach 9/11 hohe Summen für mutmassliche Taliban- oder Al Kaida-Mitglieder. Ob er jemals ein Verbrechen begangen hat, ist unklar.

Ohne Anklage oder Prozess

Ende Dezember 2014 wurde er mit zwei anderen Jemeniten im Zuge einer geheimen Abmachung nach Kasachstan gebracht. Zuvor gab es ein Treffen mit Vertretern Kasachstans. Ein Transfer in den Jemen sei aufgrund der politischen Situation nicht möglich gewesen, schreibt der «Intercept». Eine Anklage oder einen Prozess gab es nie.

Laut der «New York Times» erklärte «ein hochrangiger Beamter der Obama-Regierung», dass insgesamt fünf nach Kasachstan umgesiedelte Ex-Gefangene «nach der Überstellung in jeder Hinsicht freie Männer seien».

In al-Qurashis Bericht für den «Intercept» klingt es anders. Nach einer Beobachtungszeit von zwei Jahren sei er ein freier Mann mit allen Rechten, hätten die US-Behörden versprochen. Und Kasachstan sei immerhin ein muslimisches Land. Die kasachischen Behörden seien gut ausgestattet, um die Überwachungsaufgaben zu übernehmen, die seine Entlassung erfordere. Ein Leben als normales Mitglied der Gesellschaft liege vor ihm. Al-Qurashi hoffte, seine Frau wiederzusehen oder zu sich holen zu können.

Als Sans-Papiers gestrandet

Nichts davon wurde wahr. Al-Qurashi hat keinerlei legalen Aufenthaltsstatus in Kasachstan und kann sich nicht frei bewegen. Als Sans-Papiers kann er keine Post bekommen oder absenden, kein Geld empfangen, nicht arbeiten, nicht reisen. Nicht einmal die unmittelbare Umgebung kann er allein verlassen. Wenn er das möchte, muss er den Roten Halbmond kontaktieren, der ihm eine Begleitung zur Verfügung stellt. Manchmal wartet er tagelang.

Der Rote Halbmond finanziert Lebensmittel und Wohnung und begleitet ihn. Soziale Kontakte zu knüpfen, hat der Ex-Häftling aufgegeben. «Die Regierung schikaniert jeden, mit dem ich in Kontakt komme», erzählt er. Sie warne Kontaktpersonen vor dem gefährlichen Terroristen. Er wolle niemanden in Schwierigkeiten bringen und habe deshalb aufgehört, sich mit anderen zu treffen.

«Sie haben keine Rechte»

Über die Jahre habe er mehrmals versucht, einen Besuch seiner Frau oder anderer Familienangehöriger zu arrangieren. Vergeblich. Als «Illegaler» dürfe er keinen Besuch bekommen. «Sie haben keine Rechte», hätten die kasachischen Behörden ihm gesagt. Der Rote Halbmond verhandelt seit Monaten über einen kurzen Besuch seiner Frau. «Ich versuche, nicht aufzugeben, aber alles ist gegen mich», sagt al-Qurashi.

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Es sei schwer, die Verzweiflung nach zwei Jahrzehnten in Gefangenschaft nicht zuzulassen. «Jetzt lebe ich, als wäre ich tot, und man sagt mir, ich sei frei, obwohl ich es nicht bin», schrieb er in einem Chat. Die Reporterin erlebte ihn in unzähligen WhatsApp-Videoanrufen dennoch als positiv und herzlich und humorvoll, schreibt sie.

«Jetzt lebe ich, als wäre ich tot, und man sagt mir, ich sei frei, obwohl ich es nicht bin.»

Sabri al-Qurashi, ehemaliger Guantanamo-Häftling

Vor vier Jahren wurde al-Qurashi auf der Strasse überfallen und im Gesicht verletzt. Eine Anzeige sei nicht möglich, schliesslich sei er illegal da, sagten die Behörden. Von dem Vorfall hat er eine Gesichtslähmung zurückbehalten, die chirurgisch behandelt werden müsste. Bisher hat er Akupunktur bekommen und ein Glas mit Blutegeln.

Von den insgesamt fünf Guantanamo-Häftlingen, die von den USA nach Kasachstan geschickt wurden, leben nur noch zwei dort. Muhammad Ali Husayn Khanayna wollte sich dem «Intercept» gegenüber nicht äussern. Asim Thabit Al Khalaqi, der dritte Jemenit, starb vier Monate nach der Ankunft in Kasachstan überraschend an einer schweren Krankheit. Angehörige werfen den Ärzten ärztliche Kunstfehler vor.

Lotfi bin Ali, ein Bürger Tunesiens, gab mehrere Interviews über sein desolates Leben in Kasachstan und wurde nach Mauretanien umgesiedelt. 2021 starb er dort an einer Herzkrankheit, von der man wusste; laut dem «Intercept», weil er keine adäquate Behandlung bekam. Die US-Behörden habe es nicht gekümmert, sagte sein ehemaliger Anwalt, Mark Denbeaux. Über den Verbleib von Adel Al-Hakeemy, ebenfalls Tunesier, ist nichts bekannt.

Wie wichtig ein ordentliches Gerichtsverfahren ist

Diese Lebensgeschichten zeigen einmal mehr, wie unmenschlich es ist, Menschen ohne ordentliches Gerichtsverfahren jahrelang festzuhalten, und wie gross der Wert eines ordentlichen Gerichtsverfahrens ist. Weder Schuld noch Unschuld der fünf nach Kasachstan Geschickten wurde jemals festgehalten. Die USA stuften sie wohl als geringes Risiko ein. Die Männer tragen dennoch das Stigma des gefährlichen Terroristen.

Auch bei den Gefangenen, die verurteilt wurden, bestehen erhebliche Zweifel an deren Schuld. Der Anfang Februar freigelassene Majid Khan beispielsweise berichtete mehrmals von Folter durch die CIA. Der Pakistaner wird in Zukunft in Belize in Mittelamerika leben.

Die US-Behörden bemühen sich mit Unterbrechungen seit Jahren, das Guantanamo-Gefängnis zu leeren und die heute noch eingesperrten 34 Gefangenen loszuwerden. Aber es ist eben das: ein Loswerden.

Eine Verantwortung, die keiner tragen will

Wer nach der Entlassung die Verantwortung für ehemalige Guantanamo-Häftlinge trägt, ist unklar. Das US-Aussenministerium, zunächst interessiert an einer sicheren Unterbringung ehemaliger Gefangener ausserhalb der USA, sieht seine Pflicht nach der zweijährigen Überwachungsfrist als getan an.

Die Verantwortung gehe an die Aufnahmeländer über, erklärte ein Sprecher des US-Aussenministeriums. Man ermutige alle Gastregierungen, ihre Verantwortung auf humane Weise und unter Berücksichtigung angemessener Sicherheitsmassnahmen wahrzunehmen. Die kasachische Botschaft in den USA reagierte auf eine Anfrage des «Intercept» nicht.

Inhumane Behandlung auch in anderen Ländern

Mit dem Ende der Regierung Obama stellten die USA auch die diplomatischen Bemühungen des Aussenministeriums zu ehemaligen Guantanamo-Häftlingen ein. Die Trump-Administration löste die für Umsiedlungen zuständige Stelle auf, die Ex-Häftlingen grundlegende Menschenrechte hätte garantieren können.

Länder wie Kasachstan, die Vereinigten Arabischen Emirate und Senegal nutzten diese Lücke aus. Die Emirate schickten Ex-Häftlinge ins Gefängnis, Senegal schob einen Ex-Gefangenen nach Libyen ab.

Seit August 2021 gibt es wieder eine US-Stelle für «Guantanamo Affairs», die mit der Diplomatin Tina Kaidanow besetzt ist. Al-Qurashis Anwalt Greg McConnell hat eine Anfrage an Kaidanow gerichtet. Das Personal sei sehr freundlich, sagt er zum «Intercept». Antworten habe er schon lange nicht mehr erhalten.

Die USA müssen Verantwortung übernehmen

Das bisher einzige Angebot der kasachischen Regierung ist laut al-Qurashi eine Reise zurück in den Jemen. Das könnte gegen das internationale Recht der Nichtzurückweisung verstossen, ordnet die Menschenrechtsspezialistin Martina Burtscher gegenüber dem «Intercept» ein. Im Jemen sei al-Qurashi wegen des Terror-Stigmas ein leichtes Ziel der dort agierenden Gruppierungen. Bisher weigert er sich, in den Jemen zu reisen. Für die USA hat die Unterbringung der verbliebenen Gefangenen Priorität.

Al-Qurashis Probleme sind nicht einzigartig. Rund 30 Prozent der ehemaligen Guantanamo-Häftlinge, die in Drittländer gebracht wurden, hätten keinen legalen Status, sagte die US-Organisation Reprieve vor einem Jahr.

Ohne sinnvolle Massnahmen der USA werde sich in dieser Angelegenheit auch nichts bewegen, sagt Mansoor Adayfi, ein anderer Jemenit, der 14 Jahre in Guantanamo eingesperrt war. 2018 wurde er nach Serbien entlassen. Obwohl er eine Aufenthaltsgenehmigung hat, fühlt er sich in Belgrad nicht sicher und wird noch immer überwacht. Er hat einige Folgeerkrankungen der Haft, die ihn einschränken, dokumentierte der «Intercept». Die serbische Regierung drohe regelmässig damit, die Unterstützung einzustellen. 2021 schrieb Adayfi an einem Buch mit dem Titel «Life After Guantánamo». «Welches Leben?», fragt man sich.

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Eine Agenda der Radikalen

Erstellt von Redaktion am 11. Februar 2023

ISRAEL – DIE AGENDA DER RADIKALEN

Isaac Herzog in Beit HaNassi, December 2022 (ABG 0348).jpg

Von Charles Underlin

Während Zehntausende in Tel Aviv und Jerusalem gegen die geplante Abschaffung des Rechtsstaats auf die Straße gehen, eskaliert der Konflikt mit den Palästinensern. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht, solange in der Regierung Vertreter der radikalen Siedlerbewegung das Sagen haben.

Benjamin Netanjahu hat es geschafft. Seit dem 29. Dezember ist er wieder an der Macht. Der neue alte Pre­mier­minister, der das Amt bereits von März 2009 bis Juni 2021 innehatte, kann sich mit 64 von 120 Sitzen auf eine nationalistisch-ultraorthodoxe Mehrheit in der Knesset stützen. Endlich kann er sein großes Projekt verwirklichen: die Durchsetzung eines neuen Regimes, das auf einem autoritär-religiösen jüdischen Nationalismus beruht. Netanjahu bricht damit endgültig mit der Vision einer Demokratie, wie sie die zionistischen Gründerväter Theodor Herzl, Wladimir Zeev Jabotinsky und David Ben-Gurion vertraten.

Den ersten Schritt in diese Richtung vollzog Netanjahu bereits im Juli 2018 mit dem umstrittenen Nationalstaatsgesetz, das die arabischen und dru­sischen Minderheiten diskriminiert.1 Die neue Regierung will diesen Weg zu Ende gehen. Und das heißt: dem Rechtsstaat Fesseln anlegen; die „nationale Erziehung“ radikalisieren, die Führungskader im Sicherheitsapparat auf Linie bringen, die linke Opposition zerschlagen, die Annexion des Westjordanlands vorantreiben und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) kaltstellen.

Mit dem Umbau des Justizsystems hat Netanjahu den Knesset-Abgeordneten Jariv Levin betraut, der seit seiner Wahl auf der Likud-Liste im Jahr 2009 gegen zu unabhängige Richter hetzt. Kaum ernannt, präsentierte Levin am 4. Januar seinen Plan für eine „radikale Umgestaltung“ nach einem ganz neuen Prinzip: Das „Volk“ allein verleiht der gewählten Mehrheit die Legitimität, unbeschränkt zu regieren – ohne die Einmischung von Richtern, denen die Legitimation durch den Souverän abgeht. Konkret heißt das: Eine „Überwindungsklausel“ soll es einer Knesset-Mehrheit von 61 Abgeordneten ermöglichen, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs aufzuheben, wenn der zum Beispiel ein Gesetz für verfassungswidrig befindet. Und diese Knesset-Entscheidung kann, so Levin, „von einem Richter nicht mehr aufgehoben werden“.

Justizminister gegen den Rechtsstaat

Damit nicht genug: Auch das neunköpfige Gremium, das die Richter des Obersten Gerichtshofs ernennt, soll der Kontrolle der Regierung unterworfen werden. Zu diesem Zweck sieht Levins Reform vor, die beiden von der Anwaltskammer bestellten Vertreter durch direkt vom Justizminister ernannte Mitglieder zu ersetzen.

Als weitere Maßnahmen plant der Justizminister die Neufassung einiger Artikel des Strafgesetzbuches, was dafür sorgen soll, dass dem Korruptionsverdacht gegen Politiker und Politikerinnen künftig seltener nachgegangen wird. Theoretisch könnte es dazu kommen, dass Netanjahu selbst die Richter ernennt, die über seinen Revisionsantrag befinden, falls er in dem laufenden Prozess wegen Betrugs, Veruntreuung und Korruption verurteilt werden sollte.

Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Chajut, hat die Pläne des neuen Justizministers scharf verurteilt: „Dies ist eine Attacke auf das Rechtssystem, als wäre es ein Feind, den man angreifen und bezwingen muss. Diese Reform ist ein tödlicher Schlag für die Demokratie.“

Levins Reaktion erfolgte prompt. Der Justizminister hielt Chajut vor, dass sie einer Partei angehöre, die nicht zu den Wahlen angetreten sei, sich aber dennoch über die Knesset und die Entscheidungen des Volks erheben würde. Mit ihren Äußerungen wolle die Gerichtspräsidentin überdies dazu aufrufen, „die Straßen in Israel in Brand zu setzen“.

Auch der 86-jährige Aharon Barak, der von 1995 bis 2006 Präsident des Obersten Gerichtshofs war, warnte vor dem geplanten Justizumbau: „Diese Reform führt die Tyrannei durch die Mehrheit ein und ist eine Gefahr für die Demokratie. Wenn sie umgesetzt wird, wird es im ganzen Land nur noch eine einzige Autorität geben, nämlich die des Premierministers!“2

In einem Interview auf Channel 12 warnte Barak eindringlich vor politischer Gleichgültigkeit. Dabei zitierte er ausgerechnet den deutschen protes­tantischen Theologen Martin Niemöller, der sich von einem Anhänger der

Nazis zum Widerstandskämpfer gewandelt hatte und im KZ gelandet war: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist … Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Auf die Frage der Moderatorin Dana Weiss, wie die Bevölkerung reagieren solle, antwortete Barak: „Wenn es zu keiner Einigung kommt, müssen wir den Kampf aufnehmen, natürlich im Rahmen des Gesetzes.“ Es könne durchaus dazu kommen, dass man in der Balfour Street demonstrieren müsse, denn „wir haben nun einmal kein anderes Land“. Mit der Balfour Street meinte Barak den Amtssitz des Pre­mier­ministers in Jerusalem.

Der Oberste Gerichtshof ist zugleich die einzige Institution in Israel, an die sich die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen wenden können, um ihre Rechte einzufordern. Seine Schwächung würde bedeuten, auch noch die letzte juristische Instanz zu beseitigen, die den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland bremsen könnte.

24 Stunden vor seiner Amtseinführung twitterte Netanjahu die ersten Zeilen des Koalitionsvertrags: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unanfechtbares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel. Meine Regierung wird überall die Siedlungen ausbauen, auch in Judäa und Samaria.“3

Als im April 2020 die Regierungs­koa­lition Netanjahu/Gantz ihr Programm präsentierte, war noch nicht von „exklusivem Recht“ die Rede. Die neue Formulierung ist auch eine Botschaft an alle internationalen Partner, die Israel nach wie vor an die gemeinsamen „Werte“ erinnern und auf der Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung bestehen.4 Zu denen etwa US-Präsident Joe Biden und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gehören, aber auch die Europäische Union.

Demonstrativ hat Netanjahu bei der Regierungsbildung die Kontrolle über das Westjordanland und die innere Sicherheit den Vertretern der Liste „Religiöser Zionismus“ (HaTzionut HaDatit) überlassen, die sich aus den drei radikalsten Siedlerparteien zusammensetzt. So bekam Bezalel Smotrich, der in der Siedlung Kedumim bei Nablus lebt, das Finanzressort und den Posten eines Vizeverteidigungsministers. Als solcher kann er die Kommandeure von zwei wichtigen militärischen Instanzen in den besetzten Gebieten ernennen: der „Koordinierungsstelle der Regierungsaktivitäten in den Gebieten“ (Cogat) und der „ Zivilverwaltung im Westjordanland“, die der Cogat untersteht.

Berlin and Israel walls

Diese beiden Instanzen sind für die Verbindungen zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verantwortlich. Vor allem aber nehmen sie in den besetzten Gebieten zivile Verwaltungsaufgaben wahr, einschließlich der Kontrolle über alles, was in die Gebiete kommt und sie wieder verlässt. Die Ernennung von Smotrich löste heftige Proteste hoher israelischer Militärs aus, weil sie bedeutet, dass Rechtsextreme in die Befehlsketten der Armee integriert werden.

Für die palästinensische Bevölkerung bedeutet dies die Ablösung der militärischen Okkupation durch ein neues Regime, das von der radikalen Siedlerbewegung kontrolliert wird, stellt der Rechtsprofessor Mordechai Kremnitzer fest, was zwingend zu einer Verurteilung Israels durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag führen werde.

Smotrichs hat auch den Auftrag, das De-facto-Verbot neuer palästinensischer Bauten in der C-Zone – jenen 60 Prozent des Westjordanlandes, die vollständig unter israelischer Kontrolle stehen – konsequent durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass Hunderte jüdische Siedlungen, die ohne staatliche Genehmigung errichtet wurden, legalisiert und an die Strom-, Wasser- und Telefonnetze angeschlossen werden. Was die Palästinensische Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas betrifft, so betrachtet sie der neue Minister als ein „terroristisches Gebilde“, dem keinerlei Hilfe zukommen soll.

Die umstrittenste Ernennung Netanjahus ist die von Itamar Ben-Gvir zum Minister für nationale Sicherheit. Der Knesset-Abgeordnete wohnt in der Siedlung Kirjat Arba am Stadtrand von Hebron. Er ist Vorsitzender der rassistischen Partei „Jüdische Stärke“ (Otzma Jehudit), die auch die extremistischen Thesen des Rabbiners Meir Kahane vertritt.5

Ben-Gvir steht in seiner neuen Funktion der israelischen Polizei vor, die ihn noch vor einem Jahr als gefährlichen rassistischen Agitator eingestuft hat. Auch bei der Armeeführung galt er als gefährlicher Extremist, weshalb er vom Militärdienst ausgeschlossen wurde. Im 2022 Oktober wurde der heutige „Sicherheitsminister“ im Ostjerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah gefilmt, wie er bei Auseinandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen Jugendlichen seine Pistole zückte und die israelischen Polizisten aufforderte, auf palästinensische Steinewerfer zu schießen.

Ministerium für nationale Missionen

Quelle       :        Le Monde diplomatique         >>>>>       weiterlesen

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נשיא המדינה יצחק הרצוג, וראש הממשלה בנימין נתניהו, במרכז התמונה המסורתית במשכן הנשיא בירושלים לרגל השבעת ממשלת ישראל ה-37. יום חמישי, ה‘ טבת תשפ“ג, 29 בדצמבר 2022. קרדיט צילום: אבי אוחיון.

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Kolumne-La dolce Vita

Erstellt von Redaktion am 9. Februar 2023

Anschlag von Hanau: – Aufklärung nicht in Sicht

Von    :    Amina Aziz

Seit drei Jahren geht es in Hanau mit der Klärung kaum voran. Und: Der rassistische Terror ist nicht vorbei – denn da ist noch der Vater des Täters.

„Der Friedhof ist meine Wohnung geworden“, erzählt Emiş Gürbüz. Sie ist die Mutter von Sedat Gürbüz. Ihr Sohn ist eines der neun Opfer des rassistischen Terrors von Hanau vor drei Jahren.

Sedat gehörte die Shishabar Midnight, einer der Tatorte. Über 1.070 Tage hat sie gezählt, seit ihr Sohn nicht mehr bei ihr ist, sagt Emiş Gürbüz bei der Eröffnung der Ausstellung zum Anschlag im Hanauer Rathaus (läuft noch bis 18. März). Auf dem Friedhof spreche sie mit ihrem Sohn, erzähle ihm von den Jahreszeiten. Manchmal streite sie sich mit Sedat, weil er sie alleingelassen habe.

Drei Jahre, über 1.070 Tage später, geht es mit der Klärung offener Fragen nur schleppend voran, wenn überhaupt. Aufgeklärt werden muss die „Kette des Versagens“, wie die Hinterbliebenen offene Fragen im Kontext der Tat nennen. Die Kette ist lang und Polizei und Justiz sind ihre Glieder. Fragen wie die nach dem nicht erreichbaren Notruf und dem verschlossenen Notausgang an einem der Tatorte sind hinlänglich bekannt.

City sign HANAU am Main - panoramio.jpg

Zuletzt hat der Generalbundesanwalt gemauert, als er unter anderem die Aufnahmen eines Polizeihubschraubers als geheim einstuft. Sie seien im Hanauer Untersuchungsausschuss nicht bewertbar. Doch die Aufnahmen waren zu dem Zeitpunkt bereits für alle öffentlich im Internet zugänglich. Das Bundesverwaltungsgericht gab am Montag bekannt, dass der Generalbundesanwalt die Akten zum Anschlag weitgehend ungeschwärzt an den Untersuchungsausschuss übergeben muss.

Kette des Versagens

Ein weiteres Glied in der Kette des Versagens ist auch der unhaltbare Umstand, dass der Vater des Täters seit drei Monaten trotz gerichtlich erwirktem Näherungsverbot, Serpil Temiz, der Mutter des getöteten Ferhat Unvar, auflauert. Hier muss dringend die Sicherheit der Angehörigen gewährleistet werden.

Quelle        :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Kostüm von Danilo Donati für „Il Casanova“, Film von Federico Fellini en 1976, Schauspieler Donald Sutherland. – Anita Ekberg – Giulietta Massina et Marcello Mastroianni / Kostüme, Accessoires, Dessins, Dekore, Scénarios, Fotografien, Montage, Postproduktion.

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Der Überwachungsskandal:

Erstellt von Redaktion am 28. Januar 2023

Misstrauensvotum gegen griechischen Ministerpräsidenten

 Erzählte Geschichten zwischen Täter und Täterin ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der Überwachungsskandal in Griechenland, in dem sogar ein Minister ausspioniert wurde, führt nun zu einem Misstrauensvotum gegen die konservative Regierung. Die Opposition wirft ihr vor, den Skandal unter den Teppich zu kehren.

Der frühere griechische Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer Alexis Tsipras hat am Mittwoch vor dem Parlament in Athen die Überwachung von hochrangigen Personen durch den griechischen Geheimdienst EYL kritisiert und deswegen ein Misstrauensvotum gegen den konservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis gestellt. Die Abstimmung darüber findet laut dpa voraussichtlich am Freitag statt. Die Regierung hat eine Mehrheit von 156 von 300 Stimmen im Parlament.

Laut einem Bericht von Euractiv hat sich die konservative Regierung mit Verweis auf die nationale Sicherheit bisher geweigert, Namen betroffener Personen aus dem im letzten Jahr bekannt gewordenen Überwachungsskandal zu nennen. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sagt, dass er nichts von der Überwachung gewusst habe. Die Opposition wirft ihm vor, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Tsipras nannte am Mittwoch im Parlament sechs Namen von Betroffenen, unter den Überwachten sind der Arbeitsminister der konservativen Regierung sowie Vertreter der Militärführung des Landes.

Datenschutzbehörde in Arbeit behindert

Zuvor hatte laut dem Euractiv-Bericht die griechische Datenschutzbehörde (ADAE) den Fall, wie von der Verfassung vorgesehen, untersucht – obwohl die Generalstaatsanwaltschaft dies in einer Stellungnahme als illegal eingeschätzt hatte. Auch das Parlament mit seiner konservativen Mehrheit hatte der Aufsichtsbehörde den Zugang zu einer Anhörung im Abgeordnetenhaus verweigert.

Tsipras besuchte dann die Behörde, nachdem diese ihre Untersuchung abgeschlossen hatte und wurde von dieser, wie rechtlich vorgesehen, auch über die Namen einiger von der Überwachung betroffener Personen informiert. Dafür hatte ein Sprecher der konservativen Regierung der Datenschutzbehörde eine Überschreitung ihrer Kompetenzen vorgeworfen. Der ADAE-Chef Christos Rammos wies die Vorwürfe laut der Zeitung Kathimerini zurück.

Bei einem Treffen mit der griechischen Präsidentin Katerina Sakellaropoulou am Dienstag sagte Tsipras laut Euractiv, dass er diese besuche um seine „Abscheu über die eklatante Verletzung der Rechtsstaatlichkeit“ zum Ausdruck zu bringen. Tsipras sprach dabei von „einem kriminellen Netzwerk, das im Büro des Premierministers operierte und vom Premierminister selbst geleitet wurde“. Tsipras hatte weitere Schritte beim Treffen mit der Präsidentin angekündigt und dort seine „tiefe Besorgnis“ über die Vorfälle geäußert.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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On Tuesday, the Greek Prime Minister focused on the need to broaden and deepen the EU while addressing MEPs during the fifth “This is Europe” debate. At the beginning of his speech, Prime Minister Mitsotakis stated that his country suffered more than any other in the past few years, but was ultimately able to overcome the political and economic challenges that almost led to its exit from the euro. Now, in addition to being among the top growing economies in Europe, Greece is on the front line of fighting for the future of the EU – in the EU’s response to the pandemic, as well as in protecting the external border from Turkey’s instrumentalisation of migrants and its aggression against Greece and Cyprus. Read more: www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20220701IPR3436… This photo is free to use under Creative Commons license CC-BY-4.0 and must be credited: „CC-BY-4.0: © European Union 2022– Source: EP“. (creativecommons.org/licenses/by/4.0/) No model release form if applicable. For bigger HR files please contact: webcom-flickr(AT)europarl.europa.eu

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Wissen durch Betrug

Erstellt von Redaktion am 24. Januar 2023

Kriminelle Wissenschaftler betrügen mit Künstlicher Intelligenz

Euro coins and banknotes.jpg

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Martina Frei /   

Zehntausende von vermeintlich wissenschaftlichen Arbeiten werden so fabriziert. Akademiker bezahlen dafür.

«Diese Machenschaften greifen um sich wie ein Krebsgeschwür. Wir steuern auf eine Krise zu. Das dürfen wir nicht einfach weiterlaufen lassen», sagt Bernhard Sabel, und dabei klingt der Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg ernsthaft besorgt.

Ende 2020 hörte der Professor zum ersten Mal von den «Paper mills», auf Deutsch «Papiermühlen». Diese Schreibstuben, von denen niemand weiss, wer dahintersteckt, offerieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ihre Dienste.

Die Kunden können wählen: Wer sein Forschungsprojekt abgeschlossen hat, übergibt seine Daten der «Papiermühle», die dann das Manuskript schreibt und für die Publikation in einer Fachzeitschrift sorgt. «Das kostet etwa 1’000 Euro», sagt Bernhard Sabel, der sich verschiedene Angebote angesehen hat.

Für 26’000 Euro gibts eine frei erfundene «wissenschaftliche» Publikation

Für rund 8’000 Euro erfindet die «Papiermühle» kurzerhand ein Manuskript, schreibt es und publiziert es in einem Wissenschaftsverlag. Als Autor oder Autorin fungieren die Kunden.

«Der prospektive Autor muss nur noch ein bestimmtes Fachgebiet nennen, eventuell auch ein paar Schlüsselwörter oder Methoden angeben und ein Journal auswählen», heisst es in einem Artikel im «Laborjournal».

Das «Rundum-Paket» ist Sabel zufolge für 17’000 bis 26’000 Euro zu haben. Für diesen Preis liefert eine «Papiermühle» den Entwurf für ein Forschungsprojekt, führt angeblich die Experimente durch – die in Wahrheit aber nie stattfinden – schreibt mit den erfundenen Daten ein Manuskript, fügt Bilder und Grafiken ein, schickt es (entgegen der allgemeinen Praxis) an mehrere wissenschaftliche Zeitschriften gleichzeitig – und bekommt von einer Redaktion den Zuschlag für die Publikation. Angesichts von über 50’000 wissenschaftlichen Zeitschriften ist die Auswahl gross.

«Da hat sich eine richtige Industrie entwickelt»

«Je renommierter die Zeitschrift, desto höher der Preis», sagt Sabel. «Fälschungen hat es zwar immer schon gegeben und wird es immer geben. Aber die massenhafte, globale, industrielle Herstellung von komplett erfundenen wissenschaftlichen Artikeln – das ist neu und sehr besorgniserregend. In den letzten Jahren hat sich da eine richtige Industrie entwickelt.»

Geschrieben werden diese Fake-Studien und -Fachartikel von Künstlicher Intelligenz (KI), die an Millionen von Artikeln trainiert wurde. Manchmal leisten Wissenschaftler dabei Redaktionshilfe.

«Die Texte sind so ausgefeilt, dass das keiner mehr erkennen kann.»

Bernhard Sabel, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg

«Ich war schockiert, als ich kürzlich bei einem Kongress erfahren habe, wie gut KI solche Fachartikel schreibt», sagt Sabel. «Früher enthielten die von KI verfassten Manuskripte noch sprachliche oder logische Fehler – jetzt sind die Texte so ausgefeilt und von so hoher Qualität, dass das keiner mehr erkennen kann.»

Eine andere Masche der «Papiermühlen»: Sie übersetzen beispielsweise russische Fachartikel und reichen die Übersetzung bei einer englischsprachigen Fachzeitschrift ein.

Sabel weiss von einem KI-Test in den USA, bei dem eine wissenschaftliche Publikation, die dem italienischen Kernphysiker Enrico Fermi anno 1938 zum Nobelpreis verhalf, mit KI übersetzt, aufbereitet und dann an eine renommierte Fachzeitschrift geschickt wurde. «Sie wurde als publikationswürdig angenommen, aber nicht publiziert, weil das Ganze nur als Test gedacht war.»

Dutzende von Fachrichtungen sind betroffen

Vor allem in der Medizin und in den Computerwissenschaften stellten die Artikel aus Papiermühlen ein grosses Problem dar. «Das sind keine Einzelfälle», sagt Sabel, der sich im erweiterten Präsidium des Deutschen Hochschulverbands mit dem Thema befasst. Dutzende andere Fachrichtungen seien ebenfalls betroffen, darunter die Psychologie, Soziologie, Betriebswirtschaft/Marketing, Agrarwissenschaften und sogar die Philosophie.

Kurz nachdem er zum ersten Mal von «Papiermühlen» erfahren hatte, entdeckte Sabel, dass in der neurowissenschaftlichen Zeitschrift, deren Chefredaktor er ist, von etwa 200 überprüften Artikeln zehn bis 15 problematisch gewesen seien. «Wir waren stärker betroffen, als ich mir das hätte vorstellen können. Das hat mich nicht ruhen lassen.»

In neurowissenschaftlichen Fachzeitschriften, schätzt Sabel, sind rund zehn Prozent der veröffentlichten Artikel «hochgradig verdächtig». Der eindeutige Beweis, dass eine Arbeit aus einer «Papiermühle» stamme, gelinge nur in Einzelfällen. Meist wisse man dies eben nicht mit Sicherheit, sagt Sabel.

Von 1’000 medizinischen Fachartikeln waren 238 mutmasslich fabriziert

Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen zog er Stichproben: Von 1’000 Artikeln, die in zehn medizinischen Fachzeitschriften erschienen waren, drängte sich bei 238 der Verdacht auf, dass sie fabriziert waren. «Diese Arbeiten stammten vor allem aus China, Indien, dem Iran, der Türkei und Russland.»

Vollständig gefälschte Arbeiten würden wahrscheinlich durch die üblichen Verfahren des Peer-Review oder nach der Veröffentlichung durch die Peer-Evaluierung aufgedeckt, sagt Edwin Charles Constable, Präsident der Expert:innengruppe für Wissenschaftliche Integrität der Akademien der Wissenschaften Schweiz. «Beim Lesen einer solchen Arbeit bekommt man oft ein Bauchgefühl, dass etwas nicht stimmt.»

Doch da widerspricht Sabel heftig.

«Das Problem ist fundamental und es wächst seit zehn, fünfzehn Jahren.»

Bernhard Sabel, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg

Mittlerweile hat der Psychologe mit seinem Team mehr als 13’000 wissenschaftliche Artikel unter die Lupe genommen. «Die Ergebnisse haben uns überrascht», sagt er, will aber nicht mehr verraten, bis die Arbeit durch unabhängige Gutachter geprüft und veröffentlicht ist. Nur so viel: «Das Problem ist fundamental und es wächst seit zehn, fünfzehn Jahren.»

Die Gutachter gehen den «Papiermühlen» auf den Leim

Dazu trägt auch das sogenannte «open access publishing» bei, also der freie Online-Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln, ohne teure Abos von Fachzeitschriften. Dank freiem Zugang kann beim «open access» mit geringem Aufwand, ohne Redaktions-, Vertriebs- und Druckkosten, viel mehr publiziert werden. «Alle freuten sich über den Zuwachs – auch die wissenschaftlichen Verlage, akademischen Institutionen und Staaten», sagt Sabel. Dass «open access» auch Wind auf die «Papiermühlen» war, damit rechnete niemand.

«Papiermühlen-Detektive» schätzen, dass Tausende oder Zehntausende von angeblichen wissenschaftlichen Publikationen bloss erfunden sind – trotzdem bestanden alle diese Phantasie-Artikel den peer-review-Prozess durch Gutachter von international akzeptierten Wissenschaftsjournalen.

Angesichts von circa 2,8 Millionen wissenschaftlichen Artikeln, die jedes Jahr veröffentlicht werden – Tendenz steigend — erscheinen selbst ein paar Zehntausend Fakes wenig. Doch niemand kennt die Dunkelziffer. Manche Schätzungen gehen sogar von über 400’000 fabrizierten Artikeln jährlich aus, etwa die Hälfte in der Biomedizin.

Jeder vierte eingereichte Artikel war vermutlich erfunden

Und wenn doch einmal eine solche «Papiermühlen»-Arbeit irgendwo nicht zur Publikation angenommen wird, dann erscheint sie halt in einer anderen Fachzeitschrift. Das ergab die Nachverfolgung von 13 dubiosen Fachartikeln, die zuvor beim Verlag «FEBS Press» abgelehnt worden waren. Laut einer Mitarbeiterin von «FEBS Press», auf sich die das Wissenschaftsmagazin «Nature» berief, nahm die Anzahl der Arbeiten, die aus Papiermühlen stammten, in den letzten Jahren massiv zu.

Bei der Fachzeitschrift «Molecular Brain» war jeder vierte Artikel, der dort zur Publikation eingereicht wurde, vermutlich frei erfunden. Der Wissenschaftsverlag Elsevier gab «Nature» gegenüber an, seine Mitarbeitenden würden jedes Jahr Tausende von «Papiermühlen»-Artikeln erkennen und vor der Publikation herausfischen.

Publizieren – oder Stipendium zurückzahlen

Die Kunden der «Papiermühlen» stammen aus China, Russland, dem Iran, Japan, Indien, Korea, den USA und weiteren Ländern.

«Chinesische Wissenschaftler, die mit chinesischen Staatsstipendien in hiesigen Laboren arbeiten, müssen in China Verträge unterschreiben. Wenn sie bestimmte Ziele nicht erreichen, müssen sie das Stipendium zurückzahlen. Solche Ziele sind oft Publikationen. Als ‹Bürgen› stehen auf diesen Verträgen Eltern oder Verwandte. Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn bei einem solchen Forschungsaufenthalt die Publikationen ausbleiben. Da wird dann auch schon mal ‹fabriziert›, teilweise offensichtlich mit Duldung der Laborleiter, die dem Mitarbeiter helfen möchte, das Gesicht zu wahren», erläutert Ulrich Dirnagl, Gründungsdirektor des «Centre for Responsible Research QUEST» in Berlin. Dirnagl beschäftigt sich dort seit Jahren damit, wie die wissenschaftliche Qualität erhöht werden kann.

Im Visier: Chinesische Ärztinnen und Ärzte

Zu mahlen begannen die «Papiermühlen» vermutlich etwa im Jahr 2010. «China wollte zur führenden Wissenschaftsnation aufsteigen», sagt Sabel. Entsprechend sei der Druck auf chinesische Akademiker enorm gestiegen. «Das Ganze ist aber auch in anderen Ländern ein Problem, allerdings nicht in diesem Ausmass.» Eine besondere Zielgruppe der «Papiermühlen» sind chinesische Mediziner.

Laut dem Wissenschaftsmagazin «Nature» verfügte beispielsweise die Gesundheitsbehörde von Bejing im Jahr 2020, dass nur noch Chefärztin oder -arzt werden kann, wer auf mindestens drei wissenschaftlichen Artikeln als Erstautorin fungiert. Mindestens zwei solche Erstautorenschaften braucht es für die Beförderung zum Stv., doch im Spitalalltag bleibt keine Zeit, um sich akademische Meriten zu verdienen.

Oft würden sich zehn oder mehr Autoren aus derselben Institution die Kosten für die «Papiermühle» teilen, weiss Sabel. Manchmal stammten die angeblichen Autoren auch aus Abteilungen, die mit dem Thema der Publikation nichts zu tun haben.

In der Schweiz seien fabrizierte Publikationen «meiner Meinung nach bisher überhaupt kein Problem. Aber sie könnten in Zukunft eines werden», sagt Constable.

«Papiermühlen» untergraben die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft

Das Grundübel, sind sich Fachleute einig, ist der Druck auf die Forschenden weltweit. Wer Karriere machen will, muss in möglichst hochrangigen Fachzeitschriften viel publizieren und von anderen zitiert werden. Die Autoren würden oft auf den realen oder imaginären Publikationsdruck reagieren, dem sie von ihren Institutionen ausgesetzt seien. Optimal wäre eine koordinierte Reaktion auf der Ebene der internationalen Akademien und Fördereinrichtungen, sagt Constable, «aber wie immer steckt der Teufel im Detail».

«Wir sollten den Publikationsdruck wieder auf ein normales Mass runterfahren und nicht nur die Quantität, sondern vor allem auch die Qualität bewerten», findet Sabel und warnt: «Die Folgen der kriminell erworbenen Publikationen sind katastrophal, weil sie die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft untergraben. Das schadet dem Vertrauen in die Wissenschaft. Es beschädigt auch die Reputation akademischer Institutionen. Und es ‹verschmutzt› unser Weltwissen. Die Gefahr ist, dass wir uns später nicht mehr sicher sind, welche wissenschaftlichen Ergebnisse stimmen und welche erfunden sind.»

Möglicher Einfluss auf die Wirtschaft

Zudem zieht das Ganze immer weitere Kreise, wenn ahnungslose Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern solche fake-Publikationen in ihren Arbeiten zitieren, sich auf sie berufen und davon ausgehend womöglich neue Studien mit Krebs-, Alzheimer- oder anderen Patienten beginnen. Ein einziger Fall könne zehn, Hunderte oder Tausende von Artikeln bei verschiedensten Verlagen berühren, zitierte «Nature» einen Pressesprecher des «PLOS»-Verlags.

Fabrizierte Publikationen könnten auch die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen, befürchtet Sabel. Wenn afrikanische Staaten zum Beispiel nicht mehr wüssten, welcher Dünger bei einer bestimmten Bodenbeschaffenheit der beste sei, weil gefakte Arbeiten falsche Resultate vorgaukeln, dann könne sich das unmittelbar auf die Ernte auswirken.

Durch engagierte Chefredaktoren wie Sabel trete nun «das ganze Ausmass dieser Vermüllung» ans Tageslicht, schrieb Dirnagl im «Laborjournal». Doch Fachleute sehen es anders: Das, was jetzt sichtbar werde, sei ziemlich sicher bloss die Spitze des Eisbergs.

Rekorde bei der Anzahl zurückgezogener Artikel

Sabel etwa geht davon aus, dass bisher vielleicht ein Prozent oder weniger der gefakten Arbeiten auffliegt und zurückgezogen wird. Wenn gewiefte «Papiermühlen»-Detektive einen Verdacht äusserten, seien die Chancen auf einen Rückzug höher.

Etwa jede vierte verdächtigte Publikation wurde gemäss Recherchen von «Nature» zurückgenommen. Das führte in den letzten beiden Jahren zu hunderten von Rücknahmen. Verglichen mit den Vorjahren, erreichten die Retraktionen damit Rekordzahlen. Einige Beispiele:

  • Das «European Review for Medical and Pharmacological Sciences» hat seit 2020 mehr als 180 Artikel zurückgezogen.
  • Die altehrwürdige und erste Pharmakologie-Zeitschrift der Welt, das «Naunyn–Schmiedeberg’s Archives of Pharmacology» zog über 300 Artikel zurück, weil die Autoren die Originaldaten auf Anfrage nicht vorlegten. 30 Prozent aller Artikel, die bei dieser Fachzeitschrift im Jahr 2020 eingereicht wurden, waren demnach fabriziert. Einige der zurückgezogenen Artikel wurden später mit leicht verändertem Titel und anderen Autorinnen und Autoren in anderen Fachzeitschriften publiziert.
  • Im Januar 2021 zog «Royal Society of Chemistry Advances», eine Zeitschrift der «Königlichen Gesellschaft für Chemie», 68 solcher vermeintlicher Fachartikel zurück. Alle Arbeiten stammten von Autorinnen und Autoren aus China.
  • Im Oktober nahm das «Journal of Cellular Biochemistry» 129 Artikel zurück, die aus «Papiermühlen» stammten.
  • Im Dezember 2021 kam es zum Massenrückzug bei «SAGE»: 122 Arbeiten waren betroffen. Im Februar 2022 nahm «IOP Publishing» auf einen Schlag 350 Fachartikel zurück, im September 2022 stieg die Anzahl auf fast 500, berichtete «Retraction Watch».

Viele Wissenschaftler ahnen nichts und Journale foutieren sich darum

Leider würden sich aber viele Fachzeitschriften noch immer gar nicht um das Problem kümmern oder die nötigen Rücknahmen verschleppen, kritisiert Dirnagl. «Die Verlage sind nicht immer besonders hilfreich», bestätigt Constable. Und die Autorinnen oder Autoren dieser Publikationen sind meist unkontaktierbar.»

Sabels Erfahrungen zeigen, dass die meisten Wissenschaftler von diesem Problem noch nie gehört haben. Selbst der Präsident einer grossen medizinischen US-Fachgesellschaft mit 50’000 Mitgliedern habe völlig verblüfft reagiert. Als Sabel ihm das Ganze darlegte, entfuhr ihm ein: «Wow, I had no idea.» Auf deutsch: «Davon hatte ich keine Ahnung.»

Ein Problem für den Wissenschaftsjournalismus

Auch Journalistinnen und Journalisten haben kaum eine Möglichkeit, solche pseudo-wissenschaftlichen Artikel zu erkennen. Denn über die Methoden, mit denen Wissenschaftler wie Bernhard Sabel den «Papiermühlen»-Publikationen auf die Schliche kommen, äussern sie sich nur sehr vage. Der Grund: Die Mitarbeitenden in den «Papiermühlen» und auch die KI würden sofort mitlesen und ihre kriminellen Methoden anpassen, um weniger enttarnt zu werden. 

Hinweise auf eine fabrizierte Arbeit können zum Beispiel sein, 

  • dass Abbildungen gefälscht sind
  • dass Textplagiate nachweisbar sind
  • dass Autorinnen und Autoren auf Anfrage der Fachzeitschrift keine Originaldaten zur Verfügung stellen
  • dass keine Identifizierungsnummern der Autorinnen und Autoren genannt werden (sogenannte ORCID-ID).

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1700 Militärdekrete

Erstellt von Redaktion am 13. Januar 2023

Systematische Einschüchterung und Terrorisierung palästinensischer Kinder

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :  Basil Farraj  –  palaestina-info.ch

Die routinemäßige Verhaftung palästinensischer Kinder ist Teil einer Strategie, die gesamte Bevölkerung in Schach zu halten und einzuschüchtern. Dabei werden die von den Vereinten Nationen definierten Kinderrechte ebenso ignoriert wie korrekte strafrechtliche Verfahren.

Amal Nakhleh war erst 17 Jahre alt, als er am 21. Januar 2021 in seinem Haus im Flüchtlingslager alJalazone verhaftet wurde. Amal wurde in Administrativhaft genommen. Diese erlaubt den israelischen Behörden, Palästinenser:innen in Gefängnissen zu verwahren, ohne sie einem Gerichtsverfahren oder einer Verurteilung zu unterziehen. Trotz seines jungen Alters und einer seltenen Autoimmunerkrankung haben die israelischen Behörden ihn seitdem in Haft behalten. Bis zum heutigen Tag wurde die Verhaftung nicht begründet und es wurde keine Anklage erhoben. Allein gestützt auf die Behauptung, er stelle «ein Sicherheitsrisiko» dar, befindet sich Amal seit mehr als einem Jahr in Haft.Amal ist kein Einzelfall. Allein zwischen 2000 und 2015 haben die israelischen Militärbehörden fast 8500 palästinensische Kinder festgenommen, verhört, strafrechtlich verfolgt und inhaftiert. Nach Angaben des palästinensischen Ablegers von Defense for Children International (DCIP) verhaftet das israelische Militär jedes Jahr etwa 500 bis 700 palästinensische Kinder. Einige von ihnen sind noch nicht einmal zwölf Jahre alt. Seit 2012 hält Israel jeden Monat durchschnittlich 200 palästinensische Kinder in Gewahrsam. In den Haftanstalten sind sie einer Vielzahl diskriminierender Gesetze unterworfen. Bei den Verhören durch israelische Polizei und Sicherheitsdienste werden die Kinder regelmässig misshandelt, bedroht und isoliert. Die von Israel für die Verhaftung vorgebrachte Begründung, die Kinder stellten eine «Sicherheitsbedrohung» dar, ist nur ein Vorwand. Vielmehr wird die Inhaftierung systematisch dazu eingesetzt, die palästinensische Bevölkerung und insbesondere die Kinder einzuschüchtern. Grundlage für diese Praxis der israelischen Sicherheitsbehörden ist das Militärdekret 1651. Es regelt die Art und Weise, wie Palästinenser:innen inhaftiert, verhört und vor israelischen Militärgerichten verurteilt werden.

Nicht alle Menschen, die in den von Israel kontrollierten Gebieten leben, unterstehen den gleichen Gesetzen. In der Praxis gibt es im Westjordanland zwei Rechtssysteme: Palästinenser:innen werden nach israelischem Militärrecht und israelische Siedler:innen nach israelischem Zivilrecht verurteilt. Palästinenser:innen aus Ostjerusalem werden meist vor israelischen Zivilgerichten verurteilt, können aber auch der Autorität von Militärgerichten unterstellt werden, während palästinensische Bürger:innen Israels vor israelischen Zivilgerichten verurteilt werden. Das schafft eine völkerrechtswidrige Ungleichbehandlung vor dem Gesetz, die vor allem die im Westjordanland lebenden Palästinenser:innen massiv benachteiligt.

1700 Militärdekrete

Seit der Besetzung des Westjordanlandes und Gazastreifens 1967 hat das israelische Militär durch die Befehlshaber seiner «Verteidigungskräfte» über 1700 Militärdekrete zur Verwaltung des besetzten Gebiets erlassen. Diese regeln unterschiedliche Themen wie Eigentumsrechte, Bewegungsfreiheit, Festnahmen, Inhaftierungen, Verhöre und Gerichtsverfahren von Palästinenser:innen. Das 2009 erlassene Militärdekret 1651 stellt die rechtliche Basis für Festnahmen, Inhaftierungen und Verhöre, aber auch Verurteilungen und das Strafmass dar. Es ist bezeichnend für die im Westjordanland herrschenden Machtverhältnisse. Durch die Militärgerichte und das Militärgesetz wird die palästinensische Bevölkerung unter Besatzung für die Ausübung ihrer zivilen und politischen Rechte kriminalisiert und gezielt eingeschüchtert.

Militärdekret 1651 ist auch maßgeblich für die Rechte von Kindern, da das Mindestalter für ihre Strafmündigkeit darin auf zwölf Jahre festlegt ist. Jedes palästinensische Kind ab zwölf Jahren kann also festgenommen, verhört und inhaftiert werden. Daneben werden von den israelischen Streitkräften aber auch Kinder unter diesem Alter ohne rechtliche Grundlage festgenommen, verhört und dann wieder freigelassen. Im Wesentlichen ermöglicht das Militärdekret die Inhaftierung und Befragung palästinensischer Kinder unter dem häufig genannten Vorwand des Schutzes der «öffentlichen Ordnung und Sicherheit». Diese Verhaftungen sowie die Vorgehensweise der Militärgerichte sind Teil der Gewalt, der palästinensische Kinder ständig ausgesetzt sind.

Datei:Westbankmauer in Kalandia (174617673).jpg

DCIP hat mehrere Fälle dokumentiert, in denen Kinder während ihrer Verhaftung Formen körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Oft werden sie in den frühen Morgenstunden zu Hause mit übermässiger Gewaltanwendung festgenommen. Nach israelischem Militärrecht besteht zudem keine gesetzliche Verpflichtung, dass die Eltern bei den Verhören ihrer Kinder anwesend sein müssen. Damit sollen die inhaftierten Kinder gezielt isoliert und eingeschüchtert werden, um sie unter Zwang zu falschen Geständnissen zu bringen. Bei Verhaftung, Verhören und dem Transport in die Gefängnisse werden die Kinder regelmässig mit Zwang festgehalten. Physische und psychische Gewalt, beispielsweise während der Verhöre oder durch das Verbot von Familienbesuchen, stellen nach internationalem Recht eine Form von Folter dar. So werden verhafteten palästinensischen Kindern systematisch ihre Rechte vorenthalten und sie werden von ihren Gemeinschaften isoliert.

In diesem Rahmen kann nur ein kleiner Einblick in die Lage der von Israel inhaftierten palästinensischen Kindern gegeben werden. Er zeigt aber, dass das israelische Militär palästinensischen Kindern systematisch Gewalt und Schmerz zufügt und die Inhaftierung von Kindern zu einer Taktik der israelischen Besatzung geworden ist. So im erwähnten Fall von Amal Nakhleh. Seine durch die Autoimmunkrankheit ausgelösten Atemprobleme führen dazu, dass er auch angesichts von Covid19 einem besonderen Risiko ausgesetzt war. Nach seiner Infizierung mit dem Virus im Januar 2022 haben UNICEF, OHCHR und UNRWA einmal mehr seine Freilassung gefordert, bisher jedoch ohne Erfolg.

Der Zweck der israelischen Strafmaßnahmen besteht nicht nur darin, Kinder zu inhaftieren. Es soll eine Realität geschaffen werden, in der die gesamten Kindheitserfahrungen junger Palästinenser:innen durch die israelischen Praktiken des Freiheitsentzugs beeinflusst und geprägt werden. Sie sollen in Angst leben, jede Chance auf eine «normale» Kindheit soll ihnen verwehrt werden.

Angesichts dieser israelischen Strafverfolgungspraxis bedarf es einer breiten, starken Mobilisierung zur Unterstützung der betroffenen Kinder. Damit der Inhaftierung von Kindern durch das im Westjordanland herrschende Militärregime Einhalt geboten werden kann, muss die internationale Boykottkampagne gegen Israel ausgeweitet und der Siedlerkolonialstaat weiter isoliert werden. Israel muss – sowohl verbal als auch praktisch – als rassistisches Apartheidregime eingestuft werden, das mit allen Mitteln zu bekämpfen ist.

Basil Farraj ist Doktorand in Anthropologie und Sozio-logie und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Vio-lence Prevention Initiative am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf politischen Gefan-genen, ihren Widerstandsformen und den Formen der Gewalt, denen sie ausgesetzt sind.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —     “Kill or deport.” Graffiti settlers spray-painted in Hebrew on the wall of a home in a-Sawiyah, Nablus District. Photo by Salma a-Deb’i, B’Tselem, 18 April 2018.

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Duell der Pleitebanker

Erstellt von Redaktion am 21. Dezember 2022

Wirecard-Betrug vor Gericht

Von den ehemaligen politischen Zuhälter-innen hört niemand mehr etwas ?

Von Patrick Guyton

Enorme kriminelle Energie, Hybris und Gier der Aktionäre: In München wird im Prozess um Wirecard der größte Betrugsfall der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte verhandelt. Nun hat der Kronzeuge ausgesagt.

Schnell, leise und ohne Emotionen liest der Mann seine Erklärung ab. So habe er sich das vorgenommen. Auf den Zuschauerplätzen in dem Münchner Gerichtssaal versteht man mitunter nur Satzfetzen: „… ein System des organisierten Betrugs“, „von Anfang an ein Schwindel“, „ein Krebsgeschwür“. Der Vorsitzende Richter der Wirtschaftsstrafkammer am Landgericht München, Markus Födisch, bittet den Vortragenden, langsamer und deutlicher zu sprechen. „Wir brauchen nicht hetzen, der Prozess endet nicht in einigen Stunden.“ Eine starke Untertreibung.

Der drahtige Mann, der da am Montag vor Gericht aussagt, heißt Oliver Bellenhaus. Er hat einen fast kahl rasierten Kopf, trägt ein weißes Hemd, einen dunklen Anzug und Krawatte. Bellenhaus ist Kronzeuge in einem Mammutprozess.

Es ist der dritte Tag in dem Verfahren gegen drei Ex-Manager der Pleitefirma Wirecard, einst ein hochgejubeltes Star-Unternehmen am Tech-Himmel. Ende Juni 2020 fehlten dann in den Büchern ausgewiesene 1,9 Milliarden Euro. Wie ein Kartenhaus stürzte Wirecard ein. In München sind bislang noch 95 Verhandlungstage angesetzt bis zu Beginn des Jahres 2024, weitere könnten folgen. Der prominenteste Name in dem Kriminalfall: Jan Marsalek, einst Vorstandsmitglied bei Wirecard und bis heute auf der Flucht.

Staatsanwaltschaft sieht kriminelle Bande am Werk

Angeklagt sind in München nun zunächst die drei früheren Köpfe des Unternehmens. Der Vorwurf: bandenmäßiger Betrugs, Veruntreuung, Fälschung von Geschäftsberichten. Die Staatsanwaltschaft sieht die drei Männer als „kriminelle Bande“, von einem „internen Bankraub“ ist immer wieder die Rede. Ziel sei es gewesen, Unternehmensaktivitäten zu fingieren oder drastisch aufzublasen, den Aktienkurs zu halten, das eigene Gehalt und die Boni zu sichern und Firmengeld zu unterschlagen.

An diesem Montag ist Oliver Bellenhaus der erste aus dem Trio der Angeklagten, der sich selbst äußert und nicht nur Anwälte sprechen lässt. 94 Seiten lang ist seine Aussage, es werden weitere 115 Seiten folgen, in denen er auf die zahlreichen Vorwürfe des Strafverteidigers Alfred Dierlamm eingeht. Dieser verteidigt einen der beiden anderen Angeklagten, nämlich Markus Braun, einst CEO, also Wirecard-Vorstandsvorsitzender.

Das Setting dieses komplizierten Falles, der als größter Wirtschaftsbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik angesehen wird: Angeklagt ist da zum einen der heute 53-jährige Markus Braun, der ehemalige Wirecard-Chef. Braun behauptet, von dem Milliardenbetrug nichts bemerkt zu haben, dieser sei hinter seinem Rücken durch die anderen erfolgt und er sei selbst ein Opfer.

Ebenfalls vor Gericht steht der 49-jährige Oliver Bellenhaus. Er war einst Leiter des Firmenablegers in Dubai und ist nun geständig. Als Kronzeuge der Anklage könnte er womöglich eine reduzierte Strafe bekommen. Bellenhaus belastet seinen einstigen Chef Braun als Kopf der Bande. „Braun war der Kern, auf den sich alles ausgerichtet hat“, sagt er am Montag. Er sei ein „absolutistischer CEO“ gewesen.

Wirecards Ex-CEO Markus Braun wird als Nerd beschrieben, der nur das Nötigste kommunizierte. Apple-Gründer Steve Jobs soll sein Vorbild gewesen sein

Braun und Bellenhaus – das sind in dem Verfahren die großen Antagonisten. Sie widersprechen sich gegenseitig und zeigen jeweils auf den anderen. Einer sagt die Wahrheit, einer lügt.

Eher einen Statistenplatz im Gerichtssaal nimmt zumindest bislang der Dritte im Bunde ein: Stephan von E. Der 47-Jährige ist ebenfalls angeklagt, einst Chef-Finanzbuchhalter bei Wire­card, an dem eigentlich keine Zahlung, keine Geldschieberei hätte vorbeilaufen sollen. Er schlägt sich laut dem Eröffnungsstatement seiner Anwältin tendenziell auf die Seite Brauns – hat nichts gesehen, nichts gehört, nichts gewusst.

Im Gerichtssaal sitzt normalerweise Bellenhaus seinem einstigen Chef Braun im Nacken, eineinhalb Meter hinter ihm. Am Montag ist es andersherum, Bellenhaus ist nach vorne platziert, weil er in eigener Sache vorträgt.

Kronzeuge Bellenhaus spricht von Fake-Geschäften

Zu Beginn sagt er, dass er das Geschehene „zutiefst bereut“ und einen „immensen Schaden“ angerichtet habe. Es geht um den mutmaßlichen Betrug in Höhe von 3,1 Milliarden Euro, Aktionäre haben 20 Milliarden Euro verloren. Bellenhaus bestätigt im Wesentlichen die Anklage. Er spricht von einem „koordinierten Vorgehen“ der Beteiligten. Vor allem die Geschäfte in Asien habe es in Wirklichkeit nicht gegeben. Immer wieder habe Wirecard Kredite aufgenommen, um sie als Umsatz und Gewinn in die Bilanz einfließen zu lassen. „Man musste Händler erfinden“, sagt Bellenhaus. „Von mir erstellte Abrechnungen dienten ausschließlich dazu, den Umsatz zu erhöhen.“ Wirtschaftsprüfern habe man vollkommen falsche Rahmenbedingungen vermittelt.

Wirecard wurde als digitaler Zahlungsentwickler bezeichnet. Im Prozess ist viel die Rede vom „TPA-Geschäft“, in der Anklage werden Millionen- und Milliarden-Euro-Summen nur so herumgewirbelt, die Namen Dutzender Partner-, Neben- oder Scheinfirmen akribisch aufgelistet. Wer keine Fachfrau und kein Fachmann ist, kann da nur schwer folgen. Doch genau das ist auch Ausdruck dessen, was hier verhandelt wird: eine Start-up-Schaumschlägerei. Mit Insiderbegriffen ließ sich die Aura des Kennertums der neuen digitalen Welt verströmen. Aber außer dem guten Sound stand bei Wirecard nicht viel dahinter.

Im Jahr 1999 wurde Wirecard gegründet, 2000 erhielt der Unternehmensberater Markus Braun den Posten als „Chief Technology Officer“. Der Betrieb stolperte in eine Pleite, mit neuen Geldgebern ging dann die Fahrt ab 2007 vom Stammsitz in Aschau bei München so richtig los. In Singapur wurde ein Ableger gegründet, die Firma expandierte nach Australien, Südafrika und in andere Länder.

Guttenberg, Diekmann und Merkel setzten sich ein

Der CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg, der über seine gefälschte Doktorarbeit gestürzt war, wurde zum Lobbyisten, ebenso Kai Diekmann, ehemals Chef der Bild-Zeitung. Auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzte sich in China für Wirecard ein. Der Ritterschlag erfolgte 2018, als Wirecard in den DAX aufgenommen wurde, den Index der damals 30 größten Aktienunternehmen. Dafür flog die Commerzbank raus.

Eine verheißungsvolle Geschichte wurde da erzählt und gern geglaubt, auch von Aktienkäufern: neue Technologie, Made in Germany. Von der deutschen Antwort auf das Silicon Valley war die Rede. Für den wachsenden Onlinehandel lieferte Wirecard Technik und Know-how, um die Lücke zwischen Kunde und Verkäufer zu schließen – um das Geld sicher von der Bank des einen zur Bank des anderen zu bringen. Angefangen hatte das mit Porno- und Glücksspielangeboten im Internet.

Die TPA-Geschäfte stehen für „Third Party Acquiring“, also Drittpartnergeschäfte. Das heißt nichts anderes, als dass Wirecard seine Geschäfte ins Ausland ausgeweitet hat. Vor allem nach Asien, wo das Unternehmen keine Lizenz hatte und deshalb noch einen dritten Partner mit ins Boot holen musste.

„Das Asiengeschäft blieb immer undurchschaubar“, sagte Jörn Leogrande im Frühjahr in einem Gespräch mit der taz. Er hat bereits als Zeuge ausgesagt, war Wirecard-Innovationschef und hat nach dem Zusammenbruch ein Buch geschrieben mit dem Titel „Bad Company“. In der Firma duzten sich alle, erzählt er. Da war Braun der Markus, Bellenhaus der Oliver. Und Jan Marsalek der Jan.

Parallel zu diesem hippen, lässig-locker erscheinenden Getue gab es aber auch eine strenge Hierarchie und ein Durchregieren von oben nach unten. Jeder der in der Spitze rund 5.200 Beschäftigten sollte nur das erfahren, was ihn unmittelbar betraf und sonst nichts. Die wenigsten wussten etwas über das Asiengeschäft. Leogrande meint, er habe „immer wieder Zweifel an der angeblich enormen Profitabilität dieses Geschäftszweigs“ gehabt. Genauer nachgefragt hat er wie all die anderen aber nicht. Den einstigen Hype um Wire­card und den immer weiter nach oben rasenden Aktienkurs bezeichnet er im Rückblick als „Massenhysterie“.

Florian Eder, Verteidiger des Kronzeugen Oliver Bellenhaus über das Wirecard-Geschäft:  „Alles ein großer Schwindel“

Seit zweieinhalb Jahren sitzen Markus Braun und Oliver Bellenhaus in Untersuchungshaft, jetzt in München-Stadelheim. Braun war bis vor Kurzem in Augsburg-Gablingen untergebracht. Wegen des Prozesses wurde er nach München verlegt, das Verfahren findet in dem vor sechs Jahren eröffneten Hochsicherheits-Gerichtssaal gleich neben der JVA Stadelheim statt. Dieser ist ansonsten für Terrorprozesse oder Verfahren wegen organisierter Bandenkriminalität gedacht. Er liegt fünf Meter unter der Erde, ist bis an die Decke holzvertäfelt und wird von manchen Besuchern mit einer Turnhalle verglichen. Ein Vorteil ist, dass U-Häftlinge direkt vom Gefängnis in den Saal geschleust werden können und ein längerer Transport entfällt.

Datei:Jan Marsalek Suche.pdf

Stunde um Stunde, Tag um Tag würdigen sich Braun und Bellenhaus keines Blickes. Das dürfte auch das ganze Jahr 2023 so weitergehen. Markus Braun, ein gebürtiger Wiener, der dort auch studiert hat, wird als menschenscheuer Nerd beschrieben, der nur über den Job und auch da nur das Nötigste kommunizierte. In der Firma wusste kaum jemand mehr über ihn, als dass er verheiratet ist und eine Tochter hat. Der im Jahr 2011 verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs soll sein großes Vorbild gewesen sein.

Jan Marsalek ist weiterhin untergetaucht

Auch Jan Marsalek kommt aus Wien. Der heute 42-Jährige war Wirecard-Vorstandsmitglied. Er sitzt nicht auf der Anklagebank. Stattdessen hängen in den Polizeidienststellen zwei Fahndungsplakate von ihm aus – eins mit und eins ohne Bart. „Betrug in Milliardenhöhe“ steht darüber. Jan Marsalek ist international zur Fahndung ausgeschrieben.

Er war direkt nach der Pleite geflohen. Ein bisschen wie in einem unglaubwürdigen Actionfilm. Marsalek streute, dass er auf die Philippinen reiste, um persönlich nach den fehlenden 1,9 Milliarden Euro zu suchen. Dort war er auch als Einreisender registriert worden, der sich tags darauf nach China begeben haben soll. Aber die Papiere waren von Grenzbeamten gefälscht worden.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Hauptsitz der Wirecard AG in Aschheim (bei München), 2019

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Irans blutige 15 Minuten

Erstellt von Redaktion am 19. Dezember 2022

Mit den Hinrichtungen will das iranische Regime die Protestierenden einschüchtern.

Ein Debattenbeitrag von Solmaz Khorsand

Doch es erreicht damit nur das Gegenteil. Die Hinrichtungen rütteln an ein kollektives Trauma aus einer Zeit, als es diese Weltöffentlichkeit nicht gab.

Es gibt da ein Zitat, das Hannah Arendt zugeschrieben wird. Iranerinnen teilen es derzeit wie eine Prophezeiung, wenn sie gefragt werden, ob ihnen dieses Mal, nach 43 Jahren Islamischer Republik, der Sturz des Regimes gelingen wird. Ob sie mit ihrer Bewegung, die sie längst Revolution nennen, das schaffen können, woran die Generationen vor ihnen gescheitert sind? Ihre Antwort: „Alle Diktaturen wirken stabil, und das 15 Minuten bevor sie kollabieren.“

Diese 15 Minuten scheinen für viele angebrochen zu sein. „Diese Revolution ist sicher“, schreibt die berühmte – derzeit inhaftierte – Frauenrechtsaktivistin Bahareh Hedayat jüngst in einem offenen Brief aus ihrer Zelle im Evin-Gefängnis. „Die Beseitigung dieser kriminellen Regierung wird definitiv kostspielig und riskant sein, aber es führt kein Weg daran vorbei, diese Kosten zu zahlen und sich den Gefahren zu stellen.“

Wie hoch die Kosten noch sein werden, lässt sich nach drei Monaten, nach rund 500 Toten, über 18.000 Inhaftierten und einer potenziellen Hinrichtungswelle, die spätestens am 8. Dezember eingeläutet wurde, nur erahnen. Mit Mohsen Shekari, 23, wurde die erste Person im Zusammenhang mit der aktuellen Protestbewegung hingerichtet, vier Tage später Majidreza Rahnavard. Wenige Wochen nach ihrer Festnahme, ohne Rechtsbeistand, mit Zwangsgeständnissen, vorgeführt in einem Scheinprozess, exekutiert, ohne Wissen der Familien.

Mindestens 28 Personen droht dasselbe Schicksal. Auf der Liste der potenziellen Todeskandidaten befinden sich laut Menschenrechtsorganisationen auch Minderjährige, wie die zwei Brüder Mohammad und Ali Rakhshani, 16 und 15 Jahre alt, aus der Provinz Sistan-Belutschistan. Dass auch Jugendliche exekutiert werden, ist kein Novum im Iran. Das Alter der Strafmündigkeit liegt für Mädchen bei neun Jahren, für Jungs bei 15. Zwar wurde 2013 ein Gesetz verabschiedet, nach dem Richter auf ein Todesurteil verzichten können, wenn sie bezweifeln, dass der Jugendliche zum Zeitpunkt der Tat bei klarem Verstand war. Doch haben Irans Richter in den vergangenen Jahren kaum davon Gebrauch gemacht, so die selbst inhaftierte Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh in einem Artikel für die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte. Das heißt: auf die Gnade der iranischen Justiz ist nicht zu hoffen. Trotzdem versuchen es die verzweifelten Angehörigen.

Es ist schmerzhaft, zu sehen, wie Mütter und Großmütter etwas unbeholfen vor wacklige Handykameras treten und die Behörden und die Weltöffentlichkeit anflehen, ihre Kinder und Enkel zu retten. Etwa den Radiologen Hamid Ghareh-Hassanlou, ein Arzt, der in den entlegensten Gebieten des Landes Schulen gebaut hat. Oder die Rapper Saman Yasin und Toomaj Salehi. Salehis Zwangsgeständnis wurde unlängst als perfides Video, untermalt mit seiner eigenen Musik, veröffentlicht. Oder die zwei Brüder Farzad und Farhad Tahazadeh aus Oshnavieh, einer kurdischen Kleinstadt, aus der laut kurdischen Nachrichtenagenturen allein sechs Protestierende zum Tode verurteilt wurden.

Fast wie in alten Zeiten – wer möchte da Führungen vergleichen ?

Ihre Namen zu nennen ist essenziell, jede Öffentlichkeit kann sie schützen. Daher ist die Initiative europäischer Politiker, die Patenschaften für die Betroffenen übernehmen, mehr als nur eine schöne Geste der Solidarität. Die Patenschaften erzeugen Aufmerksamkeit und Druck auf Irans Machthaber, das Regime, das trotz seines Paria-Status immer noch nach internationaler Anerkennung lechzt. Deswegen haben auch Irans Rausschmiss aus der UN-Frauenrechtskommission sowie der UN-Beschluss, eine Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen im Land einzusetzen, historische Bedeutung. Noch nie in 43 Jahren wurde die Islamische Republik auf diese Art in puncto Menschenrechte verurteilt. Nicht umsonst hatten Aktivisten auf der ganzen Welt Freudentränen in den Augen, als sie von den Entscheidungen erfuhren. Zum ersten Mal, nach all den Jahren und Protesten, stellt die Weltöffentlichkeit für einen kurzen Augenblick die Menschen im Iran in den Mittelpunkt.

Die aktuellen Hinrichtungen rütteln an ein kollektives Trauma aus einer Zeit, als es diese Weltöffentlichkeit nicht gab: Die Exekutionen in den 1980er Jahren, unmittelbar nach der Revolution, als täglich Dutzende Oppositionelle, aber auch jene, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, hingerichtet wurden. Eine Welle, die ihren Höhepunkt 1988 erreichen sollte. Damals erließ Revolutionsführer Ayatollah Khomeini ein geheimes Dekret, nach dem alle „Feinde des Islam“, die sich damals in Haft befanden „so schnell wie möglich“ exekutiert werden sollen. Ein „Todes­komitee“ kümmerte sich um die Abwicklung. Die damaligen Gefängnisinsassen mussten nur ein paar Fragen beantworten: Welcher Partei gehörten sie an? Waren sie bereit, ihr abzuschwören? Waren sie Muslime? Beteten sie fünf Mal am Tag? Wer nur eine Frage „falsch“ beantwortete, wurde getötet.

Quelle          :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Während seines Besuchs im Iran traf sich der syrische Präsident Bashar al-Assad mit dem iranischen Führer Seyyed Ali Khamenei

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Auch wir haben gesehen…

Erstellt von Redaktion am 18. Dezember 2022

…und für einiges noch keine Worte gefunden

Datei:2012-04 Ściborzyce Wielkie 05.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :    Gruppe Autonomie und Solidarität

Inspiriert von dem Text „Wir haben gesehen“ von Julien Coupat et al. haben wir versucht aufzuschreiben, was wir gesehen, gehört, gelesen und worüber wir uns Gedanken gemacht haben in den letzten knapp 3 Jahren autoritärer Entgrenzung im Corona-Ausnahmezustand.

Dieser Text fokussiert sich auf Schritte in der Entwicklung des Autoritären, der gesellschaftlichen Akzeptanz und auf unsere Perspektiven darauf. Einiges in diesem Text wird ausführlicher, anderes kürzer erklärt oder nur angedeutet werden. Es wird versucht, eine chronologische Abfolge von Ereignissen zu zeigen, aber auch das ist nicht immer möglich, zumal sich Eindrücke und Zusammenhänge mit der Zeit erst entwickelten. Der Text hat auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er ist primär auf unsere Beobachtungen im deutschsprachigen Raum ausgerichtet. Es gibt noch viel mehr Aspekte der globalen Krise, die tiefer besprochen oder überhaupt erst angesprochen gehören. Letzten Endes soll der Text vor allem einfach ein Versuch sein, das in Worte zu fassen, was uns als Antiautoritäre in den letzten Jahren hier immer wieder besonders um Worte ringen liess.Was wir gesehen haben:Auch wir haben gesehen, wie elementarste Rechte der Verfassung mit einem Fingerschnippen für nicht mehr gültig erklärt wurden.

Wir haben gehört, wie Politiker*innen in Ansprachen den „Krieg gegen das Virus“ ausriefen. Von der deutschen Kanzlerin Merkel hörten wir, dass es „seit dem zweiten Weltkrieg […] keine Herausforderung an unser Land mehr gab, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt“ und wir fragten uns, welch solidarisches Handeln in Deutschland zur Zeit des NS-Regimes die Kanzlerin wohl meint.

Wir haben uns von Anfang an gefragt, was in den Krankenhäusern passieren wird, die in den Jahren der Neoliberalisierung von Pflege und Versorgung kaputt gespart wurden, deren Personal schon in den Grippe-Wintern die Grenzen der Belastung erreichte und die durch Schließungen und Kürzungen oft mit einem Mangel an Betten und Versorgungsmöglichkeiten für die Patient*innen zu kämpfen hatten. Wir haben fortan gesehen, dass Grundrechte sehr schnell und dauerhaft eingeschränkt werden können und es bei den autoritären Gelüsten in Politik und Gesellschaft kaum Grenzen gab, während eine nennenswerte Verbesserung der Krankenversorgung und Arbeitsbedingungen in der Pflege eine Unvorstellbarkeit zu bleiben scheint.

Wir haben gesehen, wie die Isolationsregeln in Altenheimen, das ersatzlose Schließen von Tafeln, Essensausgaben, Schlafplätzen, das erzwungene Beenden von Therapie- und Hilfsangeboten, das Verbot schwer kranke oder sterbende Angehörige zu begleiten, Menschen um uns herum in körperliche und psychische Abgründe zog aus denen einige nie wieder auftauchten. Und wir haben gesehen, auf wie viel Kaltherzigkeit das bis heute bei den „Solidarischen“ stößt.

Wir haben gehört, wie PR-Kampagnen die Worte „Wir bleiben Zuhause“ als eine dieser Parolen ausspuckten, die sich fortan wie ein Virus durch die „sozialen“ Netzwerke verbreiteten und mit denen sich User*innen eitel zu schmücken begannen. Wir haben uns gefragt, wie das wohl auf Menschen wirkt, die gar kein Zuhause haben, die auf der Straße leben oder an Grenzzäunen festsitzen. Was würde es für die Menschen bedeuten, für die die vier Wände um sie herum die Hölle sind, die immer näher kommt? Was macht es mit Menschen, die „ihm“, „ihr“ oder „ihnen“ noch schutzloser ausgeliefert sein würden und nicht mehr von Zuhause abhauen können?

Wir haben gesehen, wie Anwesenheitslisten ausgelegt wurden und die Privatsphäre und Anonymität nun gemeinsam mit der Geselligkeit unter Generalverdacht gerieten.

Wir haben gesehen, wie schnell die Polizei Begehrlichkeiten entwickelte, Anwesenheitslisten zu Fahndungszwecken zu nutzen.

Wir haben gesehen, wie nach Jahrzehnten des neoliberalen „There is no society“ plötzlich die Rede von einer „Solidargemeinschaft“ war, in der der höchste solidarische Akt für die Gemeinschaft das „social distancing“ zu sein hat.

Wir haben gehört, wie wir in Supermärkten und Geschäften dazu aufgerufen wurden, nicht mehr mit Bargeld sondern nur noch elektronisch und am besten kontaktlos per Smartphone – also auch nicht mehr anonym – zu bezahlen, obwohl wir doch auch früh und immer wieder gelesen haben, wie Wissenschaftler*innen schon früh das Risiko von Schmierinfektionen über Bargeld als äußerst gering beschrieben haben. Wir haben darüber nachgedacht, dass nach Greenwashing nun auch Corona-Washing der neueste heiße Scheiß im Supermarkt werden könnte.

Wir haben gehört, wie auch in Deutschland und Österreich sehr früh von einer „Neuen Normalität“ geredet wurde. Und dass wegen der Pandemie danach „nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.“

Wir haben uns über diese Form der Krisenkommunikation und ihre Gleichzeitigkeit gewundert .Heißt es nicht sonst eher „Ruhe bewahren. Alles wird wieder gut“? Jetzt aber hieß es ominös: „Die Welt wird eine andere sein“?

Wir haben bald gehört, was konkreter mit „Neue Normalität“ gemeint ist. Von angeblich einmaligen Chancen durch die Pandemie, Weltkriegsvergleichen und dem Umformen von Gesellschaften und Verhaltensweisen konnten wir fortan so einiges lesen. Wir fragten uns, wer diese Neugestaltung denn inmitten von Lockdowns und mit Abstandsregeln gestalten sollte und wollte. Es waren schließlich große Vertreter*innen des Kapitalismus, Think Tanks, Unternehmensgruppen, die ein „Neues Normal“ als eine „Neugestaltung des Kapitalismus“ angeboten haben und damit primär eine beschleunigte „digitale Transformation“ aller Lebensbereiche, mitsamt schöner neuer Kontrollmöglichkeiten, herbeisehnten.

Von der Beraterin des damaligen österreichischen Bundeskanzlers Kurz und Vertreterin der Boston Consulting Group, Antonella Mei Pochtler, haben wir es schließlich ganz klar gehört: Die Neue Normalität bedeute, dass jeder Mensch eine App haben werde und wir uns in Europa an „Werkzeuge am Rande des demokratischen Modells“ zu gewöhnen hätten. Wir wunderten uns schließlich nicht mehr so sehr über die Zunahme von Verschwörungstheorien und dass einige Menschen mehr Ängste vor den Regierenden entwickelten als vor dem Virus.

Wir haben uns an Naomi Klein erinnert und wir machten uns Gedanken zu einer drohenden Schockstrategie des Überwachungskapitalismus. Auch Klein fühlte sich wohl an die Schockdoktrin erinnert. Im Mai 2020 konnten wir ihren Artikel zum „Screen New Deal“ über die Pläne zur Errichtung einer Hightech-Dystopie im Zuge der Pandemie gelesen, an der sich Big Tech, Eric Schmidt von Google, Andrew Cuomo und Donald Trump beteiligten. Wir haben begonnen uns zu fragen, welche derartigen Entwicklungen auch in Europa und anderen Teilen der Welt im Laufe des Corona-Ausnahmezustandes zu Tage treten würden. Schließlich drohten uns „Smart City Chartas“ und „Transformationspläne“ auf EU-Ebene längst solche Entwicklungen an, für die sich rechte wie liberale, sozialdemokratische wie grüne Politiker*innen begeisterten.

Wir haben gehört, wie der Präsident des RKIs in einer Pressekonferenz Ende April 2020 von einer sich entspannenden Lage sprach, aber die Verlängerung der Lockdown-Maßnahmen unbedingt über den 1. Mai befürwortete. Er beendete die Konferenz mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen einen schönen Feiertag und vor allen Dingen grüße ich hier die Polizistinnen und Polizisten, die Hundertschaften, die endlich mal den 1. Mai Zuhause verbringen können.“. Wir haben angefangen uns zu fragen, ob es wirklich nur noch um die Eindämmung des Virus gehen würde, oder ob sich fortan mit virologischer Rechtfertigung auch aus anderen Anlässen Bevölkerungskontrollmethoden verfestigen könnten.

Wir haben gesehen, wie vom deutschen Bundesinnenministerium ein Strategiepapier verfasst wurde, in dem beschrieben wurde, wie durch gezielte Schockwirkungen die Durchsetzung von Maßnahmen erreicht werden könne und wie per Tracking und Massentests die Pandemie in Griff zu bekommen sei. Interessanter fanden wir noch die Passagen, in denen klar wurde, dass nicht nur die Angst vor dem Virus herrschte, sondern die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und eine drohende Infragestellung des Systems, das zu einem „völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie“ führen könnte, Horst Seehofers Ministerium in Angst und Schrecken versetzte. Der „Maßnahmen Hammer“ sollte präventiv zuschlagen.

Wir haben sie gehört und uns über sie gewundert – die Einschätzungen von Vertreter*innen aus dem linken Mainstream, die immer wieder von den großen Chancen des pandemischen Ausnahmezustandes und einer bevorstehenden Überwindung des Kapitalismus durch Corona sprachen. Wir konnten das hier zu keinem Zeitpunkt sehen, wo doch die Handlungsmacht und Bereitschaft der Linken jetzt so tief am Boden war und wo wir nicht daran glauben können, dass ein „Starker Staat“ zur Überwindung von Kapitalismus und Ungleichheit beitragen würde.

Wir haben schon im März 2020 gesehen, wie schnell die Idee von digitaler Überwachung in der Pandemie von vielen Regierungen und Unternehmen vorangebracht wurde. Wir haben gesehen, wie die deutsche Regierung zunächst eine Tracking-App entwickeln liess, die einen sozialen Graphen der gesamten Bevölkerung hätte erstellen können. Wir haben von den Protesten und Warnungen von Wissenschaftler*innen und Netzaktivist*innen gehört. Sogar von einem mutmaßlich „linksextremen“ Brandanschlag auf ein Stromkabel, um die Entwicklung der App zu sabotieren, haben wir gelesen. Und doch waren es keine linken Aktionen, warnenden Wissenschaftler*innen und Netzaktivist*innen, sondern es waren die Groß Konzerne Google und Apple, die die Bundesregierung dazu brachten, von der zentralen Tracking-App auf eine etwas datenschutzfreundlichere dezentrale Tracing-App umzusteigen. Das ist Handlungsmacht. Agency.

Wir haben gehört, wie nicht wenige Überwachungsstaatskritiker*innen die dezentrale Corona Warn-App des Staats fleissig bewarben und nutzten, weil sie ja so unbedenklich sei und sahen uns letzten Endes trotzdem darin bestätigt, dass auch diese App zur Überwachung und Kontrolle taugt.

Wir haben gehört, wie Datenschützer*innen und Netzaktivist*innen ihre Sorgen deutlich zum Ausdruck brachten, als andere Apps und Praktiken zur vermeintlichen Pandemiebekämpfung den Datenschutz verletzten und rechtliche wie technische Standards nicht eingehalten wurden. Wir haben aber auch beobachtet, wie nicht wenige Menschen aus diesen Communities offensichtlich kaum Probleme mit digitaler Kontrolle und Unterordnung haben, wenn die zugrundeliegende Technik nur weitgehend datenschutzrechtskonform ausgestaltet ist. Wir fragten uns, ob es etwas noch deutscheres geben könnte, als eine datenschutzrechtskonforme digitale Kontrolldystopie.

Wir haben gehört, wie die dissozialen Plattitüden von „Ich habe nichts zu verbergen“ und „Facebook hat doch auch deine ganzen Daten, also stell dich nicht so an“ selbst unter manchen Linken zur Rechtfertigung von Überwachung grassierten.

Wir haben gesehen, wie immer wieder über eine allgemeine Nutzungspflicht der Tracing-App diskutiert wurde und dafür sogar Armbänder entwickelt wurden, damit Menschen auch ohne Smartphone zum Tracing verpflichtet werden könnten. Wir haben uns gedacht, dass Halsbänder noch besser passen würden.

Wir haben gelesen, wie in Experimenten der Universität des Saarlandes digitale Abstandsmessgeräte, die einen Warnton erschallen lassen, wenn sich Menschen zu nahe kommen, an Kindern und Jugendlichen getestet wurden. Und wir haben gelesen, wie Schüler*innen in Mecklenburg-Vorpommern in der Erprobung von Testkonzepten unterschiedliche Farbpunkte aufgeklebt bekamen, um so zwischen Getesteten und Testverweigernden zu unterscheiden und ihnen unterschiedliche Privilegien beizumessen. Wir fragten uns seither, wie derartige Konditionierungsversuche wohl das Verhältnis zu Mitmenschen und Autorität der jungen „Proband*innen“ prägen können.

File:Masken vom Maskenbrunnen (Flensburg 2014-10-28), Bild 02.jpg

Wir fragen uns nicht ob, sondern eigentlich nur wann wir die in dieser Zeit erprobten und verfeinerten Herrschaftstechniken und neuen digitalen Konditionierungswerkzeuge wieder sehen werden. Welche neuen Ausnahmezustände, welcher Anschlag oder Anlass wird dazu führen, dass zum Beispiel Innenminister*innen oder EU-Kommissionen Tracking-Apps verpflichtend einführen? Oder wird das einfach indirekt in viele Geräte integriert, sobald die „Gnade“ der Tech-Konzerne ein Ende findet? Welche „smarten“ Kontrolltechniken werden wohl zur Durchsetzung von Abstandsregelungen, zur Bewegungsüberwachung und Isolation in der nächsten Pandemie eingesetzt werden? Denn wenn wir eines zweifellos in den Jahren vor Corona gesehen haben, dann war es, wie fortlaufend neue Kontroll- und Überwachungspraktiken eingeführt wurden und wie bestehende Möglichkeiten entfristet und auf alle Bereiche erweitert werden, auch wenn ihre ursprünglichen Rechtfertigungsanlässe längst Geschichte sind.

Wir haben gesehen, wie der deutsche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Mai 2020 einen „digitalen Immunitätsausweis“ einführen lassen wollte, noch bevor es überhaupt gesicherte Daten zu Übertragung, Immunität, Zuverlässigkeit von Testmöglichkeiten und zur Verfügbarkeit von Medikamenten und Impfstoffen gegen das Virus gegeben hatte. Wir haben uns gefragt, woher dieser Push für digitale Werkzeuge und ihrer Wirksamkeitsversprechen eigentlich kommen.

Wir haben gesehen, wie Spahns Idee auf Widerstand in der Politik stiess, eine Einführung gar für eine Weile als krude Verschwörungstheorie bezeichnet und sie trotzdem weiterverfolgt wurde. Mit der Einführung der digitalen Impf- und Testnachweiskontrollen 2021 und der Debatte um die Impfpflicht Anfang 2022 wurden solche „kruden Verschwörungstheorien“ später teilweise wahr. Wir haben daran erkennen können, wie gut der pauschale Vorwurf des „Verschwörungsmärchens“ als autoritäres Instrument zum Abwürgen von kritischen Diskursen taugt, wie leichtfertig und häufig der Vorwurf des „Schwurbelns“ auch von Linken gegen linke Autoritätskritiker*innen verwendet wurde und wie manches, das kurz zuvor noch von einigen Menschen als abstruses Märchen bezeichnet wurde, plötzlich als alternativlose Notwendigkeit von den gleichen Menschen gehandelt und unterstützt wird. Die Impfpflicht zum Beispiel.

Wir haben gesehen, wie der Deutsche Ethikrat sich nur teilweise gegen einen Immunitätsausweis aussprach; ihn sogar befürwortete, wenn mit seiner Einführung bestimmte Privilegien und Pflichten in der Gesellschaft verbunden würden. Wir konnten sehen, wie die bürgerliche Gesellschaft in der Krise ihre Grundrechte nicht mehr als unveräusserliche Rechte sondern als Privilegien, die mit entsprechendem Verhalten zu erkaufen seien, handelten.

Wir haben gesehen, wie Tech-Startups und Lobbyismus Gruppen wie das WEF eigene „digitale Immunitätsausweise“ mit Bluttests und Kontrollschranken zu entwickeln und zu bewerben begannen. Wir haben darüber nachgedacht, dass die Privatisierung des Pass- und Ausweiswesens eigentlich nur schlüssig in einem offen autoritären Private-Public-Partnership-Kapitalismus ist. Wir sehen heute, wie Tech-Grosz Konzerne in den USA digitale Impfausweise eingeführt haben. Und wir sehen gerade, wie die EU-Kommission mit ihrer E-ID Wallet die Teilprivatisierung von digitalen Identitäten zur Überwachung massiv vorantreibt.

Wir haben gesehen, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einer dieser RTL- Show-ähnlichen Konferenzen zur Geldbeschaffung für Impfstoffentwicklung und Therapieforschung, sich bei Bill und Melinda Gates für ihre Führungsrollen bedankte. Dass Staats- und EU-Vertreter*innen nun Tech-Milliardär*innen offen Führungsrollen zusprechen, nahmen wir als ein überraschend ehrliches Schlüsselstatement im Selbsttransformationsprozess von sogenannten liberalen Demokratien in offene Postdemokratien zur Kenntnis.

Wir haben gesehen, wie selbsternannte Fakten Checker*innen die Tätigkeiten der Gates-Stiftung unkritisch in Schutz nahmen und Kritik an ihr häufig nur auf die grassierenden irrsinnigen Narrative der Rechten reduziert darstellten. Wir haben gecheckt, dass die Fakten Checker*innen selbst oft gar nicht die Fakten zu den Steuervermeidungstaktiken der „philanthropischen“ Milliardär*innen und ihre medienmächtigen Image- und PR-Kampagnen checkten, auf denen der gute Ruf z.B. der Gates Stiftung aber erst begründet ist. Dass diese Stiftung und von ihr geförderte Impf-Initiativen wie GAVI und CEPI mit Konzernen wie Mastercard und Tech-Unternehmen in afrikanischen Ländern Kontroll- und Überwachungspraktiken, bargeldlose Bezahlen-Services und kommerzielle Agrarprojekte aus sicherlich nicht selbstlosen Motiven voranbringen, scheinen manche Faktenchecker*innen gar nicht erst checken zu wollen. Dabei geben dies GAVI und Co. offen zu. Nur bezeichnen sie es nicht als den Neokolonialismus oder Überwachungskapitalismus, der unter dem Deckmantel der Philanthropie nun mal steckt.

Wir haben immer wieder von Aktivist*innen gehört, dass Falschbehauptungen und Verschwörungstheorien härter bestraft werden müssten. Wir haben uns gefragt, welche über alle Zweifel erhabene, völlig objektive und neutrale Institution den Wahrheitsgehalt von Theorien und Behauptungen zu politischen Geschehnissen endgültig prüfen und beurteilen könnte. Dass es völlig unsinnige und gegen Minderheiten hetzende, gefährliche Theorien und Falschbehauptungen gibt, gegen die wir uns positionieren müssen, ist uns klar und darin wurden wir in der Pandemie auch durch das Beobachten der Aktivitäten der Faschos und ihrer neuen Gefolgschaft bestärkt. Aber spätestens seitdem wir das Propagandamodell von Chomsky und Herman gelesen haben, ist uns genauso klar, dass weder Faktenchecks durch Journalist*innen, noch staatliches Durchgreifen auch nur annähernd Objektivität garantieren können, geschweige denn zur Bekämpfung von rechter Propaganda taugen. Oftmals sogar ganz im Gegenteil.

Wir haben gehört, wie Ministerpräsident*innen, Journalist*innen, Ethikrat Mitglieder immer wieder Falschbehauptungen aufstellten, dass der Datenschutz daran Schuld sei, dass die Pandemie noch nicht in den Griff bekommen wäre. Wir haben von den meisten sogenannten Faktenchecker*innen aber gar keine kritischen Bemerkungen und Einordnungen, keine aktivistischen Forderungen nach Strafen für diese schwurbeligen Fake News gesehen.

Wir haben stattdessen von der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats im Oktober 2020 die unwahre Behauptung gehört, der Datenschutz sei, ganz offensichtlich zu ihrem Bedauern, doch noch „so gar nicht“ eingeschränkt worden. Vom Grünen Ministerpräsidenten Kretschmann und seiner Landesregierung haben wir immer wieder die Märchen von fantastischen Tracking-Apps in Taiwan und Südkorea gehört, mit denen dort die Pandemie längst unter Kontrolle sei, während hierzulande der leidige Datenschutz solch digitales Wunderwirken verhindere. Als wir dann erfahren haben, dass die Menschen in Taiwan und Südkorea selbst auch noch nichts von diesen Apps gehört haben, weil diese dort schlichtweg nicht existierten und auch ein Südkorea, mit seiner durchaus vorhandenen dichten Überwachungsinfrastruktur und zunehmend kontaktlosen Dystopie das Aufflammen von neuen Infektionswellen nicht verhindern konnte, hielt sich unser Staunen über die unwahren Aussagen deutscher Politiker*innen und das Desinteresse der „Faktenchecks“ dennoch in Grenzen.

Wir haben gesehen, wie es in der ganzen Zeit politisch gefordert wurde, das Privatleben maximal einzuschränken, aber sich am Arbeitsplatz und auf dem Weg dorthin den Risiken einer Infektion auszusetzen. Wir haben gesehen, wie sich die meisten Menschen fügten, selbst als nächtliche und ganztägige Ausgangssperren sowie Bewegungsradius-Zonen ohne epidemiologischen Sinn eingerichtet wurden.

Wir haben gesehen, wie nach den ersten Lockerungen über 700 Bewohner*innen eines Hochhauses in Göttingen und Arbeiter*innen der Tönnies-Schlachtfabriken in Wohnblöcken in Gütersloh auf Verdacht wie Vieh eingepfercht wurden. Wir haben gesehen, wie auch noch im Jahr darauf viele Saisonarbeiter*innen am Rande von deutschen Spargelhöfen ihre „Arbeitsquarantäne“ nur zum Arbeiten verlassen durften und ihnen die Schuld an hohen Inzidenzen gegeben wurden. Wir haben weder gesehen, wie sich die kleinbürgerlichen Protest-Kreischer*innen von „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ für die Freiheit dieser Menschen einsetzten, noch wie die „Solidarischen“ auf der Gegenseite sich solidarisch mit den eingepferchten Menschen zeigten.

Wir haben gesehen, wie Jugendliche in Stuttgart, in Hamburg, in Berlin, in Den Haag und an einigen anderen Orten immer wieder aus der Geiselhaft der Autoritären auszubrechen versuchten und es keineswegs nur „unsolidarische Querdenker*innen“ und Rechte sind, die massenhaft gegen Maßnahmen aufbegehrten.

Wir haben gesehen, wie Polizist*innen einen Jugendlichen mit dem Polizeiwagen durch einen Park hetzten, weil er seine Freund umarmt hatte und wie Polizeihubschrauber Menschen auf zugefrorenen See verfolgten, weil sie Abstands- und Sicherheitsregeln nicht einhielten.

Wir haben gesehen, wie die Bundeswehr im Inneren eingesetzt wurde, wie ihr Einsatz in Altenheimen, Gesundheitsämtern und bei der Impfkampagne medial inszeniert und die Gegenwart von uniformtragenden Soldat*innen gesellschaftlich weiter normalisiert wurde.

Wir haben gesehen, wie im Zuge der Proteste und Aufstände nach der Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten, die BLM-Aktivist*innen und viele Linke in den USA die Abschaffung der Polizei forderten. Polizeistationen gingen in Flammen auf, Überwachungstechnik wurde zertrümmert. Viele Menschen wollten sich die rassistisch motivierten, tödlichen Übergriffe und die Kontrollen und Willkür durch Polizeikräfte nicht mehr länger bieten lassen und konnten sich ein freieres Leben vorstellen.

Währenddessen haben wir hierzulande beobachtet, wie sich einige als Linke und Antifa-Aktivist*innen bezeichnende Menschen nicht nur Demonstrationsverbote, sondern ein härteres Durchgreifen der Polizei wünschten, den Einsatz von Wasserwerfern und Schlagstöcken herbeisehnten, um gegen Menschen vorzugehen, die sich bei ihren Protesten nicht an Maßnahmen hielten. Wir entwickelten nie und empfinden nach wie vor keine Sympathien für Rechte und Querfrontler*innen und ihre Aufmärsche. Aber es war und ist schwer zu ertragen, wie Stimmen, die als dem linken Spektrum zugehörig wahrgenommen werden, plötzlich Polizeigewalt und Repressionsbehörden gutheißen und sie sich allenfalls darüber beklagen, dass die Gewalt der Staatsmacht zu selten die Richtigen treffe.

Wir haben leider ganz genau gesehen, wie viel Begeisterung für Repression und Autoritarismus, für „Zucht und Ordnung“ bei Linksliberalen, aber auch bei Linken und angeblichen Anarchist*innen in Deutschland vorhanden ist. Wir haben gesehen, dass Virolog*innen wie Popstars zelebriert wurden und es dabei nicht nur um die virologische Expertise ging, sondern um ihr äußeres Erscheinen, ihre politischen Wirkungen und ihren Lifestyle, die ihnen zusätzliche Autorität verliehen.

Wir haben gesehen, wie „die Wissenschaft“ als Singular zur unfehlbaren Autorität im Kapitalismus erhoben wurde, ohne dass ihre Politisierung, ohne dass das auf sie wirkende politische, ideologische System, von dem sie nicht losgelöst existiert, ohne dass die Begrenzungen durch Erkenntnistheorien und ihre Herrschaftsansprüche auf die Gesellschaft hinterfragt wurden. Besonders von Linken haben wir das kaum gesehen. Als hätte es Foucault, die Frankfurter Schule und emanzipatorisch linke Kritiken an Wissenschaften, Proteste gegen „Wehrtechnikforschung“ an Unis und gegen die Pharmaindustrie niemals gegeben.

Wir haben gehört, wie eine öffentlich vielbeachtete Virologin, die die Autorität ihrer Zunft klarstellen wollte, sagte, sie erzähle „doch auch dem Automechaniker nicht, wo der Motor am Auto ist.“. Die Ironie, dass sie selbst kurz darauf politische und Gesamtgesellschaft relevante Forderungen als Testimonial der „No Covid“-Initiative vorstellte, ist ihr dabei wahrscheinlich entgangen. Uns nicht.

Wir haben gesehen, wie die „No Covid“-Initiative ab Ende 2020 die Landkarte Europas in „grüne und rote“ Zonen einteilen wollte. Strikte Kontrollen, Massentests, Quarantäne, Überwachung sollten die Kranken und Verdächtigen in den roten Zonen einpferchen, um die Gesunden und Geprüften in den grünen Zonen zu schützen. Das ganze Ausmaß an Autoritarismus in dieser Idee verschlägt uns immer noch die Sprache. Er spricht wohl für sich selbst.

Wir haben gesehen, wie die „Zero Covid“-Initiative sich ab Anfang 2021 als „linkes“ Pendant zu „No Covid“ formierte. Linksliberale und linke Prominenz in Deutschland unterschrieb den Aufruf fleissig zu einem Zeitpunkt, an dem sich das Virus längst in Menschen und Tieren auf der ganzen Welt unkontrolliert ausgebreitet hatte. Zu den positiven Inhalten von „Zero Covid“ konnten wir die Forderung nach Stärkung der Pflege, den Blick auf die Arbeitswelt statt nur auf die Freizeit und eine angebliche Sorge vor autoritären Entwicklungen bei einer weiter andauernden Pandemie zählen. Wir haben uns davon aber nicht darüber hinwegtäuschen lassen, wie sehr die Forderungen nach „kurzen, harten Lockdowns“ bestenfalls naiv klangen; Wie sie, ähnlich wie „No Covid“ aber sehr wahrscheinlich zu einer weiteren autoritären Entgrenzung und Verstetigung von Kontrollen führen würden und wie sie das Freiheitsverständnis manipulativ nur auf dessen neoliberale, bürgerliche Interpretation zu reduzieren versuchte.

Wir haben gesehen, dass „Zero Covid“ zum Sinnbild für die autoritäre Linke in Deutschland wurde, wie sie vom „Schutz der Volksgesundheit“ sprachen und sich auch 2022 noch für die „hervorragende“ Unterdrückung in der chinesischen Pandemiepolitik begeistern.

Wir haben gesehen, wie wenig Begeisterung das chinesische Vorbild der deutschen „Zero-Covid “Linken bei den Menschen in China auslöst. Wir haben die Schreie aus den zugeschweissten Appartmentblöcken gehört, die digitale Bewegungskontrolle per App gesehen, die Aufstände und Kämpfe von Fabrikarbeiter*innen und vielen anderen Menschen gegen das „Zero-Covid“-Regime in ganz China beobachtet.

Wir haben gesehen, wie linke Intellektuelle, die kluge Sachen zu den autoritären Tendenzen des konservativen Bürgertums und zu rechten Ideologien in Behörden geschrieben und gesagt haben, nun selbst vom autoritären Staat und dessen Behörden maximale Sicherheit und hartes Durchgreifen begehrten.

Wir haben gesehen, wie ab 2021 viele Landesregierungen nach einer Werbetour des Rappers Smudo die „LUCA“-App einführten und ihre Nutzung an vielen Orten verpflichteten. Obwohl der Datenschutz als katastrophal. die Wirkung bei der Pandemiebekämpfung als kontraproduktiv und das Zugriffsinteresse der Polizei als hoch beschrieben wurden, haben wir und der Staat gesehen, wie viele Menschen die App trotzdem nutzten und fleissig QR-Codes scannten. Technikgläubigkeit, „freiwilliger Zwang“ aus Angst vor Ausschluss, Bequemlichkeit und das Verdrängen von Alternativen sind wohl die „Fantastischen Vier“ unter den gesellschaftlichen Nährböden für den Überwachungskapitalismus.

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Wir haben gesehen, wie das Bundesgesundheitsministerium 2021 bei IBM einen Impfpass mit Blockchain-Technologie in Entwicklung gab. Die historische Brisanz, dass der Auftrag ausgerechnet an IBM ging, fiel uns auf. Vielmehr haben wir allerdings die aktuelle Brisanz gesehen, mit den vielen Vorhaben, die unter Namen wie „Self Sovereign Digital Identity“ oder „ID 2020″ – auch in Zusammenhang mit Impfkampagnen – noch immer eine dystopische nahe Zukunft ankündigen. Eine durch digitalisierte Zukunft, in der unser gesamtes Leben per Biometrie überwacht und als Blockchain-Identitäten gespeichert werden soll, über deren Datenherausgabe wir als Individuen höchstens noch pseudo-freiwillig verfügen könnten („Daten her oder Du kommst hier nicht rein!“). Eine Zukunft, in der es Staaten, Behörden und Kapital vollumfänglich möglich wäre, uns (noch mehr) mit „Scorings“ zu bewerten, unseren „Marktwert“ zu errechnen und unser Verhalten kybernetisch zu maßregeln. Eine Dystopie, in der sich bis auf wenige Privilegierte, die meisten Menschen gar nicht mehr in Privatsphären zurück ziehen können, sich nicht mehr vertrauen und aufeinander verlassen würden, in der es keine Grauzonen, Verschwiegenheit, Schlupflöcher, Unschuldsvermutungen, Auskunftsverweigerungen und verzeihendes Wegschauen mehr geben kann. Ein Panoptikum, in dem die Vielen gefangen wären und die Wenigen alles sehen und wissen würden.

Wir haben gesehen, wie die EU-Kommission den „Grünen Pass“ eingeführt hat, der zwar kein Blockchain-Ausweis ist, aber dennoch eine erweiterbare Kontrollinfrastruktur etablierte. Wir haben gehört, wie die EU-Gesundheitskommissarin davon sprach, dass das digitale Impfzertifikat in der Zukunft noch andere Informationen als nur den Impfstatus anzeigen soll und dass die Pässe auch nach Ende der Pandemie erhalten bleiben sollen.

Wir haben gesehen, wie diese Zertifikate zur Grundlage für die Politik von 3G, 2G, 2G+ wurden; Wir haben gesehen, wie damit das digitale Ausweisen, Zertifizieren, Kategorisieren von Menschen im Alltag und das Veröffentlichen von Gesundheitsdaten über Monate hinweg normalisiert wurden.

Wir haben gesehen, wie auch in autonomen Zentren, linken und anarchistischen Einrichtungen in Deutschland 2G vehement kontrolliert wurde und Menschen ohne digitale Zertifikate und Ausweise nicht erwünscht waren – teilweise noch weit über das Ende der gesetzlichen Bestimmungen hinaus.

Wir haben gesehen, wie sehr sich Linke und selbsternannte Anarchist*innen sich nicht nur für 2G sondern auch für eine Impfpflicht einsetzen und wie es bei der Debatte um die Impfpflicht längst nicht mehr nur um den Gesundheitsschutz ging, sondern um symbolische Wirkungen für die Durchsetzung von staatlicher, biopolitischer Autorität gegenüber allen, die sich ihrer Entziehen wollten.

Wir haben gesehen, wie im Windschatten der Corona-Pandemie, der grossen Aufmerksamkeit für die „Querdenker“, des „War on Schwurbel“ und der behaupteten „Pandemie der Ungeimpften“ die deutsche Politik ein Überwachungsgesetz nach dem anderen verabschiedete. Wir haben gesehen, wie im Corona-Konjunkturpaket die Register Modernisierung und damit die Einführung einer digitalen Personenkennziffer beschlossen wurde. Wir haben gesehen, wie Horst Seehofer seine Überwachungsagendas durchdrückte, das NetzDG verschärft wurde, der Staatstrojaner für alle Geheimdienste eingeführt wurde, wie die EU ihre Biometrie Datenbanken und die Kommerzialisierung von Patient*innendaten ausweitet, die Militarisierung und Befugniserweiterungen von Polizei und Frontex vorangetrieben werden und verschiedene „Innovationsprojekte“ des Sicherheitsstaats nahezu unbemerkt und mit reichlich Desinteresse einer abgelenkten Linken passieren können. Wir haben noch mehr gesehen… und für einiges noch keine Worte gefunden Wir hätten gerne gesehen, wie die Kritik von jeder Autorität, von Herrschaft, Obrigkeit, vom kapitalistischen Wissenschaftsverständnis und dem Fortschritt Verständnis, wie die Fähigkeit zur Differenzierung und Dialektik die Debatten von Links in der Pandemie ausgemacht hätten.

Wir hätten vielleicht einiges anders kommen sehen können, wenn Linke ein kritischeres Verständnis vom Staat gehabt hätten. Denn im Gegensatz zu dem, wie sie es mehrheitlich einzuschätzen scheinen, ist der Staat nicht etwa ein Gegenspieler des Neoliberalismus oder Kapitalismus sondern dessen Garant, Verwalter und Exekutive, wie wir es in der „Bewältigung“ der Wirtschaftskrise ab 2008, bei der staatlichen Repression von autonomen Projekten immer wieder und bei der „digitalen, grün gewaschenen Transformation“ des Kapitalismus heute sehen.

Wir hätten es lieber gesehen, wenn sich Menschen durch solidarische Praxis, gegenseitige Hilfe, abwägender Vernunft und Rücksicht in der Pandemie verhalten hätten, statt rücksichtslos und empathie befreit, anbiedernd an den Staat einerseits oder an rechte Bauernfänger*innen andererseits.

Wir sehen es schon, dass manche vielleicht sagen: „Das ist alles längst vergangen und einiges ist ja auch gar nicht so eingetreten und vieles wurde wieder zurückgenommen.“ Doch wir denken, dass es dokumentiert, besprochen und sich dazu positioniert werden sollte. Viele Entwicklungen der staatlichen und kapitalistischen Autoritarisierung liefen schon vor der Pandemie und werden es danach noch beschleunigt tun, viele Probleme des linken und autonomen Spektrums in Deutschland sind so erst recht sichtbar geworden und wir sehen nicht, dass sich die Dinge bessern, wenn sie niemand mehr sehen will.

Gruppe Autonomie und Solidarität

Quellen und Links geordnet nach Themen:

Thema Erste Ankündigungen

TV-Ansprache von Angela Merkel vom 18. März 2020: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975232/1732182/d4af29ba76f62f61f1320c32d39a7383/fernsehansprache-von-bundeskanzlerinangela-merkel-data.pdf

Thema Bargeld

Artikel auf digitalcourage.de von Demuth, Kerstin: Aus hygienischen Gründen bargeldlos zahlen? Ist Quatsch., letztes Update vom 09.06.2020: https://digitalcourage.de/blog/2020/bargeld-corona-infektionsschutz-quatsch

Artikel auf Aerzteblatt.de: SARS-CoV-2: Bargeld birgt kein besonderes Infektionsrisiko, vom 12. August 2021: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/126311/SARS-CoV-2-Bargeld-birgt-kein-besonderes-Infektionsrisiko

Thema „Neue Normalität“

Gisela Zifonun: Zwischenruf zu „Neue Normalität“, erschienen in „Sprachreport 2/2020 des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim:

https://www.ids-mannheim.de/fileadmin/aktuell/Coronakrise/zifonun_web_2_neu.pdf

Meldung vom 11. April 2020 auf Tagesschau.de über die Rede zur Corona-Krise von Bundespräsident Steinmeier:

https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-ansprache-corona-101.html

Boston Consulting Group: Sensing and shaping the Post-COVID Era, 3. April 2020: https://www.bcg.com/publications/2020/8-ways-companies-canshape-reality-post-covid-19

KPMG Deutschland: Die neue Normalität: https://home.kpmg/de/de/home/themen/uebersicht/die-neue-normalitaet.html

OECD Forum: The Great Reset? Let’s aim for a „kinder capitalism“ and one measure for well-being, von: James Wallman, 07. Mai 2020:

https://www.oecd-forum.org/posts/the-great-reset-let-s-aim-for-a-kinder-capitalism-and-one-measure-for-well-being-2fcaccb1-54e4-4274-b7ba6546ae87c54a

Netzwerk Nachhaltigkeit NRW: Corona als Chance für die Nachhaltigkeitsdebatte, 12. Mai 2020:

https://www.lag21.de/aktuelles/details/corona-als-chance-fuer-die-nachhaltigkeitsdebatte/

Traxeler, Günter: Mutig in die neue Normalität, Kolumne, erschienen am 8. Mai 2020 bei derstandard.at: https://www.derstandard.at/consent/tcf/story/2000117350911/mutig-in-die-neue-normalitaet

Thema Schockstrategien

Klein, Naomi: Screen New Deal, am 8. Mai 2020 bei The Intercept erschienen: https://theintercept.com/2020/05/08/andrew-cuomo-eric-schmidtcoronavirus-tech-shock-doctrine/

Smart City Charta 2017 des Bundesumweltministeriums: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/bauen/wohnen/smart-city-charta-kurzfassung-de-unden.pdf?__blob=publicationFile&v=4

Studie im Auftrag des IMCU Komitees des EU-Parlaments zur „Digitalen Transformation“, erschienen im Mai 2020: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2020/648784/IPOL_STU(2020)648784_EN.pdf

Robert-Koch-Institut Update vom 30.04.2020, Videoaufzeichnung der Aussage abrufbar bei ZDFheute Nachrichten ab 1h05m00s: https://www.youtube.com/watch?v=miEvuY-vqXc .

Das interne Strategiepapier des Innenministeriums zur Corona-Pandemie, am 07. April 2020 veröffentlicht bei abgeordnetenwatch.de: https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/informationsfreiheit/das-interne-strategiepapier-des-innenministeriums-zur-corona-pandemie

Kreutzfeldt, Malte: Strategiepapier des Innenministeriums. Schockwirkung erwünscht, 28.3.2020 bei taz.de https://taz.de/Strategiepapier-desInnenministeriums/!5675014/

Thema Corona als Chance für die Linke?

Žižek, Slavoj: Pandemic! Covid-19 Shakes the World, E-Book, 2020. http://zizekpodcast.com/2021/02/09/ziz263-could-covid-destroy-capitalism-1901-2020/

Thema Corona-Warn-App

Schurter, Daniel: 300 Wissenschaftler warnen vor ‚beispielloser Überwachung der Gesellschaft‘, 21. April 2020: https://www.watson.ch/digital/schweiz/541347894-300-wissenschaftler-schlagen-alarm-wegen-fragwuerdiger-corona-warn-apps

Karabasz, Ina: Streit um Corona-Tracing-App: ‚Die Diskussion wird religiös geführt‘, 20.04.2020 bei Handelsblatt.com: https://www.handelsblatt.com/technik/medizin/chris-boos-streit-um-corona-tracing-app-die-diskussion-wird-religioes-gefuehrt/25753782.html

Jansen, Frank: Wollten Linksextreme die Corona-App sabotieren, 15. April 2020 bei Tagesspiegel.de: https://www.tagesspiegel.de/berlin/staatsschutzermittelt-nach-anschlag-auf-stromkabel-in-berlin-3245695.html

Becker, Kristin und Feld, Christian: Streit um die Corona-Tracing-App. Kräftemessen mit Apple und Google, 25. April 2020 bei Tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/inland/corona-app-spahn-103.html

Capulcu: Unser erneu(er)tes NEIN zur Corona-Warn-App, 5. Dezember 2020: https://enough-is-enough14.org/2020/12/05/capulcu-unser-erneuertesnein-zur-corona-warn-app/

Reuter, Markus und Köver, Chris: Update der Corona-Warn-App. Neue Impfstatus-Prüfung auf Kosten der Anonymität, 10. Januar 2022, bei netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2022/update-der-corona-warn-app-neue-impfstatus-pruefung-auf-kosten-der-anonymitaet/

Bosen, Ralf: Kampf gegen die Pandemie Denkfabrik fordert gesetzliche Pflicht für Corona-Warn-Apps, 19. Januar 2021 bei dw.com: https://www.dw.com/de/denkfabrik-fordert-gesetzliche-pflicht-f%C3%BCr-corona-warn-apps/a-56269362

Artikel des Bundesgesundheitsministeriums zur Entwicklung des Corona-Warn-Bands, Projektlaufzeit: 07.10.2020 bis 31.12.2021:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/ressortforschung-1/handlungsfelder/forschungsschwerpunkte/eindaemmung-der-covid19-pandemie/kida-1.html

Thema Konditionierungswerkzeuge

Artikel zu den Experimenten mit Abstandswarnchips im Saarland: https://www.sol.de/saarland/studie-im-saarland-funk-chips-sollen-schuelerinnenzum-abstandhalten-animieren,67180.html

https://www.uni-saarland.de/en/news/saar-uni-startet-corona-studie-an-schulen-22647.html

Nyarsik, Hedviga: Vorbild für andere Schulen? Wie ein Gymnasium das Corona-Problem löst, 30. Juni 2020 bei n-tv.de: https://www.ntv.de/panorama/Wie-ein-Gymnasium-das-Corona-Problem-loest-article21821407.html

Rath, Christian: Chronik der Sicherheitsgesetze. Der Weg zum Antiterrorstaat, 20. April 2020 bei taz.de : https://taz.de/Chronik-derSicherheitsgesetze/!5144153/

Thema Immunitätsausweis und Verschwörungstheorien

Barthel, Julia: Spahn schlägt Immunitätsausweis vor, 1. Mai 2020 bei netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2020/spahn-schlaegtimmunitaetsausweis-vor/

Grüne Thüringen zu „Verschwörungsmärchen“: https://gruene-thueringen.de/verschwoerungsmaerchen-in-zeiten-von-corona-immunitaetsausweiseund-angebliche-impfpflicht-07mai20/

Klaus, Julia: Faktencheck: Was dran ist am Impfzwang-Geraune, 06. Mai 2020 bei ZDF.de: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-keinimpfzwang-spahn-faktencheck-100.html

Ethikrat gespalten über Immunitätsbescheinigungen, 22. September 2020 bei Sueddeutsche.de https://www.sueddeutsche.de/wissen/immunitaetcorona-ausweise-ethikrat-stellungnahme-1.5040478

Heller, Piotr: Corona-Immunitätspässe. Bahn frei für Überlebende?, 18. Juni 2020 bei deutschlandfunkkultur.de https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-immunitaetspaesse-bahn-frei-fuer-ueberlebende-100.html

Beispiele für den Push der Tech-Konzerne für Immunitäts- und Impfausweise:

https://www.hpw.health/ https://www.weforum.org/agenda/2020/07/covid-19-passport-app-health-travel-covidpass-quarantine-event/ – https://www.weforum.org/videos/common-pass-travelling-the-world-in-the-covid-era – https://smarthealth.cards/en/

Privacy International: The looming disaster of immunity passports and digital identity, 21. Juli 2020 bei privacyinternational.org: https://privacyinternational.org/long-read/4074/looming-disaster-immunity-passports-and-digital-identity

epicenter.works: Orwell’s Wallet: Das elektronische Identifizierungssystem der EU führt uns direkt in den Überwachungs Kapitalismus, am 4. Februar 2022 bei epicenter.work.

Thema Gates-Stiftung, Faktenchecks, Fake News

Zu den „Geberkonferenzen“ der EU-Kommission: https://global-response.europa.eu/index_en https://twitter.com/vonderleyen/status/1257672436239282178?lang=en

Beispiel für eine selbsternannte Faktenchecker*in und Autorin zu Fake News und Verschwörungstheorien und einem unkritischen, unterkomplexen Umgang mit der Gates-Stiftung: https://twitter.com/kattascha/status/1268162154038988801

Wilhelm, Katharina: Nur ein menschenfreundlicher Milliardär?, 04. Mai 2020 bei deutschlandfunkkultur.de; https://www.deutschlandfunkkultur.de/gates-stiftung-nur-ein-menschenfreundlicher-milliardaer-100.html

Citations Needed Podcast, Episode 45 – Über die Medienmacht von Bill Gates und Gates-Stiftung: https://citationsneeded.medium.com/episode-45the-not-so-benevolent-billionaire-bill-gates-and-western-media-b1f8e0fe092f

Selbstdarstellungen von GAVI und Mastercard:

https://www.gavi.org/investing-gavi/funding/donor-profiles/mastercard https://www.mastercard.com/news/56071?culture=en

Privacy International über die Public-Private-Partnership-Überwachungsprojekte von GAVI und Mastercard, 10. Juli 2020: https://privacyinternational.org/examples/4083/public-private-partnership-launches-biometrics-identity-and-vaccination-record-system

Prominentes Beispiel für einen Aktivisten, der immer wieder die Bestrafung von Fake News fordert und sich für mehr Überwachung im Netz ausspricht: Anwalt Chan- jo Jun. https://www.junit.de/2020/2020/05/22/fight-fake-news/

Wiki-Artikel zum Propagandamodell von Herman und Chomsky: https://en.wikipedia.org/wiki/Propaganda_model (Stand Oktober 2022).

ZDF „heute live“ Interview mit Ethikratsvorsitzenden Alena Buyx am 29. Oktober 2020.

Kretschmann zur Corona-Warn-App: ‚Datenschutz ist kontraproduktiv‘, 15. November 2020 bei heise.de: https://www.heise.de/news/Kretschmannzur-Corona-Warn-App-Datenschutz-ist-kontraproduktiv-4960646.html

Podcast Logbuch Netzpolitik, Episode 374 vom 23. Dezember 2020: https://logbuch-netzpolitik.de/lnp374-ein-alter-weisser-mann-ist-passiert

Thema Proteste, Übergriffe und linke Polizeifans

Göttingen. 700 Bewohner in Massen-Quarantäne, 19.Juni 2020 bei ndr.de: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Goettingen-700-Bewohner-in-Massen-Quarantaene,corona3508.html

Ludwig, Kristiana und Verschwele, Lina: Die Vergessenen von Gütersloh, 7. Juli 2020 bei sueddeutsche.de: https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-toennies-guetersloh-arbeiter-1.4959561

Zingher, Erica: ‚Arbeitsquarantäne‘ auf Spargelhof. Wie Vieh gehalten, 7. Mai 2021 bei taz.de: https://taz.de/Arbeitsquarantaene-aufSpargelhof/!5765810/

Leitlein, Hannes u.a.: Warum diese Eskalation? Krawalle in Stuttgart, 22. Juni 2020 bei zeit.de:

https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fgesellschaft%2Fzeitgeschehen%2F2020-06%2Fkrawalle-stuttgartausschreitungen-pluenderungen-polizei-randale-innenstadt

dpa-Bericht: Randale am Gleisdreieck und im Mauerpark. Jugendliche rebellieren gegen Corona-Ausgangsbeschränkungen. So verlief die Nacht in Berlin und Hamburg, 3. April 2021 bei berliner-kurier-de: https://www.berliner-kurier.de/berlin/jugendliche-rebellieren-gegen-coronaausgangsbeschraenkungen-so-verlief-die-nacht-in-berlin-und-hamburg-li.150315

dpa-Meldung: Jugendliche in Niederlanden randalieren erneut gegen Corona-Massnahmen, 21.November 2021 bei spiegel.de: https://www.spiegel.de/ausland/niederlande-jugendliche-randalieren-erneut-gegen-corona-massnahmen-a-415be2f1-f145-432c-a6f3-be59661da478

Weil er Freunde umarmte. Polizei jagt Jugendlichen mit Streifenwagen durch Park, 26.Februar 2021 bei nordbayern.de: https://www.nordbayern.de/region/weil-er-freunde-umarmte-polizei-jagt-jugendlichen-mit-streifenwagen-durch-park-1.10875172

Mit dem Hubschrauber gegen die Menschenmassen auf dem Eis, 15. Februar2021 bei spiegel.de: https://www.spiegel.de/panorama/polizei-in-berlinhamburg-hannover-mit-hubschrauber-gegen-menschenmassen-auf-dem-eis-a-ccfc99c7-434e-42d5-8d5c-91206220f15e

Heh, Eyako und Wainwright, Joel: No privacy, no peace: Urban surveillance and the movement for Black Lives, 18. Mai 2022:

https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/26884674.2022.2061392

Beispiele für reichweitenstarke Stimmen, die sich dem linken Spektrum zuordnen und in der Pandemie nach mehr Polizeigewalt riefen:

https://twitter.com/stephanpalagan/status/1299656895318425600 https://twitter.com/DennisKBerlin/status/1381628676329078786

Kritik der Undogmatischen Radikalen Antifa Dresden an linker Polizeibegeisterung: https://www.ura-dresden.org/ruckblick-auf-die-gemeinsamezuganreise-am-01-mai-2022/

Thema Virologie-Pop, NoCovid und ZeroCovid

Scharnigg, Max und Werner, Julia: Ein Herz für Virologen, 23. März 2020 bei sueddeutsche.de: https://www.sueddeutsche.de/stil/coronavirusvirologen-mode-1.4848312

Drosten-Fansongs von Bodo Wartke und von so einer Art JuSo-Musikkapelle namens „ZSK“: https://www.youtube.com/watch?v=_ET84X6m8P0 https://www.youtube.com/watch?v=5OZdKwFSWZw

‚Ich bin es leid‘. Virologin Brinkmann mit leidenschaftlichem Appell, 04. November 2020 bei watson.de: https://www.watson.de/deutschland/coronavirus/199805626-ich-bin-es-leid-virologin-brinkmann-redet-sich-in-rage

Strategiepapier der „No Covid“-Initiative: https://nocovid-europe.eu/assets/doc/nocovid_oeffnungsstrategie.pdf

Aufruf und die Positionen zu „Volksgesundheit“ und Autoritarismus der deutschsprachigen „Zero Covid“-Initiative im Jahr 2022:

https://zero-covid.org/unterschreibe-den-aufruf/ https://twitter.com/zeroCovid_DACH/status/1494996685763792900 https://twitter.com/zeroCovid_DACH/status/1488199074834755584?cxt=HHwWgMC5qY_LkqcpAAAA

Einschätzung zu den Protesten zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Textes: Schneider, Jordan, China’s Protests. Harbinger or Passing Storm?, 28. November 2022: https://www.chinatalk.media/p/chinas-protests-harbinger-orpassing https://twitter.com/chuangcn/status/1597269906239926272

Thema Luca, digitaler Impfpass, ID2020, 2G

Ermittler griffen mehr als hundert Mal auf Kontaktdaten zu, 20. Januar 2022 bei spiegel.de: https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/luca-und-coermittler-griffen-mehr-als-100-mal-auf-daten-zur-kontaktverfolgung-zu-a-a4e4c90a-7d6a-4b0e-8003-2a5ec7bc694f

Interview von Eva Wolfangel mit Ulrich Kelber, 30. April 2021 bei zeit.de: https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2021-04/ulrich-kelber-coronawarn-app-luca-datenschutz-check-in´

IBM soll den digitalen Impfpass bauen, 09. März 2021 bei dw.com: https://www.dw.com/de/ibm-soll-den-digitalen-impfpass-bauen/a-56816301

Kruchem, Thomas: Digitale Identität. Die Blockchain weiss alles – kommt die totale Überwachung?, 17. Oktober 2020 bei srf.ch: https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/digitale-identitaet-die-blockchain-weiss-alles-kommt-die-totale-ueberwachung

Kruchem, Thomas: Digitale Identität aller Menschen – Fortschritt oder globale Überwachung?, 28. August 2022 bei swr.de: https://www.swr.de/swr2/wissen/digitale-identitaet-aller-menschen-fortschritt-oder-globale-ueberwachung-102.html

Selbstdarstellung einer „Self Sovereign Digital Identity“-Initiative vom 19. Oktober 2019: https://ssi-ambassador.medium.com/lissi-lets-initiate-selfsovereign-identity-102e4ec38fe4

EU: Nächster Schritt zum Corona-Impfpass, 28. Januar 2021 bei zdf.de: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-eu-impfpass-100.html

Fanta, Alexander: Österreich will Corona-Status von Millionen Menschen in zentraler Datenbank speichern, 07. Mai 2021 bei netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2021/greencheck-app-oesterreich-will-corona-status-von-millionen-menschen-in-zentraler-datenbank-speichern/

‚Communiqué‘ des Autonomen Zentrums KTS in Freiburg zum Ausschluss für Menschen ohne Impfzertifikat: https://www.ktsfreiburg.org/article3036/

Thema Noch mehr Überwachung im Windschatten von Corona

Reuter, Markus: Eine Nummer, sie alle zu finden, 09. Juli 2020 bei netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2020/registermodernisierung-eine-nummersie-alle-zu-finden/

Biselli, Anna: Ab Februar gilt die Meldepflicht. Eigentlich, 31. Januar 2022 bei netzpolitik.org: https://netzpolitik.org/2022/netzwerkdurchsetzungsgesetz-ab-februar-gilt-die-meldepflicht-eigentlich/

Rähm, Jan: Staatstrojaner – bald auch präventiv im Einsatz, 12. Juni 2021 bei deutschlandfunk.de: https://www.deutschlandfunk.de/datenschutzstaatstrojaner-bald-auch-praeventiv-im-einsatz-100.html

Monroy, Matthias: EU plant biometrische Superdatenbank, 13. Oktober 2022 bei golem.de: https://www.golem.de/news/treffen-in-washington-euplant-biometrische-superdatenbank-2210-168893.html

Mühlenmeier, Lennart: BMI entscheidet sich für ‚Survivor R‘ von Rheinmetall, 11. Dezember 2021 bei cilip.de: https://www.cilip.de/2021/12/11/bundesinnenministerium-kauft-polizeipanzer-survivor-r-von-rheinmetall/

Stellungnahme zum Verordnungsentwurf der EU-Kommission für den „Gesundheitsdatenraum“: https://patientenrechte-datenschutz.de/ehdsdokumentation/

Grüner, Sebastian: Bund und Bahn testen neue digitale Sicherheitskonzepte, 21. Juli 2022 bei golem.de: https://www.golem.de/news/apps-und-ledleuchten-bund-und-bahn-testen-neue-digitale-sicherheitskonzepte-2207-167060.html

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben         —        Ściborzyce Wielkie (Steuberwitz) is ein Dorf in Polen in der Wojewodschaft Opole, Powiat Ggłubczycki, Gmina Kietrz.

Quelle       :  Eigene Arbeit       /  Datum     :  März 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 3.0 Unported Lizenz.
Namensnennung: Ralf Lotys (Sicherlich)
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2.) von    Oben        —     Masken vom Maskenbrunnen (Flensburg 2014-10-28), Bild 02

Author Soenke Rahn     /      Soirce      —     Own work

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Unten      —       Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin am 29. August 2020.

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Raus aus dem Dunkeln

Erstellt von Redaktion am 24. November 2022

Gewalt gegen Frauen muss endlich ernster genommen werden.

Jakub Schikaneder - Mord im Haus.JPG

Ein Debattenbeitrag von Asha Hedayati

Im vergangenen Jahr wurden erstmals mehr Frauen als Männer in Deutschland getötet. Mit Sicherheit haben wir alle im Bekannten- und Freundeskreis sowohl Betroffene als auch Täter.

Maria lernt ihren Partner mit Mitte 20 kennen, sie ist gerade fertig mit ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin. Die Beziehung ist schön, sie fühlt sich geliebt. Er ist manchmal eifersüchtig, will viel Zeit mit ihr verbringen, sie freut sich darüber, trifft dadurch aber immer weniger ihre Freundinnen, ihr soziales Netz wird kleiner. Ihr Partner ist älter, wünscht sich Kinder, Maria wird mit Ende 20 schwanger. In der Schwangerschaft werden die Probleme größer, er beginnt, sie zu kontrollieren, sie soll nicht mehr allein aus dem Haus, alles zu gefährlich, alles gefährde die Schwangerschaft, sagt er. Nach der Entbindung bekommt sie aufgrund ihres schon vor der Elternzeit bescheidenen Einkommens wenig Elterngeld, ihr Partner hat deutlich mehr Einkommen zur Verfügung. Er bestimmt nun, wofür das Geld ausgegeben wird, gibt ihr manchmal ein „Taschengeld“. Sie darf nur noch mit seiner Erlaubnis Geld für Dinge ausgeben, die sie benötigt. Irgendwann trifft sie sich mit ihrer Schwester. Ihm erzählt sie nichts, sie hat Angst vor seiner Reaktion. Er findet es heraus, vermutet einen Liebhaber, wird wütend und schlägt sie vor dem Kind. Gewalt und Kontrolle werden zum Alltag. Je mehr sie ihre Autonomie zurückerlangen möchte, desto massiver wird die Gewalt. Sie weiß, dass eine Trennung für ihn der endgültige Kontrollverlust sein wird, weil er sie dann nicht mehr „besitzt“, keine Macht mehr ausüben kann.

Sie hat Angst. Und kein Geld für eine eigene Wohnung. Als systemrelevante Krankenpflegerin wird sie so schlecht bezahlt, dass sie es nicht schaffen wird, sich und ihr Kind allein zu ernähren. Sie weiß, dass ihr anstrengende familiengerichtliche Verfahren bevorstehen, in denen ihr Ex versuchen wird, seine verlorene Kontrolle über für sie kostenintensive, nervenaufreibende Verfahren wieder zurückzuerlangen. Sie ahnt, dass ihr von Justiz und Polizei nicht geglaubt werden wird. Sie weiß, dass ihr ein anstrengender Überlebenskampf bevorsteht. Sie kommt immer wieder zu mir in die Beratung, die Gebühren muss sie sich von ihrer Nachbarin leihen, es fällt zu sehr auf, wenn sie Geld vom Konto abhebt. Als ihr Partner sie eines Abends fast totwürgt, kann sie mit Hilfe ihrer Nach­ba­r*in­nen die endgültige Trennung vollziehen.

Es gibt wenig, das so radikal, mutig und kraftvoll ist wie eine Frau, die in einer gewaltvollen Beziehung aufsteht und geht. Gleichzeitig macht es wütend, dass Gewaltbetroffene in Deutschland diese Kraft für die Trennung aufwenden müssen.

Die Vereinten Nationen bezeichneten vor zwei Jahren die deutliche Zunahme von häuslicher Gewalt als Schattenpandemie, die Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen – und die Dunkelziffer hoch. Nur ein Bruchteil erstattet Anzeige und landet damit in den Statistiken. Während der Pandemie bekam das Thema endlich etwas mehr Öffentlichkeit, verschwand danach jedoch wieder. Im besten Fall wird es einmal im Jahr zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen thematisiert.

Im Verborgenen ausgeübt, drängen die Taten nur an die Öffentlichkeit, wenn sie besonders brutal sind, tödlich enden oder von BPoC und Menschen ohne deutschen Pass begangen werden. Die Skandallust und Rassismus befriedigende Aufmerksamkeit, die diese Einzelfälle erfahren, verdecken, dass die viel größere Gefahr für Frauen und Kinder statistisch gesehen von Personen des sozialen Nahbereichs – Partnern, Vätern und Brüdern – ausgeht. Die Betroffenen stammen aus allen sozialen Schichten und Milieus, besonders gefährdet sind aber jene, die noch schlechteren Zugang zu Gewaltschutz haben: Frauen ohne sicheren Aufenthalt, rassifizierte, behinderte und trans Frauen. Ratgeber erklären Frauen, wie sie sich vor Übergriffen schützen können, aber dass nicht der Heimweg im Dunkeln die statistisch größte Gefahr für Frauen darstellt, sondern der Moment, in dem sie die Tür zu ihrem eigenen Zuhause öffnen, wird ignoriert.

Immer noch gilt Partnerschaftsgewalt als Tabuthema. Als ginge es uns nichts an, wenn jede dritte Frau mindestens einmal im Leben von sexualisierter und/oder körperlicher Gewalt betroffen ist und wir mit Sicherheit alle im Bekannten- und Freundeskreis sowohl Betroffene als auch Täter haben.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —   Mord im Haus, 1890, von Jakub Schikaneder. Schikaneder malte diese Geschichte eines Frauenmordes in den unteren Gesellschaftsschichten auf eine mehr als zwei Meter hohe und drei Meter breite Leinwand. Damit stellte er das Bild und sein Motiv von der Wichtigkeit her mit Historienbildern gleich. Diese Werke werden allgemein aufgrund ihrer unterstellten Bedeutung für die Gesellschaft großformatig ausgeführt.[2]

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Unten      —     Demonstration am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November 2019 in Mexiko-Stadt vor dem Anti-Monumento (Gegen-Denkmal) „Ni Una Más“, das zum Internationalen Frauentag am 8. März 2019 vor dem Palacio de Bellas Artes errichtet wurde[79]

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Werte Einzelner im Staat

Erstellt von Redaktion am 23. November 2022

„Sie wollen wissen, wie viel wir wert sind“

Datei:Lea Pfau, Ulrich Kelber, Ingo Dachwitz, Konferenz "Das ist Netzpolitik!" 2019.jpg

Quelle    :      Netzpolitik.org

Von        :         

Cookie-Banner hier, Datenschutzeinwilligung dort. Das Internet von früher gibt es nicht mehr. Resigniert klicken die meisten auf „Akzeptieren und weiter“ und zahlen mit ihren Daten für die digitale Teilhabe. Ingo Dachwitz, Redakteur bei netzpolitik.org, will nicht, dass wir in diese neue Realität einwilligen. Er kämpft sich durch Gesetze, Urteile und die AGB dieser Welt. Und er empört sich.

Das Erste, was du siehst, wenn du heute ins Internet gehst und eine Website besuchst, ist eine Lüge: „Ihre Privatsphäre ist uns wichtig“. Von wegen. Wichtiger ist das Datensammeln. Deshalb werden zum Beispiel Cookie-Banner so gebaut, dass sie es uns so schwer wie möglich machen, Tracking abzulehnen. Wohin die Daten fließen, wenn wir einwilligen? Das wissen die Anbieter oft selbst nicht. Besonders ärgert mich das bei Medien, die bei dieser Datenausbeutung leider auch mitmachen. Gerade wenn man sich informiert, sollte man sich keine Gedanken darüber machen müssen, wer noch mitliest.

Pokémon run!

Ich schreibe bei netzpolitik.org seit mehr als sechs Jahren darüber, wie Konzerne sich unsere Daten aneignen und diese gegen uns verwenden. Als ich hier anfing, war das Thema der kommerziellen Überwachung bei netzpolitik.org kein Schwerpunkt – der Fokus lag in den ersten Jahren eher auf Urheberrecht und staatlicher Überwachung, was bis heute wichtig ist. Ich weiß aber noch, dass ich zu Beginn einen Artikel über Datenschutzprobleme bei Pokémon Go geschrieben habe und Kolleg:innen skeptisch waren: Warum schreiben wir denn jetzt über Pokémon Go? Warum ist das wichtig? Und wen interessiert das?

Ähnlich war das bei Texten über WhatsApp oder Facebook. Aber für viele Menschen sind diese Dienste das Internet. Messenger, Social Media, Suchmaschinen und Nachrichtenseiten sind die wichtigen Infrastrukturen der digitalen Öffentlichkeit.

Die meisten von ihnen betreiben das Geschäft des Überwachungskapitalismus: Alles, was wir machen, zeichnen sie auf. Die Daten werden ausgewertet und vermarktet – und können im Zweifel auch gegen uns verwendet werden. Die Konzerne führen Informationen über uns in Profilen zusammen, die uns buchstäblich berechenbar machen sollen. Es geht darum, unser Verhalten vorhersagen zu können. Damit sie uns die passende Werbung einblenden können. Damit sie wissen, wie viel wir wert sind. Damit Sie entscheiden können, ob wir für sie ein Risiko oder eine Chance sind. Damit sie uns Produkte oder politische Botschaften andrehen können. Dass sich über diesen Datenschatz auch die Geheimdienste freuen, wissen wir spätestens seit Edward Snowden.

Friss oder stirb!

Das Krasse ist, dass wir deshalb täglich, in jeder Sekunde, in der wir online sind, mit massiven Rechtsbrüchen konfrontiert sind. Das ist auch das, was mich an irreführenden Cookie-Bannern so fuchst: Alle wissen, warum uns der „Alles akzeptieren“-Button bunt anspringt, während die Ablehnen-Option versteckt oder kompliziert gestaltet ist. Wir sind ja nicht dumm. Wir alle wissen, dass die Einwilligung heute meist weder informiert noch freiwillig erfolgt. Dass für einen Großteil der kommerziellen Überwachung eine Rechtsgrundlage fehlt. Trotzdem ist das an der Tagesordnung.

Die Datenindustrie ist ein sehr undurchschaubares Netz von enorm vielen Unternehmen, die die meisten Leute gar nicht kennen und die auch den Webseitenbetreiber:innen selbst oft nicht bekannt sind. Es wird immer von Datensouveränität und digitaler Souveränität gesprochen. Aber es gibt diese Souveränität nicht. Und die Datenindustrie arbeitet aktiv daran, dass das so bleibt. Ein wichtiges Thema meiner Arbeit ist deshalb auch die Durchsetzung der Datenschutzregeln: durch Aufsichtsbehörden, NGOs und Gerichte.

Dafür, dass sie am laufenden Band gegen die Datenschutzgrundverordnung verstoßen, kassieren die Konzerne zwar immer wieder Strafen. Aber das nehmen sie oft mit einem Achselzucken hin. Sie haben ja große Rechtsabteilungen, die sich darum kümmern. Und sie preisen es von vorneherein ein, wenn sie zu hohen Geldstrafen verdonnert werden. Hier gibt es ein Ungleichgewicht. Unabhängige Medien, Blogger:innen oder Vereine müssen sich auch an die DSGVO halten, haben aber viel weniger Mittel und fühlen sich bis heute oft überfordert.

Dass die DSGVO immer noch nicht viel gegen den Überwachungskapitalismus ausrichten konnte – gegen staatliche Überwachung leider auch nicht –, ist echt ein Problem. Wir alle wissen, dass wir überwacht werden und viele gewöhnen sich daran. Es hat sich längst eine Ermüdung breitgemacht. Bei vielen kommerziellen Diensten hat man nur die Wahl: Friss Cookies oder stirb. Klar, man kann sich etwa dafür entscheiden, bestimmte soziale Medien nicht zu nutzen. Dann aber verliert man auch Teilhabe am digitalen sozialen Leben. Will ich aber daran teilhaben, bedeutet das zugleich, dass ich mit meinen Daten zahle. Auch weil Alternativen nicht genug gefördert werden.

Wir müssen auch selbst die Veränderung sein, die wir uns wünschen

Wir sind alle zurecht genervt davon, fortwährend Einwilligungsbanner wegklicken und blind AGBs bestätigen zu müssen. Ehrlich gesagt bin auch ich genervt davon, immer noch darüber schreiben zu müssen. Aber das Thema ist zu wichtig. Manipulative Cookie-Banner sind ja nur ein Symptom eines kaputten Systems, die für alle sichtbare Spitze des Dateneisbergs. Es ist deshalb auch ein symbolischer Kampf, in dem es darum geht, dass wir uns alle frei entfalten können – ohne dass wir uns dabei immer wieder Gedanken machen müssen, ob wir beobachtet werden und welche Konsequenzen das für uns haben könnte.

Ich finde es auch eine Frage des Respekts, dass man etwa die eigenen Leser:innen ernst nimmt. Dazu gehört beispielsweise, auf der ersten Seite des Cookie-Dialogs den sichtbaren Button einzublenden, mit dem man alle Cookies ablehnen kann. Diesen Button gibt es aber häufig nicht. Wir haben kürzlich zu diesem Thema recherchiert – und was verändert: Im Zuge unserer Recherche haben wir mehrere Medien um Statements gebeten, die kurz darauf dann tatsächlich ihre Cookie-Banner nutzer:innenfreundlicher gestaltet haben.

Am besten wäre es natürlich, wenn es diese Banner erst gar nicht gäbe. Bei netzpolitik.org müssen sich die Leser:innen keine Gedanken darüber machen. Einfach schon deshalb, weil wir unsere Leser:innen nicht ausspähen müssen und wollen. Wir schieben ihnen keine Tracking-Cookies unter. Und bei uns gibt es auch keine nervige Werbung und auch keinerlei Abo-Modelle. Wir wollen, dass alle und jede:r unsere Texte auf netzpolitik.org lesen können, unabhängig von Geldbeutel und Datenschutzeinstellungen – und ohne jedwede Überwachung.

Rote Linien statt Pseudo-Einwilligungen

Ich wünsche mir, dass Datenschutzbehörden und Gerichte über ausreichend Ressourcen und Kompetenzen verfügen, die Datenschutzgrundverordnung und andere Datenschutzgesetze konsequent durchzusetzen – notfalls mit saftigen Sanktionen. Zugleich müssen wir schauen, wie wir den bestehenden Datenschutzrahmen weiterentwickeln.

Denn die Datenschutzgrundverordnung ist auch Teil des Problems. Sie setzt zu sehr auf das Instrument der Einwilligung der Einzelnen, auf die vermeintliche Datensouveränität. Leider ist es, das zeigen viele unserer Recherchen, eine Illusion, dass Menschen in die Lage versetzt werden können, in allen Kontexten ausreichend informiert zu sein und damit freiwillig entscheiden zu können, welche Daten sie preisgeben wollen und welche nicht.

Wir brauchen eine umfassende Reform des Datenschutzrechts, die den Pseudo-Einwilligungen und der vermeintlichen Freiwilligkeit ein Ende bereitet. Vielmehr müssen wir als Gesellschaft definieren, welche Datennutzung wir wollen und welche nicht. Welche Risiken sind wir bereit einzugehen – zum Beispiel bei der Datennutzung für die Gesundheitsforschung? Und wo ziehen wir rote Linien – etwa bei der Bildung umfassender Nutzer:innenprofile, bei der Überwachung der privaten Kommunikation oder beim Scoring mit Datenprofilen? All diese Fragen lassen sich nicht einfach per Mausklick beantworten. Stattdessen sollte diese Form der schnellen Einwilligung nur eines sein: verboten.

Der Text basiert auf einem Gespräch, das Stefanie Talaska geführt und aufbereitet hat.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen         :

Oben     —      Lea Pfau, Ulrich Kelber, Ingo Dachwitz, Konferenz „Das ist Netzpolitik!“ 2019

Verfasser Jason Krüger / Quelle     :  Das ist Netzpolitik! – Konferenz von netzpolitik.org  /  Datum  :   13.o0.2019

Diese Datei ist lizenziert unter derCreative CommonsAttribution-Share Alike 4.0 International Lizenz.

 

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Balla, Balla um die FIFA

Erstellt von Redaktion am 22. November 2022

Die Grenzen der Vielfalt

Niemand von der FIFA wollte doch den Scheichs das Fliegen unter ihren Talaren beibringen und das Fußball spielen erst recht nicht !

Ein Debattenbeitrag von Daniel Bax

„Diversität“ ist das Schlagwort der Stunde, und alle setzen heute auf Vielfalt. Das gängige Verständnis von Diversität greift dabei aber oft viel zu kurz. Auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch, sexistisch, nur auf ihren Vorteil bedacht sein.

Die neue britische Regierung ist so vielfältig wie keine vor ihr. Vier Mi­nis­te­r*in­nen im Kabinett von Rishi Sunak, darunter zwei Frauen, sind „People of Color“ – also Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft gemeinhin nicht als „Weiße“ wahrgenommen werden: Innenministerin Suella Braverman und Handelsministerin Kemi Badenoch. Premier Rishi Sunak selbst bezeichnet sich als „stolzen „Hindu“ und zelebriert seinen Glauben öffentlich, indem er Hindu-Tempel besucht oder zum Lichterfest Diwali vor der Tür von Downing Street 10 demonstrativ die obligatorischen Öllampen und Kerzen anzündet.

Minderheiten sind in seinem Kabinett sichtbar repräsentiert. Ihre Interessen vertritt seine Regierung deswegen aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Die beiden „Women of Color“ in seinem Kabinett zählen zum rechten Rand der Partei und sind als Scharfmacherinnen bekannt. Die indisch-tamilischstämmige Braverman und die in Nigeria geborene Badenoch sind beide Brexit-Hardliner*innen, ihre liebsten Feindbilder lauten „Wokeness“ und „Migration“. Badenoch wurde durch ihren Kampf gegen Gender-Toiletten bekannt, Braverman durch Tiraden gegen Diversity-Trainings und Geflüchtete. Im Parlament wettert sie gegen „Guardian-lesende, Tofu-essende Woketari“. Ihr größter „Traum“, bekannte Braverman jüngst, sei die Schlagzeile, dass Asylsuchende aus Großbritannien per Flugzeug nach Ruanda abgeschoben würden. Sie unterstrich ihre Aussage mit einer Handbewegung, die ein abhebendes Flugzeug nachahmte, und einem seligen Lächeln.

Die britische Regierung für ihre Diversität zu feiern wäre deshalb voreilig. Politisch hält sich diese Vielfalt in Grenzen, die nach rechts offen sind. Ökonomisch vertritt Premier Sunak die Interessen der oberen Zehntausend, denen er als Multimillionär selbst angehört. Und kulturell teilt er den Habitus vieler britischer Tories. Sunak ist zudem der reichste Politiker, der je das Amt eines britischen Premiers bekleidet hat: ein Aspekt, der viel mehr Beachtung verdient hätte. Seine Selbstinszenierung als Hindu soll davon ablenken und Bodenständigkeit vermitteln. Damit hat er Erfolg. Denn ein oberflächliches Verständnis von „Vielfalt“, das politische, ökonomische und kulturelle Aspekte ausblendet und sich an Äußerlichkeiten festmacht, ist weit verbreitet.

Po­li­ti­ke­r*in­nen wie Braverman, Badenoch und Sunak werden von rassismuskritischen Linken gerne als „Token“ bezeichnet – als Feigenblätter für eine Politik, die ansonsten auf Ausgrenzung setzt. Aber auch das greift zu kurz. Denn auch Angehörige von Minderheiten können rassistisch, sexistisch und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein. In Braverman, Badenoch und Sunak haben sie ihre idealen Re­prä­sen­tan­t*in­nen gefunden.

Die Sklavenarbeiter der FIFA weisen auf die demokratischen Niedriglöhne der Politiker hin !

Unsere Gesellschaften werden vielfältiger, und das spiegelt sich zwangsläufig auch in vielen Institutionen wider. Um neue Zielgruppen zu erreichen, werben Unternehmen mit „diversen“ Models für sich – wobei das meist heißt, dass diese sich aufgrund ihrer Hautfarben und anderer körperlicher Merkmale unterscheiden. Medien rücken „diverse“ Mo­de­ra­to­r*in­nen und Jour­na­lis­t*in­nen in den Vordergrund oder vor die Kamera, um sich ein modernes Antlitz zu geben, und Parteien besetzen ihre Gremien entsprechend strategisch um. An den gesellschaftlichen Strukturen, die bestimmte Gruppen ausschließen, ändert sich dadurch noch nichts. „Diversität“ wird heute auch viel zu häufig auf Geschlecht und ethnische Herkunft, Religion und sexuelle Orientierung reduziert. Klassische Kategorien wie soziale Herkunft, Bildung und Einkommen geraten so aus dem Blick.

Gerade Konservative waren auf dem Gebiet symbolischer Gesten oft Vorreiter und ihrer Konkurrenz damit häufig einen Schritt voraus. Es waren die britischen Tories, die mit Margaret Thatcher erstmals eine Frau an die Spitze des Staates brachten, und die Unionsparteien stellten in Deutschland die erste Kanzlerin. Es war der Republikaner George W. Bush, der die ersten beiden schwarzen Au­ßen­mi­nis­te­r*in­nen in der Geschichte der USA nominierte. Und es war der rechte Populist Boris Johnson, dessen Kabinette so divers waren wie keine vor ihm und der damit die Karrieren seiner Nach­fol­ge­r*in­nen beförderte. Wenn linke Politiker ihre Kabinette so strategisch besetzen, müssen sie sich oft vorwerfen lassen, sie würden „Identitätspolitik“ betreiben und Gruppeninteressen berücksichtigen. Als Kanadas Premier Justin Trudeau gefragt wurde, warum sein Kabinett zur Hälfte aus Frauen bestand, sagte er: „Weil es 2015 ist.“ Das war kein Statement, sondern bloß eine Feststellung.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Das Elend unserer Flüsse

Erstellt von Redaktion am 16. November 2022

Vertieft, vertrocknet, vergiftet

Von Nick Reimer

Wer derzeit in Frankfurt an der Oder über die Promenade schlendert, sieht Bagger auf der polnischen Seite arbeiten. Sie bauen Steinwälle, sogenannte Buhnen, die in den Fluss ragen. Mit den Bauwerken sollen die Wassermassen in die Flussmitte umgeleitet werden, damit sich dort die Fließgeschwindigkeit erhöht und sich die Oder tiefer in ihr Bett eingräbt. Ziel ist eine Wassertiefe von 1,80 Meter, die die Flussschifffahrt praktisch im ganzen Jahr ermöglichen soll. Denn Polen hat Großes vor mit dem Grenzfluss, und dafür muss die Fahrrinne der Oder für Binnenschiffe vertieft werden.

Das Nachbarland plant in Świnoujście (Swinemünde) an der Ostsee einen riesigen neuen Containerhafen, der wenige Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze jährlich zwei Mio. Standardcontainer umschlagen soll. Die Stadt Świnoujście liegt auf der Insel Usedom, das Container-Terminal soll auf der gegenüberliegenden Swina-Seite gebaut werden, dort, wo es bereits eine Hafenanlage für Flüssigerdgas gibt, ein sogenanntes LNG-Terminal. Und weil die zwei Mio. Container irgendwie ins Landesinnere geschafft werden müssen, funktioniert der Plan nur, wenn die Ware auch über die Oder verschifft werden kann.

Aber das ist nur der kleine Teil des Plans für die Oder. Der größere ist die „Oder-Elbe-Donau-Wasserstraße“, die einen Weg von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer eröffnen soll. Grundlage ist ein Staatsvertrag zwischen Tschechien und Polen, auch Ungarn ist mit an Bord. Das tschechische Verkehrsministerium legte Ende 2018 eine Machbarkeitsstudie vor, nach der das Gesamtprojekt fast 600 Mrd. Kronen (22 Mrd. Euro) kostet. Ende 2020 stellte die Regierung des damaligen Premierministers Andrej Babiš die ersten 15 Mrd. Kronen (550 Mio. Euro) zur Verfügung, mit denen der tschechische Teil der Oder von Ostrava bis zur polnischen Grenze hin schiffbar gemacht werden soll.

Die Elbe ist in Tschechien bereits bis Ústí nad Labem mit Staustufen kanalisiert, riesige Doppelschleusen garantieren, dass vier Schubverbände gleichzeitig angehoben oder abgesenkt werden können. Bei Děčín soll nun eine neue Schleuse gebaut werden, die Umweltverträglichkeitsprüfung ist bereits abgeschlossen. Aber dahinter ist Schluss, auf deutscher Seite ist die Elbe noch nicht so stark zum Kanal reguliert. Im Gegenteil: In Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind die Elbauen ein solch einzigartiges Landschaftsbiotop, dass sie als Biosphärenreservat unter Schutz gestellt wurden. Die tschechische Flussschifffahrt kommt allerdings immer häufiger zum Erliegen, denn die Elbe hatte auch in diesem Sommer wieder so wenig Wasser, dass im Unterlauf sogar die Autofähren eingestellt werden mussten.

In ihrem aktuellen Zustand ist auf der Elbe Schifffahrt selten länger als sechs Monate möglich. Deshalb verhandelt Tschechien mit Deutschland über ein neues Abkommen, um die Schiffbarkeit der Elbe zu verbessern. Zwar stimmt es, dass eine auf dem Fluss transportierte Tonne Fracht weniger Kohlendioxid verursacht, als wenn diese auf der Straße transportiert würde. „In der Gesamtbetrachtung schneidet die Wasserstraße aber schlechter ab, wenn sie dafür ausgebaut werden muss“, sagte Steffi Lemke, als sie noch nicht Bundesumweltministerin war, sondern grüne Bundestagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt und Mitglied der Parlamentariergruppe „frei fließende Flüsse“. In dieser haben sich Abgeordnete von Union, SPD, Linkspartei, FDP und Grünen zusammengeschlossen, um parteiübergreifend gegen den Flussausbau zu agieren. Denn auch Deutschland investiert etwa in den Donau-Ausbau, insgesamt mehr als eine Mrd. Euro. Noch ist die Donau hinter Straubing auf etwa 70 Kilometern nicht in ein genormtes Korsett gezwängt, es gibt Überschwemmungsflächen, Altarme und fast natürliche Ufer. Doch um die Schifffahrtsverhältnisse zu verbessern, werden seit 2020 zwischen Straubing und Vilshofen Buhnen in den Fluss gebaut, Ufer befestigt, die Sohle ausgebaggert.

Auch die Elbe darf nicht bleiben, wie sie ist, zumindest nicht dort, wo die Deutschen einen ökonomischen Nutzen aus ihr ziehen. Rund um Hamburg wird die Elbe regelmäßig ausgebaggert. Damit die immer größeren Containerschiffe den Hamburger Hafen erreichen können, wird der Fluss eben angepasst. Die jüngste – mittlerweile neunte – Vertiefung wurde Anfang 2022 beendet, Kostenpunkt: rund 800 Mio. Euro. Seit Januar sollen nun Schiffe mit 13,50 Meter Tiefgang auf dem 130 Kilometer langen Elbabschnitt fahren können.

Umweltpolitiker wie der niedersächsische Grüne Stefan Wenzel hatten vor der letzten Elbvertiefung gewarnt, der Mündungstrichter werde verschlicken. Viele Elbfischer hätten wichtige Fanggründe verloren, der Stint, einst wichtigster Fisch, sei im Naturschutzgebiet Elbe und den Inseln nahezu verschwunden. „Die gesamte Be- und Entwässerung des Marschlandes, insbesondere des Obstanbaugebietes ‚Altes Land‘ ist in Gefahr“, so Wenzel. Tatsächlich verschlickt jetzt sogar die Fahrrinne, Baggerschiffe, die dafür sorgen sollen, dass sie mindestens 13,50 Meter tief ist, kommen kaum noch hinterher.

Die Grenze des Machbaren ist überschritten

Baggern, Normen, Stauen – seit jeher hat sich der Mensch die Flüsse zunutze gemacht. Doch jetzt müssen wir erkennen: Die Grenze des Machbaren ist überschritten. Biotope versagen ihren Dienst als Wasserspeicher, Grundwasserleiter trocknen aus, Trinkwasser wird knapp, Lieferketten unterbrechen, weil die Flüsse nicht mehr schiffbar sind. Im Juli 2019 betrug der Elbpegel in Magdeburg nur noch 45 Zentimeter. Am 18. August dieses Jahres fiel der Pegel des Rheins in Emmerich gar auf minus drei Zentimeter, ein neuer Negativrekord. Dass hier auf dem Niederrhein überhaupt noch Schiffe fahren konnten, lag lediglich daran, dass die Fahrrinne immer weiter ausgebaggert worden war.

Die Erderhitzung hat unser gemäßigtes Klima bereits so stark verändert, dass Extremwetter immer häufiger werden und ganze Täler unbewohnbar machen: Simbach am Inn in Niederbayern wurde im Sommer 2016 von einem sogenannten tausendjährigen Hochwasser plattgewalzt, 2017 traf es Goslar im Harz, 2018 erwischte es zuerst das Vogtland, dann Orte in der Eifel. 2019 waren Kaufungen nahe Kassel an der Reihe oder Leißling nördlich von Naumburg an der Saale, 2020 dann das fränkische Herzogenaurach oder Mühlhausen in Thüringen. 2021 folgte das Ahrtal, die Orte an der Erft, an Rur und Ruhr.

Auf der anderen Seite führt zu wenig Wasser zu existenziellen Problemen: Zwei Drittel des Berliner Trinkwassers werden aus Uferfiltrat der Spree gewonnen. Deshalb – so ein Vertrag zwischen Berlin und Brandenburg – sollen mindestens acht Kubikmeter Wasser je Sekunde über die Landesgrenze fließen. Wie aber kann das gelingen, wenn am Pegel Leibsch im Unterspreewald nicht einmal mehr ein halber Kubikmeter Wasser fließt – wie in den Trockenjahren 2018, 2019 oder 2022? Mittlerweile gibt es Pläne, eine Rohrleitung an die Ostsee zu verlegen und das schnell wachsende Berlin mit einer Meerwasser-Entsalzungsanlage zu versorgen.

Gold Alge, Quecksilber, Chemikalien: Das Fischsterben in der Oder

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Oben      —     Sandstrand am Rheinufer in Köln während der Trockenheit im August 2018

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Rechte Anschläge in Berlin:

Erstellt von Redaktion am 12. November 2022

Untersuchungsausschuss kritisiert mauernde Behörden

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

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Seit mehreren Monaten warten parlamentarische Aufklärer:innen in Berlin auf Akten von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und Verwaltung. Jetzt warnen sie: Wenn die Behörden weiter mauern, kann der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex seine Arbeit nicht mehr verrichten.

Deutliche Kritik an Justiz, Sicherheitsbehörden und Verwaltung übten am gestrigen Freitag die Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung einer rechtsextremen Anschlagserie in Berlin-Neukölln. Bei einer Pressekonferenz im Abgeordnetenhaus zeigten sich die Parlamentarier fraktionsübergreifend verärgert und irritiert, dass sie fast ein halbes Jahr nach Einsetzung des Ausschusses kaum Akten zur Verfügung gestellt bekommen, die sie für ihre Arbeit benötigen.

„Die Weiterarbeit wird nicht möglich sein, wenn wir die Akten nicht erhalten“, teilte der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses mit, Grünen-Politiker Vasili Franco. Er vertrat bei der Pressekonferenz den terminlich verhinderten Vorsitzenden, Florian Dörstelmann von der SPD. Bisher hätten die Aufklärer:innen nur einen Bruchteil der angefragten Beweismittel erhalten, so Franco.

Besonders irritiert zeigte sich der Abgeordnete über ein Schreiben der Innenverwaltung, das den Ausschuss in dieser Woche erreichte. Das Haus von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) habe sich mehr als vier Monate Zeit gelassen, um Rückfragen zu einem Beweisantrag vom 1. Juli 2022 zu stellen. Auch die Justizverwaltung von Senatorin Lena Kreck (Linkspartei) steht Franco zufolge auf der Bremse. Sein Ausschusskollege Niklas Schrader von der Linkspartei konstatierte: „Insgesamt gibt es bei den Behörden offenbar keine große Bereitschaft, uns zuzuarbeiten.“

“Ärgerlich und hinderlich“

Der Untersuchungsausschuss soll aufklären, wie Rechtsextreme im südlichen Neukölln über viele Jahre ungehindert Anschläge begehen, Nazi-Propaganda verbreiten und politische Gegner:innen bedrohen konnten. Mindestens 73 Straftaten werden zu der Terrorserie – dem sogenannten Neukölln-Komplex – gezählt, darunter lebensgefährliche Brandanschläge und möglicherweise auch zwei Morde. Es gibt starke Indizien dafür, dass die Täter nicht nur wegen stümperhafter Polizeiarbeit so lange agitieren konnten, sondern auch, weil sie aktive Sympathisant:innen in Justiz und Sicherheitsbehörden hatten.

Der Ausschuss soll Licht ins Dunkel bringen. Doch die Aufklärer sind unzufrieden. Die Blockade der Behörden weckt Erinnerungen an deren strategische Intransparenz gegenüber dem Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz.

Nachdem in den ersten Sitzungen seit dem Sommer Opfer des rechten Terrors in Neukölln als Zeug:innen angehört wurden, wollte der Ausschuss demnächst Zeug:innen aus den Behörden vernehmen, um mögliches Fehlverhalten aufzudecken. Das Fundament solcher Aufklärungsarbeit sind für jeden Untersuchungsausschuss Dokumente und Akten von handelnden Behörden.

Dass diese immer noch nicht vorliegen, sei „sehr ärgerlich und hinderlich“, kritisiert Stephan Standfuß von der CDU. Auch sein Oppositionskollege Stefan Förster von der FDP macht deutlich: „Wir brauchen die Akten.“ Nur dann könne verhindert werden, dass unliebsame Dinge unter den Tisch gekehrt würden. Aus den Schilderungen der Zeug:innen hätten sich viele Fragen zum Handeln einiger Personen aus den Sicherheitsbehörden ergeben, mit denen man diese konfrontieren müsse.

Widersprüche aufdecken

Ein Beispiel für derartige Widersprüche lieferte die gestrige Befragung der Zeugin Christiane Schott. Schott ist mehrfach zur Zielscheibe der Rechtsextremen in Neukölln geworden und berichtete dem Ausschuss von Unstimmigkeiten mit einer Videokamera, die die Polizei angeblich gegenüber ihres Wohnhauses installiert habe. Zur Aufklärung der Anschläge trug diese Maßnahme aber nicht bei, weil die Kamera in entscheidenden Momenten ausgefallen sein soll.

Damit solche Unstimmigkeiten aufgeklärt werden können und es keine Situation „Aussage gegen Aussage“ gebe, brauche der Ausschuss Akteneinsicht, sagte Niklas Schrader. Doch weder Polizei oder Staatsanwaltschaft noch Verfassungsschutz oder Senatsverwaltungen hätten bislang ausreichend geliefert, so die einhellige Meinung der Parlamentarier:innen. Vom Bundesamt für Verfassungsschutz habe es bisher nicht einmal eine Reaktion auf die Beweisanträge des Untersuchungsausschusses gegeben, so Schrader.

Das sei auch deshalb misslich, weil der Ausschuss Zeit benötige, um Akten nach ihrer Lieferung zu sichten und zu analysieren, ergänzte SPD-Politiker Orkan Özdemir. Er zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass entsprechende Gespräche mit den zuständigen Hauptverwaltungen bald zu einer Besserung der Lage führen werden.

Keine Ausreden

Etwaige Gegenargumente oder Erklärungen für die zögerliche Informationspolitik wollen die Abgeordneten dabei nicht gelten lassen. So zog etwa Stefan Förster von der FDP einen Vergleich mit dem Untersuchungsausschuss zum Attentat am Breitscheidplatz, als er und andere Abgeordnete teilweise vor Gericht ziehen mussten, um Akteneinsicht vom Bundesinnenministerium zu erhalten. Anders als damals könne heute aber niemand Zuständigkeitsfragen im föderalen System geltend machen, so Förster. Der Großteil der angefragten Beweismittel liege schließlich im Zuständigkeitsbereich des Landes Berlin.

Ein anderes Argument entkräftete Linken-Politiker Schrader: Zwar würden parallel zur Arbeit des Untersuchungsausschusses Gerichtsverfahren zu Straftaten von Verdächtigen der Anschlagserie geführt. Ein großer Teil der angefragten Beweismittel habe zu diesen Verfahren jedoch keinen unmittelbaren Bezug. Der Ausschuss habe zudem nicht einmal Akten aus abgeschlossenen Verfahren erhalten. Auch die beantragten Unterlagen des Verfassungsschutzes seien nicht von den Gerichtsverfahren betroffen.

Vasili Franco macht zudem deutlich, dass auch die Gerichtsverfahren keinen ausreichenden Verweigerungsgrund darstellen würden. Rechtlich sei das Informationsinteresse des Untersuchungsausschusses gleichrangig mit dem des Gerichts, nur laufende Ermittlungen dürften nicht gefährdet werden. Er verwies zudem auf den Abschlussbericht der Sonderermittler:innen, die den Neukölln-Komplex für die vorige Regierung untersucht haben. Die hierfür gesichteten Akten könnten dem Ausschuss problemlos zur Verfügung gestellt werden.

Giffey hatte Aufklärung versprochen

Alles in allem habe der Berliner Senat sein Versprechen einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Ausschuss bisher nicht eingehalten, resümierte Linken-Politiker Schrader. Dabei gebe es nicht nur ein Versprechen, sondern auch eine gesetzliche Verpflichtung zur Kooperation, ergänzte der stellvertretende Vorsitzende Franco.

Wenn die rot-grün-rote Regierung in Berlin sich nicht den Vorwurf einer aktiven Behinderung der Aufklärungsarbeit einfangen will, müssen die Behörden bald Akten liefern. Daran muss der Untersuchungsausschuss wohl auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey erinnern. Die SPD-Politikerin hatte im vergangenen Jahr im Abgeordnetenhaus-Wahlkampf nicht nur das Anliegen eines Untersuchungsausschusses unterstützt, sondern auch „Disziplinarverfahren gegen die, die der Aufklärung im Wege stehen“ versprochen.

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Jenseits des Preisdeckels

Erstellt von Redaktion am 8. November 2022

Kampf gegen hohe Energiekosten

Wirtschaftlich Denken suchten nicht die politische Bühne – dafür sind sie nicht geschaffen.

Ein Debattenbeitrag von Gerhard Hübener

Was tun gegen die hohen Strom- und Gaspreise? Ein Energiegeld pro Kopf wäre eine Möglichkeit – eine mit mehreren Vorteilen.

Die zwischen Bund und Ländern erzielte Einigung zur Gas- und Strompreisbremse geht in die falsche Richtung. Die Mehrkosten treffen Geringverdiener weitaus stärker als Besserverdienende, die Lenkungswirkung hoher Energiepreise wird deutlich geschwächt. Das makroökonomische Institut IMK der Böckler-Stiftung hatte für den Gaspreis ein Alternativmodell durchgerechnet, bei dem das Kontingent in Abhängigkeit von der Anzahl der Personen pro Haushalt festgelegt werden sollte. Die Kosten dafür wären nur halb so hoch wie bei dem von der Gaspreiskommission empfohlenen Modell, dem sich nun Bund und Länder angeschlossen haben.

Allerdings fehlten für das Modell des IMK die Daten darüber, wie viele Personen in einem Haushalt mit Gasversorgung leben. Und natürlich gibt es auch Geringverdiener mit wenig Personen je Haushalt in schlecht gedämmten Wohnungen, die beim Pro-Kopf-Kontingent schlechter abschneiden könnten.

Nur bei den reichsten 10 Prozent schießt die Kurve für den Energieverbrauch steil nach oben

Was für den Gaspreis allein schwierig erscheint, wird einfacher, wenn alle Energiearten betroffen sind. Die Bund-Länder-Einigung geht ja auch weit über den Gaspreis hinaus. Preise für Fernwärme sollen ebenso gedeckelt werden wie die Strompreise, Finanzhilfen für Öl und Holzpellets wurden zumindest angedeutet.

Anstelle eines Preisdeckels wäre eine Reduzierung der durchschnittlichen Nettokosten weitaus zielführender. In der Schweiz wird seit 2008 eine CO2-Abgabe auf alle fossilen Brennstoffe erhoben. Zwei Drittel der Einnahmen werden je Kopf der Bevölkerung zurückgezahlt, pro Monat über die gesetzliche Krankenkasse. Das Modell hat es ermöglicht, dass die Schweizer inzwischen bei einer Abgabenhöhe von 120 Euro je Tonne CO2 angekommen sind.

In Abwandlung des Schweizer Modells könnten die für Haushalte geplanten Subventionen zu 100 Prozent als Energiegeld je Kopf der Bevölkerung gezahlt werden. Anders als beim Pro-Kopf-Kontingent des IMK müssten keine zusätzlichen Daten erfasst werden. Der jeweilige Preis würde bestehen bleiben und damit die volle Lenkungswirkung.

Energieverbrauch korreliert mit steigendem Wohlstand

Die Vorteile wären ähnlich wie beim Alternativmodell des IMK: sozial gerechter, stärkere Lenkungswirkung, kostengünstiger. Das Energiegeld, als Ausgleich zu den gestiegenen Heizungskosten würde als monatlicher Betrag gezahlt werden – vom Finanzamt, von der Arbeitsagentur, von wem auch immer.

Der hohe Gaspreis im kommenden Winter (geschätzt doppelt so hoch wie der auf 12 Cent pro kWh subventionierte Preis) würde dagegen seine volle Lenkungswirkung beibehalten. Wer im letzten Jahr deutlich mehr als der Durchschnitt verbraucht hat, bekäme auch nur das durchschnittliche Energiegeld.

Gegen eine solche Regelung kommt vermutlich sofort das Beispiel vom armen Rentner in der schlecht gedämmten Altbauwohnung. Der Einwand ist prinzipiell berechtigt. Nur sollte man nicht immer den sogenannten kleinen Mann vorschieben, wenn vor allem Gut- und Besserverdienende Nutznießer der angeblich „bewährten Gießkannen-Subventionierungen sind.

Die Süddeutsche Zeitung hat gerade über eine Studie zum Verhältnis von Einkommen und Energieverbrauch berichtet. Der Energieverbrauch steigt proportional mit wachsendem Einkommen. 60 Prozent der Haushalte liegen unter dem Durchschnittsverbrauch. Nur bei den reichsten 10 Prozent schießt die Kurve für den Energieverbrauch steil nach oben. Diese 10 Prozent verbrauchen genauso viel wie die ärmsten 40 Prozent der deutschen Haushalte zusammen.

Damit sollte klar sein, wo das größte Einsparpotenzial liegt und wem eine Abschwächung des Preishebels vor allem zugutekommen würde. Geringverdiener in schlecht gedämmten Wohnungen könnten zielgerichtet und kostengünstiger über Instrumente wie Wohngeld oder Heizkostenzuschüsse unterstützt werden.

Fehlanreize bei Strom und Wirtschaft

Dass die Preisbremse nun auch auf den Strompreis erweitert werden soll, treibt die Fehlanreize auf die Spitze. Viele Haushalte, vermutlich nicht die ärmsten, haben sich für diesen Winter mit Elektroheizkörpern eingedeckt. Die Stadtwerke warnen schon vor möglichen Stromausfällen. Statt eines Strompreisdeckels sollten eher Maßnahmen gegen das Ausweichen auf Stromheizungen vorbereitet werden. Am einfachsten über die Erhöhung der Stromsteuer. Die Mehreinnahmen könnten einfach über das Energiegeld zurückgezahlt werden.

Auch für Industrie und Dienstleistungsbranchen wäre es wichtig, von der Gießkanne wegzukommen. Die Subventionen sollten auch hier nicht beim Gas- oder Strompreis ansetzen, sondern als Direktzahlungen an die Unternehmen fließen, um die Lenkungswirkung der Preise voll wirksam werden zu lassen.

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Oben      —     Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Die These – Korruption ?

Erstellt von Redaktion am 5. November 2022

Machttrunkene Hybris hat Österreich verdorben

VON RALF LEONHARD

Thomas Schmid ist so etwas wie die Black Box der türkisen ÖVP von Sebastian Kurz. Wenn man sie knackt, findet man jedes Detail der verunglückten Reise dokumentiert. In dem Fall: die Vorbereitungen für den kometenhaften Aufstieg des jungen Hoffnungsträgers bei den österreichischen Konservativen, die generalstabsmäßig durchgezogene Übernahme der Partei und dann der Republik.

Über 300.000 Chat-Nachrichten, die auf Schmids Handy sichergestellt wurden, zeichnen das Sittenbild einer Clique von jugendlichen Emporkömmlingen, die glaubten, das Land gehöre ihnen und niemand könne sie dafür zur Verantwortung ziehen. Die Hybris dieses kleinen Machtzirkels hat in Österreich den Glauben an die Demokratie erschüttert.

Entsprechend groß war das Medieninteresse, als Schmid nach mehreren vergeblichen Vorladungen am Donnerstag vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss „betreffend Klärung von Korruptionsvorwürfen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder“, vulgo ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss, erschien. Die Freude der Abgeordneten und der Medienvertreter währte nicht lange: Schmid entschuldigte sich höflich für sein Nichterscheinen bei bisherigen Terminen, verkündete dann aber, er werde von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch machen. Denn seine Befragung durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) sei noch nicht abgeschlossen, jede Aussage könne ihn belasten.

Schmid will durch seine Auskunftsfreudigkeit vor der WKStA den Kronzeugenstatus erlangen und hofft so auf Straffreiheit.

Es half auch nichts, dass ihm im Ausschuss Beugestrafen angedroht wurden. Schmid wollte nicht einmal die Frage, ob er ÖVP-Mitglied sei oder ob er von der WKStA protokollierte Aussagen gemacht habe, beantworten. Das in 15 ganztägigen Befragungen erstellte Protokoll im Umfang von 454 Seiten ist eine wahre Fundgrube an Fakten, deren Stichhaltigkeit von den Strafverfolgungsbehörden noch überprüft wird. Einzelne Chats von Schmid, die an die Medien geleakt wurden, sind inzwischen zu geflügelten Worten geworden. So etwa „Ich bin so glücklich:-)))! Ich liebe meinen Kanzler“, als Kurz dessen berufliche Aufstiegswünsche mit einem „Kriegst eh alles, was du willst“ abgesegnet hatte. In Zusammenhang mit einer Steuerangelegenheit eines Milliardärs erinnerte Schmid einen Mitarbeiter von Kurz: „Vergiss nicht – du hackelst (arbeitest; Anm. d. Red.) im ÖVP Kabinett!! Du bist die Hure für die Reichen!“

Das Selbstverständnis der „Wirtschaftspartei“ ÖVP als Hure der Reichen ist durch Chats und Aussagen von Schmid eindrucksvoll dokumentiert. Der Immobilienmagnat René Benko, in Deutschland bekannt, seit er Kaufhof und Karstadt übernommen hat, bot Thomas Schmid einen Job in seiner Signa Holding mit 300.000 Euro Gage jährlich plus Boni in gleicher Höhe an. Laut Schmid habe sich Benko im Gegenzug eine „steuersenkende Lösung“ für seine Probleme mit dem Fiskus gewünscht. Schmid habe dann Druck auf den zuständigen Beamten gemacht. Aus der Stelle als „Generalbevollmächtigter“ bei Signa wurde dann nichts, weil Sebastian Kurz seinen besten Mann im Finanzministerium nicht gehen lassen wollte.

Zu den Lieblingsmilliardären der ÖVP zählt auch Siegfried Wolf, der mit dem russischen Oligarchen Oleg Deripaska im Geschäft ist und jüngst das MAN-Werk in Steyr übernommen hat. Bei Wolf ging es um Steuerschulden, die dieser nicht oder nur teilweise zahlen wollte. Schmid in seinem Einvernahmeprotokoll: „Er hat mich aus meiner Sicht gedrängt und gepusht zu seinen Gunsten tätig zu werden.“ Tatsächlich zeigte sich der damalige Finanzminister Hans-Jörg Schelling flexibel und verzichtete auf einige Millionen Euro von Wolf. Andere Steuerzahler können von solcher Kulanz nur träumen.

Sebastian Kurz war damals noch Außenminister in einer SPÖ-geführten Koalition. Die Umfrageergebnisse der ÖVP grundelten um die 20 Prozent, Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) war noch in Amt und Würden, er erfreute sich zunehmender Popularität. Populär war auch der damals 30-jährige Sebastian Kurz, der in der alten grauen Tante ÖVP einen von vielen als erfrischend gesehenen Farbtupfer abgab. Mit einer Gruppe von Getreuen aus der Jungen ÖVP entwarf er daraufhin das „Projekt Ballhausplatz“. Ballhausplatz 2 ist die Adresse jenes Trakts der ehemaligen kaiserlichen Hofburg, der die Büros des Bundeskanzlers beherbergt. Die Verschwörer sammelten kompromittierendes Material über politische Gegner in- und außerhalb der eigenen Partei, warben um Sponsoren und Prominente und sägten am Stuhl des eigenen Parteichefs und Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner.

Dabei bedienten sie sich einer Methode, die nicht nur moralisch fragwürdig ist, sondern nun auch Kurz hinter Gitter bringen könnte. Die Sache ist so heikel, dass Kurz ein Telefongespräch mit Schmid aufnahm, in dem er seinen ehemals ergebenen Erfüllungsgehilfen offenbar nötigen wollte, alle Schuld auf sich zu nehmen und Kurz reinzuwaschen. Das Ergebnis erwies sich als wenig hilfreich. Es geht um die Frage: Hat Kurz selbst den Auftrag gegeben, manipulierte Umfragen in einem Boulevardblatt zu platzieren und diese Intrige mit Steuergeldern aus dem Finanzministerium zu bezahlen?

Beinschab und Abrissbirne

Schmid spricht vom „Österreich-Beinschab-Tool“ und nannte Kurz als Auftraggeber. Österreich heißt die Gratiszeitung der geschäftstüchtigen Gebrüder Fellner, die sich wohlwollende Berichterstattung über Politiker mit fetten Anzeigen bezahlen lassen. Sabine Beinschab heißt eine Meinungsforscherin, deren Ein-Frau-Betrieb zu großen Teilen von öffentlichen Aufträgen lebte. Sie hatte den Auftrag, Sebastian Kurz nur im besten Licht erscheinen zu lassen. Beinschab, die inzwischen Kronzeugenstatus erhalten hat, ist vollumfänglich geständig. Die Honorarforderungen für ihre Umfragen und Studien, die einzig dem Image von Kurz nützten, reichte sie auftragsgemäß im Finanzministerium ein.

Jetzt mussten sich Kurz und Co nur noch aus der ungeliebten Koalition mit den Roten befreien, um den Marsch auf den Ballhausplatz erfolgreich antreten zu können. Dabei betätigte sich der damalige ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka als „Abrissbirne“, wie Christian Kern später in einem Interview erzählte: Kurz habe immer wieder den Stillstand und die Streitereien in der Regierung beklagt, die dieser jeden Tag gemeinsam mit Sobotka herbeigeführt habe. Sobotka wurde später mit dem Posten des Nationalratspräsidenten belohnt. Mitterlehner warf schließlich entnervt das Handtuch und gab den Parteivorsitz ab. Kurz triumphierte und steuerte auf Neuwahlen zu, nach denen er mit der rechten FPÖ den idealen Partner fand. Die neue Regierung aus ideologisch Rechten und opportunistischen Neokonservativen strahlte so viel Harmonie aus, so mancher glaubte, sie könne mehr als zwei Legislaturperioden halten. Nur Herbert Kickl, der sich als Innenminister anschickte, eine der wichtigsten Bastionen der ÖVP zu schleifen, störte den Koalitionsfrieden. Dann ploppte der Ibiza-Skandal auf. Im Mai 2019 wurde ein im Sommer 2017 heimlich aufgenommenes Video publik. Die Selbstentblößung des späteren Vizekanzlers Strache musste zu dessen Rücktritt führen. Kurz nutzte die Gelegenheit, um den Störenfried Kickl zu entfernen – und wurde mit einem von der FPÖ mitgetragenen Misstrauensvotum bestraft. Bundespräsident Alexander Van der Bellen ernannte eine Beamtenregierung, die sich großer Beliebtheit erfreute, weil sie auf die tägliche Inszenierung verzichtete.

Quelle         :          TAZ-online           >>>>>>      weiterlesen

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Oben     —       Wahlplakat der Christlichsozialen Partei in Wien, 1920

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Politik und Korruption

Erstellt von Redaktion am 2. November 2022

Die Nachbeben der Episode Kurz gestalten sich als Skandal in Serie

Spielend versuchte auch er sein Land zu verkaufen?  Politiker eben !

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Franz Schandl

Es ist eine Kriminalkomödie, die nun schon länger läuft und auch die nächsten Jahre laufen wird. Geschürt durch die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wird jene in Politik und Medien, aber auch an diversen Gerichten zu unzähligen Aufführungen finden.

Thomas Schmid, ehemals Sebastian Kurz‘ Mann fürs Grobe hat sich der Staatsanwaltschaft als Kronzeuge angeboten. Nun packt er also aus. Fast fünfhundert Seiten Protokoll liegen bereits vor und warten darauf, ausgeschlachtet zu werden. Stoff für einen Endlosstreifen gibt es genug. Wieder einmal geht ein Skandal in Serie.

Zentrale Aussagen Schmids lauten: „Kurz war noch nicht Parteiobmann und hatte keine finanziellen Mittel.“ „Ich habe Kurz und die ÖVP aus dem BMF (Finanzministerium, F.S.) heraus gefördert, die Ressourcen des BMF genutzt, um das Fortkommen der ÖVP unter Sebastian Kurz zu unterstützen.“ „Wir haben Dinge gemacht, die nicht in Ordnung waren“, resümiert er. Das klingt durchaus plausibel. Wollte Kurz Schmid vor Monaten noch dazu drängen, die gesamte Schuld auf sich zu nehmen, so will dieser nun den Großteil derselben von sich abwälzen. Beides verständlich.

Dass da einiges im Busch ist, hat der gerissene Kurz zwischenzeitlich gecheckt. Prophylaktisch hat er ein Gespräch zwischen ihm und Schmid aufgenommen, um es im Eventualfall zu veröffentlichen. Das vom Ex-Kanzler mitgeschnittene Telefonat, wo Schmid erklärt, des öfteren gelogen zu haben, ist so überraschend wiederum nicht und schon gar nicht so entlastend wie Kurz meint. Wenig plausibel klingt jedenfalls, dass Kurz von all diesen Machenschaften nichts gewusst haben soll, dass seine Prätorianer eigenständig und uneigennützig gehandelt haben, ganz selbsttätig straftätig geworden sind.

Jetzt spielen die beiden Schwarzer Peter. Die Auseinandersetzung erinnert frappant an zwei pubertierende Jungs, die, nachdem sie bei einer Gaunerei erwischt worden sind, schreien: „Er war’s!“, „Der da!“. Das sagen Basti und Tommy übereinstimmend gegeneinander, und möglicherweise haben sie sogar beide recht, addiert man ihre Aussagen. Freunde werden Kurz und sein ehemaliger Intimus nimmer. „Ich liebe meinen Kanzler“, das war gestern, „Kriegst eh alles, was Du willst“, ebenso. Viele, die dem jüngsten Altkanzler ihren Aufstieg zu verdanken haben, distanzieren sich mittlerweile von den Praktiken des System Kurz. Bundeskanzler Karl Nehammer ist bloß das prominenteste Beispiel. „Wir waren nicht dabei!“, heißt es nun, oder: „Wir haben nichts mitbekommen!“

Die Besetzung diverser Szenen der Reality-Soap kann sich jedenfalls sehen lassen. Da sind nicht nur Kurz und Schmid, da tummelt sich lukratives Personal: Der Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) etwa, der Immo-Tycoon René Benko, Ex-Magna-Chef Sigi Wolf, diverse Ex-Minister, der Glücksspielkonzern Novomatic, das Boulevard-Blatt Österreich, die Meinungsforscherin Sabine Beinschab, die für die ÖVP Meinungsumfragen frisiert haben soll und bei Schmid nun charmanterweise als „depperte Kuh“ firmiert. Lediglich die Geldknappen von Wirecard wurden noch nicht gesichtet. Dazu aber jede Menge Aufdeckjournalisten, badend im Kotmeer der Affären.

Inhaltlich geht es um unterdrückte Steuerprüfungen, freihändige Steuernachlässe, Postenbesetzungen und Auftragsvergaben nach Wunsch, Scheinrechnungen, öffentliche Inserate als Belohnung u.v.m. Die obligate Palette. Gespielt und gedreht wurde etwa in der Wiener Innenstadt, auf dem Weingut eines Ex-Ministers, bei einem Event in Dubai, auf einer Yacht im Mittelmeer. Luxusautos und Maßanzüge inklusive. Diese Verschwörungspraxis stellt zweifellos jede Verschwörungstheorie in den Schatten. Als Drehbuch wäre es glatt durchgefallen, weil zu durchgeknallt. Fehlt nur noch ein Selbstmord, der nicht unbedingt einer gewesen sein muss.

Haben die Religionen die Welt mit ihren Nebel umhüllt – lässt sie sich von den Politikern leichter verkaufen.

Schlussendlich war aber die kriminelle Energie größer als die kriminelle Potenz. Während Schmid und andere wohl noch glaubten, dass ihre Handydaten unwiderruflich gelöscht seien, waren die ersten Chats bereits geleakt. Die türkise ÖVP betrieb ungeschützten Korruptionsverkehr. Ganz mit ohne. Die ausgewerteten Handys werfen ein grelles Licht auf die herrschenden Politpraxen. Neu sind die aber nicht, neu ist nur die unfreiwillige Transparenz. Alle paar Wochen werden weitere Details publik. Die Volkspartei steckt in der investigativen Falle.

Der soeben wiedergewählte Bundespräsident spricht von einem „sichtbaren Wasserschaden“ der Demokratie und fordert eine „Generalsanierung der Substanz“. Indes, es ist Jauche und nicht Wasser, das da austritt, und die Substanz ist nicht bloß lädiert, sondern marod. Derlei Überlegungen sind dem Oberbefehlshaber naivster Plattitüden aber völlig fremd. Denn, so der Präsident im O-Ton „Das darf doch nicht wahr sein…“ Indes, es ist! Wer sich hier „erschüttert“ zeigt, dem ist nicht zu helfen. Das politische System kann bei diesem zunehmend unerträglichen Wechselspiel von Skandal und Aufdeckung, Lüge und Verlogenheit nur Schaden nehmen. Es ist ein Oktoberfest der Politikverdrossenheit.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —       Matthias Laurenz Gräff, „Bella gerant alii, tu felix Austria nube. Sebastian Kurz, Der große Diktator, Opportunist, Rebell“, Öl auf Leinwand, 100×100 cm, 2019

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Unten      —         Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz trifft den Großmufti von Jerusalem, Muhammad Ahmad Hussein (April 2014).

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KOLUMNE – La dolce Vita

Erstellt von Redaktion am 2. November 2022

Der Fokus auf Geschehnisse der Revolution ist falsch

Von    :    Amina Aziz

Die Debatte über Iran ist auch von Missverständnissen geprägt. Fünf Aspekte, die oft zu kurz kommen:

1. Die Iran-Politik der Bundesregierung und der EU ist reaktionär. Sie ist eine gestrige Auffassung von Sicherheitspolitik, statt der radikalen Durchsetzung von Demokratie und der Beachtung von Menschenrechten.

Weder wird die Machtelite von Iran isoliert (selbst mit den Revolutionsgarden auf einer Sanktionsliste), noch wird der Atomdeal beendet oder werden wirtschaftliche Interessen zurückgestellt. Demokratische Kräfte werden kaum unterstützt, etwa durch die Bereitstellung von Internet oder die Forderung, politische Gefangene freizulassen.

Das Festhalten des Westens am iranischen Regime geht auf Kosten der iranischen Bevölkerung. Wohlstandssicherung um jeden Preis aufgrund von Eigeninteressen ist im Westen nichts Neues, aber verstaubt. Dabei kann man davon ausgehen, dass ein demokratischer Iran kein Interesse an einer Atombombe hätte, dafür aber an wirtschaftlichen Beziehungen. Solche Einschätzungen als unrealistisch abzutun, zeugt von einer einfallslosen, hängengebliebenen Politik.

2. Revolutionen passieren nicht über Nacht. Die Revolution von 1979 hatte, je nachdem welche Vorfälle man dazu zählt, mindestens ein Jahr Vorlauf. Im Grunde war der politische Iran des 20. Jahrhunderts geprägt von Kämpfen zwischen An­hän­ge­r*in­nen der Monarchie und ihren Gegner*innen.

3. Es ist keine Voraussetzung für eine Revolution, einen Plan fürs Danach zu haben. Es wäre das Ideal. Tägliche Gewalt, kaum Internet und Telefonie erschweren es erheblich, sich zu organisieren. Im Land selbst gibt es genug Frauen und andere, die demokratische Politik gestalten können. Nur weil das hierzulande nicht bekannt ist, heißt es nicht, dass es sie nicht gibt.

4. Anzunehmen, die Menschen in Iran wüssten nicht, wie stabil das Regime in seinen Machtstrukturen ist, ist überheblich. Die Proteste sind auch deswegen so radikal und kompromisslos, weil sie genau das verstanden haben. Befürchtungen, spätestens nach dem Tod des Obersten Führers Ali Chamenei könnte ein Nachfolger oder das Militär übernehmen, rühren aus diesem Bewusstsein.

Quelle       :        TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —    Kostüm von Danilo Donati für „Il Casanova“, Film von Federico Fellini en 1976, Schauspieler Donald Sutherland. – Anita Ekberg – Giulietta Massina et Marcello Mastroianni / Kostüme, Accessoires, Dessins, Dekore, Scénarios, Fotografien, Montage, Postproduktion.

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Staatstrojaner Pegasus:

Erstellt von Redaktion am 30. Oktober 2022

Ehemaliger UN-Sonderberichterstatter rät EU-Parlament zum Verbot

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von     :     

Bei einem Auftritt vor dem Pegasus-Untersuchungsausschuss im EU-Parlament hat der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte eine klare Botschaft: Der beste Weg, um mit Staatstrojanern umzugehen, wäre deren Verbot. Nationale Sicherheit dürfe Staaten kein Schlupfloch bieten, um diese Technologien straflos zu missbrauchen.

Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte David Kaye rät dem EU-Parlament, Überwachungstechnologien wie den Staatstrojaner Pegasus zu verbieten. Er habe ernste Zweifel, dass es überhaupt möglich sei, diese Technologien einzusetzen, ohne gegen internationales Recht zum Schutz der Menschenrechte zu verstoßen, sagte Kaye am Donnerstag bei einer Anhörung vor dem Pegasus-Untersuchungsausschuss im EU-Parlament. Der Ausschuss tagt seit April dieses Jahres, um die zahlreichen Überwachungsskandale in der EU im Zusammenhang mit Staatstrojanern zu untersuchen.

Käme es nicht zu einem Verbot, sagte Kaye, sollte zumindest ein temporäres Moratorium für die Entwicklung, den Verkauf und den Einsatz solcher Technologien verhängt werden. Staaten und internationale Organisationen können dann Leitplanken einrichten – etwa eine strikte Exportkontrolle oder radikale Reformen der Rechtsrahmen für deren Einsatz. All diese Schritte nannte Kaye ein „Minimum“, um die Rechtsstaatlichkeit beim Einsatz von Staatstrojanern herzustellen, die derzeit noch nicht gegeben sei.

Kaye hatte bereits 2019 in seiner Rolle als UN-Sonderberichterstatter ein solches Moratorium für Überwachungstechnologien gefordert. Schon damals deutete viel darauf hin, dass etwa der Journalist Jamal Khashoggi vor seiner Ermordung mit Pegasus ausgespäht wurde.

Ohne Transparenz kein Einsatz

Die Spähsoftware Pegasus kann heimlich aus der Ferne auf einem Smartphone installiert werden. Einmal eingerichtet, erlaubt sie Angreifer:innen alles zu einzusehen und zu hören, was auf dem Gerät stattfindet – von Gesprächen und Bildern über Standortdaten bis hin zu verschlüsselter Kommunikation. Sogar Kamera und Mikrofon lassen sich aus der Ferne aktivieren, so dass das Handy zur Wanze wird.

Kaye wies darauf hin, wie tief diese Überwachung in die Privatsphäre eindringt. Überwachungstechnologien wie Pegasus könnten schlicht nicht zwischen legitimen und illegitimen Überwachungszielen unterscheiden. „Sie geben dem Angreifer die Möglichkeit, das digitale Leben seines Ziels zu erfassen und zu überwachen, ohne zu unterscheiden zwischen einer kriminellen Verschwörung oder persönlichen Meinungen, Kontakten, Standortdaten, Browsing-Gewohnheiten, Bankdaten, Essensplänen und vielem mehr, manchmal in Echtzeit.“ Wenn Menschen ihrer privaten Kommunikation nicht mehr trauen könnten, hätte das auch gravierende Auswirkungen für die Demokratie.

Damit stelle Pegasus eine derart schwerwiegende Gefahr für die persönlichen Rechte und demokratischen Freiheiten dar, sagte Kaye, dass dafür besondere Auflagen gelten müssten. Wenn Staaten und auch die Herstellerfirmen argumentierten, die Technologie sei notwendig im Kampf gegen den Terror, dann müssten sie nachweisen, dass und wie sich diese Werkzeuge mit grundlegenden Menschenrechten vereinbaren lassen. So lange das nicht geschieht, müsse man davon ausgehen, dass Staatstrojaner gegen internationale Gesetze zum Schutz der Menschenrechte verstoßen.

Nationale Sicherheit dürfe nicht zu einem Schlupfloch werden, in dem sich Staaten verstecken könnten, um ihrer Verantwortung zu entgehen, sagte Kaye. „Jedes Recht muss einen Rechtsbehelf für seine Verletzung haben.“ Ungarn etwa begründete seine Einsätze von Pegasus mit der nationalen Sicherheit und kam zu dem Schluss, die Spionage gegen Journalist:innen und Politiker:innen sei rechtmäßig gewesen.

Ein Vertreter von NSO Group, der israelischen Firma, die Pegasus entwickelt, war bereits im Juni vom Ausschuss befragt worden, wich dabei jedoch zentralen Fragen aus – etwa jener, an wen sich Opfer der Überwachung wenden könnten. Immer wieder verwies der NSO-Vertreter auf die Geheimnisanforderungen der Kund:innen des Unternehmens.

Unter den Kund:innen sind längst nicht nur Staaten wie Saudi-Arabien, Aserbaidschan oder Indien, sondern auch zahlreiche Demokratien mitten in der EU. NSO Group teilte im Nachgang zur Befragung mit, dass derzeit zwölf EU-Staaten Pegasus einsetzten, zwei von ihnen seien die Lizenzen wieder entzogen worden.

Arbeit soll im April beendet sein

Der Untersuchungsausschuss soll noch bis April 2023 arbeiten. Ursprünglich ging es vor allem um Polen und Ungarn, wo Journalist:innen, Oppositionspolitiker:innen und Anwält:innen mit Pegasus ins Visier genommen wurden. Zwischenzeitlich sind viele weitere Fälle von staatlicher Überwachung hinzugekommen, etwa Spanien und Griechenland.

Im Ausschuss sitzen gleich mehrere Personen, die selbst direkt oder indirekt mit Pegasus ausspioniert wurden, darunter die katalanischen Abgeordneten Diana Riba, Jordi Solé und Carles Puigdemont. Ein gemeinsamer Abschlussbericht soll Empfehlungen aussprechen, wie Staatstrojaner künftig in der EU besser reguliert werden sollen. Mehrere Abgeordnete arbeiten jedoch bereits an eigenen Berichten, darunter die Liberale Sophie in‘ t Veld.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —     UN-Sonderberichterstatter David Kaye (Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung) spricht während der Nebenveranstaltung „Religion trifft Rechte“ am 16. Juni, die von FORUM-ASIA organisiert wird

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Überwachung in China

Erstellt von Redaktion am 24. Oktober 2022

«Kapitalismus und Internet werden Chinas Volk nicht befreien»

Quelle      :        INFOsperber CH.

Red. /   Der Künstler Ai Weiwei sieht in der Null-Covid-Politik eine neue Massenkampagne. Der Staat wolle Chinas Intelligenzia unterwerfen.

Chinas Kommunistische Partei habe schon in der Vergangenheit Massenkampagnen dazu verwendet, um das Volk hinter sich zu scharen. Das schreibt Ai Weiwei in einem Gastkommentar der New York Times. Er war in China inhaftiert und lebt heute im Westen.

Der «Grosse Sprung nach vorn», eine 1958 begonnene Kampagne zur Erneuerung der Industrie, löste eine verheerende Hungersnot aus. Eine nächste Kampagne waren die «politischen Hexenjagden der Kulturrevolution von 1966–76», die China fast zerrissen habe. Es folgten noch andere Massenkampagnen, «eine schädlicher als die andere». Ai Weiwei sieht darin «eine nahezu perfekte Symbiose zwischen diktatorischer Regierung und unterwürfiger Bevölkerung».

Die Null-Covid-Kampagne

Eine der schlimmsten Kampagnen sei die fast drei Jahre alte Null-Covid-Kampagne. Sie sei «ein Affront gegen die Wissenschaft und den gesunden Menschenverstand». Und doch würden Beamte und Bürger im ganzen Land lächerliche Massnahmen befolgen. Ganze Städte würden selbst bei kleinen Ausbrüchen geschlossen, und Coronavirus-Tests und Desinfektionen würden an Fisch und anderen Lebensmitteln, Autos und sogar Baumaterialien durchgeführt: «Das führte zu Chaos und Leid für die Menschen in China, die wiederholt eingesperrt und wegen fehlender Coronavirus-Tests inhaftiert wurden und ihren Arbeitsplatz oder ihr Geschäft verloren. Als Chengdu, eine Stadt mit 21 Millionen Einwohnern, im September abgeriegelt wurde, durften die Bewohner selbst bei einem Erdbeben ihre Wohnungen nicht verlassen.»

Diese neuste Kampagne der Massenkontrolle sei noch gefährlicher als die früheren, schreibt Ai Weiwei, weil landesweit eine Überwachungstechnologie eingeführt wurde, um Covid zu unterdrücken. Die Kampagne ermögliche es den Behörden, die Bürgerinnen und Bürger zu verfolgen und ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.

Regierungsbeamte hätten dieses System dazu missbraucht, um die Bewegungsfreiheit von Menschen einzuschränken, die im Juni an einer Demonstration in Zentralchina teilnehmen wollten. Diese Beamten seien später zwar bestraft worden, aber es bleibe die Tatsache, dass die Regierung nun über ein System verfügt, von dem Mao Zedong nur träumen konnte, und das auf Daten und Algorithmen basiert, um die Bevölkerung zu überwachen und zu kontrollieren.

China ist und war seit 2‘000 Jahren ein zentralistischer Staat

China sei die meiste Zeit der letzten 2‘000 Jahre ein weitgehend geeinter, zentralisierter Staat gewesen. Eine entsprechende Ethik und ein ähnliches Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten seien tief verwurzelt. Von Chinas niederem Volk werde Gehorsam erwartet.

Ai Weiwei: «Als die Kommunistische Partei 1949 die Staatsmacht an sich riss, flackerte kurz die Hoffnung auf eine neue Ära auf. Mein Vater Ai Qing, damals einer der führenden Dichter Chinas, war mit Begeisterung der Partei beigetreten. Doch Mao nutzte die alte Machtdynamik Chinas geschickt aus und machte die Partei zum neuen unangefochtenen Herrscher.»

Wie viele Intellektuelle sei auch Weiweis Vater bald unter Beschuss gekommen, als Mao immer wieder politische Kampagnen startete, um alle loszuwerden, die es wagten, unabhängig zu denken. Das geistige, intellektuelle und kulturelle Leben Chinas sei verkümmert.

In den letzten zehn Jahren habe sich die Lage verschlimmert. Die Behörden hätten die letzten Reste unabhängigen Denkens unterdrückt, die chinesische Zivilgesellschaft dezimiert und Wissenschaft, Medien, Kultur und Wirtschaft gegängelt.

«Dem Westen geht es in erster Linie um Profit»

Fairerweise müsse man sagen, dass individuelle Gedanken und Meinungsäusserungen auch in westlichen Demokratien eingeschränkt würden: «Die politische Korrektheit zwingt die Menschen, das, was sie wirklich glauben, für sich zu behalten und leere Slogans nachzuplappern, um den vorherrschenden Narrativen zu entsprechen.»

Und das Engagement des Westens in China sei «nicht von den proklamierten Werten bestimmt, sondern eher vom Profitstreben». Westliche Staats- und Regierungschefs würden Verstösse der Kommunistischen Partei gegen die Menschenrechte, die Redefreiheit und die geistige Freiheit kritisieren, machten aber seit langem Geschäfte mit Peking: «Die Heuchelei der USA in Bezug auf unabhängiges Denken zeigt sich im Umgang mit dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange, der für die Informationsfreiheit eintritt, aber von der US-Regierung verfolgt wird.»

Stolz auf den erreichten Wohlstand

Millionen von Chinesen seien stolz auf den wachsenden Reichtum und die Macht des modernen China. Dieses Gefühl des Wohlstands werde verstärkt und geschürt durch ständige Propaganda über den Niedergang des Westens.

Freiheit setze Mut und eine nachhaltige Risikobereitschaft voraus, schreibt Weiwei. Doch die grosse Mehrheit der chinesischen Bevölkerung habe das Gefühl, dass Widerstand unmöglich sei, und dass das persönliche Überleben vom Einhalten der Vorschriften abhänge. Die Menschen seien auf eine ängstliche Unterwürfigkeit reduziert, warteten wie Schafe in langen Schlangen auf ihre Coronavirus-Tests oder drängelten sich vor Lebensmittelgeschäften, bevor diese abgeriegelt würden.

Weiwei schliesst seinen Gastbeitrag mit der Einschätzung ab: «Freiheit und Individualität können niemals vollständig unterdrückt werden. Kein Land, egal wie stark es erscheint, kann ohne Meinungsvielfalt wirklich gedeihen. Aber solange die Kommunistische Partei an der Macht ist, gibt es keine Hoffnung auf grundlegende Veränderungen in meinem Land.»

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Oben      —    Überwachungskameras in London. Jeder Bürger der Stadt wird täglich von durchschnittlich 300 Kameras gefilmt. Geplant ist zudem eine automatische Gesichtserkennung durch in Augenhöhe montierte Kameras. Studien zufolge hat die massive Überwachung die Kriminalitätsrate nicht gesenkt.[1]

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Eine Hölle auf Erden

Erstellt von Redaktion am 22. Oktober 2022

Kita- und Schulessen sowie Werbung prägen Gewohnheiten

Am 30. März 2021 brannten die Ställe der Schweinezuchtanlage Alt Tellin vollständig ab. Mehr als 40000 Schweine (Muttersauen und Ferkel) kamen dabei um.

Von Friederike Schmitz

Ein paar Quadratmeter mehr reichen weder für Tier- noch für Klimaschutz aus. Alles spricht für einen schnellen Ausstieg aus der Tierindustrie.

Die Ampelregierung feiert es als großen Durchbruch: Am 12. Oktober hat das Bundeskabinett ein Gesetz zur Tierhaltungskennzeichnung beschlossen. Fünf verschiedene Haltungsstufen sollen Transparenz beim Fleischeinkauf schaffen. Außerdem gibt es eine Milliarde Euro Förderung für den Stallumbau sowie für laufende Kosten der Tierhaltung. Das Ganze gilt als Startschuss für den „Umbau der Tierhaltung“ und dieser ist die Antwort des Landwirtschaftsministeriums auf all die Probleme, die mit dem aktuellen System der Tierindustrie verbunden sind. Das Ziel sei eine Tierhaltung, die dem Tierschutz und dem Klimaschutz gerecht werde, verkündete Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir am Tag des Beschlusses.

Tatsächlich lassen sich aber mit dem geplanten Umbau der Tierhaltung diese hehren Ziele gar nicht erreichen. Die Maßnahmen sind in Anbetracht der realen Probleme nicht nur unzureichend, sondern sogar kontraproduktiv. Es braucht eine andere, viel mutigere Agrarpolitik – verbunden mit einer sinnvollen Ernährungspolitik, die endlich anerkennt, dass die Ernährung keine bloße Privatsache ist.

Ziel der neuen Kennzeichnung ist laut dem Ministerium, die „Leistung der Landwirtinnen und Landwirte für eine artgerechtere Tierhaltung sichtbar“ zu machen und so für mehr Tierschutz zu sorgen. Welche Bedingungen heute in Ställen und Schlachthöfen herrschen, ist zwar regelmäßig im Fernsehen zu sehen, wenn Politmagazine heimlich gedrehte Videos veröffentlichen. Trotzdem benennt kaum jemand in Medien oder Politik das Elend, ohne zu verharmlosen. Die Tierindustrie bedeutet für hunderte Millionen von Hühnern, Puten, Schweinen und Rindern nichts anderes als die Hölle auf Erden. Mit überzüchteten Körpern eingesperrt auf engstem Raum, leiden sie unter massiven Bewegungseinschränkungen und Beschäftigungslosigkeit, dazu kommen Stress, Angst, üble Krankheiten und Verletzungen.

Die Kennzeichnung und die Milliardenförderung ändern daran so gut wie nichts. Zunächst soll nur Schweinefleisch gekennzeichnet werden. Fördergelder sind für Umbauten in höhere Stufen vorgesehen. Die zweitschlechteste Stufe schreibt für Mastschweine 20 Prozent mehr Platz vor. Das bedeutet, dass man auf der Fläche eines Standard-Autoparkplatzes statt 16 nur 13 Schweine einsperren darf. In der nächsten Stufe dürfen es noch elf Schweine pro Parkplatz sein und es muss eine offene Stallseite für Frischluft geben. In der besten Stufe, der Biohaltung, bekommen die Schweine „Auslauf“ – was gut klingt, ist in der Realität eine betonierte Außenbucht, wobei die Fläche eines Autoparkplatzes für zwölf Schweine reicht.

In keiner dieser Haltungsformen können die Schweine im Boden wühlen, was sonst eine ihrer Hauptbeschäftigungen wäre. Sie können sich weder suhlen noch ihre Neugier und ihr Sozial- und Familienverhalten ausleben. In höheren Haltungsstufen sind die Tiere auch nicht weniger krank – die Gesundheit ist gar kein Kriterium bei der Kennzeichnung. Die Bedingungen bei Transport und Schlachtung bleiben ebenfalls gleich. Das kurze Leben der Schweine wird also weiterhin die Hölle auf Erden sein. Die geplanten Veränderungen sind bloße Kosmetik in einem System, das auf Ausbeutung und Gewalt beruht.

Auch im Hinblick auf die anderen fatalen Folgen der Tierindustrie schafft ein Umbau von Ställen keine Verbesserung. Um die immensen Treibhausgasemissionen zu verringern, braucht es einen drastischen Abbau der Tierzahlen, der außerdem unverzichtbar ist, um den Landverbrauch zu stoppen, Verschwendung zu begrenzen und die globale Ernährungssicherheit zu verbessern. Auf freiwerdenden Flächen könnte man Moore Wiedervernässung, Wälder Pflanzen oder andere Ökosysteme renaturieren, wodurch auch Treibhausgase eingelagert würden. Studien zeigen, dass sich mit einer globalen Umstellung auf pflanzliche Nahrung die Gesamtemissionen der Menschheit um ganze 28 Prozent verringern ließen. Das zeigt die Dimensionen auf, um die es geht. Vor dem Hintergrund, dass uns gerade buchstäblich die Welt wegbrennt, dürfen wir uns diese Chance nicht entgehen lassen.

Die Regierung formuliert zwar immer mal wieder als Ziel, dass weniger Tiere gehalten werden, unternimmt aber konkret nichts. Wenn Stall­umbauten gefördert werden ohne Verpflichtung zum Abbau, kann das hohe Tierzahlen stabilisieren: Wer heute in einen Umbau investiert, will mit dem neuen Stall noch 30 Jahre Geld verdienen.

Aber was ist die Alternative? Statt halbherzigen Reförmchen braucht es jetzt einen konsequenten Ausstieg aus der Tierindustrie. Denn um Tier-, Umwelt- und Klimaschutz gerecht zu werden, müssen sehr viele Ställe in Deutschland nicht nur umgebaut, sondern geschlossen werden.

Es ist klar, dass eine solche Transformation für die betroffenen Land­wir­t*in­nen gerecht gestaltet werden muss. Zu diesem Zweck muss es Entschuldungs- und Entschädigungsprogramme geben, wie sie in den Niederlanden teilweise schon umgesetzt werden. Außerdem braucht es Beratungsangebote und Förderung für die Umstellung auf andere Betriebszweige. Das ist letztlich sogar fairer, als wieder Anreize für Investitionen in eine Tierhaltung zu schaffen, die nicht zukunftsfähig ist.

Die Tierindustrie drastisch abzubauen und dann zu beenden, ergibt natürlich nur Sinn, wenn sich die Ernährungsweisen entsprechend verändern. Wenn wir weiterhin dieselben Mengen an Fleisch, Milch und Eiern verzehren, müssten die Produkte aus dem Ausland kommen. Damit wäre wenig gewonnen. In der Politik herrscht allerdings bis heute das Dogma vor, dass die Ernährung eine reine Privatsache sei. Kurz nachdem der Grüne Özdemir vor einem Jahr das Landwirtschaftsministerium übernommen hatte, beeilte er sich zu betonen: „Wer wann was isst, geht den Minister für Ernährung und Landwirtschaft und die Bundesregierung nichts an.“ Genau dieselbe Idee hatten auch seine Vor­gän­ge­r*in­nen im Amt aus CDU und CSU immer wieder unterstrichen: Andere Menschen oder gar der Staat haben sich in die Ernährung der Bür­ge­r*in­nen nicht einzumischen.

Dieses Dogma ist aber ebenso falsch wie gefährlich. Denn erstens sind die Folgen der vorherrschenden Ernährungsweisen nicht privat. Wenn Millionen Tiere überall im Land furchtbare Qualen erleiden, geht uns das alle an. Wenn die Erzeugung von Tierprodukten riesige Mengen an knappen Böden und Ressourcen beansprucht und die Klimakatastrophe befeuert, betrifft das die ganze Gesellschaft.

Zweitens sind nicht nur die Folgen, sondern auch die Ursachen, also die Bedingungen und Einflussfaktoren dafür, was Menschen essen, nicht privat. Das Ernährungsverhalten hängt nämlich stark davon ab, was überhaupt angeboten wird und zu welchem Preis. Davon, was seit der Kindheit als normale Ernährung eingeübt wurde. Ebenso davon, was kulturell und sozial als gutes Essen gilt. All diese Faktoren sind auch Resultate politischer und anderer kollektiver Entscheidungen – und diese Dimension wird ausgeblendet, wenn man die Verantwortung allein den Kon­su­men­t*in­nen zuschiebt. So hat die Politik über die letzten Jahrzehnte unter anderem mit finanziellen Förderungen die Tierindustrie mit aufgebaut und stützt sie weiterhin. Das beeinflusst Angebot und Preise. Kita- und Schulessen sowie Werbung prägen Gewohnheiten und Vorlieben.

An solchen Stellschrauben kann und muss man ansetzen. Zu den Maßnahmen gehört: Kantinen auf pflanzliche Verpflegung umstellen. Tierprodukte höher besteuern, pflanzliche Produkte günstiger machen. Subventionen umschichten. Werbung für Tierprodukte verbieten. Aufklärungskampagnen über die Vorteile pflanzlicher Ernährung veranstalten. Weiterbildungen für Köchinnen organisieren. Solidarische Landwirtschaften und günstige pflanzliche Mittagstische fördern.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Am 30. März 2021 brannten die Ställe der Schweinezuchtanlage Alt Tellin vollständig ab. Mehr als 40000 Schweine (Muttersauen und Ferkel) kamen dabei um.

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Kurz droht Strafverfahren

Erstellt von Redaktion am 20. Oktober 2022

Österreichs Ex-Kanzler in Nöten

So leicht ist die geplünderte Erde geworden.

Von Ralf Leonard

Ein früherer enger Vertrauter von Sebastian Kurz packt vor der Staatsanwaltschaft als Kronzeuge aus. Das „Geständnis“ des Thomas Schmid hat es in sich.

 Thomas Schmid war schon lange eine politische Zeitbombe für die ÖVP. Jetzt ist sie explodiert. Wie am Dienstag bekannt wurde, hat Schmid Kronzeugenstatus beantragt und wohl offenherzig geplaudert. Für Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und seine Seilschaft ist das eine schlechte Nachricht. Ein Strafverfahren wirkt unvermeidlich.

Der frühere Kurz-Vertraute, der mittlerweile in den Niederlanden lebt, kooperierte seit April mit der Staatsanwaltschaft. In 15 ganztägigen Befragungen habe er bisher unbekannte Details über parteipolitische Postenbesetzungen, gekaufte Umfragen und unlautere Methoden der Machtübernahme offenbart. Aus Gründen der Geheimhaltung befragte ihn die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) in Graz.

Thomas Schmid ist ein ­Karrierist, der mit dem Aufstieg von Sebastian Kurz zu hoch bezahlten Ämtern gekommen ist. Seinen Charakter entblößte er in Chats, in denen er Menschen, die ohne VIP-Status reisen müssen, als „Pöbel“ abqualifizierte. Sein bei einer Hausdurchsuchung 2019 beschlagnahmtes Handy entpuppte sich als Fundgrube an Chats mit Kurz und dessen Vertrauten, über die der jugendliche Kanzler vor einem Jahr gestolpert ist. Als Angestellter des deutschstämmigen Silicon-Valley-Investors Peter Thiel verdient der junge Altkanzler jetzt viel Geld. Seine politische Vergangenheit holt ihn aber bereits ein.

Da geht es einmal um das sogenannte Beinschab-Österreich-Tool, das maßgeblich geholfen hat, Kurz an die Spitze der ÖVP, dann an selbige der Regierung und zuletzt in den politischen Orkus zu befördern. Bekannt ist, dass Schmid mit der Meinungsforscherin Sabine Beinschab und der Gratiszeitung Österreich der Gebrüder Wolfgang und Helmuth Fellner geschönte Umfragen veröffentlichen ließ, die die Popularität des politischen Shootingstars vergrößerten. Kurz hat hartnäckig behauptet, das habe sich hinter seinem Rücken abgespielt.

Filz, Steuerlügen und Korruption

Schmid gab jetzt vor der WKStA zu Protokoll, Kurz habe die Intrige sogar in Auftrag gegeben. Als die Affäre letztes Jahr aufflog, so Schmid gegenüber der WKStA, habe Kurz seinen ehemals bedingungslosen Erfüllungsgehilfen aufgefordert, alle Schuld auf sich zu nehmen und eidesstattlich zu erklären, Kurz habe von nichts gewusst. Für Schmid, so das 454 Seiten starke Protokoll, ein Anlass „einen Schlussstrich zu ziehen“, die „Sache aufzuarbeiten“. Denn: „Wir haben Dinge gemacht, die nicht in Ordnung waren.“

Die Clans arbeiten in den Parteien alle gleich und sind die Wurzeln für Korruptionen.

Keine Freude an den Aussagen von Schmid, der zur fraglichen Zeit Generalsekretär im Finanzministerium war, hat auch Nationalsratspräsident Wolfgang Sobotka. Als er erfuhr, dass zwei ÖVP-Stiftungen, von denen er einer vorstand, eine Steuerprüfung drohe, soll er bei Schmid interveniert haben: Das sei zu erledigen. Es sei dann, so das Protokoll, „im Sinn von Mag. Sobotka erledigt worden.“

Hans-Jörg Schelling (ÖVP), der unter der rot-schwarzen Regierung vor 2017 Finanzminister war, soll dem Putin-freundlichen Unternehmer Siegfried Wolf eine drohende Steuernachzahlung in sechsstelliger Höhe erspart haben. Außerdem habe er Schmid für private Geschäfte missbraucht. Der Nebenerwerbswinzer beauftragte ihn, 1.000 Flaschen hochpreisigen Schelling-Weins an den Glücksspielkonzern Novomatic zu verkaufen.

Quelle        :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Matthias Laurenz Gräff, „Bella gerant alii, tu felix Austria nube. Sebastian Kurz, Der große Diktator, Opportunist, Rebell“, Öl auf Leinwand, 100×100 cm, 2019

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Abschaffung der Sklaverei

Erstellt von Redaktion am 17. Oktober 2022

Stimmen abolitionistischer Theoretiker*innen und Aktivist*innen

Datei:Black Lives Matter in Stockholm 2020.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von    :    Jonathan Eibisch

In ihrem Sammelband zu Abolitionismus veröffentlichen Vanessa E. Thompson und Daniel Loick 21 wertvolle Beiträge vornehmlich Schwarzer Aktivist*innen und politischer Theoretiker*innen.

Damit importieren sie eine wichtige Debatte in den deutschsprachigen Kontext, die durch die Black-Lives-Matter-Bewegung inzwischen eine breitere Öffentlichkeit gewonnen hat.

Überwachen und Wegsperren als Programm

Im Grunde ist es leider so einfach: Mit der Durchsetzung der neoliberalen Form des Kapitalismus seit den 1970er-Jahren ging ein massiver Abbau sozialstaatlicher Absicherung und öffentlicher Infrastruktur mit dem Ausbau des Polizeiapparates, des gefängnisindustriellen Komplexes sowie verstärkter Kriminalisierung von Bagatelldelikten einher. Statt sich nach den vermeintlich besseren Zeiten des Nachkriegswirtschaftsbooms und keynesianistischen Wohlfahrtsstaates zurückzusehnen, ist es an der Zeit, danach zu fragen, wem das staatliche Polizieren – Überwachung, Kontrolle und Reglementierung der Bevölkerung – überhaupt dient.

Machen wir uns nichts vor: Auch und gerade in der BRD fällt es den allermeisten Menschen äußerst schwer, sich die Abschaffung von Polizei, Gefängnissen und Justizwesen vorzustellen. Dass der Rassismus in seinen verschiedenen Facetten als strukturelle Ausgrenzungs- und Diskriminierungsform überwunden werden muss – und kann –, ist für viele ebenfalls schwer zu begreifen. Gerade deswegen lohnt es sich, unseren Blick darauf zu richten, was es aus anarchistischer Sicht anzustreben gilt: Die Überwindung des Staates, angefangen bei der Abschaffung seiner repressiven Instanzen, welche durch selbstorganisierte Institutionen zur Gewährleistung von Sicherheit und zur Herstellung von Gerechtigkeit ersetzt werden sollen. Antirassismus, Gefängnisabschaffung und Polizeikritik

Was wie eine weltfremde Spinnerei wirken könnte, wird in US- amerikanischen Aktivist*innen- Kreisen aus Notwendigkeit heraus seit geraumer Zeit diskutiert. Statt liberalen Reformprojekten nachzugehen, versuchen jene, die Probleme bei der Wurzel fassen – und zugleich pragmatische Veränderungen zu erkämpfen. Und dies ist durchaus sinnvoll, denn worauf es ankommt, ist die Perspektive, die wir auf die Gegenwartsgesellschaft und auf Ansatzpunkte für ihre emanzipatorische Veränderung entwickeln.

Beim Abolitionismus werden Antirassismus, Gefängnisabschaffung und die Kritik an der Polizei miteinander verknüpft gedacht. Ausgehend von der Feststellung, dass es eine Kontinuität von der historischen Versklavung zur massenhaften Inhaftierung verarmter Schwarzer und der übermäßigen Polizeigewalt gegen sie gibt, wird z. B. offensichtlich, dass bei Morden durch Polizist*innen struktureller Rassismus am Werk ist. Insbesondere arme Schwarze Menschen werden im öffentlichen Bewusstsein als per se kriminell vorverurteilt. Dazu tragen auch Nachrichten und Film bei, die ein völlig verzerrtes Bild von alltäglicher Polizeiarbeit produzieren.

In Wirklichkeit beruht der moderne kapitalistische Staat auf Rassismus, ebenso wie die Klassengesellschaft ihn befördert (auch wenn die rassistisch ausgetragene Konkurrenz der Lohnarbeiter*innen nicht der einzige Faktor für Rassismus ist). Daher gilt es, die Forderung nach Emanzipation ernstzunehmen, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung am Stand der Emanzipation diskriminierter sozialer Gruppen zu messen und solidarisch deren Perspektive einzunehmen. Nachweislich steht die umfassendere Inhaftierung der als „gefährliche Klassen“ gerahmten Bevölkerungsgruppen in keinem Zusammenhang mit einer Absenkung der statistischen Kriminalitätsrate, sondern befördert im Gegenteil soziales Elend und Gewalt in den betroffenen communities. Gefängnisse führen in fast keinem Fall zur „Besserung“ von gewalttätigen Personen. Stattdessen entziehen sie der Gesellschaft enorme finanzielle Ressourcen, welche daher nicht für die Behebung von sozialen Problemen (z. B. übermäßiger Gebrauch von Drogen und der Handel damit, miserable Wohnverhältnisse, patriarchale Gewalt, mangelnde Bildungsmöglichkeiten) eingesetzt werden können.

Was die Polizei als Institution angeht, ist deren Funktion zur Verbrechensbekämpfung eher ein Nebenprodukt zu ihrer Legitimation gegenüber liberaler Kritik. Bei ihrer Entstehung ab Anfang des 19. Jahrhunderts bestanden die Kernaufgaben von kommunalen Polizeidepartements darin, Unruhen systematischer und effektiver niederzuschlagen, als es das Militär konnte, Streiks zu brechen, rebellische Stadtviertel durch Bestreifung in Schach zu halten und Oppositionelle zu überwachen und zu bedrohen. Allein aus diesen Gründen ist die Herangehensweise, diese repressiven Staatsapparate zu überwinden und ihnen die Ressourcen zu entziehen, ein nachvollziehbarer Ansatzpunkt für Gruppen von Betroffenen und für eine radikale Kritik an der bestehenden Herrschaftsordnung. Seit einiger Zeit widmen sich dem auch Gruppen in Deutschland. (1)

Aspekte einer anarchistischen Theoriebildung

Im Sammelband werden kürzere Beiträge von Aktivist*innen wie Angela Davis, Mumia Abu- Jamal oder Che Gosset mit ausführlichen theoretischen Texten, etwa von Alex S. Vitale, Amna A. Akbar oder Allegra M. McLeod, abgewechselt. Letztere sind dabei auch Professor*innen für Rechtswissenschaften, Soziologie oder Politikwissenschaften. Mit der Zusammenstellung und dem Stil der jeweiligen Beiträge wird versucht, eine Brücke zwischen abolitionistischem „Aktivismus“ und der theoretischen Unterfütterung und Reflexion dieses Ansatzes für soziale Bewegungen zu schlagen. Wer sich über die täglichen Erfahrungen mit Polizeigewalt, rassistischer Diskriminierung und dem Elend der Gefängnisgesellschaft hinaus mit deren Entstehung, Funktionsweise und Logiken auseinandersetzen möchte, findet im Reader reichlich Material.

Die entwickelten Theorien dienen damit als Werkzeugkiste zur Bestärkung, Fundierung, Legitimierung und Vernetzung einer ganzen Sammlung unterschiedlicher abolitionistischer Bestrebungen – von lokalen Black- Lives-Matter-Gruppen, die sich für Gerechtigkeit nach Morden durch Polizist*innen einsetzen, über anarchistische Anti-Gefängnis-Initiativen, community organizing in Gemeinschaften marginalisierter sozialer Gruppen bis hin zur zivilgesellschaftlichen antirassistischen Bildungsarbeit. Wie engagiert auch immer kritische Intellektuelle dabei sind – eine dynamische, langfristige und selbstorganisierte soziale Bewegung lässt sich nicht einfach herbeischreiben. Doch was die Autor*innen in ihren jeweiligen Beiträgen verdeutlichen, ist, dass jenen eine Stimme gegeben werden muss, welche schon lange unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden.

Die Themenwahl, Perspektive und die eigene Positionierung sind daher keineswegs selbstverständlich für Akademiker*innen. Dies sollte auch eine Inspiration für den deutschsprachigen Kontext sein, in welchem sich kritisch eingestellte Intellektuelle viel deutlicher äußern sollten. Wissenschaft in Bezug auf eine soziale Bewegung engagiert zu betreiben und die dabei erzeugten Erkenntnisse in jene zurückfließen zu lassen, ist jedenfalls eine Theoriebildung im anarchistischen Sinne. Sie kann auch jenseits von staatlichen Universitäten stattfinden, wie dieser Sammelband zeigt.

Libertär-sozialistische Transformationsbestrebungen

„Nicht-reformistische Reformen“ ist das Stichwort, an welchem sich Verfechter*innen abolitionistischer Ansätze in einer Suchbewegung entlanghangeln. Damit beschreiben sie meines Erachtens einen pragmatischen Anarchismus. Mit diesem wird auf das entfernte – aber durchaus plausible und begründbare – Ziel der Abschaffung und Ersetzung von Gefängnissystem, Polizei und Justizwesen hingearbeitet, während im selben Zuge konkrete Verbesserungen innerhalb der bestehenden Institutionen angestrebt werden. Dass uns die Überwindung der repressiven Staatsapparate als „utopisch“ erscheint, liegt in den Kräfteverhältnissen und der Beständigkeit von Herrschaftsideologie und ihrer Profiteur*innen und keineswegs in der Sache als solcher begründet.

Selbstverständlich lässt sich Gerechtigkeit mit den entsprechenden Instrumenten und Verfahren innerhalb von selbstorganisierten communities herstellen. Auch für Sicherheit kann wesentlich besser gesorgt werden, wenn Menschen in einer Nachbar*innenschaft funktionierende und solidarische Beziehungen zueinander unterhalten, statt sich aufgrund von Gewalt und Elend gegenseitig zu misstrauen und anzufeinden. Dies bedeutet mitnichten, dass es bei Abschaffung des staatlichen Überwachens, Strafens und Reglementierens keinerlei Probleme und Konflikte mehr gäbe.

Für die Annahme, dass diese sich aber anders und potenziell deutlich besser bearbeiten und lösen lassen, wenn alternative Institutionen und Verfahren entwickelt und eingeübt werden, gibt es gute Gründe. Bürger*innenhaushalte, in denen die Bewohner*innen von Stadtvierteln selbst festlegen, wofür sie ihre öffentlichen Steuergelder verwenden, sind ein Ansatzpunkt zur Umstrukturierung.

Gerade um die repressiven Staatsapparate graduell zu beschränken, zielt der Abolitionismus auf die Überwindung einer Gesellschaft, in welcher Gefängnisse überhaupt als notwendig erachtet werden. Insofern ist die „abolition democracy“ als ein Projekt zur sozial-revolutionären Gesellschaftstransformation zu begreifen. Viele der versammelten Beiträge sind dahingehend ebenso lesenswert wie das Vorwort der Herausgeber*innen.

Anmerkungen:

(1) siehe z.B. https://www.cop- watchffm.org/; https://kop-berlin. de/beitrag/neue-copwatch-gruppe-in-freiburg-gegrundet und https:// copwatchleipzig.home.blog/; https://copwatchhamburg.blackblogs.org/; http://kop-kiel.de/

Daniel Loick, Vanessa E. Thompson (Hg.): Abolitionismus. Suhrkamp Taschenbuch 2022. 619 Seiten, CHF ca. 32.00 ISBN: 978-3-518-29964-7

Zuerst erschienen in Graswurzelrevolution #472

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben      —      Black Lives Matter-Manifestation in Stockholm am 3. Juni 2020.

Verfasser Frankie Fouganthin      /       Quelle     :    Eigenes Werk KulturSthlm   /    Datum  :  3. Juni 2020

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz.

 

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Haft für Mord auf Malta

Erstellt von Redaktion am 17. Oktober 2022

Lange Haftstrafen für Mörder von Daphne Caruana Galizia
nach überraschendem Vergleich

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :    Reporter ohne Grenzen

Unmittelbar nach Eröffnung des ersten Strafprozesses zum Mord an der Journalistin Daphne Caruana Galizia in Malta haben sich am Freitag (14.10.) die beiden Auftragsmörder Alfred und George Degiorgio schuldig bekannt und auf Grundlage eines Vergleichs Haftstrafen von je 40 Jahren erhalten.

Damit umgingen sie lebenslange Haftstrafen. Diese Entwicklung kommt umso überraschender, als die beiden Brüder stets ihre Unschuld beteuert und noch vor kurzem für eine Verzögerung des Gerichtsverfahrens gekämpft hatten. Reporter ohne Grenzen (RSF) begrüßt die Verurteilung, fordert aber weiterhin, dass alle an der Ermordung Beteiligten strafrechtlich verfolgt werden und das Verbrechen restlos aufgeklärt wird.

„Wir setzen unsere Kampagne für Gerechtigkeit für Daphne Caruana Galizia fort. Denn eine restlose Aufklärung des Falls ist nicht nur für die Lage der Pressefreiheit in Malta von Bedeutung, sondern auch international“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Viel zu viele Fälle von Morden an Medienschaffenden bleiben straflos. Aber wenn Gerechtigkeit hergestellt wird, sendet dies ein klares Signal, dass solche abscheulichen Verbrechen nicht ohne Folgen bleiben. Wir werden auch die kommenden Gerichtsverfahren in diesem Fall genau verfolgen und uns für dringend notwendige Reformen für die Pressefreiheit einsetzen, damit so etwas nie wieder passiert – weder in Malta noch anderswo.“

Am Freitag begann fast auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Mord vom 16. Oktober 2017 der Prozess gegen die beiden Auftragsmörder Alfred und George Degiorgio, bei dem rund 100 Zeuginnen und Zeugen angehört werden sollten und ein Geschworenenurteil gesprochen werden sollte. Das Verfahren wurde jedoch abrupt abgekürzt, indem die beiden Angeklagten auf „schuldig“ plädierten und einen Vergleich aushandelten. Neben einer Haftstrafe von jeweils 40 Jahren wurden sie dazu verurteilt, je 42.930 Euro für Gerichtskosten zu zahlen sowie zusätzlich je 50.000 Euro, die sie als Lohn für den Mord erhalten hatten.

Die Brüder Degiorgio waren bereits im Dezember 2017 festgenommen worden, nur wenige Monate nachdem Daphne Caruana Galizia am 16. Oktober 2017 durch eine Autobombe getötet worden war. Mit diesem Verfahren begann der erste Prozess überhaupt gegen Beteiligte an dem Verbrechen – knapp fünf Jahre nach der Tat eine längst überfällige Entwicklung. Fünf weitere Männer sind im Zusammenhang mit der Ermordung angeklagt und warten auf ihren Prozess, darunter der mutmaßliche Drahtzieher Yorgen Fenech.

„Wir begrüßen die Verurteilung von Alfred und George Degiorgio, die ein längst überfälliger Schritt in Richtung Gerechtigkeit für den Mord an Daphne Caruana Galizia ist. Fast fünf Jahre danach ist es wichtiger denn je, sicherzustellen, dass alle an diesem abscheulichen Verbrechen Beteiligten zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte Pavol Szalai, Leiter des EU- und Balkan-Referats von RSF, der im Rahmen einer gemeinsamen Mission internationaler Nichtregierungsorganisationen als Beobachter im Gericht saß. Die Mission war zum fünften Jahrestag in das Land gereist, um sich für Reformen im Bereich der Pressefreiheit einzusetzen und an Gedenkveranstaltungen teilzunehmen.

Der Prozess hatte eigentlich schon am 4. Oktober beginnen sollen. Er wurde aber verschoben, als Alfred Degiorgio nach einem Krankenhausaufenthalt aufgrund seines Hungerstreiks nicht vor Gericht erschien. Die Richterin verurteilte ihn wegen Missachtung des Gerichts zu einer Geldstrafe und ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens für den 14. Oktober an. Die RSF-Direktorin für internationale Kampagnen, Rebecca Vincent, beobachtete das Verfahren am 4. Oktober sowie eine Anhörung am 6. Oktober im Rahmen einer Verfassungsklage, die die Degiorgios eingereicht hatten, um ihrem gerade neu ernannten Rechtsbeistand mehr Zeit für die Vorbereitung zu geben. Beide Brüder nahmen an der Anhörung am 6. Oktober teil, obwohl Alfred nur zwei Tage zuvor behauptet hatte, zu schwach zu sein, um vor Gericht zu erscheinen. Die Richterin wies die Verfassungsbeschwerde am 11. Oktober zurück, so dass der Strafprozess wie geplant am 14. Oktober fortgesetzt werden konnte.

Der dritte Auftragsmörder war bereits im Februar 2021 ohne Gerichtsprozess zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Vincent Muscat wurde ebenfalls im Rahmen eines Vergleichs zu 15 Jahren Gefängnis und zur Zahlung von Gerichtskosten in Höhe von 42.000 Euro verurteilt. Kurz zuvor hatte Muscat sich schuldig bekannt, an der Ermordung beteiligt gewesen zu sein und unter anderem die Bombe unter dem Auto mit platziert zu haben.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Malta auf Platz 78 von 180 Staaten. Seit der Ermordung von Daphne Caruana Galizia im Jahr 2017 ist das Land um 31 Plätze abgerutscht. Mehr Informationen zur Lage der Pressefreiheit in Malta unter www.reporter-ohne-grenzen.de/malta.

Urheberrecht
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Weiteres im Rückblick auf DL :

Mord an einer Mutigen

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Grafikquellen       :

Oben   —    Daphne Caruana Galizia,  https://twitter.com/RED92cadadiamas

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Unten   —   55 Triq Ix – Xatt, Tas-Sliema SLM 1022, Malta

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.
Namensnennung: Alan C. Bonnici

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Rechtsterrorismus ?

Erstellt von Redaktion am 14. Oktober 2022

GBA: Festnahme eines mutmaßlichen Mitglieds einer terroristischen
Vereinigung

Von Jimmy Bulamik

Karlsruhe (ots) – Die Bundesanwaltschaft hat heute (13. Oktober 2022) auf Grundlage eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 10. Oktober 2022 die deutsche Staatsangehörige Elisabeth R. im Landkreis Mittelsachsen durch Beamte des mit den Ermittlungen beauftragten Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz mit Unterstützung sächsischer Polizeikräfte festnehmen lassen. Zudem erfolgten Durchsuchungsmaßnahmen bei der Beschuldigten sowie einer nicht beschuldigten Person.

Die Beschuldigte ist dringend verdächtig, sich als Rädelsführerin an einer terroristischen Vereinigung beteiligt zu haben (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 StGB). Daneben wird ihr die mittäterschaftliche Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen den Bund zur Last gelegt (§ 83 Abs. 1, § 25 Abs. 2 StGB).

Dem Verfahren liegen im Wesentlichen folgende Vorwürfe zugrunde:

Elisabeth R. verfolgt eine Ideologie, nach der die auf dem Grundgesetz beruhende staatliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland keine Geltung beanspruchen könne. Vielmehr existiere das Deutsche Reich auf Grundlage der Verfassung von 1871 weiter. Deshalb sei die Bundesrepublik Deutschland mittels einer „konstituierenden Versammlung“ in ein autoritär geprägtes Regierungssystem zu überführen.

Spätestens im Januar 2022 schloss sich die Beschuldigte zur Verwirklichung dieser Bestrebungen einer Gruppierung an, der zumindest auch die gesondert Verfolgten Thomas O., Sven B., Michael H. und Thomas K. angehörten (vgl. dazu Pressemitteilung Nr. 31 vom 26. April 2022). Diese Gruppierung hatte es sich zum Ziel gesetzt, in Deutschland bürgerkriegsähnliche Zustände auszulösen und damit letztlich den Sturz der Bundesregierung und der parlamentarischen Demokratie herbeizuführen. Hierzu war geplant, einen bundesweiten „Black Out“ durch Beschädigung oder Zerstörung von Einrichtungen  zur Stromversorgung herbeizuführen. Überdies sollte der amtierende Bundesminister für Gesundheit, Prof. Dr. Karl Lauterbach, gegebenenfalls unter Tötung seiner Personenschützer, gewaltsam entführt werden.

Die Vereinigung untergliederte sich in einen operativen „militärischen“ und einen „administrativen“ Zweig. Elisabeth R. war im administrativen Teil aktiv. Dort nahm sie eine übergeordnete Stellung ein und machte Vorgaben, um die Pläne der Gruppierung voranzutreiben und zu koordinieren. Sie war in Bemühungen insbesondere von Thomas O. und Sven B. eingebunden, Waffen und Sprengstoff für die Vereinigung zu beschaffen. Wiederholt forderte sie zudem eine rasche Umsetzung des Vorhabens ein und äußerte diesbezüglich konkrete Terminvorstellungen. Zugleich war die Beschuldigte mit der Rekrutierung geeigneter gleichgesinnter Personen befasst und führte auch selbst Gespräche für die Anwerbung potentieller Vereinigungsmitglieder. Darüber hinaus verfasste sie diverse Schriftstücke, die bei den geplanten Aktionen Verwendung finden sollten.

Die Beschuldigte wird im Laufe des heutigen Tages (13. Oktober 2022) dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs vorgeführt, der ihr den Haftbefehl eröffnen und über den Vollzug der Untersuchungshaft entscheiden wird.

Rückfragen bitte an:

Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA)
Dr. Ines Peterson
Staatsanwältin beim BGH
Brauerstr. 30
76135 Karlsruhe
Telefon: 0721 8191-4100
Fax: 0721 8191-8492
E-Mail: presse@generalbundesanwalt.de
www.generalbundesanwalt.de/

Weiteres Material: presseportal.de/blaulicht/pm/14981/5343532
OTS: Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA)

Impressum
news aktuell GmbH, Sitz: Mittelweg 144, 20148 Hamburg
Telefon: +49 (0)40 4113 32850, Telefax: +49 (0)40 4113 32855,
E-Mail: info@newsaktuell.de, Web: www.newsaktuell.de
Registergericht: Hamburg, Registernummer: HRB 127245
Umsatzsteuer-Identifikationsnummer gemäß § 27 a Umsatzsteuergesetz: DE815240626
Vertretungsberechtigte Personen: Frank Rumpf (Geschäftsführer), Edith Stier-Thompson (Geschäftsführerin)

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Oben     —     die Feuersbrannenwohnung des Nationalsozialistischen Untergrunds in Zwickau

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Die „UBER – FILES“

Erstellt von Redaktion am 7. Oktober 2022

Die «Uber-Files» und die akademische Korruption

Quelle      :        INFOsperber CH.

Marc Chesney /   

Mit gut bezahlten Uber-Gutachten blamierten sich Professoren. Das war kein Einzelfall und sollte ein Weckruf sein.

Vor kurzem deckten die Uber-Files auf, dass renommierte Finanz- und Wirtschaftsprofessoren in Frankreich und Deutschland im Jahr 2016 für Uber Berichte verfasst hatten, in denen sie die Verdienste des Unternehmens lobten. Uber würde die Verkehrsanbindung von städtischen Randgebieten fördern und die Produktivität erhöhen.

Es zeugt von einer gewissen Doppelbödigkeit oder sogar von Zynismus, dass die Verfasser der Berichte den Stundenlohn der Fahrer in Höhe von 20 Euro hervorhoben (ohne Berücksichtigung der Versicherungs- und Treibstoffkosten), während sie selbst je 100’000 Euro für diese Lobbyarbeit erhalten haben sollen.

Ganz allgemein ging es darum, die Uberisierung der Wirtschaft zu fördern, was in Wirklichkeit die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen vorantreibt.

Die abgeschirmte akademische Welt der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften spielt mit solchen Gutachten und Studien eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung von Sonderinteressen. Die Tatsache oder die Hoffnung von Professoren, zusätzliche Honorare von großen (Finanz-) Institutionen zu erhalten, ist Anreiz genug.

Uber ist ein Beispiel von vielen

Die Medien liefern gelegentlich Beispiele dafür. Laut der französischen Monatszeitung Le Monde diplomatique vom Mai 2011 wurde ein renommierter Professor der London Business School vor der Finanzkrise von 2008 großzügig dafür honoriert, einen Bericht über die Glanzleistungen des isländischen Finanzsektors zu verfassen. Bekanntlich gingen in der Folge die drei Großbanken des Landes innerhalb von wenigen Tagen in Konkurs.

Die Spitze des Eisbergs

Diese von den Medien an die Öffentlichkeit getragenen Beispiele sind nur Teil eines Gesamtphänomens und werfen ein grelles Licht auf die Korruption in akademischen Kreisen. Es ist daran zu erinnern, dass die ersten eigenständigen Fakultätsinstitute für Finanzwissenschaft erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Zu jener Zeit begann der Neoliberalismus mit seinen Deregulierungs- und Privatisierungswellen eine dominierende Rolle zu spielen. Zuvor hatten die wenigen auf diesem Gebiet tätigen Professoren zu den Fakultätsdepartementen für Volks- oder Betriebswirtschaftslehre gehört.

Bankensektor mit radikal neuem Geschäftsmodell

Professoren mit einer herkömmlichen Ausbildung in Volks- oder Betriebswirtschaftslehre konnten auf die neuen Fragen der Finanzinstitutionen keine zufriedenstellenden Antworten liefern. Denn die Finanzinstitute hatten ihr Geschäftsmodell radikal neu ausgerichtet. Die traditionelle Aufgabe der Großbanken, bei der ein Gewinn aus der Differenz zwischen Kreditgeber- und Kreditnehmer-Zins erwirtschaftet wird, war und bleibt ein langsames Geschäft. Dieses traditionelle Geschäft ist für die neuen Bänker Generationen geradezu langweilig.

Aufgrund der Deregulierungs- und Privatisierungswellen einerseits und des technologischen Fortschritts andererseits entwickelten sich weitere Tätigkeitsgebiete, die erhebliche und schnelle Gewinne versprachen. Mit den Aktivitäten der Fusionen & Akquisitionen sowie der Entwicklung riesiger Handelsräume, wo Aktien, Obligationen, Derivate usw. gehandelt werden konnten, entstanden auch neue akademischen Disziplinen rund um die Unternehmensfinanzierung und -bewertung («Corporate Finance»), sowie der Kapitalmarktheorie («Market Finance»). Im letzteren Fall war eine Grundausbildung in Mathematik, Physik oder Informatik häufig nützlicher als ein Abschluss in Wirtschaftswissenschaften.

Zuerst private Business Schools, dann Universitäten

So entwickelte sich schnell eine Casino-Finanzwirtschaft. Die Großbanken erreichten internationale Dimensionen und wurden systemrelevant, sodass sie bei unverhältnismäßigen Risiken und zu großen Verlusten auf staatliche Unterstützung zählen können. Dies alles selbstverständlich im Namen des Liberalismus.

Selbstfahrender Uber-Prototyp in San Francisco.jpg

Es musste daher ein Lehrkörper aus dem Boden gestampft werden, der die zukünftigen Experten auf diesen beiden Gebieten ausbilden konnte. Die Kosten für diese Ausbildungen wie insbesondere der Business Schools, die ursprünglich vielfach der Privatsektor finanzierte, wurden im Rahmen von akademischen Ausbildungen zunehmend der öffentlichen Hand übertragen und somit vom Steuerzahler finanziert.

So werden heutzutage beispielsweise Gelder des öffentlichen Haushalts dazu verwendet, die zukünftigen Manager von Hedgefonds auszubilden. Das Hauptziel dieser Fonds besteht darin, den Superreichen die Möglichkeit zu geben, noch reicher zu werden. Ein Mindestmaß an Anstand würde es erfordern, dass diese privaten Strukturen die besagten Kosten selbst tragen.

Akademische Söldner

Die Großbanken, welche die Schaffung dieses Lehrkörpers vorantrieben, wollten sich bei Bedarf in das Gewand der Wissenschaftlichkeit hüllen können. Sie sehen es beispielsweise gerne, wenn «akademische» Publikationen absurd hohe Vergütungen ihrer Geschäftsleitungen trotz eventuell katastrophaler Leistung «wissenschaftlich» rechtfertigen. Bei Bedarf möchten die betreffenden Finanzinstitutionen über akademische Söldner verfügen können, die sich öffentlich zu ihren Gunsten positionieren, oder über dienstbare Lakaien, die es vorziehen, zu schweigen.

Dies war ein strategischer Schachzug gegen alle, die es wagten, die übermäßig hohen Vergütungen und ganz allgemein die Casino-Finanzwirtschaft zu kritisieren.

In vielen öffentlichen Universitäten, insbesondere in der Schweiz und in Deutschland, werden Finanzprofessoren mit Steuergeldern gut entlohnt. Man sollte erwarten dürfen, dass sich diese Professoren dem Gemeinwohl und den Interessen der Mehrheit widmen, Fehlentwicklungen des Finanzsektors untersuchen sowie auch Lösungen vorschlagen. Es wäre Aufgabe dieser Professoren, die übermäßige Macht des Finanzsektors und die damit verbundene Uberisierung der Wirtschaft aus Sicht des öffentlichen Interesses kritisch zu analysieren.

Doch zu viele richten ihre Lehr- und Forschungstätigkeit nach den Bedürfnissen und Interessen des Finanzsektors aus.

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Eine erste Fassung dieses Artikels hat Le Temps am 19. Juli 2022 publiziert.

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Grafikquellen        :

Oben      —    Taxi mit Anti-Uber Banner bei einem Protest in Mexiko-Stadt, übersetzt als „Wenn Villa [vermutlich Pancho Villa] leben würde, wäre Uber nicht hier“

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Petra Kelly verstarb 1992

Erstellt von Redaktion am 3. Oktober 2022

Petra Kelly, die fast Vergessene

Von Pascal Beucker

Dreiteilige Dokumentation auf Sky. Eine neue Doku arbeitet ihre Bedeutung für die Grünen und die Friedensbewegung gut heraus. Mit Einschränkungen.

Als sie starb, war ihr Stern bereits verglüht. Die Zeit war über Petra Kelly hinweggegangen, jener Frau, der die Grünen so viel zu verdanken haben, doch von der sie nichts mehr hatten wissen wollen. Ihr gewaltsames Ende vor 30 Jahren beförderte die außergewöhnliche Politaktivistin noch einmal in schockierender Weise in jene Schlagzeilen, aus denen sie längst verschwunden war. Nun widmet sich Sky in einer dreiteiligen Dokumentation ihrem Leben und Sterben.

Petra Kelly wäre im November 75 Jahre alt geworden. An die heute weitgehend Vergessene zu erinnern, ist verdienstvoll. Ihre Bedeutung für die Gründung und die Anfangserfolge der Grünen ist für jene, die sie nicht von Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre selbst erlebt haben, heute kaum mehr zu erfassen. Geprägt von der Bürgerrechtsbewegung in den USA, war sie das weltweit bekannte Gesicht der Anti-Atom- und Friedensbewegung in der alten Bundesrepublik und der daraus maßgeblich entstandenen „Anti-Parteien-Partei“, wie Kelly die Grünen definierte.

Als „Popikone, aber durchseelt von Politik“, beschreibt sie ihre einstige Mitstreiterin Antje Vollmer. „Ohne Petra Kelly wären die Grünen nie über die Fünfprozenthürde gekommen.“ Der Einzug in den Bundestag 1983 mit 5,6 Prozent war der absolute Höhepunkt ihrer politischen Kar­riere. Danach ging es bergab.

„Politischer Aktivismus ist unglaublich anstrengend und kann auch zermürbend sein“, blickt Carla Reemtsma von Fridays for Future in der Dokumentation auf Kelly. Denn als Aktivistin sei man in einer Rolle, die so nicht vorgesehen ist. „Für die gibt es eigentlich keinen Platz, und man muss immer und immer wieder dafür kämpfen, gehört zu werden“, so Reemtsma. Sie beeindrucke an Kelly „vor allem die Entschlossenheit zu sagen, ich gebe jetzt hier nicht auf“.

Bra­chia­le Umgangsformen

Die Filmschnipsel von ihrer Rede auf der großen Friedensdemonstration im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten geben einen Eindruck, mit welch unglaublicher Kraft und Energie die zierliche Kelly vor Hunderttausenden Menschen sprechen konnte. Doch im Bundestag wirkte sie verloren. „Wie ein kleines verlorenes Vögelchen“, formuliert es Marieluise Beck, die mit ihr und Otto Schily die erste Fraktionsspitze der Grünen bildete.

Getrieben von dem Vorsatz, die Welt zu retten, führte Kelly ein Leben auf der Überholspur, ohne Rücksicht auf sich und andere

Mit ihrer Vorstellung von Politik geriet Kelly, die sich keiner Parteiströmung zurechnete, zunehmend ins Abseits. Daran waren nicht nur die damals vorherrschenden bra­chia­len Umgangsformen in der Grünen-Fraktion verantwortlich, gegenüber denen die heutigen Auseinandersetzungen in der Linkspartei wie ein Kuraufenthalt erscheinen. Mit ihrer rigorosen Moral und ihren überbordenden Ansprüchen – ihre Reise- und Portokosten sprengten jedes Budget – nervte Kelly irgendwann nur noch. 1990 schied sie als Hinterbänklerin aus dem Parlament.

Getrieben von dem unbedingten Vorsatz, die Welt zu retten, führte Kelly ein Leben auf der Überholspur, ohne Rücksicht auf sich und andere. Dabei wollte sie nicht wahrhaben, dass sie irgendwann mit Höchstgeschwindigkeit in eine Sackgasse raste. „Petra war immer gehetzt“, erinnert sich Beck. „Das hält ein Mensch nicht gut durch.“

Der Versuch eines Comebacks geriet zum Desaster: Auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen 1991 in Neumünster scheiterte Kelly krachend mit ihrer Kandidatur als Bundessprecherin, wie damals noch die Vorsitzenden genannt wurden. Gerade einmal 32 von 650 gültigen Stimmen erhielt sie.

Unter Raubtieren – Genau das ist Politik – Sie war nie Anders

Die Grünen konnten mit Kelly nichts mehr anfangen. „Sie wurde nicht gut behandelt, wirklich nicht, von ihren Gegnern sowieso nicht, aber eben leider auch nicht von den Grünen“, konstatiert der Liedermacher Konstantin Wecker, der Kelly freundschaftlich verbunden war und auf ihrer Trauer­feier spielte.

Die Bandbreite der Ge­sprächs­part­ne­r:in­nen, deren in der Regel gut ausgewählte Zitate die Autorin Anna Grün mit historischen Aufnahmen und Spielszenen zusammenmontiert hat, ist eine Stärke der Doku. Zu Wort kommen nicht nur einstige Weggefährt:innen, sondern auch politische Kon­tra­hen­t:in­nen wie Theo Waigel, der sich äußerst wertschätzend über Kelly äußert.

Und der eine Wahrheit ausspricht, die heutige Grüne nicht unbedingt gern hören: „Ich glaube, sie wäre nicht bereit gewesen zu sagen, wir müssen jemanden auch mit Waffen helfen“, so der frühere CSU-Chef und Bundesfinanzminister. „Sie ist eine unbedingte Pazifistin gewesen, ohne Kompromisse.“

Unsinnige Spekulationen

Ergänzt werden die Aussagen der Zeit­zeu­g:­in­nen durch die heutiger politischer Prot­ago­nis­t:in­nen wie der Klimaaktivistin Reemtsma und der schleswig-holsteinischen Grünen-Ministerin Aminata Touré, die beide erst nach Kellys Tod geboren wurden, aber äußerst reflektiert auf das Leben und Wirken Kellys blicken. Es hätte also eine ganz hervorragende Dokumentation sein können.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Joseph Beuys mit Petra Kelly. Fotografiert von Rainer Rappmann

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»Biolabs«-Desinformation

Erstellt von Redaktion am 21. September 2022

So schafften es Putins Lügen bis in den Bundestag

Wer war hier der Mund und wer das Ohr

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Russland investiert Hunderte Millionen Dollar, um Politik zu beeinflussen – auch in Europa, auch in Deutschland. Eine aktuelle Fallstudie zu Moskaus Propaganda zeigt: Das ist nur die Spitze des Eisbergs.

»Der Kreml und seine Mittelsleute haben diese Mittel in dem Bemühen zur Verfügung gestellt, andere politische Öffentlichkeiten im Sinne Moskaus zu beeinflussen.«

Das US-Außenministerium in einer Zusammenfassung von Geheimdiensterkenntnissen (2022)

»Diese Leute repräsentieren nicht den Staat. Das ist eine Angelegenheit von Privatpersonen, nicht des Staates.«

Wladimir Putin kommentiert die »Trollfabrik« seines Handlangers Jewgenij Prigoschin bei einer Pressekonferenz mit Donald Trump in Helsinki (2018)

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KOLUMNE FERNSICHT – USA

Erstellt von Redaktion am 27. August 2022

Wenn niemand mehr eure Scheißjobs machen will

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Von   :   Laurie Roja

In den USA ist die gegenwärtige Lage am Arbeitsmarkt voller Widersprüchlichkeiten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war Arbeitslosigkeit einer der wichtigsten Indikatoren für eine Wirtschaftskrise.

Doch die derzeitige Krise ist vor allem durch Inflation, eine drohende Rezession und steigende Lebenshaltungskosten gekennzeichnet. Das scheint alles nicht mit der These von der Great Resignation – der „Kündigungswelle“ zusammenzupassen.

Seit einem Jahr sieht man überall an den Straßen „Wir stellen ein“-Schilder. 2021 haben 40 Millionen Beschäftigte ihre Jobs aufgegeben. Pop-Megastar Beyoncé griff diese Entwicklung mit ihrem Song „Break My Soul“ auf, einer Hymne, in der sie davon singt, dass es die „neue Erlösung“ sei, den Job hinzuwerfen.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es in den USA derzeit doppelt so viele offene Stellen wie Arbeitssuchende. Gesucht wird vor allem für die Dienstleistungsbranche – Fastfood-Restaurants, Megamärkte, Tankstellen, Lagerhäuser und Einzelhandel – also was man gemeinhin Scheißjobs nennt.

Am anderen Ende des Spektrums findet man bei LinkedIn ständig Suchanzeigen von Krypto- und Technologiefirmen, die versuchen, mit hohen Gehältern und Hinweisen auf eine tolle Work-Life-Balance neue Mit­ar­bei­te­r*in­nen anzuwerben. Aber sind Jobsuchende auf dem Arbeitsmarkt derzeit tatsächlich im Vorteil?

Für mich als schon älteres Mitglied der Millennial-Generation mit einem Masterabschluss von einer amerikanischen Top-Universität (der wegen hoher Studiengebühren mit einem erklecklichen Schuldenberg erkauft werden musste) ist es keine Überraschung, dass sich niemand um diese offenen Stellen reißt. Mein beruflicher Werdegang musste drei finanziell turbulente Knock-outs wegstecken, die mir durch die Terroranschläge vom 11. September 2001, die Finanzkrise von 2008 und die Coronapandemie beschert wurden. Der Traum, irgendwann wie meine Eltern in den Ruhestand gehen zu können, ist schon lange vorbei. Die Great Resignation wird nicht nur durch die Pandemie ausgelöst, sondern durch den angesammelten Frust der Millennials und der nach ihnen kommenden Zoomer, die nicht nur ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen, sondern mit ihrer Arbeit einen sinnvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten möchten.

Die Apokalyptischen Reiter.jpg

Hier schwebt ein Teil von den politischen Verbrechern !

Weil es für meine Generation so viel schwieriger geworden ist, ein eigenes Haus zu erwerben oder Geld fürs Alter zurückzulegen, scheinen sich die beruflichen Optionen auf ein „alles oder nichts“ zu reduzieren – und diese Sicht ist bei den Zoomern noch stärker verbreitet als bei uns Millennials. Also entweder du fährst rücksichtslos die Ellenbogen raus und rackerst mit gewaltigem Stress und ständiger Unsicherheit, oder du setzt auf volles Risiko und investierst in Start-ups oder Kryptowährungen, oder du verweigerst dich der Arbeitswelt ganz und führst ein klägliches Leben als Obdachloser und Drogenabhängiger. An beiden Enden des Spektrums hat sich das Ausmaß an Depressionen und Suiziden in dieser Generation vergrößert.

Quelle       :          TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Mord ist auch Terrorismus

Erstellt von Redaktion am 7. August 2022

Einstweilige Hinrichtung

Mörder dürften nicht als Mensch angesprochen werden.

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Die Regierung der USA hat einen mutmaßlichen Terroristen ohne Prozess heimtückisch ermorden lassen. Die deutsche Regierung räsoniert derweil über die Unverbrüchlichkeit des Rechts im Südchinesischen Meer. War was?

Vorwort

In dieser Woche muss man aus gegebenem Anlass einmal wieder zur Problematik der Doppelnull schreiben, also zur unvergleichlich spannenden, musikalischen und witzigen Lizenz zum Töten allfälliger Feinde, welche die geheimen Geheimagenten mit einstelliger Personalkennziffer im Dienst einer mächtigen Macht des Guten seit 1953 auszeichnet. In Erinnerung an entspannte Stunden bei Erfrischungen sowie an Frau Amtsrätin Moneypenny’s (Miss ›Petty‹ Pettaval) Sehnsucht nach was auch immer präsentieren wir Ihnen daher zur Einleitung:

Fünf Sachverhalte

Fall 1: Am 12. Oktober 1957 ermordete der KGB-Agent Bogdan Nikolajewitsch Staschinsky in München auf Befehl des Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR einen Führer der ukrainischen nationalistischen Organisation OUN, Lew Rebet. Am 15. Oktober 1959 ermordete Staschinsky, wiederum in München, in demselben Auftrag den OUN-Führer Stepan Bandera. Anfang August 1961 floh Herr Staschinsky nach West-Berlin, wurde verhaftet und am 19.10.1962 vom Bundesgerichtshof (damals noch erstinstanzlich!) wegen der beiden (heimtückischen) Mordtaten verurteilt (Az. 9 StE 4/62, amtliche Sammlung BGHSt 18, S. 87).

Fall 2: Am 2. Mai 2011 ermordete (vermutlich mit gemeingefährlichen Mitteln) ein namentlich nicht bekannter Soldat der Streitkräfte der USA auf Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika den Führer der Organisation al-Qaida, Osama Bin Laden, in Abbottabad/Pakistan. Die Leiche des Opfers wurde sodann von anderen Soldaten der USA über dem offenen Meer entsorgt. Herr Präsident der USA zeigte sich überaus zufrieden über den gelungenen Mord.

Fall 3: Am 23. August 2019 erschoss der russische Staatsbürger Wadim Krassikow in Berlin im Auftrag des russischen Geheimdienstes den georgischen Staatsbürger Zelimkhan Khangoshvili, der als »Feind« Russlands und Verräter galt (sog. Tiergartenmord). Das Kammergericht Berlin verurteilte den Täter am 15.12.2021 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes.

Fall 4: Am 30. Juli 2022 ermordeten möglicherweise bislang unbekannte Soldaten der Russischen Föderation auf Befehl bislang unbekannter übergeordneter Stellen etwa 50 ukrainische Kriegsgefangene in einem Gefangenenlager in der Ostukraine. Anschließend behaupteten die Täter möglicherweise wahrheitswidrig, die Tat sei (vorsätzlich) von ukrainischen Militärangehörigen begangen worden, um die Vernehmung der Gefangenen zu verhindern, die dem rechtsradikalen »Asow«-Regiment  angehört hatten. Am 4. August 2022 teilte der Generalsekretär der Vereinten Nationen (Uno) mit, es werde eine formelle Untersuchung des Vorfalls eingeleitet.

Fall 5: Am 31. Juli 2022 ermordete (heimtückisch) ein bislang unbekannter Soldat der Armee der USA auf Befehl des Präsidenten der USA in Kabul den Führer der Organisation Al-Qaida und Nachfolger des früheren Tatopfers Bin Laden, Aiman al-Sawahiri. Die Tat wurde, wie die Presse (technikbegeistert) berichtet, mittels zweier sprengstofffreier Geschosse verübt, die mit einem Gewicht von je 45 Kilogramm und ausfahrbaren »Klingen« nach Angaben des Geheimdienstes der USA präzise an jedem Ort der Erde einen Autofahrer erschlagen können, ohne den Beifahrer zu verletzen (SZ, 03.08.2022). Das glauben wir jetzt einmal ganz fest, in stiller Erinnerung an diverse afghanische Hochzeitsgesellschaften sowie im Vertrauen auf die fortschreitende Genialität von »Q«, Konstrukteur automatisch tötender Tomaten.

Wie bitte?

Sie fragen, sehr geehrte Leser, was die vorstehende Zusammenstellung soll? Zugegeben: Man hätte auch andere Fälle nehmen können. Sie sind aber nicht ganz zufällig ausgesucht und allesamt auch recht interessant – jeweils für sich, vor allem aber in ihrem Zusammenhang.

Der »Staschinsky-Fall« von 1962 ist dadurch berühmt (eher: berüchtigt) geworden, dass der Bundesgerichtshof hier die »extrem subjektive Tätertheorie« des Reichsgerichts (RG) weiter angewendet hat (siehe den berühmten »Badewannenfall«, RGSt Bd. 74, S. 84): Um den Überläufer Staschinsky nicht zu lebenslanger Haft verurteilen zu müssen, hielt der BGH den Auftraggeber für den »Täter«, den unmittelbar ausführenden Mörder dagegen nur für einen »Gehilfen« (§ 27 StGB): Ergebnis acht Jahre für zwei Morde.

Zum Fall der Ukraine-Gefangenen kann man vorerst nicht viel sagen. Die Berichte und Darstellungen widersprechen sich. Im Krieg lügen alle Seiten, was die Tastaturen hergeben. Allgemein kann gesagt werden: Würde sich der Verdacht bestätigen, dass russische Soldaten im Auftrag höherer Stellen gefangene »Feinde« umgebracht haben, um auf diese Weise Todes-»Urteile« zu vollstrecken, die gar nicht existierten, wäre dies ein schwerwiegendes Verbrechen. Konjunktiv, hypothetisch!

Deutlich näher beieinander liegen die Fälle 2 und 4 (Bin Laden und Sawahiri). Sie unterscheiden sich im Ambiente und in der Performance. Gewiss erinnern Sie sich, Leser, an den kleinen Schnappschuss aus dem situation room des Weißen Hauses, mit Freund Barack auf heißer Spur und Freundin Hillary in fraulich-empathischem Mitfiebern. Es war sehr schön und gar nicht vergleichbar dem greisenzittrigen Selbstlob des Commander-in-Chief (77).

Am vorerst bedeutendsten (und vor allem: uns betreffend) aber, verehrte Leser, erscheinen mir die Kommunikationsleistungen unserer jeweiligen Regierung. »Ich freue mich, dass es gelungen ist, Osama Bin Laden zu töten«, sprach einst die deutsche Bundeskanzlerin in die Kameras der Weltgeschichte. Das war, ich kann es nicht anders sagen, wohl eine Straftat nach § 140 Abs. 1 StGB (»Befürwortung von Straftaten«):

»Wer eine Tat (des Mordes)…in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, (…) öffentlich billigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«

Die einschlägige Paragrafenkette führt über § 140 zu § 126 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Ist dort aber zuverlässig verortet: Wer einen Mord befürwortet, ist strafbar, wenn der öffentliche Friede gefährdet (!) ist. Das ist, sagt »herrschende Meinung« seit 60 Jahren, das allgemeine Gefühl der Gesellschaft von Gesichertheit der Rechtsgüter, Gewaltfreiheit, Rechtssicherheit. Sagen wir mal so: Wenn der Artikel des sagenhaften »Göttinger Mescalero«, der einst eine »klammheimlich Freude« über die Ermordung des Generalbundesanwalts Buback bekundete und sich zugleich dafür schämte, eine Tat nach § 140 StGB war, dann war es die »Ich freue mich«-Äußerung der Bundeskanzlerin (!) a.D. allemal! Der Autor hat dies seit 2011 vielfach öffentlich dargelegt – allein, es fand sich kein Organ des Rechtsstaats, dem eine Erwägung der eigenen Zuständigkeit zu widmen.

Jetzt aber haben wir Frau Annalena Baerbock, Bundesministerin des Äußeren. Sie reist mit schweren Wortwaffen durch die Welt, und was immer die Lehrbücher der außenpolitischen Kunst ihr entgegensetzen mögen, schmilzt vor der moralischen Emphase des Regierungsmitglieds:

»Wir akzeptieren nicht, wenn das internationale Recht gebrochen wird (…)«,

sprach die Völkerrechtlerin in den USA »vor Studenten«. Ihr Thema war zwar nicht der politische Auftragsmord, sondern eine etwas verquere Übertragung des Ukrainekriegs auf die strategische Lage im chinesischen Meer. Daher ging ihr Satz weiter:

»(…) und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleineren Nachbarn überfällt – und das gilt natürlich auch für China)«.

Quelle         :          Spiegel-online        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Osama bin Laden sitzt mit seinem Berater Dr. Ayman al-Zawahiri während eines Interviews mit dem pakistanischen Journalisten Hamid Mir zusammen. Hamid Mir machte dieses Bild während seines dritten und letzten Interviews mit Osama bin Laden im November 2001 in Kabul. Dr. Ayman al-Zawahri war in diesem Interview anwesend und fungierte als Übersetzer von Osama bin Laden.

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Polizeigesetz für Hessen?

Erstellt von Redaktion am 16. Juli 2022

Hessen will Kameraüberwachung ausweiten

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von   :   

Die hessische Regierungskoalition aus Grünen und der CDU will der Polizei mehr Befugnisse geben. Nun diskutiert der Landtag über mehr Videoüberwachung, verlängerte Überwachungsmaßnahmen und eine Umstrukturierung der hessischen Spezialeinheiten.

Im März hat die schwarz-grüne hessische Landesregierung einen Entwurf zur Anpassung des hessischen Polizeigesetzes eingebracht. Die Abwehr von Gefahren solle optimiert werden, „insbesondere im Hinblick auf eine effektivere Bekämpfung des Rechtsextremismus“, heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs. Doch die geplante Polizeigesetz-Änderung würde vor allem die Freiheitsrechte der Bürger*innen einschränken.

Aus diesem Grund regt sich in der Opposition Widerstand gegen das geplante Gesetz. Der innenpolitische Sprecher der Linkspartei bezeichnet den Entwurf als „Mogelpackung“. „Zahlreiche Regelungen haben mit verstärktem Kampf gegen rechts nicht das Geringste zu tun“, so Torsten Felstehausen. Am heutigen Freitag steht im Innenausschuss des hessischen Landtags eine Sachverständigen-Anhörung zu dem Entwurf auf der Tagesordnung.

Mehr Überwachung der Bürger geplant

Die Landesregierung will Orte wie Flughäfen, Bahnhöfe, Einkaufszentren und Packstationen automatisch als „Gefahrenpunkte“ einstufen. An diesen Orten könnte die Polizei dann Videoüberwachung durchführen, ohne das besonders begründen zu müssen. Das kritisierte der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Stefan Müller: „Das bedeutet übersetzt, das künftig alle Einkaufszentren und Sportstätten auch in kleinen Städten und Gemeinden videoüberwacht werden können. Es geht nicht mehr um neuralgische Punkte.“

In dieser Sicherheitslogik ist auch geplant, das sogenannte IP-Tracking auszuweiten. Es wäre demnach bereits zur Gefahrenabwehr möglich, also bevor eine Person eine Straftat begangen hat. Beim IP-Tracking kann die Polizei beispielsweise mithilfe einer präparierten E-Mail die IP-Adresse von Nutzer*innen herausfinden, um sie leichter identifizieren zu können.

Mit dem Gesetz würde auch die Höchstdauer von richterlich angeordneten geheimen Observationen fallen. Aktuell sind Maßnahmen wie Wohnraumüberwachung oder Abhörmaßnahmen auf maximal ein Jahr befristet. In Zukunft könnten diese von einem Gericht in Drei-Monats-Schritten verlängert werden. „Sie erlauben langfristige Observationen oder den Einsatz von verdeckten Ermittlern schon bei Hinweisen darauf, dass jemand zukünftig mutmaßlich eine Volksverhetzung oder Anleitung zu einer drohenden Straftat begehen könnte“, beanstandete Müller das vorhaben.

Kein Racial Profiling mehr?

Vieles im Gesetz bezieht sich nicht explizit auf die Gefahr von Rechtsextremisten innerhalb und außerhalb der Polizei. Allerdings strebt die Regierung eine Reform der hessischen Polizei-Spezialeinheiten an. Nachdem Beamte des Frankfurter SEK durch extrem rechte Chats aufgefallen waren, sollen die verschieden Spezialeinheiten SEK, MEK und andere zusammengelegt werden.

Das soll laut dem Gesetz „die Wahrnehmung der einheitlichen Dienst- und Fachaufsicht“ ermöglichen und „Vermittlung einer einheitlichen Führungsphilosophie“ erreichen. Bei der Entdeckung der Chatgruppen hatte der hessische Innenminister Peter Beuth „ein von übersteigertem Korpsgeist geprägtes Eigenleben“ kritisiert.

Dem Politikwissenschaftler Maximilian Pichl geht das nicht weit genug. In seiner schriftlichen Stellungnahme schreibt er: „Die rein organisatorischen Veränderungen adressieren jedoch nicht eindeutig das Problem, wie zukünftig gegen Rassismus innerhalb der Sicherheitsbehörden vorgegangen werden kann.“

Zudem soll der Begriff „polizeiliche Erfahrung“ bei verdachtsunabhängigen Kontrollen aus dem hessischen Polizeigesetz gestrichen werden. Durch diesen hatte die Polizei eine Rechtfertigung, nach rassifizierten Merkmalen wie „Hautfarbe“ zu kontrollieren – auch als Racial Profiling bekannt. Dieses Vorgehen ist in Deutschland eigentlich verboten, wird aber trotzdem alltäglich durchgeführt, wie Betroffene und Menschenrechtsorganisationen berichten.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen      :

Oben     —     Demonstration „Stopp russische Aggression – Frieden in Europa“, Köln, Roncalliplatz Überwachungskameras auf der Domplatte/Ecke Domgäßchen in Köln. Da auf der Domplatte die Demonstration stattfindet, hat die Polizei die Kameras durch kleine Rollos deaktiviert. Hersteller: Dallmeier. Modell: Panomera. Jedes Kameragehäuse enthält mehrere Einzelkameras

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»Basta Mafia!«

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2022

Wie sich der Rechtsstaat gegen das organisierte Verbrechen behauptet

Caponnetto Falcone Borsellino.jpg

Antonino Caponnetto, Giovanni Falcone und Paolo Borsellino

Am 23. Mai jährt sich in Italien ein schicksalhaftes Ereignis zum dreißigsten Mal: An diesem Tag im Jahr 1992 sprengte die italienische Mafiaorganisation Cosa Nostra den Richter Giovanni Falcone mit einer halben Tonne Dynamit in die Luft – und mit ihm seine Frau Francesca Morvillo, drei Mitglieder seiner Eskorte und 300 Meter der Autobahn bei Capaci. Die Detonation der Bombe war so intensiv, dass sie von Seismografen als kleines Erdbeben registriert wurde.

Noch heute erinnert sich jeder Sizilianer genau daran, was er in jenem Moment tat und fühlte, als er von der Ermordung Falcones erfuhr. Für einen kurzen Augenblick schien es damals, als ob die Welt in Sizilien stillstünde. Doch nur wenige Wochen später, am 19. Juli 1992, erlitt Falcones Jugendfreund, der Richter Paolo Borsellino, das gleiche Schicksal. Fieberhaft hatte er in den Wochen nach dem Mord an dessen Aufklärung gearbeitet und die Verwicklungen Roms in das Attentat untersucht.

Man könnte von der Chronik zweier angekündigter Tode sprechen – viele Italiener, einschließlich Falcone und Borsellino selbst, wussten, dass sie ihr Engagement wahrscheinlich mit dem Leben bezahlen würden. Und dennoch nahmen sie den Kampf gegen die Mafia auf und lösten damit eine Revolution der Rechtsstaatlichkeit aus, die bis heute nachwirkt.

Die Attentate haben Italien ähnlich geprägt wie der 11. September 2001 die USA. Die Mehrheit der sizilianischen Bevölkerung sagte 1992 zum ersten Mal „basta!“ – basta zum Terror der Mafia, basta zur Kollusion zwischen Cosa Nostra und der Politik, basta zur Missachtung des Rechtsstaats, basta zum Klima der Angst. Die breite soziale Bewegung, die nach der Ermordung Falcones und Borsellinos entstand, erzeugte wiederum Druck auf die politischen Eliten, entschiedener gegen die Mafia vorzugehen. So schickte Rom die Armee nach Sizilien, fasste den Jahrzehnte im Untergrund lebenden damaligen „Boss der Bosse“ Totò Riina, verabschiedete eine wichtige Antimafia-Gesetzgebung, verankerte verbindlich Antimafia-Erziehung im Schulunterricht und brachte eine Reihe hochrangiger Politiker wegen Mafiaverwicklungen vor Gericht.

Wie aber konnte der Rechtsstaat in einem Territorium Fuß fassen, das traditionell seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten gefolgt war? Und was lässt sich daraus mit Blick auf Kalabrien – der Heimstätte der heute mächtigsten kriminellen Organisation Europas, der ‘Ndrangheta –, aber auch mit Blick auf Deutschland lernen? Denn auch die Bundesrepublik dient den italienischen Mafias mittlerweile als ein äußerst komfortables Rückzugsgebiet, begünstigt durch vielfältige Investitions- und Geldwäschemöglichkeiten und die Abwesenheit von Antimafia-Einheiten in staatlichen Behörden, aber auch und vor allem durch mangelndes Bewusstsein für ihre Ausbreitung.

»Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen«: Gewalt und Apathie im Sizilien der 1980er Jahre

2022 ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiges Gedenkjahr für Italien. Es markiert nicht nur den 30. Jahrestag der Attentate auf Falcone und Borsellino, sondern auch den 40. Jahrestag der Ermordung des Politikers Pio La Torre sowie des Generals Carlo Alberto dalla Chiesa. Pio La Torre war Initiator eines Gesetzentwurfs, der Verbindungen zur Mafia kriminalisiert und es dem Staat ermöglicht, das Vermögen verurteilter Mafiosi zu konfiszieren. Cosa Nostra reagierte auf die Gesetzesinitiative prompt und ermordete La Torre am 30. April 1982, zusammen mit seinem Fahrer Rosario Di Salvo. Daraufhin wurde Carlo Alberto dalla Chiesa als Präfekt nach Palermo entsandt, doch auch er starb am 3. September 1982 zusammen mit seiner Frau Emanuela Setti Carraro und seinem Leibwächter Domenico Russo durch ein Mafia-Attentat. So schockierend diese Morde auch waren, La Torre und dalla Chiesa waren lediglich zwei von hunderten Leichen, die die Straßen von Palermo in diesen Jahren pflasterten. Im Sizilien der 1980er Jahre herrschten kriegsähnliche Zustände, dennoch bestritten zu der Zeit viele, dass die Mafia überhaupt existiere. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – diese Haltung charakterisierte das Verhältnis der meisten Sizilianer zur alltäglich gewordenen Mafiagewalt, so der heutige Bürgermeister Palermos, Leoluca Orlando.

Resti dell'automobile della scorta di Giovanni Falcone (2).jpg

Der sizilianische Ausdruck futtitinni – übersetzt etwa als „sich nicht kümmern“, „sich nicht sorgen“ – beschreibt die Gelassenheit der Sizilianer in Bezug auf das Leben im Allgemeinen, ist aber auch auf ihr Verhältnis zu Recht und Gesetz im Speziellen anwendbar. Rechtsstaatlichkeit mussten die Sizilianer erst erlernen: In Süditalien hatte der Zentralstaat lange Zeit keine effektive Präsenz. So konnten private Akteure, die Vorläufer der heutigen Mafias, beginnend mit dem 19. Jahrhundert einen Parallelstaat etablieren, in dem sie Regeln setzten, eine Quasi-Steuer (den sogenannten Pizzo) erhoben und Gewalt und Korruption nutzten, um ihren Einfluss aufrechtzuerhalten. Rechtsstaatlichkeit bedeutet aber eben nicht, die eigenen Interessen unter vorgehaltener Waffe oder mit Hilfe von Bestechung durchzusetzen, sondern durch gesetzmäßig dafür vorgesehene Kanäle. Lange Zeit war dies für viele Süditaliener jedoch undenkbar – zu normalisiert war die alltägliche Gewalt der Mafia, zu groß die Angst, sich dem kriminellen System entgegenzustellen, zu gering der Anreiz für gesetzeskonformes Handeln.

Erst der sogenannte maxiprocesso sollte diesem kollektiven Verdrängungswillen ein Ende setzen, er initiierte eine „Reinigung der Gesellschaft“, wie es Francesco Petruzzella, Autor des Buchs „La mafia che canta“, formuliert. Am 10. Februar 1986 beginnt der Maxiprozess als Großereignis von historischer Tragweite, bei dem über 400 Mafiosi im raketensicheren Hochsicherheitsbunker des Ucciardone-Gefängnisses mitten in Palermo für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Alle Versuche von Cosa Nostra, das Verfahren zu untergraben, schlagen fehl: 1987 werden Höchststrafen gegen ihre Anführer verhängt, die 1992 final vom Obersten Gerichtshof bestätigt werden.

Dies war ein Novum, denn bis dahin hatte sich die Mafia immer wieder dem Zugriff der Justiz entziehen können. Der Maxiprozess hingegen war ein Signal des italienischen Rechtsstaates, dass er sich fortan zur Wehr setzen würde. Das Fundament für den Prozess wurde von einer Reihe mutiger Justizbeamter gelegt, die den sogenannten Antimafia-Pool formten, dem auch Giovanni Falcone und Paolo Borsellino angehörten. Im Kampf gegen die Mafia hatte sich folgende Regel immer wieder bestätigt: Wer isoliert ist, ist tot. Der Ermordung von Richtern und Staatsanwälten durch Cosa Nostra war oft eine Phase der Isolation vorausgegangen, in der die späteren Opfer sich vergeblich um Unterstützung im Kampf gegen die Mafia bemüht hatten. Die Etablierung des Pools war daher eine Maßnahme der Ermittler, nicht nur ihre Ermittlungsergebnisse, sondern auch das eigene Leben zu schützen.

Als der Oberste Gerichtshof die Urteile des Maxiprozesses bestätigte, sandte dies Schockwellen durch Cosa Nostra – hatte man doch erwartet, dass die Alliierten der Mafia (insbesondere innerhalb der langjährigen Regierungspartei Democrazia Cristiana) wie immer die Dinge im Sinne der Mafia „deichseln“ würden. Dieses Mal allerdings sollte der Rechtsstaat über die Mafiakollusion triumphieren, was wiederum Totò Riina dazu veranlasste, die Ermordung Giovanni Falcones anzuordnen.

Die Sizilianer sagen »basta!«

Damit aber war Riina zu weit gegangen. Die Attentate auf Falcone und Borsellino entfachten eine nie dagewesene soziale Mobilisierung gegen Cosa Nostra. Lange vor Angst gelähmt, war es nun blanke Wut, die die Palermitaner in Massen auf die Straße trieb. So erzählt Petruzzella, er habe nach den Attentaten eine Demonstration durch die Straße der Madonias, eine der mächtigsten Mafiafamilien in Palermo, organisiert. Die Demonstranten hätten die Madonias mit Namen und Vornamen beschimpft – eine solch offene Rebellion gegen Cosa Nostra sei bis dahin vollkommen „undenkbar“ gewesen.

1993 dann wurde der Mafiagegner und frühere Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, erneut in das höchste Amt der Stadt gewählt und setzte sich fortan für die „sizilianische Renaissance“ im Sinne der Konsolidierung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit auf der Insel ein. Die Grundlage für diesen kulturellen Wandel war bereits in den 1980er Jahren von Palermos Schulen gelegt worden – tatsächlich waren diese eine der ersten gesellschaftlichen Sektoren, in denen sich Widerspruch gegen Cosa Nostra regte. So hatte sich 1983 ein Antimafia-Schul- und Kulturkomitee mit dem Ziel gegründet, eine neue Generation von politisch aufgeklärten Jugendlichen hervorzubringen. Die Saat, die dadurch gesät wurde, ging 1992 auf, als die Zivilgesellschaft eine offene Rebellion gegen Cosa Nostra wagte. 1993 deklarierte das nationale Bildungsministerium dann die „Erziehung zur Rechtsstaatlichkeit“ als übergeordnetes Ziel. Dies hat durchaus Wirkung gezeigt: Die heutige Jugend in Sizilien ist wie keine andere aufgeklärt über die Rolle des organisierten Verbrechens in ihrer Gesellschaft. Aufgrund des gesellschaftlichen Drucks begann auch die Politik endlich, aggressiver gegen die Mafia vorzugehen. So lancierte Rom eine massive Repressionskampagne gegen Cosa Nostra, schickte die Armee nach Sizilien und fasste 1993 den langjährig flüchtigen „Boss der Bosse“ Totò Riina, als dieser am helllichten Tag durch Palermo kutschierte.

Haben die Sizilianer also durch den Schockmoment von 1992 Rechtsstaatlichkeit erlernt? Sicherlich haben die Attentate wichtige Impulse für die Herausbildung einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit geliefert, die auf dem Maxiprozess und frühen Bemühungen um eine Erziehung zur Rechtsstaatlichkeit in den 1980er Jahren aufbauen konnte. Nun ist es aber nicht so, als ob die Mafia nicht schon vorher im großen Stil gemordet hätte. Was war also 1992 anders? Die Erklärung liegt wohl zum einen in den Personen Falcone und Borsellino selbst, zum anderen in der Art und Weise ihres Todes. Beide Richter waren nationale Helden, die versucht hatten, Sizilien von der Mafia zu befreien, und beide erlitten ein so grausames wie spektakuläres Ende. Insbesondere das Attentat auf Falcone, die terroristische Natur der Attacke, die apokalyptischen Bilder der zerbombten Autobahn – dies hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Sizilianer eingebrannt.

Quelle       :        Blätter-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —     Antonino Caponnetto, Giovanni Falcone und Paolo Borsellino

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Es brennt in Neukölln

Erstellt von Redaktion am 28. Mai 2022

Seit Jahren tobt eine rechte Terrorserie im Süden von Berlin.

Von Gareth Joswig

Ein Untersuchungsausschuss soll nun rechte Behördenverstrickungen aufklären. Unterdessen hören die Anschläge nicht auf.

Der Besitzer des verbrannten Autos in der Hufeisensiedlung in Berlin-Neukölln nimmt es mit Galgenhumor, als er vor den verkohlten Resten seines Kombis steht. „Wollen Sie vielleicht ein Auto kaufen?“, fragt er, während er das nach verbranntem Gummi stinkende Wrack fotografiert – für die Versicherung, wie er sagt. Ob er sich vorstellen könne, warum jemand sein Auto angezündet hat, ob die Tat möglicherweise sogar einen politischen Hintergrund hat? „Nein“, sagt der Mann, „das ist vollkommen zufällig.“ Er wohne gar nicht hier, sondern sei nur zu Besuch bei einem Freund gewesen. Seinen Namen will der Mann nicht in der Zeitung lesen.

Was er nicht weiß: Tatsächlich wohnt ein israelisches Pärchen in dem Haus, vor dem sein Auto am vergangenen Wochenende angezündet wurde. Und laut Polizei gab es dort vor Kurzem einen Anschlag: Am 4. Oktober sprühte jemand mutmaßlich mit einem Reizstoffsprühgerät durch die Hecke des Gartens und traf dabei eine Frau. Am 9. November 2021 schmierte jemand an das Haus ein Hakenkreuz, sicher nicht zufällig am Jahrestag der Reichspogromnacht. Die Polizei schließt nach dem Fahrzeugbrand vergangenen Samstag dennoch zunächst ein politisches Motiv aus. Erst nachdem ein von einer Anwohnerin gefilmtes Video des brennenden Autos viral geht und viel öffentlichen Druck erzeugt, übernimmt der für Rechtsextremismus zuständige Staatsschutz den aktuellen Fall. Die Nachbarin filmte das Geschehen sprachlos aus ihrem Fenster, postete das Video auf Twitter und schrieb dazu: „Der 13. Brandanschlag seit Oktober. Rechtsterror. Kein Zufall!“ Die Flammen auf dem Video schlagen meterhoch und greifen auf die Äste einer Kiefer über, die direkt am Haus steht. Mehrere Anwohner sprachen der taz gegenüber von Glück, dass sich das Feuer nicht ausbreitete.

Es sind diese Bilder, die bei vielen in der Gegend böse Erinnerungen wecken. Im südlichen Teil des Bezirks Neukölln, im eher bürgerlich-beschaulichen Ortsteil Britz, terrorisiert ein Netzwerk militanter Neonazis seit über 12 Jahren systematisch Anwohnenende, die sich demokratisch engagieren oder öffentlich gegen Rechtsextremismus positionieren. Sie sprühten Morddrohungen, Hakenkreuze und NS-Parolen, sprengten Briefkästen, klauten Stolpersteine, zerstörten Fenster von Häusern, Cafés und Läden und verübten Brandanschläge auf zahlreiche Autos sowie auf ein Haus der linken Jugendorganisation „Die Falken“.

Ihre Opfer hatten die Neonazis zuvor oftmals systematisch ausgespäht. Nach Hausdurchsuchungen fand die Polizei Feindeslisten mit detaillierten Personendaten – über 500 Namen mit Angaben zu Adressen, Familienmitgliedern, Mitgliedschaften, Berufen, Autokennzeichen. Vereinzelt gibt es in den Daten gar Überschneidungen mit einer Liste des NSU-Kerntrios.

Aber trotz eines über Jahre erheblichen Personalaufwands mit mehreren Sonderermittlungsgruppen und -kommissionen sind Polizei und Behörden in Berlin weit davon entfernt, die Anschlagsserien mit den Höhepunkten 2011/2012 und 2016 bis 2018 aufzuklären. Das Vertrauen in den Staat ist bei vielen Betroffenen zerstört – zumal neben Ermittlungsversäumnissen zuletzt rechte Verstrickungen von Polizei und Staatsanwaltschaft bekannt wurden.

Warum die Ermittlungen im Neukölln-Komplex lange so erfolglos blieben, soll ab dem 3. Juni nun ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus aufklären. Fragwürdiges gibt es genug: So wurden der für die Ermittlungen verantwortliche Oberstaatsanwalt F. sowie ein weiterer Staatsanwalt wegen des Verdachts auf Befangenheit zwangsversetzt. Einer der beschuldigten Neonazis hatte sie in einem Chat als AfD-Wähler eingeschätzt, sie hätten angedeutet, auf der Seite der Hauptverdächtigen zu stehen, man habe also von den Ermittlungen nicht allzu viel zu befürchten.

Nachdem daraufhin die Berliner Generalstaatsanwaltschaft den Fall an sich zog, nahmen die Ermittlungen an Fahrt auf. Nach einem zunächst verfehlten Anlauf wurde mittlerweile eine hauptsächlich auf Indizien gestützte Anklage gegen fünf Personen eingereicht. Sie fokussiert sich auf die beiden hauptverdächtigen Neonazis Tilo P., ehemals Funktionär der AfD Neukölln, sowie Sebastian T., Ex-Vorstand der NPD Neukölln und mittlerweile bei der rechtsextremen Kleinpartei III. Weg aktiv. Neben zwei Brandstiftungen auf Autos werden ihnen Propagandadelikte vorgeworfen sowie im Fall von T. erschlichene Coronahilfen und Sozialleistungen.

Der Großteil des Neukölln-Komplexes bleibt dennoch unaufgeklärt – dabei rechnen Behörden der rechtsextremen Anschlagsserie allein von 2016 bis 2018 über 70 Straftaten zu, davon 23 Brandstiftungen.

Mehrere Betroffene, mit denen die taz sprach, sind nach dem jüngsten Brandanschlag verängstigt und fühlen sich aufgrund fehlender Aufklärung nicht ausreichend geschützt. Der betroffene Linken-Politiker Ferat Koçak sagte der taz, dass er nach den Bildern vom brennenden Auto nicht schlafen konnte: „Ich habe das Gefühl, der Objektschutz im Bezirk hat wieder nachgelassen. Das war ab 2014 auch schon mal so, danach gingen die Anschläge wieder los. Dass die Polizei nicht von Beginn an nach rechts ermittelt, kritisieren wir seit Jahren. Es gibt noch immer eine Aufklärungsrate von null Prozent.“

Insbesondere Koçak hat allen Grund, misstrauisch zu sein: Der Verfassungsschutz wusste durch Telefonüberwachungen, dass die Neonazis T. und P. den Linken-Politiker systematisch ausspähten und einen Anschlag planten. Obwohl der Geheimdienst seine Erkenntnisse mit der Polizei teilte, warnte diese Koçak nicht. Kurz danach brannte am 1. Februar 2018 nachts dessen Auto. Beinahe griff das Feuer auf das Haus über, in dem er und seine Eltern schliefen.

Und die Liste der Ungereimtheiten lässt sich fast beliebig verlängern: Der Polizist Detlef M. war über die AfD per Telegram-Chat und Mail mit einem der Hauptverdächtigen vernetzt und zudem Mitglied einer rechtsextremen Polizei-Chatgruppe. Der bis 2016 im Neukölln-Komplex ermittelnde Polizist Stefan K. wurde kürzlich zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er in seiner Freizeit aus rassistischen Motiven einen Afghanen krankenhausreif prügelte. Und der LKA-Beamte W. wird verdächtigt, einen führenden Neuköllner Neonazi in einer Kneipe getroffen zu haben.

Auch der Mord an Burak Bektaş ist seit über 10 Jahren nicht aufgeklärt

Quelle      :         TAZ-online       >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Autonome legten am 16. Juni 2021 ein Feuer in der Rigaer Straße, Ecke Liebigstraße

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Unten     —   Rigaer 94, Oktober 2020

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Der Schmerz der Anderen

Erstellt von Redaktion am 25. Mai 2022

Die NS-Erinnerungskultur ist bedroht.

Eingangstor des KZ Auschwitz, Arbeit macht frei (2007).jpg

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Ein Plädoyer, sie aus dem Geist der Empathie und der Solidarität neu zu begründen – radikal universell. Das sich entwickelnde Völkerrecht fand für die Taten von Europäern außerhalb Europas keine Anwendung.

Schreibt die Gegenwart die Geschichte um? Der Ukrainekrieg ist ein Kampf um Erinnerung, um das moralische Erbe des Zweiten Weltkriegs und des Antifaschismus – und dieser Kampf wird keineswegs nur von Putin geführt. Manche bezeichnen mit den Begriffen Holocaust, Endlösung und Auschwitz nun gegenwärtige Schrecken, die einen tun es aus Verzweiflung, andere aus politischem Kalkül.

Wer eben noch mit dogmatischer Strenge auf der Singularität der Shoah bestand, nennt Putin nun den neuen Hitler. Wer gestern einer postkolonialen Linken vorwarf, sie relativiere den Judenmord, versenkt die Spezifik der NS-Verbrechen heute in einem wiederentdeckten Antitotalitarismus. Als wolle die öffentliche Debatte gar hinter den Historikerstreit von 1986 zurückfallen.

Ich halte die neue Trivialisierung von NS-Verbrechen und die alte Ausgrenzung kolonialer Opfer für zwei Gesichter desselben Phänomens: eines seelenlosen und im Kern desinteressierten Gedenkens. Die Alternative dazu ist, Erinnerungskultur und Antifaschismus aus einem Geist der Empathie und Solidarität neu zu begründen. Mein Buch, „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, das am Freitag erscheint, ist dazu ein Beitrag. Ich habe mir dafür Inspirationen in diversen Ländern geholt; denn ein neues, inklusives Erinnern bedarf einer veränderten Ethik der Beziehungen, muss deutsche und europäische Selbstbezogenheit hinter sich lassen.

Und zeigt nicht gerade die Geschichte der Ukraine, wie unklug es ist, die Berührungspunkte von Nationalsozialismus und Kolonialität zu leugnen? Als sogenannter Lebensraum und als Kornkammer war die Ukraine ein Herzstück von Hitlers Expansion nach Osten. Längst kennt die Forschung den Begriff NS-Kolonialismus, und der rassistische Charakter des Ostfeldzugs ist heute unstrittig.

Manche Hinweise darauf sind atemberaubend präzise. Nichtdeutsche Gehilfen in den Vernichtungslagern, die meist unter sowjetischen Kriegsgefangenen rekrutiert worden waren (darunter zahlreiche Ukrainer), hießen in der Umgangssprache von Wehrmacht und Einsatzgruppen „Askari“ – so wie drei Jahrzehnte früher die afrikanischen Hilfssoldaten in der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Ein Wort arabischen Ursprungs, schlicht Soldat bedeutend, gelangte über Swahili in den Wortschatz der Kolonialherren und von dort an die Schauplätze der Shoah in Osteuropa. Die ukrainischen Hilfstruppen der SS wurden auch als „Schwarze“ bezeichnet.

Historische Redlichkeit verlangt, gerade heute an die Dimensionen der NS-Verbrechen in der Ukraine zu erinnern. Die deutschen Besatzer ermordeten dreieinhalb Millionen Zivilist:innen, davon waren anderthalb Millionen jüdisch. Weitere dreieinhalb Millionen Ukrainer starben als Soldaten der Roten Armee oder an Kriegsfolgen.

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Und doch lösen ukrainische Städtenamen in Nachrichtensendungen kaum Assoziationen aus, die auf uns zurückverweisen würden. Mariupol: von der Wehrmacht in Schutt und Asche gelegt. Charkiw: die Straßen der Innenstadt voller aufgehängter Partisanen, tatsächlicher oder vermeintlicher; die Leichen hingen tagelang zur Abschreckung. Was in der Ukraine und in Belarus geschah, darüber herrscht bei uns bedrückende Unkenntnis. Dieses Ausblenden, über so viele Jahrzehnte, hat mit antislawischer Verachtung zu tun – eine Leerstelle im Gedenken, die der Indifferenz gegenüber südlichen Opfern der Kolonialzeit durchaus verwandt ist.

Derzeit befasst sich eine Ausstellung in Amsterdam mit den niederländischen Kolonialverbrechen in Indonesien: Massenexekutionen von Zivilisten, um die Unabhängigkeitsbewegung niederzuringen. Von welcher Zeit sprechen wir? Von der Zeit der Nürnberger Prozesse. Zwischen 1945 und 1949, als sich NS-Täter vor den Tribunalen verantworten mussten, begingen Franzosen, Briten und Niederländer in ihren Kolonien Verbrechen, die nach den Kriterien des Nürnberger Statuts gleichfalls crimes against humanity waren.

Als in Amsterdam 1947 unter dem Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus) die erste Ausgabe der Tagebücher von Anne Frank erschien, nahmen niederländische Soldaten in der Kolonie den Kindern ganzer Dörfer die Väter.

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Erbärmliche Gesten

Erstellt von Redaktion am 24. Mai 2022

Das deutsche Wesen bedarf endlich einer Genesung

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Beerdigung von Rudolf Duala Manga Bell, gehängt wegen Hochverrats gegen das Deutsche Reich im August 1914.

Von Henning Melber

Deutschland wird von der kolonialen Erblast und der eigenen Gewaltgeschichte eingeholt. Die Urenkelin eines von den Deutschen hingerichteten Justizopfers hält sich gerade in Deutschland auf.

Verdammt seien die Deutschen! Gott! Ich flehe dich an, höre meinen letzten Willen, dass dieser Boden niemals mehr von Deutschen betreten werde!“ Dies waren am 8. August 1914 einem Augenzeugen zufolge die letzten Worte von Rudolf Manga Bell, bevor er gemeinsam mit seinem Vertrauten Adolf Ngoso Din gehängt wurde. Die deutschen Henker benötigten keine Übersetzung. Manga Bell hatte als Spross der kamerunischen Königsfamilie Douala Manga Bell, deren Oberhaupt er 1908 wurde, zwischen 1891 und 1897 die Lateinschule im schwäbischen Aalen, danach das Gymnasium in Ulm besucht und zahlreiche Freundschaften mit Einheimischen geschlossen.

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Rudolf Duala Manga Bell, im August 1914 wegen Hochverrats am Deutschen Reich gehängt.

Das Todesurteil wegen Hochverrats war in einem Pseudo-Verfahren vom Bezirksgericht Duala im „Schutzgebiet“ Kamerun binnen weniger Stunden tags zuvor verhängt worden. Der im wahrsten Sinn kurze Prozess sprach deutscher Rechtsprechung Hohn. Nicht nur basierte die Anklage auf erfundenen Behauptungen. Auch war den prominenten Anwälten der Angeklagten – den sozial­demokratischen Reichstagsabgeordneten Hugo Haase und Paul Levi (auch Anwalt Rosa Luxemburgs) – die Teilnahme am Verfahren verwehrt.

Der Skandal war Teil der kolonialen Willkürherrschaft des deutschen Kaiserreichs in Kamerun. Diese brach die dem Volk der Duala im „Schutzvertrag“ von 1884 gemachten Zusicherungen und beraubte sie ihrer garantierten Existenzgrundlage. Rudolf Manga Bell wurde von den Duala-Gemeinschaften mit der Wahrnehmung deren Interessen beauftragt. Im Unterschied zu den meisten antikolonialen Widerstandsformen jener Zeit vertraute er dem von ihm geschätzten deutschen Rechtssystem. Er verfasste Beschwerdebriefe und Eingaben an staatliche Behörden und den Reichstag und entsandte Adolf Ngoso Din als Emissär nach Deutschland. Im Mai 1914 wurden beide verhaftet. Der Beginn des Ersten Weltkriegs am 28. Juli 2014 verhinderte nicht deren mit einem Scheinprozess bemäntelte Exekution. Der Befund eines Justizmords durch Paul Levi war eindeutig. Inzwischen sind die Fakten auch in der deutschen Öffentlichkeit verbreitet und zugänglich. Sie könnten als Allgemeinwissen gelten – so denn jemand darum wissen möchte.

Aber selbst solches Wissen bedeutet nicht, sich um begangenes Unrecht zu kümmern. Dabei stellt der Koalitionsvertrag der Ampelregierung fest: „Wir wollen koloniale Kontinuitäten überwinden.“ Immerhin wird damit eingeräumt, dass es diese gibt. Sie manifestieren sich auch in der Passivität, koloniales Unrecht da rückgängig zu machen, wo es zumindest als ein symbolischer Akt möglich wäre. Im Falle von Manga Bell und Ngoso Din fragte schon im November 2014 der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele die Bundesregierung, weshalb die beiden Opfer nicht rehabilitiert würden. Damals antwortete Michael Roth als Staatsminister im Auswärtigen Amt, eine entsprechende Forderung der Duala würde es bislang nicht geben – als ob es dieser bedarf.

Seit Beginn dieses Jahres zirkuliert eine Petition, die diese Rehabilitierung fordert. Zu deren Initiatoren gehört mit Prinzessin Marilyn Douala Bell eine Urenkelin und mit Jean-Pierre Félix Eyoum ein Großneffe des Hingerichteten. Letzterer lebt als Lehrer in Deutschland, Prinzessin Marilyn leitet in Kameruns Hauptstadt das Kunstzentrum Doual’art. Sie wurde 2021 mit der Goethe-Medaille „für die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in Kamerun und für den gesellschaftlichen Dialog über die Auswirkungen des Kolonialismus“ geehrt. Als Gast des Goethe-Instituts hält sie sich die letzte Mai-Woche in Berlin und Hamburg auf.

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Nicht nur Klimawandel – in Schland geht alles immer so weiter, auf der vollgeschissenen, politischen Hühner-Leiter !

Ihren Besuch nahm die Abgeordnete Sevim Dağdelen (Die Linke) die geforderte Rehabilitierung zum Anlass für eine Kleine Anfrage. Die Antwort der Bundesregierung ist ernüchternd. Auf die Frage, ob es, wie seinerzeit von Michael Roth zugesagt, ein Gespräch mit dem Außenminister über den Umgang mit einer Bitte um Entschuldigung und Vergebung gegeben habe, heißt es lapidar: „Nachweise über ein Gespräch im Sinne der Fragestellung sind den vorliegenden Akten nicht zu entnehmen“. Die Bundesregierung bestätigt, dass ihr die Petition und die Rolle von Prinzessin Marilyn bekannt ist. Doch bleibt unter Verweis auf „durchaus sensible Identitätsfragen in den Nachfolgegesellschaften“ eine verbindliche Reaktion dazu aus.

Nach über einem Jahrhundert an Amnesie grenzender Verdrängungsleistung wird Deutschland von der kolonialen Erblast eingeholt. Dazu tragen nicht nur zahlreiche postkoloniale Initia­tiven und afrodeutsche Stimmen bei. Auch an Geschichtsklitterung grenzende größenwahnsinnige Projekte wie das Berliner Humboldt Forum haben eine Diskussion ausgelöst, die für das lange mit Gedächtnisschwund behaftete Kapitel deutscher Gewaltgeschichte in Übersee sensibilisiert.

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„Wir“ + der Ukrainekrieg

Erstellt von Redaktion am 23. Mai 2022

Das nationale deutsche „Wir“ und der Ukrainekrieg

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Heute macht Putin den Adolf ?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura

Angesichts der neuen Kriegslage stehen die Medien, die „Vierte Gewalt“ im Staate (https://krass-und-konkret.de/medien-kultur/zur-gewaltaffinitaet-des-mainstream-journalismus/), Gewehr bei Fuß.

Hier finden sich sogar programmatische Erklärungen in Sachen Kriegspropaganda und geben damit Auskunft über die Rolle, die der „Qualitätsjournalismus“ neuerdings ganz selbstbewusst einnimmt. So in einem Kommentar der Westdeutschen Allgemeinen zum Ukrainekrieg (Jan Jessen, WAZ, 13.5.22): „Die Opfer sichtbar machen“.

Auch „wir“ sind – gefühlt – im Krieg

Begeistert hat den WAZ-Autor die Äußerung der deutschen Außenministerin Baerbock in Butscha: „Diese Opfer könnten wir sein.“ Nun befindet sich Deutschland offiziell nicht im Krieg mit Russland, warum sollten dessen Truppen daher deutsche Bürger erschießen? Zu Kriegsopfern würden sie doch erst, wenn die deutsche Regierung den Beschluss fasste, nicht nur Waffen an die Ukraine zu liefern, sondern sich direkt in den Krieg einzumischen. Dann wären deutsche Bürger aber nicht einfach Opfer Russlands. Ihr Tod wäre vielmehr das Ergebnis einer von der hiesigen Regierung getroffenen Entscheidung, ihre Bürger aufs Schlachtfeld zu schicken und von ihnen die Bereitschaft zu verlangen, ihr Leben im Krieg zu opfern.

Doch der Satz von Außenministerin Baerbock, der auf den Berichterstatter einen so tiefen Eindruck gemacht hat, soll nicht in dem reellen Sinn, der die Möglichkeit deutscher Opfer klärt, verstanden werden. Der WAZ-Kommentar erläutert: „Es war ein bemerkenswerter Satz, der in seiner schlichten Klarheit den Krieg aus dem Bereich der militärischen und politischen Abstraktion herauslöste und auf die menschliche Ebene brachte.“ (WAZ)

Ein wirklich bemerkenswerter Satz, den der Kommentator da abliefert! Seit wann ist ein Krieg eine militärische und politische Abstraktion? In diese muss ein Beobachter ihn erst einmal verwandeln. Damit macht er deutlich, dass ihn die politischen Gründe wie auch die militärischen Kalkulationen gar nicht oder nicht in erster Linie interessieren. Und das soll das Publikum offenbar auch nicht, wozu sich der Zeitungsmann ja programmatisch äußert. Ihm geht es darum, den Krieg in eine Reihe von menschlichen Schicksalen zu verwandeln und diese Aufbereitung der Leserschaft zu offerieren: „Es ist wichtig, ihre Geschichten zu erzählen. Krieg darf nicht als eine kühle Darstellung von militärischen Operationen oder von politischen Prozessen wahrgenommen werden.“ (WAZ)

Dass Kriege das Ergebnis von politischen Entscheidungen sind und als zielgerichtete militärische Operationen stattfinden, möchte der Autor also gerne zum Verschwinden bringen, wenn er sich um die adäquate Wahrnehmung des militärischen Geschehens auf dem Schlachtfeld sorgt. Durch eindringliche Schilderungen von Schicksalen soll sich sein Publikum das Ganze als eine menschliche Tragödie vorstellen, wobei der Schuldige für dieses Schicksal immer schon unterstellt ist: Putin!

Gefordert ist vom Leser die moralische Parteinahme in Sachen Ukraine. Dabei ist er ja im eigentlichen Sinne – als bloßes Publikum, das von seiner Staatsmacht erfährt, zu welchen Dingen es in Friedens- und Kriegszeiten verpflichtet ist – überhaupt keine Partei. Er hat in diesem Konflikt nichts zu melden, übrigens genau so wie die Bürger in Russland oder der Ukraine. Alle sind samt und sonders das menschliche Material und die Verfügungsmasse ihrer Politiker, die über ihr Schicksal entscheiden. Für russische oder ukrainische Bürger hat dies blutige, tödliche Konsequenzen, in Deutschland ist es – noch – nicht so weit.

Hier spürt man es an den Kassen der Supermärkte oder Tankstellen, hier darf der legendäre kleine Mann (und natürlich auch seine kleine Frau) daran teilhaben, dass seine Politiker einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führen. Und obgleich die Bürger im Lande seit Beginn des Krieges auf allen Kanälen mit den Schicksalen der Betroffenen in der Ukraine konfrontiert werden, ist dies der WAZ offenbar immer noch nicht genug. Im Hauptteil der Zeitung werden auf zwei Seiten die Leiden von Olena, Anton, Larysa und vielen anderen, die man sich merken soll, ausgebreitet. Dazu muss es im Kommentar aber noch explizit gesagt werden: Die Leserschaft soll, wie von den Medien angesagt, den Krieg vor allem moralisch betrachten und damit von den Kriegsgründen abstrahieren.

Und „wir“ sind per se die Unschuldigen

Der Übergang von der Beurteilung eines politischen Geschehens zur Moral, also zur Schuldfrage, dürfte den meisten Bürgern vertraut sein. Lernt man doch von Kindes Beinen an, dass Streit und Zank sich nicht gehören. Das Verbot schafft die Streitgründe allerdings nicht aus der Welt, dass gestritten wird, ist Alltag. Treten Eltern oder Erzieher auf den Plan, so weiß jedes Kind, was es zu sagen hat: Der andere hat angefangen. Die Frage, warum es da so unverträglich zugeht, ist damit vom Tisch und eine ganz andere auf der Tagesordnung: Wer ist schuld, wer verdient Strafe? Wobei der autoritäre Klassiker der Kindererziehung darauf hinausläuft, dass sich die von den Erziehungsberechtigten verkörperte Gewalt damit auch nicht lange aufhält, sondern einfach dekretiert: Vertragt euch!

Diese kindlich-kindische Betrachtungsweise lässt sich mit etwas journalistischem Elan auch, wie der WAZ-Kommentar zeigt, auf das Verhältnis von Staaten übertragen. Wenn erst einmal als zentrale Frage etabliert ist, wer angefangen und den Frieden aufgekündigt hat, sind die – differierenden, möglicher Weise antagonistischen – Interessen, die zu dem Konflikt geführt haben, kein Thema mehr. Bekanntlich gehören aber zu einem Konflikt in der Regel zwei Parteien, die mit dem, was sie vorhaben, aneinander geraten.

Und diese Gegensätze bestehen offenbar auch im Frieden, in dem ein ganzer diplomatischer Berufsstand dauernd den Stand der Gegensätze und Gemeinsamkeiten auslotet und in Verhandlungen münden lässt. Diese unermüdliche Klärung führt dabei immer wieder zu der Frage – die NATO-Staaten haben es in x Kriegen seit dem Ende des Kalten Kriegs durchexerziert –, ob man noch miteinander redet, sich gegenseitig noch aushält oder ob eine oder beide Parteien andere Saiten aufziehen wollen, im modernen imperialistischen Sprachgebrauch: „rote Linien“ ziehen.

Von all dem soll abgesehen werden, wenn die Schuldfrage im Raum steht. Wer den Frieden bricht – so der abstrakte, völkerrechtliche Grundsatz laut UNO-Charta nach Artikel 51 –, wer nicht bereit ist, die Ansprüche oder Drohungen der anderen Seite hinzunehmen, macht sich schuldig. Im Prinzip jedenfalls. Denn wie jeder weiß, beginnen hier die strittigen Auslegungsfragen. Der politikwissenschaftlichen Analyse ist das durchaus bekannt (siehe „Deutsche Doppelmoral: Nicht nur Putin, auch der Westen ignoriert das Völkerrecht“ https://www.berliner-zeitung.de/open-source/deutsche-doppelmoral-nicht-nur-putin-auch-der-westen-ignoriert-das-voelkerrecht-li.228110): Wenn man es genau untersucht, haben auch die NATO-Staaten zahlreiche Kriege ohne völkerrechtliche Legitimation geführt bzw. sich eine solche – unter Berufung auf höchste Titel wie Menschenrechte oder Terrorbekämpfung – auf eigene Faust besorgt. „Putins Kriegs“ ist so gesehen nichts, was aus dem Rahmen fällt, und er könnte sich auch ohne Weiteres mit den westlichen Legitimationsverfahren rechtfertigen (Sicherheitsprobleme an der Grenze, Schutz einer Volksgruppe in unmittelbarer Nachbarschaft, Zuständigkeit als Aufsichtsmacht des Minsker Abkommens etc.).

Schweine bei der Trüffelsuche

Er könnte, wenn man ihn ließe. Aber dieses Zugeständnis hat der Westen kategorisch ausgeschlossen. Mit dem Vorwurf „Angriffskrieg“ ist die Sache eben moralisch erledigt. Der Titel ist die Einforderung einer unbedingten Parteinahme, die kein Verständnis mehr für die Interessen der anderen Seite zulässt. Die völkerrechtliche Verurteilung ist so gesehen auch gar nicht ernst gemeint. Das zeigt sich sofort da, wo die Chancen der Erledigung des russischen Gegners ausgelotet werden. Dann fällt den Experten der bekannte Spruch ein: Angriff ist die beste Verteidigung. Dann wissen sie, dass Angriff und Verteidigung militärstrategische Kategorien sind, die beide zum Kriegführen dazugehören, und keine übergeordneten Kriterien, die das Böse vom Guten scheiden.

So trägt ein aktueller Leitartikel des General-Anzeigers (G.-A., 18.5.22) die Überschrift: „Wie viel Angriff ist noch Verteidigung?“. Gemeint ist natürlich nicht das russische Vorgehen, das die Heimat (und betroffene Volksteile im Nachbarstaat) nach Putins Sprachregelung gegen einen ukrainischen Militarismus verteidigt. Gemeint ist etwas anderes: „Attacken auf russische Infrastruktur im Grenzgebiet werfen die Frage auf, wie weit die Ukraine völkerrechtlich gehen darf.“ (G.-A.) Inzwischen häuften sich Meldungen über brennende Treibstofflager und bombardierte Nachschubwege in Russland. „Damit stellt sich die Frage, wie weit das Recht auf Verteidigung geht und wann Russland der Ukraine vorwerfen kann, selbst einen Angriffskrieg begonnen zu haben. Die Antwort ist nicht einfach. Vieles hängt von der Intensität und Dauer ab.“ (G.-A.) Und es hängt davon ab, wie man in dem Artikel erfährt, was genau unter „grenznahen Gebieten“ (wo Angriffshandlungen noch als Verteidigungsmaßnahmen gelten) zu verstehen ist. Wenn z.B. Russlands moderne Raketen in Minuten die Ukraine erreichen können, fallen eventuell ihre Abschussbasen bei Moskau oder sonstwo im Hinterland unter die Kategorie „grenznah“.

Wie die Auslegung dieser völkerrechtlichen Streitfragen vonstatten gehen wird, ist jedoch kein Geheimnis. Die moralische Parteinahme, die mit der Einordnung als „Angriffskrieg“ gelaufen ist und zu der sich der Mainstream-Journalismus, wie gezeigt, auch programmatisch bekennt, schafft hier völlige Klarheit. Russland ist das Böse, dessen Bürger auch gleich mit haftbar gemacht werden.

Daneben darf man sich dann in die militärstrategischen Fragen hineindenken und auch als Laie an Überlegungen teilnehmen, wann Angriff oder Verteidigung besser zum Ziel führen, ob eine große Gegenoffensive der Ukraine auf russisches Gebiet sinnvoll ist oder ob ukrainische „Angriffe, mit denen der Gegner auf eigenem Territorium zermürbt oder entmutigt werden soll“ (G.-A.), mit wie vielen Kollateralschäden im zivilen Bereich vereinbar sind.

Hier darf man keine Rücksicht der deutschen Öffentlichkeit erwarten. Bei der eindeutigen Parteinahme fällt auch das Mitgefühl für die menschlichen Opfer sehr ungleich aus, ja soll nach journalistischem Bekenntnis auch so ausfallen. Verbrannte russische Soldaten in Panzern verdienen kein Mitgefühl, ukrainische Bürger – in welcher Funktion auch immer – auf jeden Fall. In seinem Bestreben, die menschlichen Schicksale des Krieges in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu rücken und die Kriegsgründe vergessen zu lassen, ist dem WAZ- Autor dazu die bemerkenswerte Schlussfolgerung eingefallen: „Die Schicksale der Opfer müssen denjenigen bewusst sein, die über Krieg und Frieden entscheiden.“ (WAZ)

Der Mann will sich mit seiner Berichterstattung und Kommentierung allerdings nicht an die Außenministerin wenden, um ihr vor Augen zu führen, welche Opfer ihre Entscheidung für die Waffenlieferungen und damit für die Verlängerung des Krieges mit sich bringt und bringen wird. Er wendet sich mit seinem Kommentar vielmehr an die Leserschaft und will dieser nicht nur die Opfer, sondern auch noch die Politikerin nahe bringen, die zur Schaffung weiterer Opfer beiträgt. Für ein modernes olivgrünes Gemüt und seine moralische Selbstgerechtigkeit ist das kein Widerspruch, sondern eine Selbstverständlichkeit der neuen Kriegsmoral.

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Oben      —   Antikriegs- und Antiputingrafik STOP Putin in der Ukraine. Inhalt der Sprechblase (… oder wäre das zu viel?). Karikatur aus der Zeit 2014 der Krim Annexion durch Russland.

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Ärmer heißt nicht arm

Erstellt von Redaktion am 22. Mai 2022

Armutsdiskussion bei steigender Inflation

Von Caroline Schwarz

Die Inflation liegt auf einem Rekordhoch. „Wir werden ärmer“, sagen nun Politiker*innen. Aber wer sind eigentlich „wir“?

Anfang der Woche twitterte Luffy Lumen: „#IchBinArmutsbetroffen hieß für mich heute im Supermarkt zu stehen, die Preise zu sehen und fast zu weinen. Eigentlich wollte ich heute endlich meinen Kindern den Wunsch nach einer Wassermelone erfüllen, die sie seit Wochen haben wollen. Ich musste sie wieder enttäuschen.“ Hinter dem Twitter-Handle verbirgt sich eine 31-jährige Mutter, die sich aktuell zur Pflegefachkraft ausbilden lässt und ihren Lohn aufstocken muss, um zu überleben.

Sie ist eine von vielen armen Menschen, die seit gut einer Woche unter #IchBinArmutsbetroffen Ausschnitte ihrer Lebensrealitäten teilen. Es gibt Berichte darüber, wie es sich anfühlt, wenn ab Mitte des Monats nur noch 80 Euro auf dem Konto sind, oder wenn das Geld nicht mehr fürs Heizen reicht. Die Menschen erzählen von unangenehmen Amtsbesuchen, von Stigmatisierung, Scham und Ausgrenzung, die sie tagtäglich erfahren.

Laut Statistischem Bundesamt ist man dann arm, wenn man als Singlehaushalt weniger als 1.074 Euro monatlich zur Verfügung hat. 16 Prozent der Deutschen fallen unter diese Armutsgefährdungsschwelle, das sind mehr als 13 Millionen Menschen. Und diese Zahlen sind von 2019, also noch vor der Pandemie und der starken Inflation, sie bilden nicht die gegenwärtige Realität ab.

Flucht in Wir-Zuschreibungen

In der gesellschaftlichen Wahrnehmung bleiben diese Menschen in der Regel unsichtbar. In der Mehrheitswahrnehmung wird Armut als Beleg für persönliches Versagen gelesen. Arme Menschen sind demnach entweder faul oder Leistungsverweiger*innen. Kein Wunder also, dass viele Menschen versuchen, ihre finanziellen Nöte zu vertuschen. Der Hashtag will nun ein Zeichen setzen gegen diese Unsichtbarkeit. Er gibt trockenen Zahlen Gesichter und Geschichten, die sich abgrenzen von den sonst häufig verbreiteten Aufsteiger­erzählungen, die einem immer irgendwie vermitteln wollen, es gebe doch eine Form der Chancengleichheit.

Armut in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfestigt, die soziale Mobilität schwindet. Heißt: Wer arm ist, bleibt arm, statistisch gesehen. Dass dieser Zustand gewollt ist, zeigt die Politik. Oder warum wird sonst zwanghaft an einem System festgehalten, das so vielen Menschen kein würdiges Leben ermöglicht? Krisenbedingt verschlechtert sich die finanzielle Lage momentan für viele, doch statt mit wirkmächtigen Maßnahmen die Situation aufzufangen, verharren wir in einem Zustand, in dem Tipps gegeben werden, wie Individuen mit der Teuerung umgehen sollen – und viele Po­li­ti­ke­r*in­nen flüchten sich in unkonkrete Wir-Zuschreibungen.

Wie kann es sein, dass wir erneut nach individuellen Lösungen für strukturelle Probleme suchen?

In den vergangenen Wochen sagte Robert Habeck: „Wir werden ärmer“, Christian Lindner: „Der Krieg macht uns alle ärmer“, und Friedrich Merz: „Wir haben wahrscheinlich den Höhepunkt unseres Wohlstandes hinter uns.“ Die Po­li­ti­ke­r*in­nen haben wohl mitbekommen, dass die Inflation momentan die größte Sorge der deutschen Bevölkerung ist, noch vor der Klimakrise, dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und der Pandemie. Das geht auch aus einer repräsentativen Umfrage der Unternehmensberatung McKinsey hervor, die am vergangenen Montag veröffentlicht wurde.

Politiker-Innen bei ihrer Arbeit beobachtet ?

Gesellschaft, die auf Ungleichheit beruht

Doch welches „Wir“ ist hier gemeint? In einer Gesellschaft, die auf Ungleichheit beruht, kann es kein „Wir“ geben. Die Lebensrealität eines Immobilienanwalts, der Zehntausende Euro Erspartes hat und die Preissteigerung im Supermarkt nicht einmal bemerkt, hat nichts gemeinsam mit jener der alleinerziehenden Mutter, die nicht weiß, wie sie ihren Kindern noch täglich drei Mahlzeiten bezahlen soll. Die aktuelle Teuerung von Energiekosten und Lebensmittelpreisen trifft uns eben nicht alle gleich, Menschen mit niedrigen Löhnen, Sozialhilfeempfänger*innen, Studierende, Rent­ne­r*in­nen und kinderreiche Familien sind von der Inflation am stärksten betroffen.

Trotz allem dominieren in der medialen Berichterstattung Themen, die diejenigen Menschen betreffen, die unter der Inflation am wenigsten leiden. So veröffentlichte Zeit Online diese Woche ein Q & A unter der Überschrift: „Bin ich machtlos gegen die Inflation?“ Darin werden Fragen verhandelt, wie: Sollte ich jetzt Gold kaufen oder doch lieber eine Immobilie? Und auch die Tagesschau lässt in einem Text Ex­per­t*in­nen zu Wort kommen, die als Gegenmittel zur Inflation zu Aktien- und Immobilienkäufen raten.

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Oben          —    Fotoquelle: Privat / DL

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Unten      —         Das neue Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer (1896)

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Von Aleppo bis Mariupol

Erstellt von Redaktion am 17. Mai 2022

Das verdrängte Lehrstück

Baschar al-Assad in Russland (2015-10-21) 09.jpg

Wer von den Beiden ist denn der bessere Kriegsführer ?

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Pleite – Firma Wirecard

Erstellt von Redaktion am 15. April 2022

Wahn, Betrug und sterbende Pflanzen

Aschheim-Dornach, Einsteinring 31 v N, 3, ret Wirecard.jpeg

Von den politischen Chef-Verkäufer-Innen, welche auf Steuerkosten um die Welt reisten wird leider nichts geschrieben.

Von Patrick Guyton

Markus Braun, Ex-Boss von Wirecard, ist in München angeklagt. Zwei frühere Beschäftigte erinnern sich an eine bizarr-denkwürdige Zeit.

Er überlegte, sich sein altes Leben zurückzukaufen. Schreibtisch, Bürodrehstuhl oder Grünpflanzen im Hydrocontainer? Alles war Mitte Februar zu haben bei der Online-Auktion, als die Überreste der Pleitefirma Wirecard versteigert wurden – das Inventar vom Unternehmenssitz in Aschheim bei München. „Ich habe 20 oder 30 Euro auf ein paar Sachen geboten“, erzählt Jörn Leogrande. „Aber schnell ging immer jemand drüber.“ Alles kam unter den Hammer.

Ihn hätten die „Todespflanzen“ interessiert, wie sie in der Firma genannt wurden – „das waren so Topfpflanzen, die keiner gegossen hat und die völlig vertrockneten“. Jörn Leogrande, 58 Jahre alt, war mal was bei Wirecard. Erst Werbetexter und zuletzt Chef der globalen Innovationsabteilung, bis die Firma im Juni 2020 zusammenkrachte. 15 Jahre hatte er für Wirecard gearbeitet, nun sagt er: „Die meiste Zeit meines beruflichen Lebens war ich auf dem falschen Dampfer.“

Vor Kurzem hat die Staatsanwaltschaft München in dem Betrugskomplex die erste Anklage erhoben gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Markus Braun und zwei weitere Ex-Manager. Die Vorwürfe lauten bandenmäßiger Betrug, Veruntreuung und Bilanzfälschung. Das Landgericht dürfte die Anklage bis zum Sommer annehmen, dann beginnt der Prozess im Herbst.

An einem schönen Frühlingstag sitzt Jörn Leogrande am Ufer des Weßlinger Sees, knapp 30 Kilometer südwestlich von München. Mit seiner Familie wohnt er in der Nähe. Ein guter Ort, um nachzudenken. Etwa darüber, wie es zu diesem größten Wirtschaftsbetrugsfall der Nachkriegsgeschichte kommen konnte, bei dem Aktienanleger 20 Milliarden Euro verloren haben.

Analystentalks

Hatte man denn nie Zweifel an den von der Firmenspitze regelmäßig gemeldeten riesigen Steigerungen bei Wachstum und Gewinn? „Mit Markus habe ich immer wieder Analystentalks gemacht“, erzählt Leogrande. „Da waren Leute von Goldman Sachs dabei, von der Deutschen Bank und anderen Großbanken. Da hat nach meiner Erinnerung keiner etwas hinterfragt.“ Er nennt die Bosse mit Vornamen, so wie sich bei Wirecard alle geduzt hatten. Markus ist der Vorstandsvorsitzende Markus Braun. Er spricht von Henry, dem Briten Henry O’Sullivan, engem Vertrauten von Jan. Das wiederum ist Jan Marsalek, Vorstandsmitglied und weiterhin flüchtig.

Viele Bürger haben nie richtig verstanden, was Wirecard eigentlich gemacht hatte. Es geht um die Entwicklung digitaler Zahlungssysteme. Wie kann ein Produkt oder eine Dienstleistung bezahlt werden ohne Bargeld oder Banküberweisung? Begonnen hatte das Geschäft 1998 klein mit der Schaffung von Zahlungsmöglichkeiten in den Schmuddelecken des Internets – Online-Glücksspiel etwa oder Pornos. Die Firma expandierte, schuf mehr und mehr Produkte, die Kundenzahl stieg.

Datei:Jan Marsalek Search.pdf

Die drei Beschuldigten sollen laut der Anklage unter anderem 3,1 Milliarden Euro Bankkredite erhalten haben, mit denen sie sich die eigenen Gehälter und Boni sicherten. Zum Bankrott führten letztlich 1,9 Milliarden Euro, die in Singapur gebucht, aber nicht aufzufinden waren. Dies hatten die Rechnungsprüfer der Gesellschaft Ernst & Young (EY) so festgestellt. Gab es diese 1,9 Milliarden? „Das weiß ich nicht“, sagt Jörn Leogrande. Zum System gehörte seiner Meinung nach vor allem auch, dass kriminelles Handeln nur „unter sehr wenigen Personen“ abgelaufen ist.

Vom SEK gestürmt

Lisa B. (Name geändert) war bei Wirecard beschäftigt. Sie hat die Pleite erlebt und die Übernahme des Kerngeschäfts durch die spanische Großbank Santander im Januar 2021. Vor einem halben Jahr hat sie gekündigt. „Für die Ermittlungen wurden wir zweimal vom SEK gestürmt“, erinnert sie sich, „Polizei und Staatsanwaltschaft waren in Scharen da.“

B. erzählt, dass die meisten Beschäftigten auch teils erheblich in Wirecard-Aktien investiert hatten – alles ist dahin. Weltweit hatte Wirecard 5.100 Beschäftigte, bei den Santander-Nachfolgern sind es in der Zentrale noch 400, die internationalen Außenstellen werden vom Konkursverwalter abgewickelt. „In diesem Jahr zog Santander mit dem Betrieb aus dem Gebäude in Aschheim aus und wechselte nach München. Aschheim hatte schlechte Energien“, meint Lisa B. Es gab mehrere Versuche, Betriebsräte zu gründen, die von der Unternehmensleitung aber „rigoros blockiert“ wurden. Sie erinnert sich an „Psychopathen und Aufschneider“ unter den Führungskräften. Vorstand Jan Marsalek, der wie Markus Braun aus Österreich stammt, bezeichnet sie als „skurrile Type“ mit hohem Geltungsdrang.

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Aschheim-Dornach, Einsteinring 31, von Norden gesehen. Ehemaliges Wirecard-Gelände; das bereits abmontierte Firmenschild wurde im Foto durch den Stand von Anfang 2019 (roter i-Punkt) ersetzt.

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Unten     —        Fahndungsplakat des PP München zur Suche von Jan Marsalek

Datum Dienstag, 21. August 2020
Quelle BKA Deutschland: https://www.bka.de/DE/IhreSicherheit/Fahndungen/Personen/BekanntePersonen/Jan_Marsalek_wirecard/Sachverhalt.html?nn=26874#detailinformationen137138
Verfasser Polizeipräsidium München (Munich Police Department)

Dieses Bild ist nach deutschem Urheberrecht gemeinfrei, weil es Teil eines Gesetzes, einer Verordnung, eines behördlichen Erlasses oder eines Urteils (Amtswerk) einer deutschen Behörde oder eines Gerichts ist (§ 5 Abs.1 UrhG).

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Polizeiliche Kriminalstatistik:

Erstellt von Redaktion am 7. April 2022

Deutschland schon wieder sicherer – und viele denken das Gegenteil

2021-12-07 Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 20. Wahlperiode des Bundestages von Sandro Halank–038.jpg

Quelle       :         Netzpolitik  ORG

Von    :     

Deutschland ist weiter auf dem Weg zu einer Gesellschaft mit weniger Kriminalität. Nur in einigen Feldern wie der Verbreitung von Kindesmissbrauchsdarstellungen steigt die Statistik, weil immer mehr Täter entdeckt werden.

Deutschland ist schon wieder sicherer geworden. Gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der in der polizeilichen Kriminalitätstatistik 2021 erfassten Delikte um 4,9 Prozent gesunken, vermeldet das Bundesinnenministerium.

In der Pressemitteilung heißt es:

Bei der Diebstahlskriminalität ist ein Rückgang um minus 11,8 Prozent auf 1.483.566 Fälle zu verzeichnen, beim Wohnungseinbruchdiebstahl sogar um minus 27,7 Prozent. Bei der Gewaltkriminalität sind die Fallzahlen um minus 6,8 Prozent auf 164.646 Fälle gesunken.

Diebstahl, Wohnungseinbrüche und Gewaltkriminalität werden für das Sicherheitsbefinden der Bevölkerung als besonders wichtig angesehen. Sie spielen auch regelmäßig in Statistiken, vor welcher Kriminalität sich Menschen fürchten, ganz oben mit. Bei Morden und Raubdelikten liegt der Rückgang gegenüber dem Vorjahr bei über zehn Prozent.

Gleichzeitig erreicht die Aufklärungsquote nun mit knapp 60 Prozent einen neuen Höchststand. Bei schweren Delikten wie Mord werden mehr als 90 Prozent der Fälle in Deutschland aufgeklärt.

Mehr „Cyberkriminalität“

Gestiegene Zahlen gibt es bei der so genannten „Cyberkriminalität“, wo ein Anstieg (12,1 Prozent) mit fortlaufender Digitalisierung der Gesellschaft einhergeht und sich Tatorte und Tatmittel ins Digitale verlagern.

Die stärksten Steigerungen in der Kriminalitätsstatistik sind im Bereich der Darstellungen von Kindesmissbrauch zu verzeichnen, das Bundesinnenministerium spricht von einer Verdopplung der Fälle. Was das Ministerium in der Pressemitteilung allerdings nicht sagt, worauf das zurückzuführen ist.

Jüngst beantwortete die Bundesregierung in einer kleinen Anfrage genau darauf: Der Anstieg sei letztlich auf die „verstärkte Aufhellung des Dunkelfeldes“ zurückzuführen. Der Anstieg in der Statistik hat laut der Bundesregierung mit immer besseren „technischen Detektionsmöglichkeiten“ zu tun, durch die „immer mehr inkriminiertes Material entdeckt“ würde. Es ist also kein Anstieg der Taten an sich zu verzeichnen, sondern es werden in diesem Deliktfeld mehr Taten und Täter entdeckt.

Dieses Kriminalitätsfeld weist generell auf ein Problem der polizeilichen Kriminalstatistik hin: Diese ist durch technische Änderungen, aber auch durch politisch-polizeiliche Fokusverschiebungen Änderungen unterworfen. Zudem wird in ihr nur die polizeilich registrierte Kriminalität, also das Hellfeld erfasst.

Deutsche nehmen Kriminalitätsentwicklung völlig falsch wahr

In Deutschland ist die Kriminalität alleine zwischen 2005 und 2019 um etwa 15 Prozentpunkte gesunken, hatte die Bundesregierung im vergangenen November in ihrem Periodischen Sicherheitsbericht verkündet.

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Diese Gesamtentwicklung Deutschlands führt zu einem Land mit immer weniger Kriminalität. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung von Kriminalität in der Bevölkerung seit Jahren vollkommen entkoppelt von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung. Während in der Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) fast zwei Drittel von einer starken bis sehr starken Zunahme der Kriminalität in den letzten fünf  Jahren ausgehen, schätzen nur sechs Prozent der Befragten die Kriminalitätsentwicklung realistisch ein. Diese Zahlen decken sich mit einer Umfrage aus dem Jahr 2016, in der mehr als zwei Drittel der Befragten von dieser Fehlannahme ausgingen.

Die falsche Wahrnehmung der realen Kriminalitätsentwicklung ist auch ein Problem für die Grund- und Freiheitsrechte, weil sie eine höhere Akzeptanz von schärferen Gesetzen befördern könnte.

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Oben     —    Unterzeichnung des Koalitionsvertrags für die 20. Bundestagswahl am 7. Dezember 2021

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Umgang mit Autokrat Putin

Erstellt von Redaktion am 4. April 2022

Naive Regime-Change-Fans

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Von Stefan Reinecke

Auf einen Regimewechsel zu setzen, ist leichtfertig. Nicht mit Putin verhandeln zu wollen, ist verständlich, aber falsch. Eine Antwort auf Claus Leggewie.

Putin hat den Westen belogen und führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es gibt Hinweise, dass noch nicht mal der russische Geheimdienst in die Kriegsplanung eingeweiht war. Die politische Elite in der Putin-Diktatur mag genau so großrussisch chauvinistisch verblendet sein wie der Präsident – doch diesen Krieg würde es ohne Putin nicht geben.

Es klingt unterkomplex und nach „Männer machen Geschichte“ – aber es gibt historische Situa­tionen, in denen das Verschwinden einer einzelnen Figur entscheidend sein kann. So hat Jörg Baberowski in „Verbrannte Erde“ anschaulich beschrieben, dass mit Stalins Tod 1953 der barbarische Terror abrupt endete.

Putin gestürzt sehen zu wollen, ist ein verständlicher Wunsch. Es erscheint naheliegend, dass der Westen darauf setzen sollte. Genau das hat US-Präsident Joe Biden kürzlich getan. Doch dies zur politischen Leitlinie zu machen, ist falsch und kurzsichtig. Diese Position ist genauer betrachtet pure Gesinnungsmoral, die sich um die Folgeschäden nicht kümmert und sich bei entscheidenden Fragen einen schlanken Fuß macht.

Wenn der Westen nicht mit Putin (und, wenn wir Claus Leggewie folgen, auch nicht mit einem ihm genehmen Nachfolger) verhandelt – was kommt danach? Was wird aus dem Iran-Abkommen, das Trump gekündigt hatte und bei dem Russland bislang eine konstruktive Rolle spielt? Es ist kaum verantwortliche Politik, aus Abscheu vor Putin eine Nuklearmacht Iran zu riskieren.

Es geht um eine aggressive Atommacht

Auch dass sich der Westen irgendwann vielleicht möglichen Verhandlungen um einen kalten Frieden in der Ukraine verweigert, weil Putin und seine Nachfolger nicht vor Gericht stehen, ist keine brauchbare Strategie. Und es ist keine kluge Politik, wegen des russischen Angriffskrieges für Jahrzehnte Klimaschutzpolitik ohne das größte Land der Erde zu machen.

Aber vielleicht ermutigt das Gerede über Putins Sturz ja die russische Opposition, entschlossen gegen das Regime vorzugehen? Das ist aber vollends naiv. Wann haben Aufrufe, Tyrannen zu stürzen, ausgerechnet von Kriegsgegnern je gefruchtet? Zudem lassen die Fürsprecher des Regime Change nonchalant einen Fakt unter den Tisch fallen, der Beachtung verdient. Es geht nicht um Serbien, sondern um eine aggressive Atommacht.

Das Kokettieren mit Regime Change und Boykottfantasien mag moralisch anständig wirken. Aber der Preis, der für diese Geste zu zahlen wäre, ist hoch – politische Handlungsunfähigkeit oder politisches Desperadotum. Man feiert die eigene Moral, meidet aber, sich Rechenschaft über die Folgen abzulegen. Dies zur Leitlinie zu machen folgt dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“

In der Welt, wie sie ist, ist Russland nicht so isoliert, wie es wünschenswert wäre. In der UN-Vollversammlung haben die Regierungen, die die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, darunter fünf Atommächte, nicht für die Verurteilung Russland gestimmt. Das ist die neue Weltordnung. Man sollte sie zur Kenntnis nehmen.

Liberaler Imperialismus

Misstrauisch macht auch, dass die Aufrufe, Diktatoren zu beseitigen, lange zur Praxis des „liberalen Imperialismus“ (Carlo Masala) gehörten. In Afghanistan, dem Irak und in Libyen hat die Illusion, man müsse nur Taliban, Saddam und Ghaddafi mit genug Feuerkaft bekämpfen, um Frieden und Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen, eine blutige Schneise der Verwüstung hinterlassen.

02022 1238 Refugees from Ukraine in Kraków.jpg

Die bellizistische Fraktion, zu der Ber­nard-Henri Levy, Daniel Cohn-Bendit, Leggewie und andere zählen, hat sich nie einer selbstkritischen Prüfung unterzogen, wohin ihr moralischer Grund­impuls, einzugreifen, geführt hat. Alle Versuche, Systeme mit Gewalt von außen zu stürzen, sind in den letzten 20 Jahren desaströs gescheitert.

Zur Fähigkeit von Demokratien gehört bekanntlich, schneller als Diktaturen aus Fehlern zu lernen. Der publizistischen Fraktion, die unbedingt Demokratie mit Gewalt exportieren will, scheint genau dies abzugehen. Sie ist unfähig, Fehleinschätzungen zu korrigieren und die Trümmerberge wahrzunehmen, die sich hinter ihr auftürmen.

Quelle      :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Ukraine Solidaritätsprotest 2022-03-05 in Mannheim, Deutschland

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Wir „für die Ukraine“

Erstellt von Redaktion am 3. April 2022

 Ist ein Fragezeichen erlaubt ?

Quelle:    Scharf  —  Links

Debattenbeitrag von Ingo Krebs

Überall wird zurzeit Partei ergriffen: „Wir für die Ukraine“. Vor allem in den Medien natürlich, aber auch von Künstlern und Schriftstellern, bei Konzerten und auf Demonstrationen.

Ist angesichts dieser einhelligen Solidaritätsbezeugung mit dem Land Ukraine überhaupt noch eine Frage erlaubt? Danach nämlich, wofür man da so vehement Partei ergreift. Es ist ja eine Sache, Mitgefühl für die zu haben, auf deren Rücken eine Auseinandersetzung zwischen Staaten ausgetragen wird. Das lauthals vorgetragene Bekenntnis zur Ukraine als Staat, für dessen Existenz man sich unbedingt stark machen soll, ist allerdings etwas durchaus anderes.

Da erscheinen, ganz gegen den politischen Trend, einige Nachfragen angebracht.

Kampf für die Freiheit

Wir sind für die „freie Ukraine“ – gegen das autoritäre, wenn nicht diktatorische Russland. So lautet eines der Hauptargumente. Freiheit gegen Repression – wer wäre da nicht für die Freiheit? Aber welche und wessen Freiheit ist da eigentlich gemeint?

Am 21.3.22 meldet Reinhard Lauterbach in der „Jungen Welt“: Die „Ukraine verbietet elf Oppositionsparteien und schaltet Fernsehsender zusammen …(darunter) die »Oppositionsplattform für das Leben«, die zweitstärkste Kraft im Kiewer Parlament…“ Interessant. Und ändert diese Nachricht, die in der breiten Ukraine-Berichterstattung der Mainstream-Medien übrigens fast untergeht, jetzt irgendetwas an dem Urteil, dass hier die Demokratie gegen „das Böse“ kämpft und dafür unsere Unterstützung braucht?

Freiheit für die Oligarchen

„Wir für die Ukraine“ – ist da vielleicht auch einmal die Frage erlaubt, wie es den Leuten im „Normalbetrieb“ ihres Landes eigentlich geht? Was für ein Leben haben sie – das sie so erbittert gegen die „russischen Invasoren“ verteidigen sollen/wollen. Und wollen die deutschen Unterstützer davon überhaupt etwas zur Kenntnis nehmen? Klar ist: den ukrainischen Oligarchen geht es (wie ihren russischen Kollegen) gut, auch wenn die ukrainische Wirtschaft 2009 knapp am Staatsbankrott vorbeigeschrammt ist (1) und die Ukraine als eines der korruptesten Länder der Welt (lt. Transparency International) gilt. (2) Den übrigen Ukrainer_innen geht es in diesem gelobten Land vielleicht eher nicht ganz so gut, wenn mindestens drei Millionen von ihnen permanent im Ausland arbeiten (müssen), legal und illegal, viele von ihnen weit unter den branchenüblichen Gehältern? Laut den UN zählt das Land zu den Staaten mit den „am schnellsten schrumpfenden Bevölkerungen weltweit“, bei stagnierendem Durchschnittslohn von etwas mehr als 400 Euro. (9.3.22 Zeit Online).

Frei und geeint

Die Ukraine – ein Paradeland von Meinungsfreiheit und freien Wahlen? So soll man sich im demokratischen Westen den Putsch der rechten Kräfte 2014 und die darauf folgende politische Szenerie der Ukraine mit ihren Parteiverboten (3) offenbar vorstellen. Allerdings: Wurden die Einwohner des Landes damals eigentlich befragt, ob die Ukraine sich mehr gen West oder Ost ausrichten oder dazwischen einrichten soll? Ob sie 2014 den von den USA mit 7 Milliarden Dollar finanzierten Putsch haben wollten?

Nach dem Putsch wollten jedenfalls eine ganze Reihe von Regionen Autonomie gegenüber dem ukrainischen Staat. Offenbar gab es Teile im ukrainischen Volk, die der neuen antirussischen Staatsdoktrin nicht Folge leisten wollten. Allerdings gab es Abstimmungen in Donezk und Lugansk und später auch auf der Krim. Hier haben die Bürger mehrheitlich gegen den Verbleib in der Ukraine gestimmt – vielleicht wollten sie nicht vom Verbot der russischen Sprache und anderer Diskriminierungen betroffen sein. Wie ist die freie, demokratische Ukraine damit umgegangen?: Militärische Gewalt, „antiterroristische Operationen“, wochenlanger Artilleriebeschuss, so dass sich nur zwei autonome Regionen verteidigen konnten.

Friedliches Zusammenleben

Bis vor vier Wochen soll die Ukraine ein Hort des Friedens gewesen sein, in den nun die „russische Gewalt“ eingedrungen ist. Allerdings: Gab es da nicht immer wieder Krieg und Gefechte an der „Kontaktlinie“? Was versprachen der Zentralstaat, auch Selenski, und die rechtsextremen Bataillone trotz des Vertrages von Minsk den sich abgrenzenden Gebieten – war es nicht vielfach, dass man sie kriegerisch zurück erobern wolle? Laut UN brachte der Krieg schon 14.000 Tote in Donezk und Lugansk, also innerhalb der „friedvollen“ Ukraine! – für diesen Staat soll man jetzt sein?

Ukraine heißt auch: verschiedene rechtsradikale bis faschistische Milizen, (die größte: das Asow-Bataillon) mit zehntausenden Kämpfern, die inzwischen offiziell in die ukrainische Armee eingegliedert und teils von NATO-Soldaten ausgebildet sind. Wurden die Einwohner der Ukraine eigentlich gefragt, ob sie neutral bleiben wollen – oder ob sie der NATO eingegliedert werden sollen? Ob sie ein Militär wollen, das in der NATO-Arbeitsteilung die antirussische Speerspitze bilden soll?

Mehr Krieg

Für die Ukraine sein – für einen Staat, der sich im Kriegszustand befindet, also für eine Partei im Krieg? Damit mit den Waffenlieferungen aus Deutschland und den NATO-Staaten der Krieg länger dauert und umso mehr Menschen getötet, Städte verwüstet werden? Wie geht denn ein kriegführender Staat mit seinen Soldaten, Bewohnern, Städten usw. um? Steht er dafür, dass keinem seiner Bürger etwas passiert – oder setzt er mit seiner Macht, seinem Anspruch auf Monopolgewalt das ihm untergebene Land mit Leuten für seine Staatsräson ein und verheizt es dafür?

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Trotz alledem ist und bleibt ein jeder Krieg – die Aufforderung zum Mord !

Die „Freiheit der Ukraine“ dürfe nicht durch Rücksicht auf Putins Bedarf nach einer NATO-freien Ukraine aufs Spiel gesetzt werden, hieß es hier – also ging es umgekehrt bei „Freiheit für die Ukraine“ vor allem um deren NATO-Ausbau als Brückenkopf gegen Moskau? Wieso eigentlich bekommt der Oberbefehlshaber der einen ausländischen Kriegspartei, Selenski, in deutschen Medien und der Tagesschau Tag für Tag seine Plattform? Soll einfach die waffenliefernde Beteiligung und das deutsche NATO-gemäße Interesse auf diese Weise einfach ins Recht gesetzt werden?

Selenski will die Lufthoheit durch die NATO gegen Russland durchgesetzt haben – was ist das anderes als der Kampf NATO gegen Russland – auf der Hand liegt der 3. Weltkrieg? Bedeutet das nicht ganz schnell Atomkrieg? Und ist damit der Ukraine gedient? Oder wird die Ukraine dafür nicht eher benutzt – dafür soll man sein? „Wir für die Ukraine“ – der drohende Weltkrieg soll ohne ein Schlachtfeld Europa gehen?

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(1) „Seit der „Orangenen Revolution“ im Jahr 2004 stand die Ukraine mehrfach am Abgrund. Hunderttausende protestierten damals gegen Wahlfälschung und die Macht von Oligarchen. 2009 drohte gar ein Staatsbankrott aufgrund der enormen Auslandsverschuldung. Milliarden-Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) retteten das Land vor dem Kollaps.“ (14.2.22 tagesschau.de)

(2) „Die Organisation Transparency International bewertet die Ukraine als eines der korruptesten Länder der Welt. … Ähnlich wie in Russland ist auch in der Ukraine eine kleine Gruppe von Menschen durch Privatisierungen von Staatsbetrieben zu Millionären und Milliardären aufgestiegen.“ (24.2.14 tagesschau.de)

(3) „Nach dem Rechtsputsch vom Februar 2014 war die Ukraine durch Gewalt von rechts ein Land ohne Linke geworden. Die größte Linkskraft, die Kommunistische Partei, ist bis heute faktisch illegal. Für die Verwendung ihrer Symbole drohen Haftstrafen. Der ukrainische Geheimdienst SBU, am Gängelband der CIA, hat seit 2014 einen Polizeistaat lateinamerikanischen Musters geschaffen.“ (jungeWelt 19.3.22: H. Projanski: Nicht dialog-, nicht friedenswillig )

(4) Krass&Konkret 18.3.22, R. Dillmann: „Zeitenwende“: Aufrüstung, Energiesouveränität, Kriegsmoral

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Schland blickt nach vorn…

Erstellt von Redaktion am 23. März 2022

Vergangenheitsbewältigung und Feindbildpflege

2017-05-14 Souvenirs der Ukraine 4.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Johannes Schillo

Deutschland blickt nach vorn …

… auf die vor ihm liegenden Aufgaben – europäische Aufrüstung, Aufstellung als führende Militärmacht – und nicht zurück. Genauer gesagt, man blickt nach Russland, entdeckt einen Präsidenten, „der zunehmend in Nazi-Jargon verfällt“ (General-Anzeiger, 21.3.22), und damit die eigene deutsche Vergangenheit. Denn: Putin ist der neue Hitler, wahlweise der größte Kriegsverbrecher aller Zeiten, und hierzulande gibt es kaum Kritik an Selenskyjs Diagnose, dass die russische Führung die „Endlösung“ der Ukrainefrage betreibe (FR, 21.3.22).

Russischer Faschismus

Die Zeit (Nr. 12/22) hat tiefer gebohrt und mit Hilfe des US-Historikers Timothy Snyder Bemerkenswertes zur Genese des aktuellen russischen Faschismus zu Tage gebracht. Die zentrale Gestalt ist demnach der russische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954), ein strammer Antikommunist, der seinerzeit die orthodoxe Kirche und den Faschismus verherrlichte. „Heute inspiriert er das Denken und Handeln Wladimir Putins… Der russische Präsident bezieht sich seit 2005 in Reden auf ihn. Vor der Annexion der Krim stattete er seine Beamten mit Iljins Aufsatzband Unsere Aufgaben aus.“ Ja, nicht nur der Ukraine-Krieg ist von diesem faschistischen Nationalideologen inspiriert, sondern mit seiner Philosophie in der Hinterhand betreibt Putin allerlei subversive Aktivitäten im Internet und anderswo, so dass „die Krise der westlichen Demokratien und das Erstarken der rechten sadopopulistischen Bewegungen“ hier bei uns letztlich den russischen Manipulationen zuzuschreiben sind (https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/der-weg-in-die-unfreiheit-2762/)Ob Trump, ob Brexit oder das generelle Erstarken des Rechtspopulismus in der „freien Welt“ – immer steckt also der Russe dahinter!

Der Hochschullehrer Micha Brumlik dagegen weiß, dass „der Philosoph hinter Putin“ (taz, 4.3.22) Alexander Dugin heißt. „Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ist es höchste Zeit, Wladimir Putin als einen Revolutionär im Geiste des rechtsextremen Dugin zu begreifen.“ Kein Zufall soll es außerdem sein, dass der Nationalideologe Dugin zu einem Vordenker der Rechtsradikalen in Deutschland wurde, „plädiert dieser doch für eine radikale Umkehr des politischen Denkens, für eine ‚Kehre‘, weswegen er immer wieder auf den – auch hier von der Neuen Rechten hochgeschätzten – Philosophen Martin Heidegger verweist.“ Dugin veröffentlichte 2011 in Russland das Buch „Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie“ und indoktrinierte so laut Brumlik nicht nur Putin, sondern auch deutsche Denker: „Über Dugin hat Heideggers Denken Eingang in die Ideologie der deutschen Identitären gefunden“.

Die Entdeckung des russischen Rechtsextremismus passt auch gut ins Bild, das die hiesigen Medien gegenwärtig vom Krieg in der Ukraine und von dessen nationalen Helden zeichnen. Man kann es nämlich nicht mehr ganz verschweigen, dass sich dort, etwa beim Asow-Regiment, Rechtsradikale heimischer sowie ausländischer Bauart tummeln. Ungerührt wird ja auch hierzulande mitgeteilt, dass um den faschistischen Helden Stephan Bandera ein Nationalkult veranstaltet wird. Von „Bandera-Smoothies“, mit denen der Volkswiderstand Putins Panzertruppen begrüßt, schreibt begeistert die deutsche Presse (General-Anzeiger, 2.3.22). Der ukrainische Botschafter Melnyk legt am Grab des OUN-Faschisten Bandera Blumen nieder etc. pp. Das wird inzwischen schon mal in der deutschen Presse kritisiert (vgl. FR, 22.3.22), die sich bei Kriegsbeginn fassungslos gab, wieso Putin von einer Entnazifizierung der Ukraine sprechen konnte. Jetzt heißt es an die russische Adresse gerichtet: Selber Nazis! Bei euch zuhause gibt es viel mehr Rechtsradikale als in der Ukraine, wo sie eigentlich harmlos, da ins reguläre Militär integriert sind.

Am Erstaunlichsten im Blick auf die deutsche Situation sind allerdings Aussagen von Snyder oder Brumlik, die im russischen Faschismus gleich noch die Brutstätte entdecken, aus der die hiesigen rechten Ableger hervorgegangen sein sollen. Dugin hat Heideggers Denken in die neueste deutsche Ideologie von rechts eingeführt!? War dieser alte Nazi-Philosoph denn hierzulande unbekannt? Fehlt da nicht ein ganzes Kapitel?

Deutsche Philosophie

Brumlik scheint auch ganz vergessen zu haben, was er noch im letzten Jahr veröffentlichte, etwa im Rahmen des „Zentrum Liberale Moderne“ (siehe „Adenauers Geist im Dunstkreis der Grünen“ https://www.heise.de/tp/features/Adenauers-Geist-im-Dunstkreis-der-Gruenen-5054199.html). Dort wurde der neue Rechtstrend in Deutschland seziert, der an ältere, aber in der Nachkriegs-BRD durchaus geschätzte Denker wie Spengler oder Heidegger anschließt. Brumlik entdeckte hier eine bemerkenswerte geistige Kontinuität. Was die neurechten Interpreten mit Heidegger veranstalten, sei kein Missbrauch einer philosophischen Tradition Deutschlands, sondern eine adäquate „Diskursstrategie, die auf völkische Emotionalisierung“ setzt und anstelle „eines aufgeklärten Begriffs menschlichen Fortschritts den heroischen Realismus einer schicksalhaften Bewährung im ‚Eigenen‘ eines nur ethnisch und herkunftsbezogen verstandenen ‚Volkes‘“ präferiert. Eben Seinsphilosophie at its best!

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Das war aber nicht Brumliks letztes Wort. In bester neudeutscher Tradition wiederholte er anschließend die bekannte Würdigung Heideggers und zollte den erklommenen seinsphilosophischen Höhen Anerkennung. An Heideggers „Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts“ darf laut Brumliks Resümee „weder sein Eintreten für Hitler noch seine zuletzt unübersehbar gewordene antisemitische Haltung etwas ändern“. Der ganze Aufwand führte also wieder da hin, wo man im Adenauer-Staat war: Wer wie Heidegger „uralte Fragen der abendländischen Philosophie“ aufgreift, hat uns heute – Faschismus hin oder her – immer noch viel zu sagen. (Vgl. „Heidegger und die Folgen“ Scharf links 13.2.21.)

Hochgeschätzt wird der Faschist Heidegger also nicht nur von Dugin, Putin und Co., sondern auch von deutschen Rechtsradikalen und Professoren wie Brumlik. Übrigens im besten Einklang mit einer westdeutschen Nachkriegstradition, wie jetzt eine neue Publikation von Klaus-Peter Hufer über „Philosophie im Nationalsozialismus“ deutlich macht („Im Auftrag des ‚Volkes‘ und des ‚Führers‘“ https://www.klemm-oelschlaeger.de/). Die deutschen Philosophen wechselten 1933 – von einigen marxistischen und jüdischen Emigranten abgesehen – fast komplett ins NS-Lager. Hufer kann gerade mal drei prominente Ausnahmen benennen, wobei einer der drei „Aufrechten“, der Philosoph Karl Jaspers, nach 1945 entscheidend an der Rehabilitierung Heideggers mitwirkte – wider besseres Wissen. Gemeinsam mit Heideggers ehemaliger Geliebter Hannah Arendt hat Jaspers sich, wie eine neue Studie festhält, „aus einer Haltung der Treue heraus davor gedrückt, der Wahrheit einer Verstrickung Heideggers in das NS System ins Auge zu blicken“ (Ingeborg Gleichauf, Hannah Arendt und Karl Jaspers, 2021, S. 63).

Mit dieser Reinwaschung wurde wesentlich zum Nachkriegsruhm eines bekennenden Faschisten beigetragen. Hufer betont auch die enge Anbindung Heideggers ans faschistische Programm bereits vor 1933, als der schwurbelnde „Philosophenkönig“ mit seinem Opus „Sein und Zeit“ Furore machte. Schon da störte sich Heidegger an der „wachsenden Verjudung“ der Wissenschaft – und der Notwendigkeit eines völkischen Aufbruchs und eines heroischen Realismus in Gegnerschaft zu den Dekadenzerscheinungen einer jüdisch-marxistischen Moderne blieb er auch nach 1945 treu, legte jedenfalls nie ein Schuldbekenntnis ab. Nach einer kurzen, eher symbolischen Pause konnte Heidegger im Adenauer-Staat zu seiner Hochschultätigkeit zurückkehren, übrigens wie fast alle seine Kollegen, denn es gab „nur wenige, die nicht wieder in Amt und würden gekommen sind“, wie Hufer abschließend festhält.

Faschistischer Nationalideologie – in veredelter philosophischer Gestalt und um einige zu offenkundige Nazi-Bezüge bereinigt – wurde also ein ungestörtes „Weiterwirken nach dem Krieg“ (Hufer) garantiert. Das war und ist deutsches Geistesleben bis auf den heutigen Tag. Denselben „nationalideologischen Stuss“ (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/zeitenwende) kann natürlich auch ein Putin von sich geben. Aber siehe da, wenn er das tut, dann entdeckt der Westen nicht die Gemeinsamkeit, noch nicht einmal – siehe den Fall Dugin – die Ursprünge in der hochgeschätzten deutschen Geistestradition, sondern fremde slawische Einflüsse, die auch noch die eigentliche Triebkraft hinter dem Rechtstrend im freien Westen darstellen sollen.

So ist das aktuelle Feindbild komplett: Putin ist der neue Hitler, der den aktuellen Holocaust in der Ukraine – in Fortsetzung von Stalins „Holodomor“ – zu verantworten hat, während Deutschland Teil – und bald vielleicht führende Macht – der Anti-Hitler-Koalition ist. Dafür muss es sich nur noch von der immer wieder beschworenen, jetzt mit dem Ukraine-Krieg endlich erledigten „Last der historischen Verantwortung“ freimachen. Aber das ist ja mit der „Zeitenwende“ (Scholz) im Grunde schon vollzogen.

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Ukraine unter Selenskyj

Erstellt von Redaktion am 19. März 2022

Krieg nicht gewonnen, „nation building“ gelungen

Datei:Wolodymyr Selenskyj besuchte die verwundeten Verteidiger der Ukraine, die in einem Militärkrankenhaus behandelt werden (51938622468).jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von  :  Alexander Amethystow

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Held der Stunde. Die deutschen Medien und ihr Publikum bewundern den smarten Ex-Komiker, der sich in schwerer Stunde als tapferer Staatsmann erwiesen hat.

„Der melancholische Wolodimir Selenskij hat uns all die Jahre kaum interessiert. Nun sollten wir von ihm lernen“ schreibt die Süddeutsche Zeutung über den Politiker, der so auftritt als könnte man ihn „beim Elternabend treffen“.Dabei wurde Selenskyj, der im Mai 2019 Präsident wurde, lange Zeit wenig ernstgenommen. Anfänglich galt er als eine Marionette des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der sich mit Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko überworfen hatte. Frisch gewählt erzwang Selenskyj im Juli 2019 die Neuwahl des Parlaments, die seine Partei „Sluha Naroda“ („Diener des Volkes“) mit 43,16 % haushoch gewann.Gegen die Macht der Oligarchen, gegen die er im Wahlkampf wetterte konnte er aber trotzdem wenig bewirken. Sobald es um Gesetze ging, die die Interessen von Kolomojskyj betrafen, wurden sie von unzähligen Änderungsanträgen fraktionsübergreifend torpediert. Gleichzeitig verlangte der IWF, von dessen Krediten die Ukraine abhängt, immer weitere „Strukturanpassungsmassnahmen“, sprich eine neoliberlae Umgestaltung des Staatsapparates und immer mehr Massnahmen gegen die Korruption. Der von der besagten Korruption durchtränkte Staatsapparat verweigerte sich jedoch dem Kampf. Mit grosser Mühe setzte der Präsident eine Landreform durch, die es ausländischen Unternehmen erlaubte, Land in der Ukraine zu besitzen, was für Proteste inner- und ausserhalb des Parlaments sorgte.Verschiedene Ansätze, Reformen durchzuführen, wie etwa den georgischen Ex-Präsidenten und marktradikalen “Wunderreformer” Michail Saakaschwili ins Land zu holen und ihn zum Vizepräsidenten zu ernennen, oder das Parlament durch die Stärkung des Präsidialamtes zu schwächen, glückten zunächst nicht. In nur zwei Jahren wurden vom Parlament drei Regierungschefs gewählt. In dieser Situation begann Selenskyj, ursprünglich als gemässigte Alternative zur Poroschenko auftretend und sich auf die russischsprachige, wenn auch pro-westliche Wähler stützend, sich durch Unnachgiebigkeit gegenüber Russland zu profilieren. Auch das führte zunächst zu wenig politischem Erfolg, weil die westlichen Partner, allen voran die aus der EU, eher zu Mässigung drängten und die Wiedereroberung der Krim und vom Donbass scheinbar für wenig realistisch hielten. Deutschland und Frankreich verweigerten die von Selenskyj erhoffte Revision der Minsker Abkommen, während die rechte Opposition um Poroschenko ihm deswegen Verrat und Schwäche vorwarfen.

Die Corona-Pandemie brachte das Land in eine noch desolatere Lage. Die Ukraine schien zu einem failed state zu werden und als solchen betrachteten die Kontrahenten aus Moskau sie anscheinend bei Kriegsantritt. Da Selenskij einerseits seine Wahlversprechen kaum erfüllen konnte, andererseits an der Wiedergewinnung der 2014 verlorenen Gebiete festhielt, wirkte er von Moskau aus gesehen wie ein schwacher Präsident, der reichlich provozierte. Dass Selenskyj durch seine Mediengesetzgebung der russlandfreundlichen „Oppositionsplattform – Für das Leben“ (OP) um den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk ihrer wichtige Ressourcen beraubte und anschliesslich Medwedtschuk selber verhaften liess, machte für Russland deutlich, dass die Chancen, einen Kurswechsel parlamentarisch herbeizuführen immer weiter in die Ferne rückten.

Die fleissige Umrüstung der ukrainischen Armee – die Ukraine hat für die Armee mehr ausgegeben, als jedes andere postsowjetische Land ausser Russland –, samt der Rhetorik, die keinen daran Zweifel liess, dass Ukraine die Revision der Ergebnisse des Krieges von 2014 anstrebte, wurden von der russischen Propaganda dankbar aufgegriffen. Noch kurz vor dem Krieg sprach Selenskyj von der prinzipiellen Möglichkeit die Produktion von den Atomwaffen in der Ukraine zu starten.

Selenskiyj wirkte wie ein Politiker mit schwindendem Rückhalt. Doch wie sich kurz nach dem russischen Einmarsch zeigte, basierten die Pläne Moskaus auf einer eklatanten Fehleinschätzung des ukrainischen Nationalismus. Die Erwartung, weite Teile der Bevölkerung würden sich gegenüber dem Staat – dessen Unabhängigkeit bei der Gründung ein umstrittenes Projekt war – und nationalistscher Mobilisierung indifferent Verhalten, wurde durch einen beachtlichen „Wehrwillen“ karikiert.

Entgegen Hoffnungen der Macher des im offiziellen Sprachgebrauch „Spezialoperation“ genannten Krieges, kündigte die russischsprachige Bevölkerung nicht massenweise dem ukrainischen Staat die Loyalität. Selenskyj wurde auch weder von Militärs, noch von rechten „Falken“ entmachtet, sondern wurde auf einmal parteiübergreifend als Führer der Nation in der Stunde der Not akzeptiert. Die Strategien, die darauf zielten, ihn Anhand seines früheren Berufes als Clown, Anhand seiner Herkunft als Jude oder anhand des in seinem Amt kaum vermeidbaren Umgangs mit den radikalen Nationalisten als Nazi in Augen der ukrainischen Öffentlichkeit zu diskreditieren, bringen nicht den gewünschten Effekt.

Die russische Führung und mit ihr loyale Medien teilen die Sicht, dass in der Ukraine die Würdigung der historischen Rolle der ukrainisch-faschistischen „Organisation der Ukrainischen Nationalisten“ (OUN) beim Kampf um den ukrainischen Nationalstaat zur kompletten Übernahme deren Programm führt. Freilich hat Ukraine eine blühende rechtsradikale Szene, deren bescheidene Erfolge bei den Wahlen in keinem Verhältnis zu ihrer Präsenz auf der Strasse und an der Donbassfront stehen.

Obwohl sich die ukrainischen Rechtsradikalen immer wieder an der jüdischen Herkunft von Selenskyj und Kolomojskyj, der armenischen Herkunft von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko und Ex-Innenminister Arsen Awakow, sowie der tatarischen des Oligarchen Renat Achmetow stören, steht die Vaterlandsverteidiung auf der Prioritätenliste ganz oben. Zudem sind einige OUN-Nostalgiker durchaus bereit, die jüdische Bevölkerung in die Nation einzugemeinden. Das aber nur solange sie loyal zur Ukraine sind und der Geschichtsversion, bei der die Beteiligung von Ukrainern an der Shoa schlicht geleugnet wird, nicht allzu laut wiedersprechen.

Oblast Charkiw nach dem Beschuss (4).jpg

Die unerwartete Bereitschaft der ukrainischen Staatsbürger:innen, sich partei- und klassenübergreifend dem nationalen Konsens anzuschliessen und die Staatlichkeit der Ukraine zu verteidigen, wird von den westlichen Verbündeten gewürdigt. Die Ukraine ist nicht Afghanistan, wo Armee und Bevölkerung nicht bereit sind sich für den Staat zu opfern. Es lohnt sich, Waffen dort hin zu schicken und die Kosten für Kriegsführung gegen zahlenmässig überlegenen Feind zu übernehmen, jubeln die westlichen Medien. Selenskyjs Entscheidung wahllos Schusswaffen an die Zivilist:innen zu verteilen, würde woanders als Ende des staatlichen Gewaltmonopols gewertet, in diesem Fall rührt es die westliche Öffentlichkeit zu Tränen.

Die Ukrainer:innen sind doch ein richtiges Volk, weil sie bereit sind einen Krieg für den eigenen Staat zu führen, trotz aller sonstigen Interessenkonflikte. Während in der Ukraine die versprengten Linken sich über besonderes eifrige Landesverteidigung zu profilieren versuchen, kommen die Kräfte, die auf die Russland gehofft haben im Unterschied zu 2014 gar nicht zum Vorschein. Diejenigen, denen an der Unabhängigkeit der Ukraine wenig gelegen ist, sind von der Öffentlichkeit endgültig ausgeschlossen. Putin meinte zwar, Lenin habe die Ukraine geschaffen, aber den entscheidenden Beitrag zur Schaffung eines ukrainischen Nationalbewusstseins scheint er gerade selber mit der „Spezialoperation“ zur Ordnung der politischen Verhältnisse geschaffen zu haben.

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Oben     —   Präsident Wolodymyr Selenskyj stattete den verwundeten Verteidigern der Ukraine, die in einem Militärkrankenhaus behandelt werden, einen Besuch ab. Die Militärs wurden nach den Kämpfen in der Region Kiew mit Verletzungen unterschiedlicher Schwere in diese medizinische Einrichtung gebracht. Das Staatsoberhaupt verlieh den Militärs Orden und Medaillen für Mut und Hingabe und ehrte das Krankenhauspersonal für vorbildliche Arbeit unter schwierigen Bedingungen. Wolodymyr Selenskyj sprach mit der Leitung des Krankenhauses und fragte nach den Bedürfnissen der Einrichtung und den besonderen Maßnahmen, die während des Krieges ergriffen wurden.

Verfasser Präsident der Ukraine von Україна       /      Quelle    –    Wolodymyr Selenskyj besuchte die verwundeten Verteidiger der Ukraine, die in einem Militärkrankenhaus behandelt wurden.   /   Datum    –13.03.2022

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Unten      —       Zerstörungen in der Oblast Charkiw nach russischem Beschuss während der russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022.

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Aus den Finanzkasino

Erstellt von Redaktion am 4. März 2022

Finanzielle Folgen des Ukraine-Kriegs: Russland wird verlieren

Von Ulrike Herrmann

Vielleicht siegt Putin in der Ukraine, aber ökonomisch wird er verlieren. Die Kosten der Russen werden gigantisch sein, wenn sie jetzt nicht aufgeben.

Wladimir Putin wird strategisch verlieren, selbst wenn er die Ukraine militärisch besiegen sollte. Denn gegen ökonomische Realitäten lässt sich kein Krieg führen. Russland ist arm und wird durch die Invasion noch ärmer.

Bekanntlich hat sich Putin auch schon verrechnet, als er dachte, dass sein „Blitzkrieg“ nur zwei Tage dauern würde. Aber selbst wenn er Kiew sofort eingenommen hätte, wäre dieser Angriff ein schlechtes Geschäft gewesen. Denn es würde ja nicht reichen, die Ukraine zu erobern – hinterher müssten die Russen dauerhaft bleiben, um ihre Nachbarn zu unterdrücken.

Wie teuer Okkupationen werden können, haben die USA ab 2003 im Irak erlebt. Diktator Saddam Hussein war schnell ausgeschaltet, aber die US-Besatzung zog sich bis 2011 hin. Ökonomie-Nobelpreis-Träger Joseph Stiglitz hat später kalkuliert, dass der Irakkrieg die Amerikaner drei Billionen Dollar gekostet hat.

Im Irak leben übrigens genauso viele Menschen wie in der Ukraine: 41 Millionen. Die USA hatten jedoch den Vorteil, dass sie nicht von allen Irakern abgelehnt wurden, sondern auch einheimische Unterstützer hatten. Die Russen hingegen stoßen auf ein geeintes Volk und einen fähigen Präsidenten. Die Kosten werden noch höher sein.

Der Überfall auf die Ukraine wird noch teurer für Russland

Die USA können sich strategische Misserfolge leisten, weil sie die reichste Volkswirtschaft der Welt sind – und die Leitwährung besitzen. Da Dollar so begehrt sind, können die USA einfach Geld drucken und damit Importe aus dem Ausland begleichen. Die Amerikaner saugen also permanent einen Teil des Reichtums ab, den andere Länder erwirtschaften. Am Rubel hingegen hat niemand Interesse. Im Gegenteil.

Russland müsste eine Besatzung aus eigener Wirtschaftskraft stemmen – ist aber ein armes Schwellenland. Es hat nur Rohstoffe zu bieten, sonst nichts. Rechnet man die Kaufkraft ein, kommen die Russen auf ein Einkommen von 28.000 Dollar pro Kopf und Jahr. Damit sind sie ärmer als die Rumänen, müssen aber aus diesen mageren Mitteln einen riesigen Militärapparat finanzieren, der selbst zu Friedenszeiten gewaltig ist und sich im Ukrainekrieg weiter aufblähen wird.

Immerhin leben die Russen derzeit besser als zu Sowjetzeiten. Doch nun sind sie auf dem Weg zurück in diese dunklen Zeiten und machen erneut die gleichen Fehler. Putin glaubt zwar, dass seine geliebte Sowjetunion durch politische „Irrtümer“ auseinandergebrochen sei. Doch tatsächlich war die Ökonomie am Ende. Die Sowjetunion war finanziell damit überfordert, ihr Imperium militärisch zu unterdrücken. KGB-Offizier Putin war 1989 in Dresden live dabei, hat aber offenbar nicht verstanden, wie es zur „Wende“ kam.

Auch ungut für Putin: Im Westen wird jetzt aufgerüstet. Bisher hatte die Bundeswehr noch nicht einmal Unterwäsche, wenn Medienberichten zu glauben ist. Aber nun soll in allen Nato-Ländern in die neueste Technik investiert werden. Also muss Russland nachrüsten, um mitzuhalten, was weiteres Geld schluckt und die Armut vergrößert.

Der Rubel ist in Gefahr

Kurz: Bereits ein Blitzkrieg plus Besatzung hätte ausgereicht, um Russland mittelfristig in den Bankrott zu treiben. Doch jetzt kommt es noch schlimmer. In der Ukraine zieht sich der Vormarsch in die Länge, und zugleich wurden Sanktionen beschlossen, die vor zehn Tagen niemand für möglich gehalten hätte.

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Der Westen hat einfach Putins Kriegskasse blockiert, indem die russische Zentralbank vom Weltfinanzsystem abgekoppelt wurde. Putin hatte Devisen und Gold im Wert von umgerechnet 630 Milliarden Dollar angehäuft, wovon etwa zwei Drittel im Westen lagern dürften. Dieses Geld fehlt nun, um den Rubel zu stabilisieren.

Der Rubel ist aber in Gefahr – schon durch den Krieg an sich. Kein Angriff ist umsonst zu haben, immer wird „die Druckerpresse angeworfen“. Auch in Russland dürften gerade viele neue Rubel entstehen, um die Invasion in der Ukraine zu finanzieren. Ein ökonomischer Gegenwert ist aber nicht in Sicht, denn Kriege produzieren nun einmal keine Güter, sondern nur Zerstörung. Es ist banal: Jeder große Krieg führt zu einer großen Inflation. Und Putin führt einen großen Krieg. Er will 41 Millionen Menschen erobern.

Auch Putin ist in einer anderen Welt aufgewacht

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben      —       Vorbereitung einer Waffenlieferung der USA an die Ukraine (436th Airlift Wing der Eighteenth Air Force) im Januar 2022

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Die Ukraine-Invasion

Erstellt von Redaktion am 27. Februar 2022

Putins globale Rechte demaskiert sich selbst

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Frankfurt am Main, November 2014. 

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Von rechten Kommentatoren in Europa und den USA wird Wladimir Putin als Held gefeiert – oder zumindest als erfrischender Gegenentwurf zum vermeintlich verweichlichten Westen. Damit muss endlich Schluss sein.

Große Krisen erzeugen in der Regel ja auch große Klarheit. Es wird plötzlich sichtbar und trennscharf, was vorher womöglich noch nicht so gut erkennbar war. Wichtig und unwichtig, falsch und richtig treten auf einmal klar hervor. Was Wladimir Putins Angriffskrieg in der Ukraine klar hervortreten lässt, ist zweierlei.

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Im Sinne der Betroffenen?

Erstellt von Redaktion am 18. Februar 2022

Zwei Jahre nach dem Hanau-Attentat

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„Es war einmal“ – so fingen politische Märchen immer an?

Von Konrad Litschko

Zum Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau wird auch Innenministerin Faeser anreisen. Ein bewusstes Zeichen in für sie unruhigen Zeiten.

Es war schon kurz nach dem Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau, als Nancy Faeser das erste Mal bei Familie Kurtović im Wohnzimmer saß. Bei dem Attentat war Hamza, der zweitälteste Sohn der Familie, erschossen worden. Eines von zehn Mordopfern, neun mit Migrationsgeschichte. Faeser kam damals als hessische SPD-Innenpolitikerin, mit mehreren Parteikolleg:innen. Sie hörte der Familie zu, ihrer Trauer, ihren offenen Fragen. Warum wurden sie so spät von der Polizei über das Schicksal ihres Sohnes informiert? Warum erfuhren sie nichts von Hamzas Obduktion? Hätte die Tat wirklich nicht verhindert werden können?

„Das Treffen war ein gutes Zeichen“, erinnert sich heute Vater Armin Kurtović. „Ich glaube, dass sie unsere Sorgen wirklich ernst nimmt und sich um Taten bemüht.“ Und auch bei Nancy Faeser hinterließ der Besuch Eindruck. „Als Mutter werde ich diesen Besuch niemals vergessen“, sagte sie später im Hessischen Landtag. Am Samstag nun wird Nancy Faeser Familie Kurtović wiedersehen. Auf dem Hauptfriedhof in Hanau. Dort, wo nun Hamza Kurtović begraben liegt, neben zwei weiteren Anschlagsopfern, Ferhat Unvar und Said Nesar Hashemi.

An dem Tag wird dem 2. Jahrestag des Hanau-Anschlags gedacht, mit rund 100 geladenen Gästen. Faeser wird diesmal aus Berlin anreisen, als Bundesinnenministerin. Für die 51-Jährige ist es eine Rückkehr. Nach Hessen, wo sie 18 Jahre für die SPD im Landtag saß, als Innenexpertin und zuletzt als Fraktions- und Landeschefin – bis sie im Dezember von Olaf Scholz zur Bundes­innenministerin ernannt wurde. Und eine Rückkehr zu dem Thema, das ihr bisheriges politisches Engage­ment prägt. Es ist allerdings auch eine Reise in für Fae­ser unruhigen Zeiten.

Die Fahrt nach Hanau passt jedenfalls zu der Ansage, die sie seit ihrem Antritt als Innenministerin macht: Die größte Bedrohung hierzulande sei der Rechtsextremismus. Bei einem Onlinegespräch diese Woche mit Said Etris Ha­she­mi, dem Bruder des ermordeten Said Nesar Hashemi, sagte Fae­ser, der Hanau-Anschlag sei „mit das Schlimmste, was ich je erlebt habe“.

Am Mittwoch knüpfte Faeser daran im Bundestag an, bei einer Aktuellen Stunde zum Jahrestag des Attentats. Die Tat sei bis heute ein „tiefer Einschnitt für unser Land“. Schon zuvor hatte sie bis Ostern einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus angekündigt. Hatte Telegram den Kampf gegen Hassbeiträge angesagt und gewalttätigen Coronaprotestierenden Gegenwehr „mit aller Härte“ versprochen.

Parallel aber lief zuletzt von rechts eine Kampagne gegen Fae­ser an, von der Jungen Freiheit bis zur AfD und Union. Gemeinsam attackierten sie Faeser für einen früheren Gastbeitrag bei dem Magazin der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten“ (VVN-BdA). Ein Verband, der einst von Holocaustüberlebenden gegründet wurde und heute von einigen Verfassungsschutzämtern beobachtet wird. Und eine Sicherheitsbehörde stach an die Bild ein Papier durch, in dem gewarnt wird, Faesers Migrationspolitik könne zu mehr illegaler Zuwanderung führen.

Es sind schwierige Tage für eine Sozialdemokratin, die in ein Ministerium kommt, das 16 Jahre lang von der Union geführt wurde. Und die auf eine Union trifft, die bei der Inneren Sicherheit eine offene Flanke der Ampel wittert. Umso mehr ist die Reise nach Hanau für Faeser ein willkommener Kontrapunkt. Man kann ihr aber glauben, dass ihr dieser Besuch ein echtes Anliegen ist. „Rechtsextremismus führte mich in die Politik“, sagte sie im März 2021 im Hessischen Landtag – auch das bei einer Debatte zum Hanau-Anschlag. „Damals, als Jugendliche, hätte man noch gesagt: Wehret den Anfängen. Heute, muss ich sagen, ist es dafür viel zu spät.“ Man müsse den Rechtsextremismus „mit aller Entschlossenheit bekämpfen“.

Tatsächlich machte Faeser schon als hessische Innenpolitikerin den Rechtsextremismus zum Schwerpunkt. In Hessen gab es auch allen Grund dafür: Hier geschah der NSU-Mord an Halit Yozgat, das Attentat auf Walter Lübcke, dann Hanau. Fae­ser engagierte sich im NSU-Untersuchungsausschuss – eine Arbeit, die sie sehr prägte, wie sie später mal sagte. Sie forderte Aufklärung auch zum Lübcke-Mord und trat vehement für einen U-Ausschuss auch zum Hanau-Anschlag ein, von dem anfangs nicht alle überzeugt waren.

Und Faeser fand deutliche Worte. Hessens CDU-Innenminister Peter Beuth warf sie eine „schreckliche Sprache einer kaltherzigen Bürokratie“ vor. Dass der Hanauer Polizeinotruf nicht nur in der Tatnacht, sondern seit Jahren unterbesetzt und technisch veraltet war, nannte sie eine „organisierte Verantwortungslosigkeit“. Die Landespolizei forderte sie zu mehr Kommunikation mit den Opferfamilien auf. Sie habe gehofft, dass die Sicherheitsbehörden nach dem NSU und Lübcke-Mord schon viel weiter seien, sagte sie. Hanau aber habe gezeigt: „Es braucht offenbar noch sehr viel Bewusstseinsveränderung in unseren Behörden.“

Dabei suchte Faeser immer wieder den Kontakt zu den Betroffenen, lotste auch Olaf Scholz im Sommer 2021 zur Familie Kurtović. Dem erschossenen Vili Viorel Păun, der den Attentäter noch verfolgt hatte, attestierte Faeser eine „beeindruckende Zivilcourage“. Ajla Kurtović, die Schwester von Hamza, ließ sie von ihrer Partei als Wahlfrau zur Bundespräsidentenwahl aufstellen.

Faeser selbst weiß, wie rechte Bedrohung aussieht. Zwei Mal erhielt sie rechtsextreme „NSU 2.0“-Drohschreiben. „Ich werde mich niemals einschüchtern lassen“, antwortete sie darauf. Und den Hanau-Opfern gab sie ein Versprechen: „Wir schulden den Angehörigen die Aufklärung. Das ist eine Frage des Vertrauens in unseren Staat.“ Auch für viele andere Menschen, die von Rassismus betroffen seien.

2021-12-07 Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 20. Wahlperiode des Bundestages von Sandro Halank–043.jpg

Es ist ein Versprechen, das Fae­ser auch am Mittwoch im Bundestag erneuerte. Bis heute seien zum Hanau-Anschlag „noch viel zu viele Fragen offen“. Sie wolle für mehr Transparenz sorgen, es brauche „einen Staat, der handelt und Konsequenzen zieht“. Schon in ihrer ersten Rede als Innenministerin hatte sie sich direkt an Serpil Temiz-Unvar gewandt, die in Hanau ihren Sohn Ferhat verlor. „Wir werden Ihre Kinder nie vergessen“, versprach Faeser ihr. „Und wir werden alles tun, um die Menschen, die in unserem Land bedroht und angegriffen werden, besser zu schützen.“

SAID ETRIS HASHEMI, ANGEHÖRIGER„Wir setzen sehr viel Hoffnung in Nancy Faeser als Innenministerin“

Es ist eine Opferperspektive, die man so von Faesers CSU-Vorgänger Horst Seehofer eher nicht hörte. Serpil Temiz-Unvar erreichten diese Worte. „Das war ein positives Signal“, sagt sie. „Und es ist eine Chance, dass wir nun gehört werden und wirklich zusammenarbeiten gegen den Rassismus in der Gesellschaft.“ Und auch Said Etris Hashemi sagte, er sei froh, dass Fae­ser nun Innenministerin sei. „Wir setzen da sehr viel Hoffnung rein.“

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben       —        City sign HANAU am Main

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Für fünf Minuten Angst

Erstellt von Redaktion am 17. Februar 2022

Alter Bankräuber vor Gericht

Halle - Amtsgericht erb. 1906.jpg

Wie hörten wir Berthold Brecht einst sagen: „Nur Dilettanten überfallen eine Bank, richtige Ganoven (Politiker?) gründen eine.“

Von Thomas Gerlach

In Halle soll geklärt werden, ob Martin B. geläutert ist oder mit 76 Jahren noch einer von ihm lange ausgeübten „Profession“ nachgeht – der des Bankräubers.

Am Morgen ist Martin B., Ketten an den Füßen, ins Landgericht Halle getrottet. Nun ist Verhandlungspause und B. zeigt sich gesprächig. Wie viele Banküberfälle auf sein Konto gehen? „Vierzehn oder fünfzehn.“ So genau könne er sich nicht mehr erinnern. Auch wenn Details zu früheren Raubzügen verblassen, Martin B. ist 76 Jahre alt, eines weiß er genau: Mit dem Überfall, den ihm der Staatsanwalt heute anhängen will, hat er nichts zu tun. Ein Raub lohne sich nicht mehr, schimpft er. Vieles laufe heute bargeldlos ab und das bisschen Cash, bestenfalls ein paar Tausend Euro, stecke in Tresoren mit Zeitschaltuhr. Nein, der Beruf des Bankräubers, den Martin B. so lange ausgeübt hat, gehöre zu den aussterbenden Professionen.

Aber zu den abwechslungsreichen. Zwar hat B. insgesamt fünfunddreißig Jahre hinter Gittern verbracht, doch mit frischem Geld hat er dazwischen immer wieder das Leben eines Hedonisten geführt – Faulenzen, Reisen, „sackweise schöne Frauen“. Martin B. ist aus Berlin-Tegel ausgebrochen und aus einer JVA in Bayern. „XY ungelöst“ hat nach ihm gefahndet und Banken in Österreich und in der Schweiz waren vor ihm nicht sicher.

Frankreich hat er nur als Unterschlupf genutzt. Fünf Jahre lang war er auf der Flucht. Wo ist das Geld von den früheren Überfällen geblieben, will der Vorsitzende Richter Detlev Bortfeldt wissen. „Alles weg!“, versichert B. Das Leben auf der Flucht sei teuer, die ganzen gefälschten Papiere. „Das kostet.“

Milde blickt Bortfeldt auf den Mann mit dem zerfurchten Gesicht, den wachen Augen und den grauen Löckchen. „Sie haben keinen Verdacht, wer die Bank überfallen hat?“ – „Nee!“ Martin B. ist gut zu verstehen. Er selbst hat Probleme. Die Hörgeräte taugen nichts, schimpft er und tauscht mit seinem Anwalt den Platz, um näher an der Richterbank zu sein mit den zwei Hauptamtlichen, einem Mann und einer Frau, und den beiden Schöffen.

Im Anstaltsgarten beim Schach

Die vier müssen klären, ob da ein notorischer Bankräuber sitzt, der Anfang April 2021, verhüllt mit Regenponcho und Mund-Nasen-Schutz, die Volksbank von Mücheln ein paar Kilometer südlich von Halle überfallen hat. Oder ist er doch ein Geläuterter, der nach einem letzten Raubzug, für den er neun Jahre Knast aufgebrummt bekam, zum Schluss in der Seniorenabteilung im sächsischen Waldheim, seinem Gewerbe abgeschworen hat?

Spiegel TV besuchte 2019 die Altenabteilung von Waldheim. Zu den Privilegien gehören häufigere Hofgänge, mehr Besuche und Ergotherapie. Martin B. präsentiert sich gutgelaunt vor einer Staffelei, wo er erzählt, dass er zu malen begonnen hat. Später sieht man ihn im Anstaltsgarten beim Schach mit einem falschen Fürsten von Anhalt.

Viel hat der Staatsanwalt nicht in der Hand. Ein paar auffallende Kontobewegungen im April 2021, dazu die Aussage von B.s Ex-Freundin, dass er ihr den Bankraub gestanden habe. Und dann ist da noch B.s Handy, dass sich zur Tatzeit in die Funkzelle von Mücheln eingeloggt haben soll. Eine Bank ausrauben und hinterher als Erstes das Handy einschalten? „Das ist ja hirnrissig“, poltert B.

„Wo waren Sie denn?“, fragt der Vorsitzende Richter. „In Bayern, bei einer Altenpflegerin. Die geht nebenbei auf den Strich.“ Das Handy habe er vergessen, irgendwo in Halle oder bei seiner jungen Freundin, die ihn wenig später bei der Polizei angezeigt hat. Ganze 45 Sekunden hat die „schwere räuberische Erpressung“ gedauert. Erstaunlich kurz für die vielen Geldbündel. Denn entgegen dem Trend hat sich der Überfall in dem 8.000-Seelen-Städtchen gelohnt. Rund 110.000 Euro hat die Angestellte dem Mann in den Stoffbeutel getan, der sie, wie der Staatsanwalt ausführte, mit einem „pistolenähnlichen Gegenstand“ bedroht haben soll.

Lange Karriere

Natürlich sei er der „dümmste Staatsanwalt“, der ihm je begegnet sei, schimpft B. in der Pause, und „die beiden Deppen von der Kripo“ seien auch nicht besser. Nur über die vier auf der Richterbank schweigt sich B. wohlweislich aus. Vermutlich hat Martin B. zum Prozessauftakt ein Team von RTL erwartet. 2020 begleitete ihn der Privatsender bei seinen letzten Hafttagen und besuchte ihn nach seiner Entlassung in Waldheim – Martin B. auf der Couch. Tenor: Ein Bankräuber setzt sich zur Ruhe.

B. plaudert darin über seine lange Karriere. Nur die Anfänge ließ er aus. 1945 in Berlin geboren, hat B. nie Tritt gefasst. Nach ersten Vergehen wird der 15-Jährige in Freistatt eingewiesen, eine berüchtigte Anstalt der Diakonie für „schwer erziehbare Jugendliche“. „Schwere Jungs“ seien sie gewesen, erzählt B. und deutet mit einer Handbewegung den Alltag in der niedersächsischen Einöde an. Die Jugendlichen mussten Torf stechen. Wenn jemand ausbrach, tönte die Sirene über das Moor. Nach diesem Kapitel war Martin B. für das bürgerliche Leben verloren.

Mücheln (Geiseltal), Blick vom Barockgarten auf die Stadt.jpg

Irgendwann wagte er den ersten Banküberfall. „Fünf Minuten Angst“, danach jede Menge Geld. So beschreibt B. RTL seinen Job. „Ich habe dreißig Jahre vergeudet. „Den Rest aber hätte ich mir mit normaler Arbeit nie leisten können.“ RTL hat errechnet, dass er so mehr als 2 Millionen Euro eingesammelt haben muss.

Eine der wenigen legalen Einkünfte, neben dem kargen Häftlingslohn, dürften die 15.000 Euro Entschädigung für die Fronarbeit in Freistatt sein, die ihm nach Jahrzehnten zugesprochen wurden. Da saß er gerade in Waldheim. Mit einem Teil hat B. seine Zahnsanierung bezahlt, mit einem anderen die Hörgeräte, über die er den ganzen Vormittag lamentiert.

Finaler Coup?

Der letzte nachgewiesene Überfall, 2012 im Salzburgischen, ging schief. Der damals 66-Jährige hatte eine Raiffeisenbank ausgeraubt und flüchtete mit dem Fahrrad. Doch dabei brach das Stützkorsett für seine Wirbelsäule. Mit den plötzlichen Schmerzen konnte sich B. nur noch im Gebüsch verstecken. Dort wurde er von Hunden gestellt. Das Ergebnis – neun Jahre Haft, erst in Straubing, dann in Waldheim. Im April 2020 wird B. entlassen.

Quelle         :      TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Gebäude des Landgerichts Halle in Halle (Saale), Sachsen-Anhalt; erbaut 1903–1905; unter Denkmalschutz

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Unten     —       Mücheln (Geiseltal), Blick vom Barockgarten auf die Stadt

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Evolution der Religion

Erstellt von Redaktion am 14. Februar 2022

Gegen den allgegenwärtigen religiösen Wahn

Machte sich hier ein Physiker über eine erst viel später auftauchende Kollegin lustig 

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Maqi

Am 12. Februar ist anlässlich Darwins Geburtstag Darwintag. Wie in jedem Jahr ruft antitheismus.de, die Seite gegen religiösen Wahn und ein Projekt der Tierrechtsinitiative Maqi, daher dazu auf, vermehrt Darwinfische – eine Parodie auf das christliche Fischsymbol – zu verbreiten, um dem allgegenwärtigen religiösen Wahn entgegenzutreten.

So sehr Schöpfungsmythen, auch wenn nicht nur Jungerde-Kreationisten das nicht wahrhaben wollen, mit der wissenschaftlichen Realität unvereinbar sind, etwa der Evolution (die, im Gegensatz zu »göttlichem« Wirken, tatsächlich beobachtbar ist), sind auch Religionen einer Art Evolution unterworfen, dem Überleben der bestangepassten Wahnvorstellungen.

Während das Töten von »Hexen« (beliebigen Geschlechts, Ex 22:17), vergewaltigten Mädchen (Deut 22:23-29) oder ungehorsamen Söhnen (Deut 21:18-21) usw. schon länger auf eher wenig Begeisterung stößt, will nun der sogenannten »Synodale Weg« (im wesentlichen ein Gesprächskreis aus Deutscher Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken) homosexuelle Männer nicht nur nicht mehr töten, sondern sogar die Diskriminierung Homosexueller ein wenig reduzieren durch »Segensfeiern«, ohne dass diejenigen, die diese durchführen, »disziplinarische Konsequenzen« zu fürchten haben.

Der vor 150 Jahren geschaffene Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuchs drohte homosexuellen Männern (Frauen waren von diesem Paragrafen ebensowenig betroffen wie vom biblischen Homosexuellentötungsgebot) nur noch mit Gefängnis. Erst die Nationalsozialisten verhielten sich wieder bibelkonformer und ermordeten Tausende homosexueller Männer in KZs. Nach Kriegsende bleib es dann erneut bei Haftstrafen (bis zur endgültigen Streichung des Paragrafen 1994).

In vielen Ländern ist Homosexualität (zumindest männliche, teils auch weibliche) auch heute illegal, in einigen, insbesondere Theokratien unter Scharia-»Recht«, wird sie mit dem Tod bestraft.

File:Darwin Fish 01.svg

Häufige christliche Ausrede, sich nicht an die »göttlichen« Mordgebote zu halten ist die, das biblische »Alte Testament« gälte nicht mehr. Christen ignorieren dabei, dass nicht nur viele ihrer wichtigsten Mythen (Adam und Eva, Kain und Abel, Moses‘ Meeresteilungszauber und Wüstenwanderung, Massenmordflut etc.) eben daraus stammen, nicht zu vergessen die sogenannten »Zehn Gebote«, auf die sie sich immer noch gern berufen (obwohl die meisten die wenigsten davon auswendig nennen können) und die sie als etwas Positives darstellen (was sie keineswegs sind). Vor allem aber unterschlagen sie, dass laut »Neuem Testament« ihr namensgebender Halbgott »Jesus« das »Gesetz« (Pentateuch) und damit eben all diese und viele weitere Mordgebote des christlichen Gottes ausdrücklich bestätigt hat (Mt 5:17-19).

Auch hier gilt demnach die Faustregel: Je weniger Gläubige sich an ihre Religion halten, desto besser.

Zugesandte Fotos der verbreiteten Darwinfische werden wieder bis zum nächsten Darwintag auf antitheismus.de veröffentlicht.

[3032 Anschläge. Bei redaktioneller Verwendung wird ein Belegexemplar oder Hinweis erbeten. Fotos können in hoher Auflösung kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Diese Pressemitteilung ist mit weiterführenden Links zu finden unter https://antitheismus.de/archives/260-Darwintag-12.-Februar-2022.html.]

Urheberecht
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Oben          —   Darwin als Affe, Karikatur, 1871

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Boris Johnsons tiefer Fall

Erstellt von Redaktion am 29. Januar 2022

Der geschrumpfte  Premier – Minister

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Die Frisur ist auch in Deutschland gut angekommen

Von Dominic Johnson

Kein Premierminister seit Tony Blair saß in Großbritannien so fest im Sattel wie Boris Johnson. Dann kam der Partygate. Für Johnsons politische Ambitionen ist das so fatal so wie einst für Blair der Irakkrieg.

Jede Epoche hat die Skandale, die sie verdient. Tony Blair stolperte über den Irakkrieg, eine Angelegenheit von Krieg und Frieden. Boris Johnson stolpert über Partygate, eine Angelegenheit von Weinflaschen und Geburtstagskuchen. Tony Blair überlebte, aber erholte sich politisch nicht mehr. Bei Boris Johnson ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Der Krieg gegen den Terror damals und der Krieg gegen Corona heute haben strukturelle Ähnlichkeiten. Ihre Anlässe – die Anschläge von 9/11, das Aufkommen des Coronavirus – trafen die Welt unvorbereitet und hielten sie danach jahrelang im Griff. Das gilt besonders in Großbritannien, wo sie die beiden wichtigsten Premierminister der vergangenen 30 Jahre aus der Bahn werfen.

Blair und Johnson sind sich ähnlicher, als ihnen lieb sein kann. Ihre historischen Wahlsiege 1997 und 2019 errangen sie beide im Namen eines Bruchs mit der Vergangenheit ihrer eigenen Parteien, getrieben von der Überzeugung, sie könnten losgelöst von alten Loyalitäten Großbritanniens Niedergang dauerhaft umkehren und die ganze Nation verkörpern. Boris Johnson hielt seine öffentliche Siegesrede in Tony Blairs ehemaligem Wahlkreis Sedgefield im alten nordostenglischen Industriegebiet.

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Beide pflegen eine Fassade von Leutseligkeit – Blair als Otto-Normalverbraucher, dem man blind vertrauen kann, Johnson als Ulknudel, über den man lachen darf – hinter der sich knallharte Machtpolitik verbirgt. Beide vereint ein Gespür für das Volksempfinden und eine Geringschätzung des Establishments. Beiden wird nachgesagt, Großprojekte anzuschieben und nicht zu Ende zu denken – bei Johnson der Brexit, bei Blair die Autonomie für Schottland. Sie umgeben sich beide mit Ja-Sagern und einem Hofstaat. Sie inspirieren kultische Verehrung bei ihren Anhängern und abgrundtiefen Hass bei ihren Gegnern. Der längstgediente politische Kommentator der britischen Presse, Matthew Parris, kam irgendwann zum Schluss, Premier Blair sei im klinischen Sinne verrückt geworden, Opfer des eigenen Größenwahns. Johnson hielt er schon immer für liebenswert, aber unfähig.

Der Irakkrieg kostete Blair nicht das Amt, aber den Respekt. Die Partygate-Affäre dürfte für Johnson ähnliche Folgen haben. Es gibt in Großbritannien wenig Toleranz für Humbug. Nicht so sehr der kreative Bezug zur Wahrheit ist fatal, sondern der Eindruck, dass damit das Wahlvolk für dumm verkauft werden soll. Hätte Tony Blair den Irakkrieg offen mit der Notwendigkeit begründet, Saddam Hussein zu stürzen, wäre das besser angekommen als die windige Behauptung, der irakische Diktator verfüge über Massenvernichtungswaffen mit einer Zündungszeit von 45 Minuten, die so geheim seien, dass man sie ohne Invasion nicht finden könne. Hätte Boris Johnson die Lockdown-Partys gleich zugegeben und offen behauptet, dass Menschen, die den ganzen Tag im gleichen Bürotrakt zusammenarbeiten, dort wohl auch den Feierabend gefahrlos einläuten dürfen –, dann gäbe es zwar Empörung, aber vermutlich keine offizielle Untersuchung und keine polizeilichen Ermittlungen.

Quelle         :      TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   People’s Vote Marsch in London, 23. Juni 2018.

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NATO – China ./. Russland

Erstellt von Redaktion am 21. Januar 2022

Unterschiedliche Gesellschaftssysteme sind die Herausforderung unserer Zeit

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

„Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt“ war schon Goethes Erklärung für die Gewalt in unserer Welt. Vom Kleinsten bis zum Größten ist das auch heute noch die Maxime des Handelns vieler Machthaber, insbesondere der westlichen Hemisphäre. Heute kristallisiert sich diese Machtfrage zwischen drei Blöcken: USA (plus Vasallen), Russland und China, die sich durch deutlich unterschiedliche Gesellschaftssysteme unterscheiden. Die USA zappeln nach dem Afghanistan-Debakel in der Ungewissheit, ob sie ihr System der Problemlösung durch Gewalt/Kriege weiterführen können. Seit der Oktoberrevolution 1917 hat Russland eine dem Westen bis heute suspekte sozialistische Gesellschaftsordnung etabliert, und China hat seit 1949 eine Volksrepublik aufgebaut, die vom Westen weitgehnd unbeachtet blieb bzw. nicht ernst genommen wurde. Nun haben sich aber heute diese drei Gesellschaftssystem zu den größten Machtzentren der Welt entwickelt und kämpfen um (USA) bzw. werben für (China) den jeweiligen Weg.

Für viele unbekannt und erstaunlicherweise kam die erste Initiative für eine friedliche Koexistenz der Völker aus Asien. 1954 wurden die 5 Prinzipien der friedlichen Koexistentz in der Konferenz der Blockfreien in Bandung von China, Indien und Myanmar proklamiert. Während sich die europäischen Staaten diesen Prinzipen weitgehend anschließen konnten, wurden und werden sie bis heute von den USA kaltschnäuzig ignoriert. Ein Beispiel für diese Einstellung erleben wir hautnah im eignen Land. Eher obskur aus der ehemaligen Bestzungssituation entwickelt, verfügen die USA in Ramstein über den größten Militärstützpunkt ausserhalb ihres Landes mit Atomwaffen und Drohnen, die von dort bei Einsätzen mit menschenverachtenden Kollateralschäden in fernen Ländern koodiniert werden. Während Russland und vor allem China noch nie einen Eroberungskrieg gegen einen Nachbarn geführt haben, unterstellen die USA diesen beiden Mächten genau jene Absichten, die sie selbst immer wieder hegen. Russland werfen die USA ein Zusammenziehen von Streitkräften mit Kriegsabsichten an der Grenze mit der Ukraine vor und marschieren selbst mit der NATO an der russischen Grenze auf, um Militärkunst zu üben. Oder was?

Dabei haben dies drei Gesellschaftssysteme seit ihrem Entstehen Entwicklungen durchlaufen. In den USA hat sich eine kapitalgetriebene Freizügigkeit ebenso wie Rücksichtslosigkeit durchgesetzt, die mit zahlreichen Grundsätzen der Demokratie nicht vereinbar sind. In Russland hat sich nach turbulenten Auswüchsen eine Sozialistische Föderative Sowjetrepublik durchgesetzt, die wirtschaftliche Kooperationen mit Nachbarstaaten anstrebt und realisiert. In China hat sich ein von Konfuzius und Marx geprägter Sozialismus etabliert, der beispielhaft gezeigt hat, wie sich ein Land bei starker internationaler Verflechtung und konsequenter Ausrichtung am das Gemeinwohl in nur 40 Jahren zu einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt entwickel hat und ohne jede kriegerische Drohung/Handlung mit fast allen Ländern der Welt kommuniziert. Insofern haben die USA sehr schlechte Karten für eine zukunftsträchtige und friedvolle Verständigung zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen in unserer Welt.

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Die USA auf Guantánamo

Erstellt von Redaktion am 13. Januar 2022

«Die USA sollten endlich zum Unrecht auf Guantánamo stehen»

US Navy 100716-N-8241M-008 Das Nordosttor an der Naval Station Guantanamo Bay, Kuba.jpg

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von Red. / 

 Ein Verteidiger am US-Militärgericht in Guantánamo ruft auf, reinen Tisch zu machen. Die Torturen seien unmenschlich und nutzlos.

Aaron Shepard ist Rechtsanwalt, Militäroffizier und gegenwärtig als leitender Verteidiger bei der «Military Commissions Defense Organization» tätig. Diese Kommission hat in Guantánamo die Funktion eines Militärgerichts.

Gerade als Jude schätze er die hehren amerikanischen Werte: In jedem Menschen die Menschlichkeit zu erkennen und selbst unsere Feinde mit Würde und Respekt behandeln. Doch nach 9/11 hätten viele Amerikaner diese Werte fallengelassen: «Rund um den Globus verhafteten amerikanische Agenten Männer unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten und verschleppten sie in geheime Verstecke, wo sie jahrelang gefoltert wurden oder – um den rechtlich zulässigen Euphemismus zu verwenden – «verstärkten Verhörtechniken» («Enhanced interrogation techniques») unterzogen wurden. Viele der Verhafteten gelangten schliesslich in das Gefangenenlager in Guantánamo Bay, Kuba, das vor 20 Jahren eingerichtet wurde.»

Politiker in den USA hätten das moralische Fehlverhalten an diesen dunklen Orten und im Gefängnis von Guantánamo allzu oft damit entschuldigt, dass der Zweck die Mittel heilige. Doch selbst wenn man über diese von Amnesty angeprangerten Torturmethoden und das illegale Vorgehen hinwegsehen würde, bliebe die Einsicht, dass diese angewandten Methoden zum Erreichen der Ziele sowohl unwirksam als auch kontraproduktiv waren: «Sie haben das Land immer weiter auf den Weg eines ewigen Krieges mit unkalkulierbaren Verlusten getrieben.»

Seit 18 Jahren auf Guantánamo gefangen, aber noch keine Anklage

Die Brüder Abdul und Ahmad Rabbani sind bereits seit 2004 Gefangene auf dem US-Militärstützpunkt in Guantanamo – bisher ohne Anklage und ohne Militärgerichtverfahren.

Von den insgesamt 779 Gefangenen wurden im Laufe der Jahre viele nach Folterungen und Demütigungen ohne Verurteilung und ohne Entschädigung freigelassen. Gegenwärtig warten noch 39 Häftlinge auf ein Verfahren oder eine Freilassung. Vier von ihnen seien Drahtzieher des Anschlags von 9/11. 

Die jüngste Vernehmung eines Guantánamo-Häftlings habe die Unmoral einmal mehr gezeigt. Es handelte sich um den pakistanischen Gefangenen Majid Shoukat Khan. Er ist der einzige rechtmässige Einwohner der USA, der in Guantánamo festgehalten wird. Verteidiger Aaron Shepard berichtete am Jahreswechsel in der «New York Times», wie Khan seine Behandlung während einer Vernehmung Ende Oktober 2021 schilderte: «Brutale Schläge, erzwungene Sodomie und andere unmenschliche Behandlungen durch amerikanische Vernehmungsbeamte sowie Agenten der CIA. Auch mit scharfer Sauce überzogene Schläuche seien in seine Nasenhöhlen eingeführt und Gartenschläuche gewaltsam in sein Rektum eingeführt worden. Wiederholt sei er Opfer des simulierten Ertränkens geworden (‹waterboarding›).»

«Schlimme Foltermethoden»

Nach dieser Vernehmung von Khan verurteilte eine Jury aus acht hochrangigen Militäroffizieren das Verhalten ihrer Regierung. Die Behandlung von Gefangenen, so schrieb die Jury in einem Brief an das Gericht, sei ein «Schandfleck für die moralische Kraft Amerikas». Sie erkannten Verfehlungen von Herrn Khan an – er diente als niedriger Agent für Al-Qaida –, befanden aber, dass «seine erlittenen Behandlungen Foltermethoden nahekommen, wie sie  die schlimmsten Staaten der modernen Geschichte praktizieren» («Mr. Khan was subjected to physical and psychological abuse well beyond approved enhanced interrogation techniques, instead being closer to torture performed by the most abusive regimes in modern history.»)

Als jüdischer amerikanischer Militäranwalt sei er von den Taten den inhaftierten und von ihm verteidigten Personen besonders betroffen, weil viele der Al-Qaida angehörten, einer Organisation, die sowohl die USA als auch Juden vernichten wollen, schrieb Shepard in der «New York Times».

Doch als Anwalt und Offizier sei er verpflichtet, seine Mandanten zu verteidigen, eine Aufgabe, die sein Land und die Verfassung verlangen würden: «Als Jude wurde mir der Grundwert beigebracht, in allen Menschen Menschlichkeit zu sehen – selbst in Feinden. Und als Amerikaner wurde mir beigebracht, dass jeder Mensch bestimmte unveräusserliche Rechte hat und dass der Schutz durch faire Gerichtsverfahrenordnungsgemässe Prozessführung und das Verbot grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung unabhängig von den mutmasslichen Straftaten gelten.»

US Navy 030910-N-0743B-003 Waffenkompanie 3rd Battalion, 6th Marines, 2nd Marine Division patrouilliert an der Zaunlinie.jpg

Sein jüngster Klient Khan habe sich ihm gegenüber weder antisemitisch noch hasserfüllt geäussert. Und «meinem Hauptklienten wird nicht vorgeworfen, Amerika angegriffen zu haben – ihm wird vorgeworfen, an einem Anschlag in Indonesien beteiligt gewesen zu sein – doch er wurde brutal gefoltert und ist seit fast zwei Jahrzehnten im Gefängnis». Er und seine Kollegen würden diese Männer «nicht verteidigen, weil wir ihre Verbrechen unterstützen, die ihnen vorgeworfen werden, sondern weil wir glauben, dass unser Land sich an den höchsten Standard von grundlegendem Anstand und Menschenrechten halten sollte».

Die Amerikaner könnten amoralische und kurzsichtige Mittel wählen, um diejenigen anzugreifen, die ihnen schaden wollen. Aber die Wahl solcher Mittel habe Konsequenzen: «Sie untergraben unsere Beziehungen zum Ausland und schwächen unseren moralischen Kern im eigenen Land.»

Doch die Amerikaner könnten den vielen Abgründen der Welt auch mit der Kraft ihres Beispiels entgegentreten und die Menschlichkeit zurückzufordern: «Wenn wir uns für diesen letzteren Weg entscheiden, müssen wir unsere Fehler eingestehen und zeigen, dass wir aus ihnen lernen. Was in Guantánamo geschehen ist, ist ein solcher Fehler. Zwanzig Jahre später ist es an der Zeit, dass wir uns entscheiden, wie – oder ob – wir den Schaden beheben können.»

Infosperber-Informationen zu Guantánamo

Christa Dettwiler am 16.4.2021:
Das Schicksal der «gefährlichsten Terroristen» in Guantánamo
Redaktion am 5.8.2019:
CIA-Folter verzögert Prozess gegen 9/11-Drahtzieher
Christa Dettwiler am 8.7.2019:
Guantanamo-Anwälte fordern Strafmilderung für Folter
Christa Dettwiler am 16.5.2019:
Gefängnis in Guantanamo wird zu teurem Alters- und Pflegeheim
Redaktion am 7.11.2015:
Guantanamo: «Zu teuer und Vorwand für Terroristen»
Michel Bührer am 2.12.2014:
Torture: les Etats-Unis admettent avoir fauté
Redaktion am 25.12.2013:
Ex-Häftlinge aus Guantanamo kämpfen in Syrien
Michael Lysander Fremuth am 18.1.2012:
Guantánamo: Waterboarding ist kein Freizeitspass

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Oben      —   GUANTANAMO BAY, Kuba (16. Juli 2010) Das Nordosttor an der Naval Station Guantanamo Bay, Kuba ist der einzige Ein- und Ausstiegspunkt von der Marinestation zum kubanischen Festland. Es ist seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen der Vereinigten Staaten mit der kubanischen Regierung am 3. Januar 1961 für das Stützpunktpersonal geschlossen. (U.S. Navy Foto von Chief Mass Communication Specialist Bill Mesta / veröffentlicht)

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Der Hass im Netz

Erstellt von Redaktion am 8. Januar 2022

Hakenkreuz an der Tür, tote Vögel im Briefkasten

Sūkurėlis.JPG

Wenn Politiker Hass säen – werden sie reichlich ernten !

Ein Essay von Margarete Stokowski

Wenn es nicht bei Beschimpfungen in sozialen Medien bleibt und die Wut in die analoge Welt schwappt, stehen Betroffene oft allein da. Weder Polizei noch Justiz sind ausreichend handlungsfähig. Was jetzt passieren muss.

Wenn man über die polarisierte Gesellschaft und den öffentlichen Diskurs redet, landet man immer wieder beim Thema »Hass im Netz« – aber was damit gemeint ist, ist oft eigenartig unklar. Alle wissen – oder scheinen zu wissen –, dass »Hass im Netz« schlimm ist und schlimmer wird, Debatten schädigt und zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt. Aber wenn es um die Details geht, ist die Kenntnislage bei Nichtbetroffenen oft eher dünn.

Ich habe das häufig bei Lesungen oder anderen Veranstaltungen erlebt, fast immer werde ich bei solchen Anlässen gefragt, wie ich als Autorin damit umgehe, dass ich von »Hass im Netz« betroffen bin. Die Fragen gehen dann meistens in die Richtung: »Wie ist das für Sie, was macht das mit Ihnen?« und »Was kann man dagegen tun?«

»Wird sie uns etwas über Nervenzusammenbrüche erzählen?«

Zwei Punkte dazu: Was »es« mit »mir« macht, halte ich erstens nicht für den zentralen Punkt der Debatte. Das Interesse daran ist verständlich, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass diese Frage von einer gewissen Sensationslust getragen ist: Na, hält sie das aus? Wird sie uns etwas über Nervenzusammenbrüche und schlaflose Nächte erzählen?

Wird sie nicht. Sie kommt schon klar.

Und das zweite Problem: Es geht nicht weg, wenn man wegguckt. Im Zweifel kann es sogar gefährlich werden, wenn man nicht mitbekommt, dass Leute einen Angriff ankündigen oder die Wohnadresse veröffentlichen. Sogenanntes Doxing ist längst ein zentraler Bestandteil von »Hass im Netz« geworden: die Veröffentlichung privater Daten einer Person, also etwa von Politiker:innen oder Journalist:innen, gegen deren Willen, zwecks Einschüchterung. Dabei kann es um die Wohnadresse gehen, aber auch um die Telefonnummer, Mailadresse, Auto und Autokennzeichen, die Namen der Kinder oder anderer Familienmitglieder, oder Orte, an denen die Person oder ihre Familienmitglieder sich häufig aufhalten.

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Oben          —      Sūkurėlis (svastika) Kulionyse, Molėtų raj.

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Fußball-WM in Katar

Erstellt von Redaktion am 27. Dezember 2021

Für unseren Torjubel starben 15.000 Menschen

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Eine Kolumne von Samira El Ouassil

Wer Fußball liebt, darf über die toten Arbeitsmigranten in Katar nicht schweigen. Die dort ausgetragene WM findet symbolisch auf deren Gräbern statt.

Wir haben 15.000 Gründe, diese WM zu boykottieren. Im August 2021 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht mit dem Titel »In der Blüte ihres Lebens«, in welchem es dem Tod etlicher Gastarbeiter in Katar nachging. Die darin zitierten Regierungsdaten zeigen, dass zwischen 2010 und 2019 15.021 Nichtkatarer aller Altersgruppen in dem Land gestorben sind – die Ursachen für diese Todesfälle jedoch nicht angemessen untersucht und die Familien im Unklaren gelassen werden.

»Was aber«, so lautet eine etwas verklärende Überlegung, »wenn der Fußball«, der von diesem System sehr gut profitiert, ich wollte es nur noch mal erwähnen, »durch seinen spielerisch-pazifistischen Wettkampfcharakter eben genau die Verbesserung bringt, deren Notwendigkeit wir ja erst dadurch erfahren haben, dass wir dort überhaupt ein Spiel abhalten wollen?«

Für mich klingt das nach nervöser Selbstaffirmation, um den eigenen wirtschaftsgetriebenen Opportunismus nicht zugeben zu müssen. Zwar argumentiert die Fifa, einen positiven sozialen Wandel herbeiführen zu können, »alle Welt blickt jetzt auf Katar!«, doch die Realität sieht nach zehn Jahren Bekundungen und einigen zarten, aber offensichtlich nicht eingehaltenen Arbeitsrechtsreformen immer noch desaströs aus. Diese argumentativ behauptete Liberalisierung ist, Stand jetzt, gescheitert. Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht von anderen Menschenrechtsverletzungen gesprochen, wie der anhaltenden Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen, den Pressefreiheitseinschränkungen, sowie von dem astronomischen Umweltschaden, welchen die WM in Katar erzeugen wird. Die positiven Entwicklungen beruhen auf einer verschwindend geringen Zahl wohlmeinender Projekte und gehen über Sportwashing (und da Katar auch eine klimaneutrale WM behauptet, Greenwashing) nicht hinaus. Und vielleicht ist es auch nicht Aufgabe eines spektakelhaften Fußballspiels, oder, wenn wir es ehrlicher betrachten, einer gewinnorientierten Massenveranstaltung, einen sozialen Wandel herbeizuführen. Aber internationaler Profisport ist, auch historisch betrachtet, schon lange mehr als Geld und Gesellschaftsmoment. Er ist selbstverständlich auch politisch. Und dadurch auch korrumpierbar und korrumpiert.

Quelle        :        Spiegel-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Präsident der Republik, Jair Bolsonaro während des Besuchs im Fußballstadion von Al Janoub.

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Unten      —    Samira El Ouassil (2018)

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„KEIN 10. OPFER !“ im NSU

Erstellt von Redaktion am 22. Dezember 2021

Der NRW Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA)

Kalte Steine, kaltes Eisen – zeigen wie Politiker-Innen weinen

Von Jimmy Bulanik

Der NRW Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zum benannten Nationalsozialistischem Untergrund (NSU) hat im Januar 2016 mit den Vernehmungen zum Mord an Mehmet Kubasik begonnen. Noch immer tragen die Obleute im Landtagsausschuss eine eminente Verantwortung. Sie sollen aufklären, so lautet der Untersuchungsauftrag des NRW Landtages in Düsseldorf.

Am 04. April 2006 wurde in der Mallinckrodtstrasse 190 in Dortmund Mehmet Kubasik ermordet. Gleich zwei Tage später, am 06. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internet – Cafe in der Holländische Straße 82 in Kassel erschossen. Mehmet Kubasik wurde lediglich 39 Jahre alt. Halit Yozgat war im April 2006 21 Jahre jung. Beide Mordopfer wurden wurden durch Kapitalverbrecher des neonazistischen NSU Netzwerkes erschossen. Sowohl im Mai als auch im Juni 2006 organisierten Familienangehörige der ermordeten NSU Mordopfer Kubasik und Yozgat im Mai und Juni 2006 in Dortmund und Kassel Schweigemärsche. Ismail Yozgat, Halit Yozgats Vater, forderte das Innenministerium und seine Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden damals eindringlich auf, dafür Sorge zu tragen, das keine weiteren Morde dieser Mordserie passieren, das es „KEIN 10. OPFER !“geben darf: „Es sollen keine hinterhältigen Schüsse mehr fallen ! Sorgen Sie dafür !

Acht Jahre später hat der NRW PUA NSU seine Arbeit zu den Ermittlungen aufgenommen, die den Morden und Anschlägen des Nationalsozialistischen Untergrundes folgten. Mehr als ein Jahr später hat der NRW PUA NSU begonnen, nach den Ermittlungssachverhalten zum Mord an Mehmet Kubasik zu fragen. Im Dezember 2015 waren zuletzt die Vernehmungen von Zeuginnen und Zeugen zum „Tatkomplex Keupstrasse in Köln – Mülheim“ vorerst beendet worden. Zu dem Nagelbombenanschlages, durch den am 09. Juni 2004 in der Köln – Mülheimer Geschäftsstraße mehrere dutzend Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, hatten die polizeilichen Ermittlungen seinerzeit keine Erkenntnisse zu der Täterschaft ergeben. Erst nach der öffentlichen Enttarnung des harten Kern des NSU Netzwerk am 04. November 2011 wird der deutschen Sicherheitsarchitektur bundesweit begreiflich geworden sein, dass sie zu ihrer Arbeit in allen ihren Ermittlungsschritten kapitale Fehler und Versäumnisse einzuräumen haben. Von Anfang an war es der Anwohnerschaft und Kaufleuten der Keupstraße selbst, denen die Kölner Staatsanwaltschaft (StA) und Polizei negativ voreingenommen die größte Aufmerksamkeit widmeten.

Aufrichtige Anerkenntnis ?

Im NRW PUA NSU hatten im Oktober 2015 Geschädigte des Nagelbombenattentat der Kölner Keupstraße in ihrer Eigenschaft als Zeugen ausgesagt. In ihrer übereinstimmenden Erinnerung war es die Kölner Polizeibeamten die ein Klima der Belastungstendenzen schuf, da sie in ihren Ermittlungen die Hypothese präferierten, dass eine Bombendetonation in der Köln – Mülheimer Keupstraße Wahlweise lediglich ein Anschlag seitens der organisierten Kriminalität (OK), ein Verbrechen im Spannungsfeld der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) wie Beispielsweise der kurdischen PKK, der türkischen Hezbollah in Deutschland operierend gewesen sein könne. Die Wahrnehmungen und Einschätzungen der Opfer des rechtsterroristischen NSU Netzwerkes, das die am Fahrrad versteckte Nagelbombe von deutschen Rassisten detoniert wurde, galt den Ermittlungsorganen als nicht gewichtig. Sekundärrassistische Ermittlungsrichtungen schienen der Kölner Staatsanwaltschaft, Polizeibeamten aus Köln, dem Landeskriminalamt (LKA) NRW, Bundeskriminalamt (BKA) im südhessischen Wiesbaden genehm und bequem zu sein. Eine gravierende Fehleinschätzung, welche heute öffentlich anerkannt ist. Das die Strafverfolgungsbehörden und Verantwortlichen von der Leitung der kriminalpolizeilichen Ermittlungsgruppen, Besondere Aufbauorganisation des Bundeskriminalamt (BAO) bis hin zu Fritz Behrens (SPD), Staatsminister (NRW Justizminister, NRW Innenminister) a.D. Fehler gemacht zu haben, wurde im NRW PUA NSU in Düsseldorf evident. Deutliche Positionierungen in Form von Zeugenaussagen dafür, dass die Geschädigten des NSU Netzwerkes selbst über viele Jahre hinweg als Tatverdächtige behandelt wurden, dass es staatlich institutioneller, struktureller (Sekundärer) Rassismus und mitnichten eine intersubjektive Innenrevision von Ermittlungshypothesen waren, die von vielen bis heute akut leidenden Geschädigten der rechtsextremistischen Terrororganisation NSU als einen „Anschlag nach dem Anschlag“ tituliert worden sind, empfanden die Zeugen der Staatsanwaltschaft und Polizeibeamte im Untersuchungsausschuss aber niemand. Weder die damals Verantwortlichen und Ermittelnden, die im NRW NSU Untersuchungsausschuss bisher ausgesagt haben, noch die Obleute der NRW Landtagsfraktionen, welche sich immer wieder über Stunden hinweg die monotonen Floskeln des „Das entzieht sich meiner Kenntnis…“, „Wir haben in alle Richtungen ermittelt, aber… oder „für eine rechtsmotivierte Tat fehlten uns hinreichende Erkenntnisse“ angehört haben.

Mit Zeichen für Trauer konnte Politik noch nie Geld verdienen

„Die haben alles kaputt gemacht“

Nur wenige Tage, nachdem am 13. Januar 2016 die Beweisaufnahme zum „Tatkomplex Dortmund“, zum NSU – Mord an dem deutschen Staatsangehörigen Mehmet Kubasik, begonnen hatte, machte der öffentliche Auftritt des NRW NSU Untersuchungsausschussvorsitzenden MdL Sven Wolf (SPD) für den Wahlkreis Remscheid bei einer Veranstaltung im Rahmen der Theaterproduktion „Die Lücke“ am Schauspielhaus Köln (Mülheim), Schanzenstrasse 6 – 20 verstörend darauf aufmerksam, wie wenig zugehört, wie wenig verstanden er hatte: strukturellen oder staatlich institutionellem Rassismus der seinerzeit ermittelnden Behörden und beteiligten Instanzen vermochte dieser nicht zu erkennen. Auch wollte der SPD MdL Sven Wolf es nicht stehen lassen, wenn im NRW PUA NSU die Positionierung entsteht, das staatlich institutioneller Sekundarrassismus die damaligen Ermittlungen und Behandlung mit den NSU Geschädigten in typischer Täter – Geschädigten – Umkehr maßgeblich beeinflusst habe. NRW SPD MdL Sven Wolf kenne persönlich einzelne Polizeibeamten, welche keine Rassisten sein. Dem NRW PUA NSU Vorsitzenden Sven Wolf ist vermeintlich zuzustimmen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, so ein bekanntes Sprichwort. Im NRW PUA NSU sprach niemand vom Scheitern oder der politisch wie menschlich kritikwürdigen Geisteshaltung Einzelner. Vielmehr ging und geht es seit über zwölf Monate darum, dass bei Justiz, Polizei und Inlandsgeheimdienst das Augenlicht des politisch rechtem Auge getrübt sein soll. Dies haben die Sachverständigen wie beispielsweise die bundesweit anerkannte Diplom Politologin, Buchautorin sowie unabhängige Journalistin Andrea Röpke zu Beginn der NRW PUA NSU Arbeit herauskristallisiert. Dies haben die Aussagen von Zeugen des NRW PUA NSU der deutschen Sicherheitsbehörden und Verantwortungsebenen zu erkennen gegeben. Der ehemalige NRW Justiz- und Innenminister Fritz Behrens hatte die Köln – Mülheimer Keupstraße seinerzeit nach dem rassistischen Terroranschlag am 09. Juni 2004 nicht besichtigt, weil der Tatort an sich bereits dazu angetan gewesen sei, dass ein falsches Signal gesetzt werden könnte, wenn es sich doch um ein Verbrechen aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität gehandelt hätte. „Wegen dieser Unsicherheit wollte man sich vor Ort nicht verwickeln lassen“, so die Aussage des Zeugen Fritz Behrens im NRW PUA NSU.

Die Lücke

Das Schauspielstück „Die Lücke“, das die Geschichte der vorurteilsbehafteten mutmasslichen Unterstellungen, Verdächtigungen, behördlichen Verdunkelungen und insbesondere dem institutionellem Rassismus der Minister- Justiz und Polizeibeamten bei der Aufklärung zum rechtsterroristischem Nagelbombenattentat auf der Keupstaße in Köln – Mülheim thematisiert, dürfte dem SPD MdL Sven Wolf bei all seiner verniedlichenden Haltung zum strukturellem Rassismus in der Ermittlungstätigkeit der beteiligten Behörden nicht gefallen haben. Vor allem erschreckte die Einlassung des Sven Wolf vor der Aufführung, die Anwesenheit des NRW PUA NSU Vorsitzenden Sven Wolf durchaus als kalkulierte Öffentlichkeitsmassnahme bewertet werden darf, besonders deshalb, weil Sven Wolf drei Tage zuvor sehr viel verständnisvoller, aufmerksamer und emphatischer aufgetreten ist. Am Mittwoch, 13. Januar 2016 waren mit der Dortmunder Witwe und Mutter Elif Kubasik und deren Tochter Gamze Kubasik zur Zeugenaussage in den parlamentarischen Untersuchungsausschuss geladen worden. Beeindruckend berichteten Elif und Gamze Kubasik davon, dass Mehmet Kubasik am 04. April 2006 ermordet wurde. Einen Tag darauf, am 05. April 2006 die Witwe Elif Kubasik und die Tochter Gamze Kubasik für die Polizei Dortmund zu dem Kreis der Tatverdächtigen gewertet worden sind. Das ein geliebter Familienangehöriger, den sie gerade durch einen Mord verloren hatten, gar selbst verdächtigt wurden. Mehmet Kubasik war deutscher Staatsbürger von türkisch – alawitischer Abstammung. Organisierte Kriminalität ? PKK ? Zu all jenen Motiven hat die Polizei Dortmund im Wohnumfeld ermittelt, habe Nachbarschaft und Freundeskreis befragt, ob sie ein Foto Mehmet Kubasik zeigend diesen Mann kennen und etwas dazu sagen könnten, ob er etwa in der organisierten Kriminalität (wie Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, eine Verbindung wie Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation wie der PKK) verwickelt sei. Das öffentlich bekannte Stigma lastete fortan auf der Familie Kubasik. Menschen welche bis zum Mord an Mehmet Kubasik der Familie Kubasik wohlwollend gewesen sind, wandten sich durch Ungewissheit von der Familie Kubasik ab. Abwertende Blicke, Drohungen und Beschimpfungen konfrontierten die Angehörigen tagtäglich damit, dass die Polizei aus dem Mordopfer einen Verdächtigten gemacht hatte. Gamze Kubasik fasste im parlamentarischen Untersuchungsausschuss ihre Empfindungen von damals sowie der Gegenwart zusammen: „Ich muss sagen, es ist ja schon schlimm, wenn man einen Vater verliert. Aber die haben uns auch noch den Stolz weggenommen. Wir haben Freunde und Bekannte. Und Menschen, die uns gemocht haben. Die meinen Vater gemocht haben. Das haben die alles kaputt gemacht. Jahrelang hat man uns verdächtigt. Die Polizei ist dafür verantwortlich, dass man uns jahrelang das Leben weggenommen hat. Vielleicht konnte ich verarbeiten: ja mein Vater ist nicht mehr da, und das Leben geht weiter. Aber die Polizei hat das unmöglich gemacht.“ In Anbetracht der eindrucksvollen Schilderungen Elif und Gamze Kubasik äußerten die Obleute interfraktionell ihr tiefes Entsetzen im Bezug auf die Modalität, wie mit den Familienangehörigen umgegangen worden war. Seitens der Obleute bestand Einigkeit, dass derlei Amtsmissbrauch niemals mehr wieder stattfinden werden. Dass Beamte, welche in ihrer Ermittlungsarbeit mit Geschädigten umgingen, hierfür speziell ausgebildet sein werden. Das erlittene Leid, welches den Betroffenen wie den Opfern, Angehörigen durch belastend tendenziöse Ermittlungen angetan worden ist, um so vieles gravierender sei in einer Vergleichbarkeit der Wut, die der Kölner SPD – Obmann Andreas Kossiski (ein Polizeibeamter in den Bundesländern Schleswig – Holstein und Nordrhein – Westfalen) nun, nach der Aussage der Zeugen Kubasik, über die Ermittlungsfehler empfinde. Der Vorsitzende Sven Wolf wünschte den beiden Zeugen, dass die einschneidenden emotionale Wunden heilen mögen. Pietätvolle Äusserungen, welche die Anwesenden des NRW PUA NSU durchaus glaubwürdig empfanden konnten. In dieser spezifischen Situation. MdL Sven Wolf, der drei Tage später in einer ganz anderen Situation, vor einer anderen Öffentlichkeit, vor der Aufführung der „Lücke“ davon sprechen sollte, dass er den Eindruck eines staatlichen Rassismus in den zu den Morden des rechtsterroristischem Netzwerk NSU damals ermittelnden Behörden nicht für richtig erachte, hat -das muss Sven Wolf sich wohl sagen lassen – indessen wenig Fingerspitzengefühl dafür, wie viel Verantwortung er und sein Kollegium im NRW PUA NSU inne haben. Die Obleute der Fraktionen sind es, welche mittels Fragen sowie Eruieren sollen, welche behördlichen Verfehlungen begangen worden sind, im Zusammenhang der kapitalen Verbrechen des rechtsterroristischem Netzwerk NSU. Die Obleute sollen zum Beispiel einen leitenden Kriminalbeamten fragen, immer wieder, weshalb diese/r der Spur, es könnte ebenfalls eine rechtsterroristisches Kapitalverbrechen in Form eines Mordes gewesen sein, zu jener Zeit nicht nachgegangen worden ist. Der Kriminalbeamte Michael Schenk, seinerzeit Leiter der polizeilichen Ermittlungen zum Mord an dem Kaufmann Mehmet Kubasik, der für den 21. Januar 2016 zur Zeugenvernehmung im NRW PUA NSU erschien, versuchte sich präzise zu dem Sachverhalt, mehr als augenscheinlich um eine sinnige Antwort verlegen, aus der Affäre zu ziehen: Weshalb die Aussage der Dortmunder Zeugin Jelica Dzinc vom 14. Januar 2016, einer Passantin und Anwohnerin der Mallinckrodtstrasse in Dortmund zum Zeitpunkt unmittelbar vor dem Mord an Mehmet Kubasik damals zwei Männer am Tatort gesehen hatte, die wie „Junkies oder Nazis“ ausgesehen haben, nicht weiter verfolgt worden sei, konnte der Zeuge Michael Schenk den Mitgliedern des NRW PUA NSU nicht plausibel erklären. Der damals zuständige Dortmunder Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper, welcher am 15. Januar 2016 vor dem NRW PUA NSU als Zeuge aussagte, konnte sich nicht entsinnen, wo die Ermittlungen zu dem Mord an Mehmet Kubasik suboptimal verlaufen sein mochten. Die StA Dortmund hätte einen Mordfall aufzuklären gehabt und hätten demzufolge alle Ermittlungsrichtungen verfolgt.

Nie wieder ! „Sorgen Sie dafür !“

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Mit Ende des Prozess begann die politische Vertuschung ?

Elif Kubasik hatte zuvor am Mittwoch, 13. Januar 20016 zwei Tage zuvor auf dem selben Stuhl als Zeugin des nordrhein westfälischen parlamentarischen Untersuchungsausschuss Nationalsozialistischer Untergrund im Landtag von Düsseldorf Platz genommen, auf dem am 21. Januar 2016 der Zeuge, Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper so wenig einer kritischen Reflektion bezüglich der damalige Ermittlungstätigkeiten beitragen konnte unmissverständliche Äusserungen gewählt. Frau Elif Kubasik hatte davon gesprochen, dass „wir ja sehen, dass der Staat bisher nicht hat aufklären können.“ Protektionismus oder Unterstützung brauche sie nicht – heute: nicht mehr. Sie sei stark. Gleichwohl, so Elif Kubasik, „ich möchte das es Aufklärung gibt, ich möchte nicht, dass andere Kinder ohne Väter aufwachsen.“ Erneut haben die Geschädigten des Netzwerkes NSU selbst, die mit dem Mord an ihrem geliebten Ehemann und fürsorglichen Familienvater, der Trauer, emotional aufgewühlt bis heute leben, uns allen in wirkungsmächtigen Worten verdeutlicht, welch starke Persönlichkeiten sie sind. Dieser Charaktereigenschaften von Stärke, menschlicher Größe zu begegnen, diese zu ertragen, sie ernst zu nehmen, ist der öffentliche Untersuchungsauftrag, welchen die Obleute der Landtagsfraktionen im NRW PUA NSU zu erfüllen haben. Ungeachtet dessen, ob ihr Wirken zu „Behördenversagen“ („Staatsversagen“ nannte der FDP Obmann Joachim Stamp für den Wahlkreis Bonn – Duisdorf während der öffentlichen Sitzung des NRW PUA NSU im Landtag von Düsseldorf mit den Zeuginnen Kubasik den behördlichen Umgang mit den NSU Kapitalverbrechen in Form von Mord und Anschlägen selbst mit Sprengmittel) oder zu „Ermittlungspannen der Inlandsgeimdienst Apparaten oder dem Scheitern oder der bewussten, gezielten Verdunkelung Einzelner kristallisiert – eines ist klar, das wird bei jeder öffentlichen Untersuchungsausschusssitzung stets evidenter: die strukturelle Verwobenheit rassistischer Geisteshaltungen sowie arbeitstechnische Modalitäten, welcher einer vorurteilsbehafteten Konnotation der PMK Rechtsextremismus Geschädigten und ihrem persönlichem Umfeld ausgingen, in der Arbeit der ermittelnden Institutionen ist unverkennbar. Staatsanwaltschaften, Polizei, Inlandsgeimdienste: Sie alle trugen zum Sekundarrassismus in der Erscheinungsform von Täter – Geschädigten – Umkehr bei, welche für die betroffenen geschädigten Familienangehörige so bitter in präsenter Erinnerung ist obendrein bis heute schmerzlich begleitet. Das zu konstatieren, insbesondere -aufrichtig- zu würdigen und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, ist der öffentlich beauftragte Verantwortungsbereich der Mitglieder des Landtages in Nordrhein – Westfalen. Ismail Yogats bedeutsamen Worten zum Trauermarsch für seinen verblichenen Sohn Halit Yozgat gelten auch an dieser Stelle aktuell und dringend: Es soll sich etwas verändern. Solche Ermittlungen dürfen nie wieder oder so ähnlich stattfinden. Dazu muss der institutionelle Rassismus in Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden wahrgenommen und intersubjektiv konstatiert werden. Wir nehmen Sie, die Mitglieder des NRW parlamentarischen Untersuchungsausschuss NSU, die Sie allesamt gemeinsam am Ende ihrer Untersuchungsausschuss – Tätigkeit einen öffentlichen Bericht und eindeutig verbindliche Handlungsaufträge zu verfassen haben, hier bei ihren anteilnehmenden Worten in die öffentlich überprüfbare Pflicht. Hören Sie den betroffenen Geschädigten des rechtsterroristischem Netzwerk Nationalsozialistischer Untergrund aufmerksam zu und ziehen Sie alle notwendigen Entscheidungen: „Sorgen Sie dafür !“

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Grafikquellen          :

Oben     —         Tatort der Erschießung Mehmet Kubaşıks in Dortmund, mit Gedenkstätte

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Die Grauen Wölfe

Erstellt von Redaktion am 18. Dezember 2021

Petition zum Verbot von Symbolen der Grauen Wölfe

Von Jimmy Bulanik

Aktuell besteht durch den liberalen Tobias Christoph Huch bei der bremische Bürgerschaft eine Petition zum Verbot Symbole der „Grauen Wölfe“. Es handelt sich um eine extrem rechte politische Bewegung mit Bezug zu der Republik Türkei. Deren Inhalte stehen den Nationalsozialisten in nichts nach.

Die „Grauen Wölfe“ werden mit Gruppierungen der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht. So die im Juni 2018 verbotenen „Osmanen Germania BC“, „Turkos MC“, „Turan“. Ferner bestehen organisatorische Bezüge zu „Ülkücü-Spektrum“, islamistischen „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V.“ (IGMG). Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung, 19. Wahlperiode vom 14. Juli 2020 mit der Drucksache 19/21060 hervor.

Der Bundesregierung liegen Erkenntnisse zu Verbindungen der „Grauen Wölfe“ zu salafistischen oder dschihadistischen Organisationen vor. Einzelne „Ülkücu“ Anhänger sind in Strukturen der Organisierten Kriminalität eingebunden.

Das wofür diese Bewegung steht widerspricht sowohl in der Republik Türkei den Werten des Staatsgründers und ersten Staatspräsidenten, Mustafa Kemal Atatürk, als auch interkontinental den universell humanistischen Werten in den demokratisch verfassten Ländern und Segmente der Zivilgesellschaften. Alle Menschen welche in der Bundesrepublik Deutschland leben, dürfen bis zum 31. Dezember 2021 diese Petition unterzeichnen.

Quelle:

petition.bremische-buergerschaft.de/index.php?n=petitionsdetails&s=1&c=date_public&d=DESC&b=10&l=10&searchstring=&pID=3750

„All tyranny needs to gain a foothold is for people of good conscience to remain silent.“ Edmund Burke

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Erich Kästner

In der Republik Frankreich sind die Symbole der „Grauen Wölfe“ bereits verboten. Auch in Österreich sind die Symbole der „Grauen Wölfe“ bereits verboten. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es parlamentarische Bestrebungen die Symbole der „Grauen Wölfe“ ebenfalls zu verbieten.

Es gibt keine gute Modalität der Menschenfeindlichkeit
Diese Verantwortung obliegt jetzt der neu eingesetzten Bundesregierung unter dem Bundeskanzler, Olaf Scholz.

Respektive dieser Petition:

Wortlaut wie eingereicht:

Der Innensenator des Landes Bremen wolle beschließen:

1. Es ist mit sofortiger Wirkung verboten und innerhalb des Bundeslandes Bremen untersagt, Symbole der faschistischen Gruppierung „Graue Wölfe (Bozkurt)“ in der Öffentlichkeit (auch unter Zuhilfenahme elektronischer Kommunikationsmittel) darzustellen, zur Schau zu stellen, zu tragen oder zu verbreiten.

2. Als Symbole sind auch Abzeichen, Embleme, Handzeichen und Gesten anzusehen. Konkret betrifft dies die gezeigten Symbole, Handzeichen und Abzeichen der Organisation „Graue Wölfe (Bozkurt)“ sowie ihrer Tarnorganisationen. Namentlich: Wolfsgruß mit der Hand, Wolfskopfflagge, brüllender Wolf im Halbmond, TURK-Runen (Köl Türk/Göktürk), drei Halbmonde.

3. Von dem Verwendungsverbot sollen auch grafisch veränderte Darstellungen der bezeichneten Symbole (insbesondere farbliche Abweichungen) erfasst werden.

Das Verbot solle durch den Bremischen Innensenator in Entsprechung zu geltenden Strafvorschriften bezüglich anderer verbotener verfassungswidriger Organisationen im Wege der Rechtsverordnung durchgesetzt werden. Die analogen Strafbestimmungen sollten denen der jeweiligen Verbotsregelungen entsprechen, etwa im Fall von Rockergruppierungen wie den „Hell’s Angels“.

Diese könnten in etwa wie folgt lauten:

„Wer die verbotenen Abzeichen, Embleme und Gesten der „Grauen Wölfe (Bozkurt)“ zur Schau stellt, trägt oder verbreitet, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde, im Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, von der Landespolizeidirektion, mit Geldstrafe bis zu 4.000 Euro oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Monat zu bestrafen. Wer bereits einmal rechtskräftig nach dieser Bestimmung bestraft wurde, ist mit Geldstrafe bis zu 10.000 Euro oder mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen zu bestrafen.“

Begründung:

Die Symbole der Grauen Wölfe

(Selbstbezeichnung: „Bozkurtlar“) stehen für eine faschistische, ultranationalistische und gewaltverherrlichende Ideologie, die auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschlands und des Bundeslandes Bremen keine Daseinsberechtigung haben darf. Der türkische Rechtsextremismus stellt eine Gefahr für die innere Sicherheit dar. Die Grauen Wölfe folgen einer Weltanschauung, die im Widerspruch zur Bremischen Landesverfassung sowie zum Grundgesetz steht. Ihre Selbstbezeichnung als “Ülkücüler“ („Idealisten“) kaschiert einen Fanatismus, der versucht, insbesondere durch Einwirkung auf türkische und türkischstämmige Mitbürger an politischem Einfluss zu gewinnen, um auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland antisemitische, armienier- und kurdenfeindliche Stereotypen zu verbreiten. Die Terminologie der „Idealisierung“ bezieht sich hierbei insbesondere auf die türkische Nation und islamistische Werte, die gegenüber westlichen Wertvorstellungen als überlegen angesehen werden. Die Ülkücüler- (Idealisten)-Ideologie zielt mit ihren „rassisch“, kulturell und teils auch strengreligiös-islamistisch geprägten Zielen und Überlegenheitsvorstellungen auf eine bewusste Beeinflussung der türkischen Diaspora in Deutschland ab, die sie in einem türkisch-nationalistischen und islamistischen Geist zu indoktrinieren versucht, und wirbt für deren Unterstützung an der Wahlurne.

Die Grauen Wölfe entstanden in den 1960er-Jahren als militanter Arm der rechtsextremen türkischen Partei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung, die heute in der Türkei mit der AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan koaliert). Ihre ersten Mitglieder wurden in Trainingslagern paramilitärisch ausgebildet, um sie zunächst gegen politische Gegner aus dem linken Spektrum im Straßenkampf einzusetzen. Geschützt durch das im Jahr 1971 von einer nationalistischen türkischen Regierung verhängte Kriegsrecht und mit verdeckter Behördenunterstützung wandten sie –zunehmend dann auch mit Ablegern im Ausland – konspirative bis terroristische Methoden an. Seit Ende der 1960er Jahre werden den Grauen Wölfen bis zu 5.000 Morde und hunderte Anschläge – darunter unter anderem eine Beteiligung am Attentatsversuch auf Papst Johannes Paul II im Jahr 1981 – angelastet.

Neben einem türkisch-nationalistischen und islamistischen Extremismus vertreten die „Bozkurtlar“ einen Rassismus, in dessen Mittelpunkt die „Überlegenheit der türkischen Rasse“ und Betonung eines angeblich alle Turkvölker verbindenden „göttlichen“ Elements steht. Politisch strebt die Bewegung die Errichtung einer „Großtürkei“ in den Grenzen des Osmanischen Reichs an und fordert die „Wiedervereinigung“ aller Turkvölker vom Balkan bis Zentralasien in einem Staat. Bezogen auf die innenpolitische Situation in der Bundesrepublik sind die Handlungen der Grauen Wölfe explizit antiintegrativ und auf eine kulturelle und politische Verbundenheit der hier lebenden Türken, Deutschtürken und türkischstämmigen Deutschen mit der „alten Heimat“ ausgerichtet. Die Grauen Wölfe versuchen so, die Loyalität des Bevölkerungsanteils mit türkischem Migrationshintergrund nicht gegenüber der Bundesrepublik, sondern zum türkischen Erdogan-Regime zu stärken und sie so als „fünfte Kolonne“ zu einem politischen Machtinstrument der Regierung in Ankara zu machen, quasi als Außenposten der eigentlichen türkischen Heimat in einem Fremdstaat.

Auf dem Boden der Bundesrepublik treten die Grauen Wölfe unter der Tarnorganisation „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V.“ (ADÜTDF) auf. Bei diesen „Idealistenvereinen“, von denen rund 170 Lokalableger in Deutschland existieren, handelt es sich um die inoffizielle Vertretung der türkischen nationalistischen Partei MHP in Deutschland. Gegründet wurde die ADÜTDF im Jahr 1978; sie ist auch unter der Bezeichnung „Türk Federasyon“ bekannt ist. Oft wird sie aber auch als Alias für die Grauen Wölfe verwendet. Laut Erkenntnissen des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg umfasst das aktive Umfeld dieser Szene etwa 11.000 Personen. Der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay, Autor einer umfangreichen Studie zum türkischen Rechtsextremismus in Deutschland, die im Auftrag des AKC Berlin Ramer Institute erstellt wurde, schätzt ihre Zahl sogar auf 18.500.

Damit wären die Grauen Wölfe eine der stärksten rechtsextremen Strömungen hierzulande und zahlenmäßig rund mehr als dreimal so groß wie aktuell die NPD. Der Bundesverfassungsschutzbericht 2019 stellt über die Grauen Wölfe fest: „Die unterschiedlichen Ausprägungen reichen von klassischem Rassismus bis hin in den Randbereich des Islamismus“.

In Bremen wird die Zahl der aktiven Grauen Wölfe – ungeachtet eines womöglich größeren Dunkelfeldes – auf 200 Personen geschätzt, die zumeist unter dem Deckmantel von Kulturvereinen oder Clubs in Erscheinung treten. So organisiert der ADÜTDF auch in Bremen regelmäßig „Feste“, bei denen jedoch nach Einschätzung des Verfassungsschutzes die ideologische Ausrichtung und Verbreitung des Gedankenguts allgegenwärtig und spürbar ist.

Wie überall in Deutschland, ist auch in der Hansestadt seit dem Jahr 2000 eine vergleichsweise junge neue Organisationsform innerhalb von Jugendgruppen zu beobachten: Türkische ultra-nationalistische Vereine im Rockermilieu sorgten vor allem in den letzten Jahren vermehrt für öffentliches Aufsehen. Ein bekanntes Beispiel war der – inzwischen durch das Bundesinnenministerium verbotene – sogenannte „Boxclub“ „Osmanen Germania“. Dieser wurde 2015 in Deutschland als türkisch-nationalistische Rockergruppe gegründet wurde und versuchte bereits im Namen eine Assoziation zwischen türkischer Nation und Machtanspruch herzustellen. In seinen Internetbotschaften ging es zumeist um Begrifflichkeiten wie Macht, Blut, Nation, Ehre und Gewalt. Nach eigenen Angaben hatten die Osmanen Germania in Deutschland über rund 2.500 (von weltweit 3.500) Mitgliedern. Auch in Bremen waren sie, wenn auch in unbekannter Personenzahl, aktiv. Wiederholt betätigten sich die Anhänger der Osmanen Germania als Ordner auf Demonstrationen der Grauen Wölfe sowie als „Security“ auf Pro-Erdoğan-Demonstrationen.

Ob bei „Kulturfesten“ der ADÜTDF oder unter der Maskerade von Sportvereinen oder Motorclubs: Bei allen Veranstaltungen und Zusammenkünften der Grauen Wölfe wurden und werden ihre Symbole zur Schau gestellt und ganz ungeniert gezeigt. Dies dient zum einen, wie in allen geschlossenen Vereinigungen, als Ausdruck eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Mit Blick auf die weltanschaulich-politische Ausrichtung der „Bozkurtlar“ sind sie jedoch auch eindeutig als Botschaften der Bedrohung und Einschüchterung von Außenstehenden und Feinden zu verstehen. Dies umso mehr, als sich die Mitglieder der Organisation zunehmend auch im öffentlichen Raum durch Handzeichen, Kutten und Abzeichen auf Fahrzeugen zu erkennen geben.

Insbesondere betrifft dies den „Wolfsgruß“, der in Deutschland zwar bislang nicht unter die Bestimmungen der §§86a oder 130 Strafgesetzbuch fallen, jedoch als aggressive Geste kaum zu missverstehen ist. Er geht, wie die ebenfalls häufig gebrauchte Darstellung des grauen Wolfes (wörtlich „Bozkurt“, eigentlich ein Symbol aus vorislamischer Zeit), auf die gewalttätigen Anhänger der ersten ultranationalistischen Partei der Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Daneben finden auch noch sogenannte Orchon- oder Turk-Runen aus Zentralasien als Symbole Verwendung. Auch das historische Siegel des Osmanischen Reiches oder einzelne Elemente daraus erfreuen sich bei den türkischen Rechtsextremisten einer konstanten Beliebtheit, um damit an Ruhm und die lange vergangene Größe der eigenen Nation zu erinnern.

Die Verwendung der vorgenannten und abgebildeten Symbole durch bekennende und/oder aktive „Bozkurtlar“ stellt, insbesondere für die große kurdische Diaspora und kurdische Gemeine auf bremischem Staatsgebiet, eine erhebliche Bedrohung, eine permanente Provokation und -mit Blick auf das leidvolle Schicksal ihres Volkes in der modernen Türkei –eine andauernde Schmähung dar. Angesichts des zunehmend selbstbewussteren und militanteren Auftretens von Grauen Wölfen im öffentlichen Raum sieht sich kurdisches Leben in Bremen zunehmend bedroht und gefährdet. Durch das damit einhergehend wachsende Konfliktpotential steigt das öffentliche Sicherheitsrisiko auf ein innenpolitisch alarmierendes Niveau.

Im Kontext ihrer Verwendung bei antikurdischen Kundgebungen, bei gewaltsamen Ausschreitungen und während militanter Selbstinszenierungen stehen die vorgenannten Symbole der Grauen Wölfe für eine eindeutig gewaltverherrlichende und verfassungsfeindliche Ideologie. Sie sind geeignet, Hass zu transportieren, und richten sich explizit gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Sie fordern die verfassungsmäßige Grundordnung heraus und gefährden die innere Sicherheit. Da sie in einer wieder zunehmend türkisch-nationalistisch orientierten Jugendkultur in der Bundesrepublik verstärkte Popularität erfahren, immer wieder aufgegriffen werden und beispielsweise auf diversen Bildern, in Rap-Videos, in den sozialen Medien oder im realen Leben (etwa auf Kleidungsstücken, Schmuckstücken und Aufklebern) Verbreitung finden, bedarf es dringend eines robusten und entschlossenen staatlichen Handelns.

Die Organe des Rechtsstaates stehen deshalb gerade in Bremen in der Pflicht, dieser Entwicklung entschlossen entgegenzutreten. Das Verbot der in den Abbildungen gezeigten Symbole der Grauen Wölfe wäre ein geeignetes und überfälliges Signal des Rechtsstaats, der gewaltverherrlichenden, verschwörungsaffinen und menschenverachtenden Ideologie der Grauen Wölfe entgegenzutreten und deren Präsenz im öffentlichen Raum zumindest einzuschränken. Auf diese Weise wird ein konkreter Beitrag zum friedlichen interkulturellen Zusammenleben geleistet.

Als rechtliches Instrument kommt hierbei das Zweite Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes (VereinsG) vom 10. März 2017 (BGBl I S. 419) in Betracht, mit dem der Gesetzgeber das Verbot der Verwendung von Kennzeichen in § 9 Abs. 3 VereinsG sowie die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 Satz 2 VereinsG dahingehend verändert hat, dass auf diese Weise insbesondere Vereinigungen im Bereich der kriminellen Rockergruppierungen bekämpft werden können. Dies schließt die effektive Verbannung von deren Kennzeichen aus der Öffentlichkeit ein (vgl. BTDrucks 18/9758, S. 7).

Wünschenswert wäre prinzipiell auch ein Verbot der Ülkücüler-Bewegung und ihrer untergeordneten Organisationen insgesamt, wie es in Deutschland seit Jahrzehnten gefordert wird; bislang erwies sich dieses aber als politisch nicht durchsetzbar. 2020 kam dann, im europäischen Kontext, eine neue und konkrete Initiative für ein Verbot und die Auflösung der Grauen Wölfe – und zwar von der französischen Regierung, in Reaktion auf das Schüren von Diskriminierung und Hass der Grauen Wölfe auch im Nachbarland gegen kurdische und armenische Aktivistengruppen; eine Gefahr, die übrigens hinsichtlich der großen Zahl hier lebender Kurden auch in Deutschland akut ist. Im November 2020 stimmte der Deutsche Bundestag dann unter dem Motto „Nationalismus und Rassismus die Stirn bieten – Einfluss der Ülkücü-Bewegung zurückdrängen“ einem parteiübergreifenden Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zu, in dem die konsequente Bekämpfung aller Formen von Rechtsextremismus in Deutschland gefordert wird. Hervorgehoben wurde hierin insbesondere der immer stärker werdende Einfluss der Ülkücü-Bewegung, die in den letzten Jahren sowohl in der Türkei als auch in Deutschland und Europa durch ihr militantes und gewaltbereites Auftreten für besonderes Aufsehen gesorgt habe.

Gefordert wird in dem angenommenen Antrag – neben einer Reihe weiterer Maßnahmen -insbesondere auch die Prüfung eines Verbots aller Vereine der Ülkücü-Bewegung in Deutschland, um allen menschenverachten den und demokratiefeindlichen Einstellungen entgegenzutreten. Dies schließt konkludent auch die Grauen Wölfe ein.

Doch auch wenn sich der Bund diesbezüglich noch zu keiner Verbotsentscheidung durchringen konnten, so wäre ein Verbot zumindest der Symbole der Grauen Wölfe auf dem Boden des Landes Bremen eine deutliche Botschaft, gerade an die vielen in Bremen lebenden Kurden und an andere von der türkischen Regierung verfolgte Gruppen – und eine deutliche Kampfansage des freiheitlichen Rechtsstaats. Dieses würde zudem an die Entschließung des Deutschen Bundestages vor einem Jahr inhaltlich anknüpfen.

Ich erwarte, dass Senat und Bremische Bürgerschaft ihre zivilgesellschaftliche und rechtsstaatliche Pflicht wahrnehmen und das überfällige Verbot der Symbole der Grauen Wölfe schnellstens umsetzen.

Namentlich: Wolfsgruß mit der Hand, Wolfskopfflagge, brüllender Wolf im Halbmond, TURK-Runen (Köl Türk/Göktürk), drei Halbmonde

Jimmy Bulanik

Nützliche Links im Internet:

Graue Wölfe – Pluspedia

de.pluspedia.org/wiki/Graue_W%C3%B6lfe

Partei der Nationalistischen Bewegung – Wikipedia

de.wikipedia.org/wiki/Milliyet%C3%A7i_Hareket_Partisi

Deutscher Bundestag

dserver.bundestag.de/btd/19/210/1921060.pdf

Wahltrends und aktuelle Sonntagsfragen für die Republik Türkei

politpro.eu/de/tuerkei

Oben        —  Konkurrenzverhalten mit Drohgebärden wie gesträubtem Fell, gekräuselter Schnauze, Blecken der Eckzähne und aufgerichtetem Schwanz (Wölfe im Parc Omega, Quebec, Kanada).

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Unten       —   Die Symbole der Grauen Wölfe auf einem Auto in München, 2019

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IS – Mordprozess

Erstellt von Redaktion am 4. Dezember 2021

IS – Mordprozess – Völkermord, überall

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Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat einen Gotteskrieger als Völkermörder verurteilt. Das gibt Gelegenheit zum Nachdenken: Welcher Krieg wird zurzeit eigentlich geführt, welches Recht vollzogen?

Von Herrn A. kennen wir einige Bilder. Sie zeigen einen Menschen, der sich eine Strafakte vor das Gesicht hält. Mal trägt er eine Jogginghose und ein Sweatshirt, mal ein Hemd und eine Jeans. Die Akte ist mal schwarz, mal rot. »Bild« mäkelt: »Feige versteckt er sich hinter einem Aktenordner.« Die Vorstellung dessen, was »Bild« unter Mut versteht, ist geeignet, Mitleid mit A. zu erzeugen. Aber das wollen wir hier beiseitelassen. Die Gattin von Herrn A. heißt Frau W. Sie stammt aus Lohne, hat intensiv verschönerte Fingernägel, hält sich ebenfalls eine Strafakte vor das Gesicht und wurde vom OLG München – nicht rechtskräftig – wegen Beihilfe zum versuchten Mord zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.

Diese Bilder sind, das muss man zugeben, zwar groß und bunt, aber nicht wirklich spannend, wenn man einmal von den als Staffage abgebildeten Justizbeamten und Terroranwälten absieht, die sie sich vermutlich ausschneiden und aufheben, weil es biografisch bedeutsam ist, im »historischen Prozess« dabei gewesen zu sein. »Historisch« soll der Prozess sein, weil angeblich »weltweit erstmals« die systematische Verfolgung von Jesiden inmitten steht.

Ach ja! Wie viele Terroristengattinnen und gutmütige Kinderschlächter hat man beim OLG Frankfurt zwischen 1949 und 1989 abgeurteilt? Und wo sind all die übrigen fanatischen Mordgesellen und ihre Verbrecherliebchen geblieben? Die meisten, so nehme ich an, fristen eine schweigende Existenz als Schwarzweißbilder auf den Kommoden und in den Alben ihrer lieben Erben. Das kann man als gutes Zeichen deuten oder auch nicht. Vorbei! Reißen wir uns zusammen: Wenigstens nachträglich wollen wir das Gerechte tun. Jedenfalls an unseren Feinden, wenn sie uns in die Hände fallen.

Völkermord u.a.

Das OLG Frankfurt hat den Angeklagten A. schuldig gesprochen: des Völkermordes in Tateinheit mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge, einem Kriegsverbrechen gegen Personen mit Todesfolge, Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gegen Personen in zwei tateinheitlichen Fällen sowie mit Körperverletzung mit Todesfolge.

Das klingt kompliziert, ist aber letzten Endes nur etwas unübersichtlich, weil die angewendeten Strafnormen recht anschaulich und daher etwas sperrig formuliert sind. Der »Völkermord« ist der hier im Vordergrund stehende Verbrechenstatbestand. Früher stand er ganz vorn im »Besonderen Teil« des Strafgesetzbuchs (§ 220 alter Fassung). Seit 2002 ist er, dem »Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs« folgend, im StGB zum Schatten verblasst, stattdessen in § 6 des damals neuen »Völkerstrafgesetzbuchs« (VStGB) gewandert. Weil die angewendeten Vorschriften sicher nicht allen Lesern geläufig sind, seien sie auszugsweise zitiert.

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Teure Unterlassungen

Erstellt von Redaktion am 17. November 2021

Regierungsversagen in der Corona-Pandemie

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Wer hat Ärger mit den Seinen – Impfe ihr/ihn eine Dose

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Wer Ungeimpften die Schuld an der vierten Welle gibt, macht es sich zu leicht. Stattdessen sollten die wahren Verantwortlichen Rechenschaft ablegen.

Deutschland erlebt die vierte Welle. Das Entsetzen darüber ist fast so groß wie im März 2020. Nach 21 Monaten Pandemie tun die Entscheidungsträger so, als seien sie erneut überrascht worden, dabei gibt es nicht einmal eine neue Virusvariante. Schuld an der misslichen Lage sollen die ominösen 24 Prozent „Impfgegner“ sein, über die nicht einmal präzise Daten zur Verfügung stehen.

Bürgerinnen und Bürger gehen in ihrer Frustration aufeinander los, statt die Regierenden zur Rechenschaft zu ziehen, die verantwortungslos handelten. Man kennt das Phänomen von der Klimakrise: Die teuren Unterlassungen eines politischen Apparats, der auf Trägheit setzt. Diese vierte Welle ist kein Naturphänomen, sie ist das Ergebnis von Unterlassungssünden der Regierenden. Die Coronadebatte fokussiert sich derzeit leider vorwiegend auf die mutmaßliche geistige Anatomie der Ungeimpften.

Dabei gibt es bei uns nur etwa 10 Prozent weniger Geimpfte als in vergleichbaren Ländern. Auch aufgrund der späten Stiko-Empfehlung hinken wir bei den Jüngsten hinterher. Leider sind diese 10 Prozent entscheidend für die Kontrolle über die Ausbreitung. Nun beugt man sich über „die Ungeimpften“, als wären sie Kaspar Hauser, statt die Verantwortungsträger zu fragen: „An welcher Stelle ist eure Impfkampagne gescheitert?“

Wenn wir aus dieser Krise herauswollen, sollten wir sie als Führungskrise erkennen und den Fokus der Analysen zurück auf die Verantwortungsträger lenken. So wie die Bundesregierung mit Projektträgern umgeht, die staatliche Förderung erhalten, muss mit dieser Bundesregierung verfahren werden. Jedes kleinste Sozialprojekt muss heute Projektziele definieren, Maßnahmen beschreiben und überprüfbare Meilensteine benennen.

Späte Booster-Kampagne

Die Rechnungsprüfungsämter prüfen auch in Coronazeiten kleine Sozialprojekte. Wer aber prüft mit derselben Präzision die Ziele und Meilensteine der Bundesregierung? Was sich derzeit an kruden Verallgemeinerungen über die „Impfgegner“ ergießt, ist kontraproduktiv. Texte, die von einer irgendwie gearteten deutschsprachigen Seele erzählen, die angeblich wissenschaftsfeindlicher sei als jede andere Nationalseele, sind mindestens so realitätsfern wie die Milieus, die sie zu beschreiben meinen.

In Großbritannien etwa fing Ende September die Booster-Kampagne an. 22,4 Prozent haben inzwischen die dritte Spritze erhalten, geordnet wurde nach Vulnerabilität. In Deutschland sind es nur knapp 5 Prozent. Im gleichen Zeitraum wurden in Deutschland Impfzentren geschlossen! Welche Botschaft senden die Verantwortlichen an die Bevölkerung, wenn sie Impfzentren schließen? Ein unklares „Geht bitte impfen, während wir die Zentren schließen!“ Doppelbotschaften in diesem Pandemiemanagement – wohin man auch sieht.

Die vierte Welle rollt nicht, weil in Deutschland in der Summe mehr Bürgerinnen Impfgegner sind als andernorts. Sie rollt, weil die Verantwortungsträger keine Strategie hatten, jene kritischen 10 Prozent mehr zum Impfen zu bewegen, die es für einen entspannten Herbst gebraucht hätte. So banal ist das Drama dieses Herbstes. Bis Oktober sprach kaum mehr jemand über die Impfkampagne.

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Es gab Zeiten da hätte man solchen Typen Fersengeld kassiert.

Im September gab es zur ­Hauptsendezeit ein langweiliges TV-Kanzler­kan­di­da­t_in­nen-­For­mat nach dem anderen. Übernimmt irgendjemand Verantwortung für dieses Versäumnis? Jens Spahn wird jetzt abdanken, ohne sich rechtfertigen zu müssen für seine Untätigkeit. So wie andere sich aus der Politik verabschieden und die Konsequenzen ihrer Politik in Sachen Klimakrise den Nachfolgenden überlassen.

Diese vierte Welle ist kein Naturphänomen, sie ist das Ergebnis von Unterlassungs­sünden der Regierenden

Eine politische Kultur, in der Diskurse ohne die Verantwortungsfrage geführt werden, verliert ihre Glaubwürdigkeit. Verantwortliche müssen klare Ziele formulieren, an denen sie sich messen lassen. Sie müssen Fehler eingestehen und eine Aufarbeitung ermöglichen. Uns sie müssen zurücktreten, wenn das Vertrauen verspielt ist. Medienvertreter, die Politikern das Mikro vor die Nase halten, um schlaffe Impfaufrufe zu verkünden und Ungeimpfte zu schelten, tragen dazu bei, dass Regierungsverantwortung an Bürgerinnen outgesourct wird.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —       Tim Reckmann from Hamm, Deutschland – Corona Impfung

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Der Konflikt in Äthiopien

Erstellt von Redaktion am 15. November 2021

Ab wann ist es Völkermord?

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Es finden sich immer wieder weiße Militärische Idioten welche als Ausbilder auftreten

Von Dominic Johnson

In Äthiopien schreitet die Verfolgung der Tigrayer voran. Die Parallelen zur Vorbereitung des Genozids an Ruandas Tutsi 1994 sind unübersehbar.

Wann beginnt ein Völkermord? Mit dem organisierten Abschlachten? Oder schon mit der Vorarbeit? Juristisch gilt die erste Antwort. Für politische Intervention ist die zweite maßgeblich. Um das Schlimmste zu verhindern, darf man nicht warten, bis es eintritt.

In Äthiopien macht aktuell der Vorwurf „Tigray Genocide“ die Runde: Ein Völkermord an der Volksgruppe der Tigrayer sei im Gange. Die Tigray-Rebellen und ihre Sympathisanten deuten auf Massaker, Luftangriffe, die Blockade von Lebensmittellieferungen, Hassreden und ethnische Verfolgung. Äthiopiens Regierung und ihre Freunde sprechen von einer gezielten Kampagne, mit der eine Terrororganisation von den eigenen Verbrechen ablenken und eine anerkannte Regierung untergraben wolle.

Die Gräben sind tief, wie Diplomaten erst dieser Tage wieder bei ihren Vermittlungsversuchen feststellen. Es ist kaum möglich, über dieses Thema zu schreiben, ohne von der einen oder anderen Seite der Parteilichkeit bezichtigt zu werden. Nötig ist es trotzdem. Zu viel steht auf dem Spiel in einem der größten Länder Afrikas, wo eine der ältesten Weltzivilisationen zu Hause ist. Und zu ähnlich sind die Parallelen mit den Vorläufern des Genozids an Ruandas Tutsi im Jahr 1994, obwohl Äthiopien nicht Ruanda ist und der äthiopische Bürgerkrieg 2020–21 ein anderer ist als der in Ruanda 1990–94.

In Ruanda marschierte 1990 die unter Exil-Tutsi in Uganda entstandene RPF (Ruandische Patriotische Front) ein, um eine Rückkehr der von Hutu verjagten Tutsi in die Heimat zu erzwingen. In Äthiopien hingegen ist die TPLF (Tigray Volksbefreiungsfront) seit 1991 an der Macht gewesen – sie beherrschte den Staat und vor allem das Militär bis zum Bruch mit Reformpremier Abiy Ahmed, der sie 2020 erst entmachtete und ihr dann auch noch die Kontrolle über ihre Heimatregion Tigray zu nehmen versuchte.

Aber die Gewaltdynamik der beiden Kriege ist vergleichbar. In beiden Fällen gibt es neben der militärischen Konfrontation eine zweite, innere Front: Der angegriffene Zentralstaat erklärt eine als Ethnie definierte Gruppe zum Feind, ihre Angehörigen werden kollektiv stigmatisiert, dämonisiert, verfolgt, inhaftiert, massakriert – Tutsi in Ruanda damals, Tigrayer in Äthiopien heute.

„Mit Blut und Knochen begraben“

Äthiopische Amtsträger bezeichnen Tigrayer öffentlich als Ungeziefer, Unkraut, Schlangen, Hyänen, Teufelszeug und Krebsgeschwür. Ministerpräsident Abiy Ahmed will „den Feind mit unserem Blut und unseren Knochen begraben“. Für seinen Berater Daniel Kibret müssen die Tigrayer „aus dem menschlichen Gedächtnis und Bewusstsein und aus den Geschichtsbüchern ausgelöscht“ werden und „die letzten ihrer Spezies“ sein – er behauptet, er meine nur die TPLF, aber der äthiopische Staat setzt zugleich alle Tigrayer mit der TPLF gleich.

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Seit die TPLF militärisch die Oberhand gewinnt, ist das nicht mehr nur Rhetorik. Tausende Tigrayer wurden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit verhaftet und verschleppt, verloren ihre Arbeitsplätze, Bankkonten und Geschäftszulassung. Reisende berichten, wie Bewaffnete an Straßenkontrollen auf dem Land Tigrayer aus Sammeltaxis holen und abführen.

Genauso ging Ruandas Hutu-Regime in den Jahren vor Beginn des organisierten Massenmordes 1994 gegen Tutsi vor. Darin steckt eine zweite Parallele: das Denkmuster, wonach sich doch bloß eine Bevölkerungsmehrheit gegen eine auf Alleinherrschaft strebende Minderheit feudaler Sklavenhalter wehre, es also um Demokratie gehe. Im straff organisierten Ruanda rief der Staat alle jungen Hutu zur Verteidigung des Vaterlandes auf, zur Jagd auf Spione und Verräter in der Nachbarschaft.

Im nicht minder straff organisierten Äthiopien wurden zuletzt alle Bürger zur Registrierung ihrer Waffen und zur Selbstverteidigung ihrer Wohnviertel aufgerufen; im Bundestaat Amhara, der an Tigray grenzt, werden Jugendliche in Milizen mit Stöcken und Macheten ausgestattet.

Gift des ethnischen Hasses

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Grafikquellen          :

Oben     —     Horn of Africa Mission: Sgt. Patrick Flores, vom 1st Battalion, 294th Infantry Regiment (Light), Guam Army National Guard, weist die Soldaten der Ethiopian National Defense Force in Bilate, Äthiopien,in richtige Feuer-, Manöver- und Trupptaktiken ein.

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Unten     —     Ntrama Church Memorial

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Der Kriminalitäts – Report

Erstellt von Redaktion am 13. November 2021

Das Periodensystem der Sicherheit

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Der schwarze Mob als Verunsicherung

Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer

Die Bundesregierung hat den »Dritten Periodischen Sicherheitsbericht« vorgelegt. Danach wird Deutschland immer sicherer. Darf das sein, oder kann das weg?

Fach und Leute

Am 5. November 2021 hat die Bundesregierung den »Dritten Periodischen Sicherheitsbericht« vorgelegt. Er folgt dem Bericht von 2006, stellt also die letzten 15 Jahre dar und bewertet sie. Man kann den Bericht, der 232 Seiten umfasst, im Internet leicht finden, was ich hiermit ausdrücklich empfehlen möchte. Wer sich für Fragen der Sicherheit und der Kriminalität interessiert und gern die eine oder andere Weltbetrachtung dazu kundtut, sollte den Bericht anschauen. Sie müssen ihn nicht Seite für Seite lesen. Wichtig für alle Schlaumeier ist es in jedem Fall, die Seiten 15 bis 20 zu lesen: »Erläuterungen zur Datengrundlage«. Da steht, was die statistischen Daten aussagen und was nicht, ob und wie man sie vergleichen kann und wo ein paar Stolpersteine des Verständnisses liegen.

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Glasgow verkauft die Natur

Erstellt von Redaktion am 11. November 2021

Wasser marsch für mehr Klimaschutz

Wer von den Politiker-Innen würde sich denn so weit in die Wildnis wagen, die haben doch schon Angst vom roten Teppich zu fallen.

Von Heike Holdinghausen und Bernhard Pötter

In Europa und Südasien wurden Moorböden großflächig trockengelegt – und so von Treibhausgas-Speichern zu Treibhausgas-Schleudern. Das lässt sich ändern.

Sogar Michelle Obama war schon da. „Die neue große Weltkarte mit den Moorgebieten der Erde hat auch die ehemalige US-First Lady interessiert“, sagt Franziska Tanneberger, Leiterin des Greifswald Moor Centrums. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Ausstellungsflächen zu Feuchtgebieten – der Peatland Pavillon – auf dem Gelände der Klimakonferenz gleich neben dem US-Pavillon befinden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Michelles Ehemann Barack Obama sich mehrfach auf der Konferenz für echten Klimaschutz starkgemacht hat. Und der funktioniert nur mit dem Schutz der Moore.

Moorböden bedecken rund vier Millionen Quadratkilometer der Erde, vor allem auf der Nordhalbkugel, in Kanada, Skandinavien, Schottland und Mitteleuropa; tropische Moore kommen im Kongo, in Uganda und Indonesien vor. Auch ganz im Süden, in Südafrika, Tasmanien und Feuerland gibt es Moore. „Viele Länder wissen gar nicht, dass sie Moorböden besitzen“, sagt Tanneberger, „wenn sie schon lange genutzt werden, dann erscheinen sie halt als Wiese oder Kartoffelacker“.

Rund drei der vier Millionen Quadratkilometer Moorfläche sind noch intakt; sie speichern Wasser, bieten Tieren und Pflanzen Lebensräume – und speichern enorme Mengen an Kohlenstoff. Rund 550 Gigatonnen binden sie global, 42 Prozent der an Land gebundenen Menge, und damit mehr als etwa die Wälder. In Deutschland liegen in den Moorböden 1.300 bis 2.400 Millionen Tonnen Kohlenstoff. Trocknen die Böden aus, setzen sie Treibhausgase frei. Weltweit gibt es zwei Re­gio­nen, in denen Moore großflächig trockengelegt und so vom Speicher zum Emittenten von Treibhausgasen wurden: Europa und Südostasien. Etwa in Indonesien sei dies als Problem erkannt, es werde gegen­gesteuert, so Moorexpertin Tanneberger. „In Europa reagieren wir ungenügend auf dieses Problem.“ Dabei müsse in allen Plänen zur Klimaneutralität die Wiedervernässung der Moore einberechnet werden – „sonst müssen wir Wälder aufforsten, um den CO2-Ausstoß der Moore zu kompensieren“.

In Deutschland sind fast alle Moore entwässert – nur 2 Prozent sind intakt, 4 Prozent schon wiedervernässt. Obwohl Moorböden nur wenige Prozent der landwirtschaftlichen Fläche ausmachen, tragen sie zu 40 Prozent zu den Treibhausgas-Emissionen der Landwirtschaft bei. Hier könne man auf kleiner Fläche also viel erreichen, sagt Tanneberger.

Quelle       :         TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

Der Klimagipfel – ein Fitnessstudio

Von Bernhard Pötter

Eigentlich sollte auf der Einladung zur Klimakonferenz ein Warnhinweis wie auf Zigarettenschachteln kleben: „COPs können Ihrer Gesundheit schaden!“ Wer teilnimmt, schläft nur ein paar Stunden, isst und trinkt tags zu wenig und abends zu viel, hetzt von einem Termin zum nächsten oder langweilt sich in der letzten Nacht zu Tode. Gefährlich ist auch der Frust, dass der Klimawandel immer weitermacht, was für unsere Gesundheit ja noch schlimmer ist als die Gummibär-und-Schokolade-Diät auf der Konferenz.

In Glasgow ist vieles anders. Aus der Angst vor einem Corona-Superspreader-Event werden hier Toiletten, Tische und Stände permanent abgewischt und desinfiziert, überall steht Handdesinfektionszeug. Wenn die Verhandlerkolonne so fleißig und effektiv wäre wie die Putzleute sind, wäre mir ums Klima nicht bange.

Bei allem Stress ist die COP aber eigentlich ein großes Fitnessstudio: Gegen das ungesunde Sitzen gibt es lange Schlangen am Eingang oder vor den Toiletten, wo der Bewegungsapparat gestärkt wird. Die Wege sind weit: vom Eingang bis zum Pressezentrum sicher ein knapper Kilometer. Und wir sind dauernd on the road: zu Pressekonferenzen, zu Gesprächen, Terminen, Treffen mit Informanten, zum Klo, einfach rumschlendernd.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben          —     These illustrations show the floods that hit Germany in July 2021. Several European countries were hit by catastrophic floods in the summer of 2021, causing many deaths and considerable damage. The floods, which affected several river basins, first in the UK and then across northern and central Europe, were caused by unseasonably high levels of rainfall.

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2.) von Oben      —       Waldbrand-Experiment

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10 Jahre NSU-Enttarnung

Erstellt von Redaktion am 10. November 2021

Borniertheit, Rassismus, Vertuschung, Verdrängung

Eine Kolumne von Samira El Ouassil

Über ein Jahrzehnt konnte der NSU rassistische Morde begehen, weil Sicherheitsbehörden nicht sahen, dass sie es mit Rechtsextremisten zu tun hatten. Dieses institutionelle Problem besteht bis heute.

Am heutigen Tag jährt sich zum zehnten Mal die Selbstenttarnung der NSU-Terrorzelle, des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds, mit der eine grausamen Mordserie endete.

In dieser wird 2000 als Erster Enver Şimşek, Vater von zwei Kindern, in Nürnberg vor seinem Blumenstand mit acht Schüssen aus zwei Waffen getötet. Die Polizei geht zunächst von einem Familienstreit aus und verdächtigt seine Ehefrau. Ebenfalls in Nürnberg ist der Maschinenarbeiter Abdurrahim Özüdoğru in der Schneiderei seiner Frau tätig, als er 2001 vor dieser mit zwei Kopfschüssen ermordet wird. Özüdoğru hinterlässt eine Tochter. Süleyman Taşköprü arbeitet in Hamburg im Lebensmittelgeschäft seines Vaters, als man ihn 2001 hinrichtet. Die Polizei unterstellt dem 31-Jährigen Drogenhandel und ermittelt deshalb gegen Familienmitglieder. In München wird im selben Jahr Habil Kılıç ermordet, mit zwei Schüssen im Obst- und Gemüseladen seiner Frau. Die Ermittler gehen von einer Verbindung zur kurdischen Arbeiterpartei PKK aus und konzentrieren sich folglich auf diesen Verdacht. 2004 hilft der 25-Jährige Mehmet Turgut am Tag seiner Ermordung spontan im Hamburger Dönerimbiss seines Freundes aus. Die Täter schießen ihm dreimal in den Kopf. Die Behörden richten daraufhin eine »SoKo Bosporus« ein. Ein Jahr später wird der zweifache Vater İsmail Yaşar in Nürnberg in seinem Imbiss mit acht Schüssen erschossen.

Von da an glaubt die Polizei einen Zusammenhang zwischen den Morden zu erkennen: türkischer Drogenhandel aus den Niederlanden. Für die Verpackung dieser Mutmaßung präsentieren deutsche Medien einen der hässlichsten, menschenverachtendsten Ausdrücke des Headline-Journalismus der letzten Jahrzehnte: »Döner-Morde«.

Nach Stationen bei der Deutschen Bahn und Siemens betreibt der Einzelhandelskaufmann Theodoros Boulgarides in München einen Schlüsseldienst. 2005 wird er dort mit drei Kopfschüssen umgebracht. Man sucht nach Spuren in Richtung türkische Mafia, Beziehungen zur Prostitution, zum Wettmilieu und zum Waffenhandel. Seine beiden Töchter werden gefragt, ob ihr Vater sie sexuell missbraucht hat.

Medial und gesellschaftlich traumatisiert

Mehmet Kubaşık bekam als politisch Verfolgter mit seiner Jugendliebe und Ehefrau sowie einer gemeinsamen Tochter Asyl in Deutschland. Er begann als Hilfs- und Bauarbeiter und betrieb in Dortmund einen Kiosk. 2006 wird er dort erschossen. Zwei Tage später wird der 21-Jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel getötet, das er kurz zuvor eröffnet hatte. Zudem besuchte er eine Abendschule, um sein Abitur nachzuholen. Zur Tatzeit war Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, in diesem Internetcafé anwesend – was aufgrund von Login-Daten festgestellt werden konnte. Von einem verblutenden Opfer will er jedoch nichts gesehen oder gehört haben. Die Polizistin Michèle Kiesewetter ist das letzte bekannte Opfer des NSU. Sie wird 2007 bei einem Einsatz getötet.

Die Opfer und ihre Angehörigen wurden durch die Behörden, medial und gesellschaftlich traumatisiert, gedemütigt, im Stich gelassen, retraumatisiert. Für lange Zeit standen sie selbst unschuldig im Fokus der Ermittlungen, und die Fehler, die hier erfolgten, verdeutlichen auf mehr als traurige Weise den Kern des Problems auf institutioneller Ebene: Borniertheit, Rassismus, Vertuschung, Verdrängung. Über ein Jahrzehnt konnte der NSU rassistische Morde begehen, ohne aufgehalten zu werden, weil Sicherheitsbehörden die Täter in den Reihen der organisierten Kriminalität und in allen möglichen Milieus wähnten, nur nicht in den rechtsextremistischen.

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Folter in den USA

Erstellt von Redaktion am 9. November 2021

Zur ARTE-TV-Doku: Folter in den USA

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Hannes Sies

Derzeit bietet Arte zwei Dokus über Folter in den USA in der Mediathek an: „Eine Geschichte der Folter in den USA (Niemand darf der Folter unterworfen werden)“ und „Slahi und seine Folterer: Das Leben nach Guantanamo“. Beide Filme verschweigen, dass USA (und UK) Julian Assange, den wichtigsten Kritiker der USA, seit zehn Jahren verfolgen und foltern. Sie beteiligen sich dadurch an der medialen Vertuschung dieses Jahrhundert-Verbrechens der westlichen Staatengruppe. Eines Staatsverbrechens, das sich gegen den Enthüller unzähliger Kriegs- und Staatsverbrechen eben dieser staatlichen Ankläger, Richter und Folterknechte richtet. Dennoch bieten die Arte-Dokus gute Hintergrund-Informationen zum Thema.

Gitmo – Die Folterindustrie der USA

„Niemand darf der Folter unterworfen werden“ (Filmtitel von 2019) wird in der Arte-Mediathek unter dem treffenderen Titel „Eine Geschichte der Folter in den USA“ ausgewiesen. Die von Arte selbst (mit Programm33) produzierte Doku verfolgt die aktuelle US-Folterindustrie, die unter dem Namen „Guantanamo“ (kurz „Gitmo“) bekannt ist, zurück in die Zeit der Sklaverei. Der Reichtum der frühen USA basierte bekanntlich auf Sklavenhaltung, auch George Washington und andere Gründerväter waren Sklavenhalter. Die Sklaven wurden mit Folter zur Arbeit angetrieben, sollten aber nicht an (Wiederverkaufs-) Wert einbüßen. Durch Folterspuren wären sie auf dem Sklavenmarkt als aufsässig erkennbar geworden, so wurden Foltermethoden entwickelt, die spurlos bleiben: Der historische Beginn der sogenannten „Weißen Folter“. Beide Dokus zeigen Folterer, die sich damit rechtfertigen, sie hätten ihren Opfern keine Wunden zugefügt.

Die Geschichte der Folter springt dann in den Kalten Krieg, wo die USA im Koreakrieg erlebten, dass gefangene Gis in Nordkorea gestanden, die USA hätten völkerrechtlich strikt verbotene bakteriologische Waffen eingesetzt. Daraus sei eine große Angst vor „kommunistischer Gehirnwäsche“ entstanden, die militärisch-geheimdienstliche Forschung zur Folge hatte (dass die USA tatsächlich bakteriologische Waffen eingesetzt haben könnten, hinterfragt Arte nicht).

Milgram und Zimbardo als Komplizen

Als mutmaßliche CIA-Folterforschung wird nicht nur das berüchtigte Zimbardo-Gefängnis-Experiment angeführt, sondern auch das bekannte Milgram-Experiment. Letzteres wird meist als kritische Humanwissenschaft zitiert, mit dem Ziel, die Grenzen menschlicher Grausamkeit und Obrigkeitshörigkeit zu erforschen. Dass dies nicht kritisch motiviert gewesen sein könnte, sondern um die so erkannten Grenzen dann zu tatsächlicher Folter auszunutzen, ist eine neue These dazu. Das Zimbardo-Experiment führt diese Linie weiter, mit angeblich „simulierter“, aber tatsächlich realer Folter unter psychologischer Dokumentation.

Im Rahmen von CIA-Folterforschung hat der Präsident der American Psychiatrical Association, Dr.Cameron, so die Doku, brutalste Experimente an Patienten durchgeführt. Alte Interviews mit Opfern werden gezeigt, so eine Ex-Angestellte des US-Verteidigungsministeriums, die nach Dr.Camerons Behandlung mit Elektroschocks und sensorischer Deprivation keine Erinnerung mehr daran hatte, was ihre Aufgaben für das Pentagon waren.

Propaganda: Hollywood foltert mit

In Guantanamo wurden bzw. werden (die Doku bleibt da unklar) diese Foltertechniken ungehemmt gegen Verdächtige eingesetzt. Verantwortlich sind US-Präsident Bush jr. (Sohn des gleichnamigen CIA-Chefs und US-Präsidenten), Cheney, Rumsfeld und er ihm unterstellte General Miller, der erst Guantanamo und dann Abu Ghuraib kommandierte, wo schlimmste Folter massenhaft gegen irakische Zivilisten eingesetzt wurde. Man erfährt, dass parallel zur Ausweitung der Folter TV-Filme Propaganda für diese Verrohung der Kultur machten, dass die Serie „24“ mit Kiefer Sutherland sogar von den Folterern als „Inspiration“ genutzt wurde… wohl auch als moralische Rechtfertigung: In „24“ werden als Unmenschen dargestellte Terroristen brutal gefoltert, mit dem hehren Ziel, schlimmste Anschläge zu verhindern.

Zu Wort kommt Susannah Sirkin von der NGO Physicians for Human Rights, die sagt, dass Folter nicht nur den Folteropfern schadet, sondern auch „eine Gesellschaft zu einer Gesellschaft der Grausamkeit macht“. Kiefer Sutherland hat seinen Teil dazu beigetragen, wie es scheint. Die Philosophie-Professorin Rebecca Gordon wird zitiert: „Wir haben weniger den Krieg gegen die Folter verloren als den Krieg gegen die Demokratie gewonnen.“ Und der Historiker der University of Wisconsin, Prof. Alfred McCoy, erklärt: „Mächte im Niedergang greifen zu Folter. Sie nährt die Illusion von Überlegenheit, Dominanz und Kontrolle.“ Am Ende wirft die Doku sogar die Frage auf, ob die zahlreichen in Foltertechnik geschulten US-Sicherheitsbeamten inzwischen bei Polizei und Einwanderungsbehörden ihr Unwesen treiben und dort Folter etwa an Migranten oder sogar Kindern ausüben. Man sieht die Latino-Kinder in Käfigen mit denen Donald Trump seine Anhänger hofieren wollte. Ein Hinweis auf den ebenfalls gefolterten und seit zehn Jahren mit Auslieferung an die USA bedrohten Julian Assange fehlt leider. Ob aus Angst der Filmemacher vor Zensur oder aus Unkenntnis infolge der fortgesetzten medialen Vertuschungs-Propaganda?

The Mauretanian: Slahi und seine Folterer

Die zweite Doku, in der Arte-Mediathek als anschließender Film präsentiert, heißt: „Slahi und seine Folterer: Das Leben nach Guantanamo“ und ist eine aktuelle NDR-Produktion (mit Arte, MDR und RBB) von 2021. Sie folgt der Hauptfigur aus dem US-kritischen Film „The Mauretanian“, dem Mauretanier Mohamedou Slahi, der 14 Jahre unschuldig von den USA inhaftiert und gefoltert wurde. Es werden seine Folterknechte und deren Hintermänner und -frauen aufgespürt und interviewt. Einige seien erst durch den Erfolg der Verfilmung von Slahis Tagebuch seines Leidens „The Mauretanian“ aufgeschreckt worden und zu Interviews bereit gewesen.

Einige Täter und eine Täterin, die den Befehl zu Slahis verschärfter Folter gab, sehen ihre Schuld bis heute nicht ein. Die US-Offizierin hält Slahi bis heute für den Anwerber von drei 9/11-Attentätern in Hamburg (wo Slahi studierte). Sie hält Slahi für ein diabolisches Superhirn, das Guantanamo manipulierte und jetzt auch die Filmemacher und sie bekommt breiten Raum in der Doku für ihre Ansichten. Diese werden jedoch als gerichtlich widerlegt dargestellt (Zuschauern bleibt offen, für wen sie sich entscheiden, denn Gerichte und Lügendetektoren, die Slahis Version stützen, können bekanntlich irren).

Slahi ließ sich, so die Doku, tatsächlich kurzzeitig von Al Qaida anwerben, doch zu einer Zeit da diese Terrorgruppe von den USA finanziert wurde. Sie sollte damals gegen die sowjetische Besazung von Afghanistan kämpfen, um dem Kommunismus zu schaden. So habe Slahi dies in deutschen Mediendarstellungen erfahren und ist sich daher bis heute keiner Schuld bewusst -wie seine Peiniger.

Rache, Schuld und Vergebung

Die Doku treibt die Darstellung von Slahi und seinen Peinigern auf die Spitze, in dem sie ihn in Skype-Telefonaten auf die Folterer treffen lässt. Man bekommt fast Mitleid mit einem brutalen 120-Kg-Bodybuilder, der unter seiner schließlich eingestandenen Schuld langsam zusammenbricht. Slahi berichtet von seinen Rachewünschen, die er zu Gunsten einer umfassenden Vergebung aufgab. Diese Vergebung und ein künftig glückliches Leben zu führen sieht er als beste Form der Rache an seinen Folterern. Die Doku gibt ihm Recht, seine US-Widersacher scheinen als erbärmliche, teils dümmlich-unbelehrbare Ideologen einer bösartigen Folter-Maschinerie.

Slahi lebt inzwischen in Mauretanien, hat aber ein Kind mit einer in Berlin lebenden US-Menschenrechtsanwältin -zu dem deutsche Behörden ihn nicht einreisen lassen. Dass die Doku trotz dieser augenfälligen Parallele zu Julian Assange, ebenfalls Folteropfer der USA, der ebenfalls Kinder mit seiner Menschenrechtsanwältin hat, nicht explizit macht, spricht zwar gegen sie. Trotzdem ist sie ebenso zu empfehlen wie die intellektuell weit anspruchsvollere Arte-Doku zum Thema.

Slahi und seine Folterer

ARTE: „Mohamedou Slahi war 14 Jahre lang im amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo Bay interniert. Von 2002 bis 2004 wurde er immer wieder gefoltert. 2016, nach seiner Entlassung aus Guantanamo, beginnt der NDR-Journalist John Goetz, nach Slahis Folterern zu suchen. Seine Investigation führt zu bemerkenswerten Begegnungen und zu überraschenden Enthüllungen.“

https://www.arte.tv/de/videos/095726-000-A/slahi-und-seine-folterer/

„Niemand darf der Folter unterworfen werden!“

„Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 setzte die USA gezielt Folter als Verhörmethode im Kampf gegen den Terror ein. Weniger bekannt ist, dass die CIA bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg damit begann, Foltermethoden wissenschaftlich zu erforschen. Wissenschaftler und Experten sprechen über die lange Geschichte der Folterpraxis in den USA.“

https://www.arte.tv/de/videos/087405-000-A/niemand-darf-der-folter-unterworfen-werden/

Urheberecht
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Grafikquellen      :

Oben          —   Gefangene im Camp X-Ray, Guantanamo Bay, Kuba Übersetzung der Originalbildunterschrift: „Gefangene in orangefarbenen Overalls sitzen auf einer Wartefläche unter den wachsamen Augen der Militärpolizei im Camp X-Ray auf der Marinebasis Guantanamo Bay auf Kuba, während der Überführung in das temporäre Internierungslager am 11. Januar 2002. Die Häftlinge werden von einem Arzt allgemein untersucht, was eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs und Blutproben einschließt, um ihren Gesundheitszustand einzuschätzen. Foto des Verteidigungsministeriums, aufgenommen von Bootsmann Shane T. McCoy, U.S. Navy.“

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Der Fall »Drachenlord«

Erstellt von Redaktion am 30. Oktober 2021

Ein jahrelanges Martyrium in Deutschland – und niemand hält es auf

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Der YouTuber »Drachenlord« wird seit Jahren von einem Mob gequält, bedroht und belästigt. Nun hat er sich gewehrt und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Ein katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft.

Jeden Tag hetzen Internetmobs in Deutschland unschuldige Menschen in die Verzweiflung und noch weiter. Aber noch nie haben sich eine deutsche Staatsanwältin und eine deutsche Richterin faktisch an die Spitze eines hochorganisierten Internetmobs gesetzt. Und anschließend das Opfer gedemütigt, eingesperrt und gebrandmarkt. Genau das aber ist am 21. Oktober 2021 mitten in Deutschland passiert, und damit ist großes Unrecht geschehen. Es gab ein kurzes Palaver in der Öffentlichkeit, dann passierte irgendetwas anderes, das Wochenende brachte die Bundesliga und praktisch niemand interessierte sich mehr für den »Drachenlord«

Die Beleidigungen, Bedrohungen, Herabwürdigungen, die Rainer Winkler im Netz erdulden muss, sind nicht mehr zählbar, sie gehen buchstäblich in die Hunderttausende. Aber der Hassmob aus dem Internet ragt bis in das private Leben des Mannes. Und wie. Sein Haus in einem kleinen, fränkischen Dorf wird immer wieder mit Steinen, Unrat und Farbe beworfen. Hunderte, wenn nicht Tausende Male werden Dinge in seinem Namen bestellt. Er wird tätlich angegriffen. Seine völlig unbeteiligte Schwester wird bedroht. Das Grab seines Vaters wird geschändet, Aufnahmen davon ins Netz gestellt. Die übelsten Beschimpfungen prasseln bis heute jeden Tag auf ihn ein. Phasenweise stehen fast täglich aggressive Gruppen von Schaulustigen vor seinem Haus, oft versuchen sie ihn zu provozieren, um Aufnahmen davon wie Trophäen ins Netz zu stellen.
Nach Auskunft der Polizei finden um Winklers Haus herum zeitweise mehr als zwei Dutzend Polizeieinsätze statt – pro Tag. Winkler wird mehrfach auf menschenverachtende Weise vorgeführt, zum Beispiel als eine junge Frau vorgibt, ihn zu lieben, eine Beziehung mit ihm vorgaukelt und ihn dazu bringt, ihr live gestreamt im Netz einen Heiratsantrag zu machen – worauf sie ihn vor versammeltem Publikum demütigt: »Du bist der fetteste, dümmste Idiot, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.« Winkler weint, der Mob jubelt und verbreitet das Video des weinenden Winkler.

Die »Hater« lügen. Es handelt sich nicht um ein Spiel

Der Hassmob hat einen Namen, diese Leute nennen sich »Haider«, ausgesprochen halb fränkisch, halb pseudoenglisch, denn Winkler nennt diese Leute in seiner Mundart »Hater«. Die Haider behaupten, Rainer Winkler zu quälen sei ein Spiel, das Drachengame. Das ist eine Lüge, mit der vor allem die Mitläufer im Hassmob, die Medien und damit das unbedarfte Publikum beruhigt werden sollen.

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Das Gerücht wird immer wieder gestreut und auch von großen Medien wird verbreitet, Winkler wolle es selbst so. In Wahrheit hatte er nie eine Wahl, versuchte jahrelang, sich zu wehren, und irgendwann damit irgendwie zurechtzukommen. Es handelt sich nicht um ein Spiel, hier wird ein Mensch ohne jeden Ausweg gequält, mit dem vielfach im Netz erklärten Ziel, Rainer Winkler in den Selbstmord zu treiben. Mit der Gefängnisstrafe für Winkler hat der Hassmob nämlich nur ein Zwischenziel erreicht.

Die Haider, auch diejenigen, die nur mal schauen wollen oder so ein bisschen mitschwimmen, sind faschistoide Menschenfeinde. Sie verdienen Verachtung und harte Bestrafung, aber – Laien können das oft nicht recht glauben – Cybermobbing ist in Deutschland bisher kein Straftatbestand. Eine tiefere Analyse der wichtigsten Motivation der Haider ergibt Monströses, das sich in einem Zitat in einem der vielen Chat-Kanäle spiegelt: »Der Drachenlord verdient das alles, weil er dumm ist.« Das »Drachenlord«-Martyrium ist deshalb auch die Kehrseite des ohnehin schwierigen gesellschaftlichen Fetischs Intelligenz.

Die Liste der Qualen geht weiter und weiter, es ist, wenn man halbwegs bei Verstand und Empathie ist, schon beim Lesen kaum aushaltbar. Winkler wird zum ersten deutschen Opfer des sogenannten Swattings. Dabei wird unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein Swat-Team der Polizei zum Sturm auf eine Wohnung angestiftet. Das ist kein Streich, in den USA hat das Swatting bereits mehrere Todesopfer gefordert. Bei jedem Amoklauf, bei jedem Attentat bringen die Haider Falschgerüchte in Umlauf, dass eigentlich Rainer Winkler der Täter sei. Nicht selten fallen sogar Newsseiten darauf herein, zuletzt als Haider behaupten, die Morde mit Pfeil und Bogen in Norwegen Mitte Oktober seien von einem Rainar Winklarson verübt worden und dazu ein Foto von Winkler beim Bogenschießen verbreiten.

Die Bundesrepublik hat dem Hassmob nichts entgegenzusetzen

Quelle          :            Spiegel-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Ein Drache aus der Welt der Sagen      —    Megalosaurus-Modell im Londoner Crystal-Palace-Park (Benjamin Waterhouse Hawkins, 1854)

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C+linke Kritik(un)fähigkeit

Erstellt von Redaktion am 30. Oktober 2021

Corona-Profiteure sind weltweit im Aufwind

File:Corona-Impfzentrum Hamburg 02.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Elisabeth Voss

Mit jeder Krise nehmen Spaltungen zu – zwischen oben und unten und zwischen Nord und Süd, zwischen denen, die profitieren, und denen, die das oft ohnehin schon zu Wenige verlieren.

Corona und die Eindämmungsmassnahmen treffen nicht alle gleich. Profiteure sind globale Konzerne, allen voran die Pharma- und Digitalwirtschaft, einschliesslich des Onlinehandels. Auch die Umsätze der Rüstungsindustrie stiegen im Coronajahr 2020 kräftig an. BMW und andere machten dank Kurzarbeitergeld Millionengewinne, die sie als Dividenden auszahlten. So werden die Reichen immer reicher, und die öffentliche Hand verschuldet sich.Die Umverteilung von unten nach oben und von öffentlich zu privat ist nicht neu. Konzerne wie Microsoft führen Gewinne steuersparend an gemeinnützige Stiftungen ab, beispielsweise an die Bill & Melinda Gates Stiftung. Diese legt ihre Stiftungsmittel zum Beispiel in Pharmakonzernen an und finanziert aus den Dividenden Impfprogramme – bevorzugt in Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP), also gemeinsam mit der öffentlichen Hand und mit öffentlichen Geldern.Wenn die Impfstoffe von den Unternehmen eingekauft werden, an denen die Stiftung Anteile hält, fliessen weitere Dividenden ins Stiftungsvermögen, für weitere wohltätige Zwecke, und so wächst und wächst das Vermögen. Die Gates-Stiftung ist der grösste private Finanzier der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Durch ihre finanzielle Macht nehmen solche Stiftungen nicht nur direkt Einfluss darauf, um welche Probleme sich gekümmert werden soll – und um welche nicht – sondern lenken auch die Verwendung öffentlicher Mittel in Partnerschaftsprojekte.

Pandemie-Szenario „Event 201“ für Privatisierungen

Im Oktober 2019 wurde im „Center for Health Security“ (CHS) der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität ein Szenario für eine weltweite Grippe-Pandemie unter dem Namen „Event 201“ erstellt. Gründer und Finanziers des CHS sind neben der WHO eine Reihe privater Stiftungen. Das Szenario einer Corona-Epidemie mit weltweit 65 Millionen Toten wurde in Kooperation mit der Bill & Melinda Gates Stiftung und der Schweizer Stiftung Weltwirtschaftsforum durchgeführt. Es sollte offensichtlich dazu dienen, Privatisierungen und neoliberale Umstrukturierungen des globalen Gesundheitswesens mit dem Anstrich von Wissenschaftlichkeit voranzutreiben.

Die Empfehlungen zielten auf eine schon vorsorglich verstärkte Zusammenarbeit von Regierungen und privaten Unternehmen in ÖPPen zur Erforschung von Impfstoffen und zur Bekämpfung von Falschinformationen. Medienunternehmen sollten im Falle einer Pandemie schnell mit den gewünschten Botschaften und Informationen überflutet und Falschmeldungen auch technisch unterdrückt werden [1].

Ein „unsichtbares Netz von Abhängigkeiten und Dominanz“

Auf der Fachtagung „Win-win oder Win-lose?“ der Deutschen Plattform für Globale Gesundheit im November 2019 in Berlin wurde Kritik an solchen ÖPPen formuliert. Anna Holzscheiter, Professorin an der TU Dresden und Leiterin einer Forschungsgruppe für globale Gesundheit am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), betonte in ihrem Einführungsvortrag: „Ich denke, wir sind uns alle einig darüber, dass gerade in der globalen Gesundheitspolitik die Verflechtungen zwischen den grossen privaten Stiftungen Gates, Wellcome Trust, Open Society Foundation und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, den Medien und der Wissenschaft so dicht geworden sind, dass man von einem unsichtbaren Netz von Abhängigkeiten und Dominanz sprechen kann.“

Die Privaten würden nicht nur finanzieren, sondern auch Themen und Begriffe setzen. Ganz selbstverständlich ginge es dann um Ökonomisierung und „Effizienz“, Gesundheitsfragen würden entpolitisiert. Als „Not-for-profit-Akteure“, die angeblich nicht auf Gewinnerwirtschaftung ausgerichtet seien, würden sie ihre vermeintlich alternativlosen marktbasierten Lösungen durchsetzen – ohne demokratische Legitimation [2].

Die Vereinten Nationen im Zangengriff der Konzerne

Im Sommer 2019 hatten die Vereinten Nationen (UN) mit dem Weltwirtschaftsforum ein strategisches Partnerschaftsabkommen zur Umsetzung der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung abgeschlossen. Namhafte NGOs wie das Transnational Institute, FIAN und Friends of the Earth reagierten alarmiert und forderten die UN auf, das Abkommen zu kündigen, um sich nicht dauerhaft mit Konzernen zu verbinden, die selbst Verursacher der sozialen und ökologischen Krisen seien. Ziel des Weltwirtschaftsforums sei es, die Rolle der Staaten zu schwächen und den politisch gesteuerten Multilateralismus in ein Multistakeholder-System umzuwandeln, in dem private Unternehmen an globalen Entscheidungen beteiligt werden. Mehr als 400 Organisationen unterzeichneten den Offenen Brief [3].

Angesichts der Corona-Krise wurde die Aufforderung zur sofortigen Beendigung der Partnerschaft im Frühjahr 2021 erneuert. Es sei typisch für diese Zusammenarbeit, dass die reichsten Länder sich durch exklusive Verträge mit privaten Pharma-Unternehmen Impfstoffe gesichert hätten, während die Verteilung der Impfstoffe an die Ärmsten an die neue Multistakeholder-Gruppe COVAX ausgelagert wurde, die zwischen Impfstoffherstellern, der Gates-Stiftung und den Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung vermitteln solle. Statt sich weiter an die globalen Konzerne auszuliefern, müssten die Staaten ihre Regierungsführung partizipativ im öffentlichen Interesse gestalten [4].

Für einen besseren Kapitalismus: Great Reset und Social Business

Auch Wirtschaftsmächtige sehen angesichts der multiplen Krisen, dass es so nicht weitergehen kann. Unter der Bezeichnung „The Great Reset“ propagiert das Weltwirtschaftsforum einen Neustart von Wirtschaft und Gesellschaft nach der Pandemie, mit dem wie auf Knopfdruck alles gut werden soll. Unternehmen sollen nicht mehr ihren Aktionären dienen, sondern allen Beteiligten nützen, der Kapitalismus soll grün und sozial werden. 2020 hat das Weltwirtschaftsforum Annalena Baerbock in sein Führungskräfteprogramm „Young Global Leaders“ aufgenommen, in dem es seit 1992 – damals unter dem Namen „Global Leaders for Tomorrow“ – vielversprechende Persönlichkeiten im Interesse öffentlich-privater Partnerschaften vernetzen und darin unterstützen möchte, die Welt zu verbessern. Auch Angela Merkel hat in den 1990er Jahren das Programm durchlaufen, 2016 wurde Gesundheitsminister Jens Spahn aufgenommen.

2018-03-12 Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 19. Wahlperiode des Bundestages by Sandro Halank–004.jpg

Auch die Social-Business-Bewegung möchte die Welt verbessern. Der Gründer des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, hat schon 1998 gemeinsam mit seiner Frau Hilde die „Schwab Foundation for Social Entrepreneurship“ als Schwesterorganisation des Weltwirtschaftsforums gegründet. Sie möchte „Soziale Innovationen“ beschleunigen, indem sie führende Sozialunternehmer:innen unterstützt und vernetzt, die soziale Probleme mit unternehmerischen Mitteln lösen möchten. Mit solchen Geschäftsmodellen werden jedoch bestenfalls Symptome gelindert, wenn marktgerechte Ansätzen auf die Probleme ausgewählter Zielgruppen ausgerichtet sind – von oben nach unten und ohne demokratische Legitimation.

Finanzinvestor Blackrock, ein „Konzern, dem die Welt gehört“

Mit dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus sind neue Akteure ins Spiel gekommen. Fondsgesellschaften sammeln unvorstellbare Geldmengen ein und beteiligen sich damit an Banken und Unternehmen, und auch gegenseitig aneinander, wie der Kölner Publizist Werner Rügemer detailreich beschrieben hat [5]. Der grösste von ihnen, Blackrock, ist an nahezu allen wichtigen Unternehmen beteiligt, war beispielsweise auch beteiligt an Wirecard und dessen grösstem Kreditgeber Goldman Sachs sowie an der Ratingagentur Moody‘s, auf deren Analyse hin die Kreditwürdigkeit von Wirecard festgestellt wurde.

Blackrock berät die Zentralbank FED in den USA und die Europäische Zentralbank EZB, welche die 750 Milliarden Euro Corona-Wirtschaftshilfen aus dem Wiederaufbauprogramm der Europäischen Union ausreicht. Der Finanzinvestor ist Aktionär in Öl- und Kohlekonzernen, in Rüstungsunternehmen und im Agrobusiness und berät gleichzeitig die Europäische Kommission in Nachhaltigkeitsfragen [6]. Mit nachhaltigen Geldanlagen möchte Blackrock nach der Pandemie ökologische und soziale Probleme lösen.

Unter dem Titel „Der Konzern, dem die Welt gehört“ haben Journalist:innen der europäischen Mediengenossenschaft Investigate Europe umfangreiche Recherchen zum Finanzinvestor Blackrock zusammengetragen. Dieser habe „eine grössere Wirtschaftsmacht als nahezu aller Staaten der Welt“[7]. Im September 2020 fand in Berlin ein Blackrock-Tribunal statt, initiiert von dem kurz darauf verstorbenen Politikpofessor Peter Grottian und Werner Rügemer. Nach der Beweisaufnahme verlangte das Urteil des Tribunals die Auflösung des Unternehmens und die Offenlegung aller Geschäftsunterlagen. Volkswirtschaftlich nützlichen Teile sollten in öffentliche Hand überführt und demokratisiert werden. Eine Fortsetzung ist geplant [8].

Daten als profitabler Rohstoff

Die ohnehin schon alltagsbestimmende Digitalisierung hat mit Corona einen weiteren Schub und eine scheinbar alternativlose Akzeptanz erfahren. Der Onlinehandel boomt, mit Verweis auf den Infektionsschutz soll mit Karten statt Bargeld bezahlt werden, Eintrittskarten für Kultur oder Schwimmbäder sind zunehmend nur online zu erwerben. Statt Präsenzunterricht oder persönlicher Treffen wird die Kommunikation in Videokonferenzen distanziert und körperlos, auf Worte reduziert. Keine Pausengespräche und kein persönlicher Augenkontakt mehr, der doch auch ohne Worte so viel sagen kann.

Jede digitale Handlung legt Spuren, die in grossen Mengen (Big Data) gesammelt das ermöglichen, was die Digitalindustrie euphemistisch als „künstliche Intelligenz“ bezeichnet. Auch wenn es nur Geräte sind, die mit Algorithmen mechanisch Schlussfolgerungen ziehen, so stellen doch die Daten einen profitabel verwertbaren Rohstoff dar. Um riesige Datenmengen verarbeiten zu können, wird der neue Mobilfunkstandard 5G flächendeckend ausgebaut, obwohl Gesundheitsrisiken nicht ausgeschlossen werden können, wie die NGO Diagnose Funk immer wieder betont [9]. Und wer fragt schon nach Datenschutz, wenn es dem Schutz vor Corona dient?

Massenhafte Corona-Tests produzieren massenhaft Daten. Die Gruppe Zerforschung fand mehrfach Datenlecks und konnte Zigtausende Testdaten auslesen [10]. Auch die Luca-App weist Sicherheitslücken auf, der Chaos Computer Club kritisierte: „Zweifelhaftes Geschäftsmodell, mangelhafte Software, Unregelmässigkeiten bei der Auftragsvergabe“ [11].

Seit dem Jahr 2000 verleiht Digitalcourage (damals noch FoeBud) den Schmähpreis BigBrotherAward. Ein Preisträger 2021 ist die Proctorio GmbH für den „vollautomatischen Prüfungsaufsichtsservice“, der mithilfe der Überwachung der Blicke von Studierenden bei Online-Prüfungen Täuschungsmanöver erkennen soll. Die Doctolib GmbH wurde für die Vermittlung von Arztterminen über ihre Plattform ausgezeichnet, weil sie die Daten unter Missachtung der Vertraulichkeitsverpflichtung verarbeitet und für kommerzielle Marketingzwecke nutzt.

Einen Preis erhielt auch der Philosoph und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Julian Nida-Rümelin, für seine öffentlich mehrfach geäusserte Behauptung, dass Datenschutz die Bekämpfung von Corona erschwert und Tausende von Toten zu verantworten habe. Demgegenüber betont Laudator padeluun (Pseudonym eines Künstlers und Netzaktivisten): „Datenschutz tötet nicht. Datenschutz ist die dünne Membran, die uns alle vor der Barbarei staatlicher und kommerzieller Übergriffigkeiten schützt“ [12]. Der aktuelle Skandal um die Spionagesoftware Pegasus bestätigt dies.

Weltzerstörung oder „System Change“

Mit Corona hat die Geld- und Machtkonzentration sich verschärft. Biotechnologische und digitale „Lösungen“ für die emotional hoch aufgeladene Bedrohung sind nahezu unhinterfragbar geworden und bekommen damit – ebenso wie ihre industriellen Anbieter – eine Akzeptanz, die profitable Geschäfte auch für absehbare zukünftige Krisen verspricht. Das kann gar nicht genug angeprangert werden. 1973 erschien von Bernt Engelmann und Günter Wallraff das Buch „Ihr da oben – wir da unten“, die Verhältnisse schienen klar.

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Heute wird denjenigen, die Eliten kritisieren, oft viel zu schnell vorgeworfen, Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Dabei ist doch dieses Gefühl, dass „die da oben“ ihre eigenen Interessen verfolgen und sich bereichern, zutreffend und legitim, auch wenn es nicht mit Sachkenntnis und gewählten Worten formuliert wird. Statt ideologischer Grabenkämpfe wären soziale Kämpfe um reale Macht angesagt, und das solidarische Teilen von Bildungs- und Wissensprivilegien, statt sie als Waffen gegen Aufbegehrende einzusetzen, und diese damit möglicherweise sogar den Rechten in die Arme zu treiben, die auch als Profiteure der Corona-Krise gelten können.

Corona hat gezeigt, wie verletzlich das ist, was hierzulande bislang als alltägliche Normalität galt – dass existenzielle Bedrohungen anderenorts längst zum Alltag gehören, verweist auf die Ignoranz der Nutzniessenden einer „imperialen Lebensweise“ [13]. Hinter Corona schien die Klimakatastrophe zu verschwinden, bis sie mit den katastrophalen Unwettern im Juli 2021 auch in Deutschland unübersehbar wurde. Plötzlich trifft auch dies Bedrohliche nicht „die Anderen“, sondern es rückt näher, und all dies ist vermutlich erst ein Anfang.

Die in strukturellen Wachstumszwängen gefangenen und oft genug auch aus persönlichen Bereicherungswünschen handelnden Machthabenden werden die Bedrohungen durch absehbar kommende Krisen verschärfen, statt deren Ursachen endlich zu stoppen. Unabhängig davon, ob Corona von Tieren übertragen oder in einem Labor gezüchtet wurde, ist das Virus ebenso wenig eine Naturkatastrophe wie der Klimawandel. Beides entspringt einem System, das mit patriarchalem Machbarkeitseifer für Wachstum und Profite Menschen ausbeutet und Natur zerstört.

Dieses System scheint an sein Ende zu kommen, jedenfalls wenn es noch eine lebenswerte Zukunft geben soll. Wann, wenn nicht jetzt, wäre also der Moment aufzustehen, das Bestehende grundsätzlich in Frage zu stellen, nicht nur „die Welt ein bisschen besser zu machen“, sondern mit aller Kraft zu versuchen, diese Welt ganz anders zu machen im Sinne des vielbeschworenen „System Change“?

Fussnoten:

[1] https://www.centerforhealthsecurity.org/event201/

[2] Tagungsdokumentation: https://www.brot-fuer-die-welt.de/blog/2020-konferenz-dokumentation-win-win-oder-win-lose/

[3] https://www.cognitoforms.com/MultistakeholderismActionGroup/CorporateCaptureOfGlobalGovernanceTheWorldEconomicForumWEFUNPartnershipAgreementIsADangerousThreatToUN

[4] https://www.cognitoforms.com/MultistakeholderismActionGroup/TimeForADemocraticResetGlobalCrisesNeedGlobalGovernanceInThePublicInterest

[5] Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure. PapyRossa, Köln, 2. Auflage 2020.

[6] Werner Rügemer zu Blackrock, Input am 11.01.2021 in der Online-Veranstaltung „Corona und linke Kritik(un)fähigkeit, Teil 4“: https://vimeo.com/499610632

[7] Der Konzern, dem die Welt gehört: https://www.investigate-europe.eu/de/2018/blackrock-das-unternehmen-dem-die-welt-gehoert/

[8] https://www.blackrocktribunal.de/

[9] https://www.diagnose-funk.org/

[10] https://zerforschung.org/

[11] Pressemitteilung vom 12. April 2021: https://www.ccc.de/de/updates/2021/luca-app-ccc-fordert-bundesnotbremse

[12] Laudatio vom 11.06.2021: https://bigbrotherawards.de/2021/public-intellectual-julian-nida-ruemelin

[13] Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. Oekom, München, 2017.

Erschienen im Herbst 2021 in: Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck (Hg): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“. AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2021, 240 Seiten, 19 Euro: http://www.agspak-buecher.de/epages/15458842.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/15458842/Products/%22M%20356%22

Grafikquellen          :

Oben     —        Corona-Impfzentrum in den Messehallen in Hamburg

Author Hinnerk11       /         Source   :     Own work     /   Date    :  16 January 2021, 14:52:45

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2.) von Oben        —       Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 19. Wahlperiode des Bundestages.

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Die Grenzen Europas

Erstellt von Redaktion am 24. Oktober 2021

Geflüchtete zwischen Polen und Belarus

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Was von den Livre inszeniert – wird von hörigen  Uniformierten brav ausgeführt! wer bleibt hier noch Mensch ?

Von Christian Jakob

Pushbacks an den EU-Außengrenzen sind rechtswidrig. Diesen Grundkonsens hat Polens Regierung nun aufgekündigt. Innenminister Seehofer gratuliert dazu.

„Wir werden nicht verhungern, wir werden erfrieren.“ Das sagte einer von 31 Afghanen, die eingekesselt von Soldaten zweier Nationen und Systeme seit nunmehr zwölf Wochen im Grenzstreifen zwischen Polen und Belarus festsitzen, der ARD-Reporterin Isabel Schayani am Telefon. Am Dienstag war das. In der folgenden Nacht fiel die Temperatur in der Region auf null Grad. Am nächsten Tag griffen Grenzpolizisten in der Nähe eine Gruppe von 42 Irakern auf. Unter ihnen war eine Frau, die zuvor in dem Waldgebiet ein Kind geboren hatte. Ohne Beisein eines Arztes, versteht sich. Denn die dürfen das Gebiet nicht betreten.

Am selben Tag ging beim polnischen Innenminister ein Brief vom deutschen Kollegen Horst Seehofer (CSU) ein. „Gerade im Hinblick auf die schwierigen politischen Verhältnisse in den Beziehungen zu Weißrussland möchte ich Ihnen und dem polnischen Grenzschutz für den Schutz unserer gemeinsamen Außengrenze danken“, schrieb der.

Rund 20.000 Versuche von Menschen, aus dem Grenzgebiet herauszukommen, haben Polens Polizei und Militär unterbunden, teils mit Hunden oder Tränengas. Wie viele Personen heute insgesamt in dem Grenzstreifen sitzen, weiß niemand. Es können Hunderte sein oder Tausende. Zuletzt gab es öfter Berichte, die die sogenannten Pushbacks offenlegten, vor allem in Griechenland und Kroatien. Zumeist stritten die jeweiligen Regierungen den Vorwurf ab, trotz teils erdrückender Belege. Wenn es Videos gab, wie sie etwa die ARD und ein kroatischer Sender nach monatelangen Recherchen im Grenzgebiet zu Bosnien-Herzegowina Anfang Oktober präsentieren konnten, wurden die Vorfälle als Taten einzelner Polizisten abgetan: Die Männer hätten „individuell gehandelt, und es hätte keinen Befehl dafür gegeben“, sagte etwa Kroatiens Polizeichef Nikola Molina in der vergangenen Woche über die Beamten, die Flüchtlinge durch den Wald prügelten und dabei heimlich gefilmt wurden. Hätte es je eine solche Anweisung gegeben, hätten die Polizisten das melden müssen, weil es sich um eine Straftat handele, so Molina.

Es war eine groteske Lüge, angesichts vieler Tausender dokumentierter Fälle dieser Art aus Kroatien in den vergangenen Jahren. Doch es ist eine Lüge, über die man noch froh sein kann. Denn wie auch andere Staaten, die in der Vergangenheit bei den illegalen, gewaltsamen Pushbacks erwischt wurden, stellte Kroatien den Konsens, dass diese nicht zulässig sind, nicht in Frage.

Untersuchungen angekündigt

Für die konkret betroffenen Flüchtlinge mag dies keinen Unterschied machen. Für die politischen Interventionsmöglichkeiten ist der Unterschied gewaltig. Die prinzipielle Anerkennung des Unrechts ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, überhaupt gegen diese Art der systematischen, staatlichen Menschenrechtsverletzung vorgehen zu können: Mit medialer Skandalisierung, mit Demons­trationen, mit Klagen, mit politischer Verurteilung, mit Sanktionen. Polen ist gerade dabei, diese Handhabe zu zerstören. Das Land behandelt die Flüchtlinge ähnlich brutal und entrechtend wie andere EU-Staaten. Aber es steht offen dazu. Es ist der Regierung in Warschau nicht peinlich, sie ist vielmehr stolz darauf. Das schneidet Interventionsmöglichkeiten weitgehend ab.

2018-11-29 Besuch BM Horst Seehofer bei MP Reiner Haseloff in Magdeburg 1956.jpg

Wo der Freistaat beginnt – übernimmt der Uferlose das Kommando ?

Die Grenzpolizei veröffentlicht ohne eine Spur von Unrechtsbewusstsein stets aktuelle Zahlen der Pushbacks und nennt diese „Grenzverteidigung“. Semantisch vorbereitet ist dies mit der Rede vom „hybriden Krieg“, der von Lukaschenko und Putin gegen Warschau und die EU geführt werde und in dem die Flüchtlinge als Waffen eingesetzt würden. Bestärkt wird sie in dieser Haltung von Seehofer. Auch er sprach vom „hybriden Krieg“, nannte die Flüchtlinge eine „Bedrohung“ – und dankte, wie erwähnt, Polen ausdrücklich.

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Grandios geglückt
Onlinekarte Moving Cities für Geflüchtete

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Wo die Ohren größer als die Köpfe wachsen.

Von David Muschenich

Europas Nationalstaaten suggerieren stets, bei ihnen sei kein Platz für Geflüchtete. Sie diskutieren Migration ausschließlich als Problem. Um jeden Preis verhindern, dass Menschen Zuflucht finden, lautet die zynische Lösung der Regierungen.

Dafür nehmen sie Tote in Kauf. Im Niemandsland zwischen Belarus und Polen erfrieren gerade Menschen, seit Jahren ertrinken Tausende beim Versuch über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Sie fliehen vor Krieg und Gewalt, dafür verantwortlich sind auch die Nachwirkungen kolonialer Eroberung und die Verwüstungen von Klimawandel und neoliberalem Kapitalismus.

Das alles ist unerträglich. Aber was können wir Einzelne, was kann die Zivilgesellschaft tun? Vor Ort helfen, den Menschen Medizin, Essen, eine Rettungsweste bringen. Das hilft. Aber es rettet zu wenige und ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Doch es gibt in Europa längst viele Projekte, die vorleben, wie man geflüchteten Menschen helfen könnte. Die Onlinekarte Moving Cities dokumentiert, wie sich in den vergangenen Jahren mehr als 700 Städte in Europa mit Geflüchteten solidarisierten. Hinter der Karte stehen rund 20 Organisationen wie Seebrücke, Rosa-Luxemburg- und Heinrich-Böll-Stiftung.

Die Strategien von 28 Städten werden ausführlich vorgestellt.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Arbeitsbesuch FRONTEX Malta. Bundesminister Sebastian Kurz besichtigt eine Simulation eines Grenzüberwachungseinsatzes auf einem FRONTEX Schiff. 24.03.2017, Foto: Dragan Tatic

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KOLUMNE – AUFRÄUMEN

Erstellt von Redaktion am 22. Oktober 2021

War Hitler etwa kein Rassist?

Hallo  —-    HIER bin ich !

Von Viktoria Morasch

Rassismus gegen Weiße gibt es nicht, heißt es immer wieder. Das ist geschichtsvergessen – und eine Beleidigung für Millionen Mi­gran­t*in­nen.

Kurz nachdem Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine der Opfer des Massakers von Babyn Jar gedacht hat, diskutiert man hierzulande wieder darüber, ob es Rassismus gegen Weiße gibt. 80 Jahre nach dem Überfall der Nazis auf die Sowjetunion – wir erinnern uns: ein rassenideologischer Vernichtungskrieg mit dem Ziel, „Lebensraum“ zu schaffen –, nach mindestens 24 Millionen sowjetischen Opfern, sagen Deutsche, die stolz darauf sind, ein paar Fetzen des sogenannten rassismuskritischen Diskurses mitgekriegt zu haben: Rassismus gegen Weiße? Hat es nie gegeben! Gratuliere zu dieser sagenhaft dummen Einsicht.

Rassismus gegen Weiße mag sich von dem gegen Schwarze unterscheiden, sehr sogar, aber es gab und gibt ihn. So kompliziert ist es leider. Und alle, die sich jetzt freuen, „Rassismus!“ rufen zu dürfen, wenn jemand sie Kartoffel nennt – einfach psssssssst.

Das Problem ist: Man ist zu faul, passende Begriffe zu finden und übernimmt welche aus den USA. Aber Menschen in Kategorien zu stecken, geht eh meistens schief, und wenn die dann noch aus einem anderen Kontext stammen, bringt das nichts als Verwirrung. Bestes Beispiel: Die Kategorie „weiß“. Mal ist eine Hautfarbe gemeint, mal eine Position im gesellschaftlichen Machtgefüge. Am Ende kommt etwas raus wie: Europäische Juden sind weiß, aber wenn sie eine Kippa tragen, sind sie es nicht. Wer soll damit was anfangen? Warum benutzen wir nicht Worte, die nicht auf Farben verweisen, um Klarheit zu schaffen? Weil es am Ende doch oft um Farben geht. Und um Augenformen und Haare.

Eine Studie mit Rassenkategorien

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Die Uni Rostock brachte zusammen mit der MaLisa-Stiftung Anfang des Monats eine Studie heraus. Es ging unter anderem darum, wie gut „Menschen mit Migrationshintergrund und Schwarze Menschen/People of Colour“ in den Medien repräsentiert sind. Um das auszuwerten, legten die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen eine Schautafel an, mit, man kann es nicht anders nennen, Rassenkategorien. „Südostasiatisch/Ostasiatisch (erkennbar an der Form der Augen)“ steht da zum Beispiel, Bilder entsprechender Asia­t*in­nen sind auch dabei. Dann machten die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen den Fernseher an und schrieben denen, die sie sahen, munter ethnische Zugehörigkeiten zu. Die Kategorie „weiß“ vernachlässigten sie, weil: Eine Schwedin, nur so als Beispiel, erfahre in Deutschland keinen Rassismus. Eine Schwedin?

Quelle        :     TAZ         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Bundespräsident Steinmeier am 31. August 2017 bei einem Besuch in Münster.

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Wahlfiasko, Behördenmurks

Erstellt von Redaktion am 21. Oktober 2021

Eine Liebeserklärung an den »failed state« Berlin

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Das ist nicht Berlin, das ist Deutschland – Berlin zeigt sich nur als stinkender Kopf.

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Warum Berlin so dysfunktional ist? Die Stadt wurde nicht einfach nur kaputtgespart. Es liegt auch an der Niemandsverantwortung, der bürokratischen Entsprechung des Niemandslands.

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Eine Identitätsdebatte ?

Erstellt von Redaktion am 16. Oktober 2021

Oder: Das Comeback des Privilegs

Von Markus Rieger-Ladich

Das Privileg ist zurück. Lange galt der Begriff als etwas verstaubt, wirkte aus der Zeit gefallen. Doch nun ist er wieder in aller Munde und munitioniert aktuelle Debatten: Schon als sich abzeichnete, dass es bei der Herstellung der Impfstoffe gegen Covid-19 zu Verzögerungen kommen würde, setzte umgehend eine Diskussion darüber ein, welche Bevölkerungsgruppen bevorzugt geimpft werden sollen. Dabei wurde nicht allein die Frage aufgeworfen, wie sich eine solche „Priorisierung“ ethisch legitimieren lasse, sondern es stand prompt der Verdacht im Raum, dass Angehörige der „besseren Kreise“ von ihren Kontakten profitieren und eine bevorzugte Behandlung erfahren könnten. Und umso stockender die Impfkampagne derzeit fortschreitet, desto lauter werden die Forderungen, immunisierte Bürger*innen von den bisher geltenden Einschränkungen zu befreien – worin manche wiederum ein ungerechtfertigtes „Impfprivileg“ sehen wollen. Welch ironische Wendung: Denn was hier als Privileg kritisiert wird, sind schließlich die Grundrechte, die jederfrau und -mann zustehen, ohne dass es dafür eines besonderen staatlichen Gnadenaktes bedürfte.

Das Comeback des Privilegs hatte sich freilich schon zuvor abgezeichnet. Zunächst ein terminus technicus der Rechtswissenschaft, wurde dieser in den 1960er Jahren in der Bildungssoziologie aufgegriffen, erweiterte seinen Bedeutungsumfang und trat vor etwa dreißig Jahren eine Reise an, die ihn in neue diskursive Kontexte führte. Seither spielt das Privileg vor allem in identitätspolitischen Debatten eine zentrale Rolle – und droht dabei paradoxerweise gerade durch eine verstärkte moralische Aufladung seine kritische Schärfe zu verlieren.

Klassenkampf im Klassenzimmer

Etymologisch verweist Privileg auf einen herausgehobenen Status, auf eine charakteristische Bevorzugung. Zusammengesetzt aus lateinisch privus(einzeln, eigen, besonders) und lex (Gesetz), wurden damit im Mittelalter Personen und soziale Gruppen gekennzeichnet, die im weltlichen oder kirchlichen Bereich ein Vorrecht genossen. Während andere Abgaben entrichten mussten und einer Steuer unterworfen waren, blieben sie davon freigestellt. Privilegiert zu sein, bedeutet daher zunächst, das Anrecht auf eine Sonderbehandlung zu besitzen und anderen Personen gegenüber beträchtliche Vorteile zu genießen. Erst in der Aufklärung geriet diese weit verbreitete Praxis der Begünstigung in die Kritik: Die Beseitigung aller Privilegien durch die Französische Nationalversammlung vom 4. August 1789 bezog sich zwar zunächst nur auf das revolutionäre Frankreich, besaß aber gleichwohl „eine gesamteuropäische Signalwirkung“.[1] Nichtsdestotrotz kennen auch zeitgenössische Rechtssysteme das Instrument des Privilegs. So wird etwa in den USA bis heute mit der Green Card ganz gezielt die Einwanderung gesteuert.

Damit leuchtet unmittelbar ein, weshalb der Terminus für jene Soziolog*innen attraktiv ist, die sich um eine herrschaftskritische Analyse pädagogischer Einrichtungen bemühen. Als Angehörige einer privilegierten sozialen Klasse gelten ihnen jene, die nicht nur über hohes ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital verfügen, sondern die darüber hinaus auch den Anspruch verkörpern, dass ihnen dieses rechtmäßig zusteht. Obwohl moderne Gesellschaften überwiegend wettbewerbsförmig organisiert sind und weitgehend Übereinkunft darüber herrscht, dass herausgehobene Positionen an den Nachweis besonderer Leistungen geknüpft werden sollen, vertreten manche gleichwohl die Auffassung, dass ihnen eine Sonderbehandlung zusteht – dass sie sich der Konkurrenz also nicht in derselben Weise stellen müssen.[2]

Die Angehörigen der „privilegierten Kreise“ haben daher keinerlei Interesse an einem Bildungssystem, das individuell zurechenbare Leistungen ins Zentrum rückt und den Wettbewerb um Zeugnisse und Berechtigungen verschärft. Lange Zeit schickte man die eigenen Sprösslinge aufs Gymnasium und konnte darauf vertrauen, dass die Lehrer*innen die habituelle Passung honorierten und bei der Beurteilung von deren Leistungsfähigkeit hinreichend großzügig waren. Man blieb unter sich. Überdies konnte man von dem pädagogischen Personal erwarten, dass es – falls dies doch einmal nötig sein sollte – geeignete Maßnahmen ergreifen würde, um die Bemühungen derer zu unterbinden, die ihren Kindern nun ebenfalls den Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung ermöglichen wollten. Es ist diese Vorstellung einer besonderen Privilegierung, die in einer bemerkenswerten Einlassung Helmut Schelskys zum Ausdruck kommt. Der bestens vernetzte Soziologe, der sich auch in der Hochschulpolitik engagierte, sprach Mitte der 1950er Jahre mit Blick auf die aufstrebende Mittelschicht von „unberechtigte[n] Sozialansprüche[n]“. Es gelte, deren Aufstiegsambitionen durch eine „Dauererfahrung des Scheiterns“ zu begegnen.[3]

Solche Formen der Instrumentalisierung des Bildungswesens waren es, die Pierre Bourdieu und seine Mitarbeiter*innen in den 1960er Jahren zu erforschen begannen. Sie deckten das Zusammenspiel von sozialer Herkunft, kultureller Praxis und schulischer Ordnung, von privilegierter Stellung, Unterrichtsstil und Bewertungspraxis auf. In theoretischen Beiträgen wie auch in empirischen Forschungen wiesen sie nach, dass Privilegien dann besonders wirksam der Kritik entzogen werden, wenn sie im Kleid individueller Begabungen und persönlicher Fähigkeiten auftreten, wenn sie also den Blick auf die unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen verstellen.[4] In der Folge werden nicht allein die Gewinner*innen des ungleichen Wettkampfs mit der Aura der Bestenauslese versehen, sondern die Verlierer*innen überdies dazu genötigt, als Ursache der Niederlage die vermeintliche eigene Unzulänglichkeit anzunehmen. Insbesondere in Frankreich, wo die Einrichtungen des Bildungswesens lange als Garanten der Ziele der Revolution galten und die Förderung des Einzelnen in strenger Absehung von seiner sozialen Herkunft betrieben werden sollte, sorgte der Nachweis, dass der Klassenkampf längst auch im Klassenzimmer ausgetragen wird, für große Empörung. Diese Befunde gelten grosso modo auch für den deutschsprachigen Raum.[5]

Es ist nun kein Zufall, dass es Vertreter*innen der Queer Studies sowie der Gay and Lesbian Studies waren, die sich mit besonderem Nachdruck dafür aussprachen, den Begriff des Privilegs auch bei der Analyse anderer Herrschaftsverhältnisse zu erproben. Didier Eribon etwa – in der französischen Provinz in einem proletarischen, homophoben Milieu aufgewachsen – forderte in seinen „Betrachtungen zur Schwulenfrage“,[6] nicht allein das „Klassenprivileg“ in seiner Funktionsweise zu analysieren, sondern auch die Aufrechterhaltung anderer Privilegien zum Gegenstand zu machen. Etwa jenes, in einer von Heterosexualität geprägten Gesellschaft der Norm zu entsprechen und in der Öffentlichkeit die Person, die man begehrt, küssen zu können, sie heiraten oder im Krankheitsfall in der Klinik besuchen zu dürfen. Stets werden hier Berechtigungen an die Zugehörigkeit zu einer dominanten sozialen Gruppe geknüpft, an die Bestätigung der etablierten Norm und der herrschenden Kräfteverhältnisse.

Verschränkte Diskriminierungen und besondere Begünstigungen

Diese Ausweitung des Begriffsgebrauchs hatte einen Vorlauf: Er resultierte aus Diskussionen, die schon einige Jahre zuvor innerhalb feministischer Gruppen geführt worden waren. Als besonders folgenreich erwies sich eine Intervention afroamerikanischer Aktivistinnen aus Boston. Das Combahee River Collective warf in einem Positionspapier von 1977 weißen Mittelklasse-Frauen vor, einen „Feminismus der Privilegierten“[7] zu vertreten und wandte sich gegen rassistisch, sexistisch oder homophob motivierte Formen der Unterdrückung. Um deren Verschränkungen untersuchen zu können, sei es jedoch zwingend notwendig, die Fixierung auf Probleme der weißen Mittelschicht zu überwinden. Erst wenn das Zusammenspiel unterschiedlicher Ideologien der Ungleichheit – etwa von Sexismus und Rassismus – analysiert würde, könne ein Instrumentarium entwickelt werden, mit dem sich die herrschenden Verhältnisse in ihrer Komplexität eingefangen und analytisch durchdringen ließen. Solange jedoch Weißsein als unhinterfragte Norm betrachtet werde, als vermeintlich neutraler Ausgangspunkt der politischen Analyse, erscheine Rassismus als das zu vernachlässigende, weniger drängende Problem einer Randgruppe.

Stellen die darauf folgenden Forschungen zur Intersektionalität folglich Diskriminierungserfahrungen in den Vordergrund, lenken Studien, die Privileg und Privilegierung thematisieren, das Augenmerk auch auf gegensätzliche Erfahrungen. Sie untersuchten, was die individuelle Entfaltung von Angehörigen sozialer Gruppen begünstigt und befördert. Wegweisend war dabei ein Arbeitspapier, in dem die Feministin Peggy McIntosh das Loblied auf die Meritokratie als verlogene Selbstbeschreibung entlarvte.[8] Die Annahme, dass in den liberalen Gesellschaften des Globalen Nordens Talent und Eifer, Fleiß und Engagement zuverlässig und angemessen belohnt werden, erweise sich als Chimäre. In der Tat wird der faire Wettbewerb, in dem sich die klügsten Köpfe durchsetzen, zwar allenthalben beschworen, prägt aber weder pädagogische Einrichtungen noch jene des wissenschaftlichen Feldes.[9]

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In ihrem Beitrag wählte McIntosh eine anschauliche Metapher, um die Funktionsweise von Privilegien zu erklären:[10] Sie gleichen einem Rucksack, der eine Vielzahl wichtiger Dinge enthält – Pässe und Visa, Versicherungspolicen und Blankoschecks, aber auch Werkzeuge, Stadtpläne und Kleidungsstücke. Gleichwohl ist der Rucksack federleicht und überdies unseren Blicken entzogen, weil wir ihn üblicherweise auf dem Rücken tragen. Eine privilegierte Person, die sich etwas zum Ziel gesetzt hat – eine Ausbildung, ein Studium oder den Eigentumserwerb samt vorheriger Kreditaufnahme – und entsprechende Vorkehrungen trifft, berücksichtigt daher in aller Regel nicht, dass sie dabei anderen Personen gegenüber im Vorteil ist. Selbst wenn sie lediglich ihren Interessen nachgeht, also das verfolgt, was sie als ihre „persönliche Vorlieben“ betrachtet, wenn sie sich jenseits von Wettbewerbsstrukturen oder Konkurrenzbeziehungen wähnt, profitiert sie doch von den Dingen, die sie in ihrem Rucksack mit sich führt. Und sie ist mindestens irritiert, wenn nicht gar verärgert oder aufgebracht, wenn sie auf diesen vorteilhaften Umstand angesprochen wird. Am Beispiel von Männlichkeit, die nun ebenfalls als Privileg in den Blick gerät, erläutert McIntosh dieses Phänomen: Selbst reflektierte, kluge und sensible Männer werden, so ihre Beobachtung, bisweilen ungehalten, wenn sie mit der Tatsache konfrontiert werden, dass auch sie – ob willentlich oder nicht, ob wissentlich oder nicht – von der „patriarchalen Dividende“[11] profitieren, also in einer patriarchalen Gesellschaft systematisch bevorzugt werden.

Quelle         :     Blätter-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben      —      Photos taken during the 2020 coronavirus pandemic in Baliuag, Bulacan Timeline of the 2020 coronavirus pandemic in the Philippines 2020 coronavirus pandemic in the Philippines Bayanihan to Heal as One Act (RA 11469) Bayanihan Act of 2020. Signed on March 24, 2020 7,958 Covid-19 cases in Philippines April 28; 12,933 as of May 19, 2020; 14,669 Covid-19 cases in Philippines May 26; 886 deaths; Covid-19 cases in Philippines June 2 – 18,997 and 966 deathsJune 23 1,150 single-day rise in COVID-19 cases; total now 31,825; June 25- 32, 295, 1,104 deaths; June 26- 33, 069, 1,112 deaths; June 27 Confirmed 34,073 Recovered 9,182 Deaths 1,124; June 28 35,455 Deaths 1,244 June 29 Confirmed 36,438 and 1,255 deaths June 30 – 37,514 COVID cases Category:Sitios and puroks of the Philippines Subdivisions of the Philippines Barangay Poblacion 14°57’17″N 120°54’2″E, Bagong Nayon and Pagala, Baliuag, BulacanBulacan province (Note: Judge Florentino Floro, the owner, to repeat, Donor FlorentinoFloro of all these photos hereby donate gratuitously, freely and unconditionally Judge Floro all these photos to and for Wikimedia Commons, exclusively, for public use of the public domain, and again without any condition whatsoever).

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Die Pandora Papers 

Erstellt von Redaktion am 11. Oktober 2021

Wie konnte all das nur geschehen?

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Fragt man sich verwundert angesichts der unglaublichen Bereicherung von Mächtigen und Politikern auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung. Jetzt gibt es weltweit keine Ausflüchte mehr, dass das alles nur ein Missbrauch unserer freien Marktwirtschaft sei. Nein, Pandora zeigt wieder und jetzt mit nie dagewesener Wucht, dass und wie die Eliten aus Politik und Finanzen sich weltweit durch „Plündern“ öffentlicher Kassen bereichern und sich dabei auf Gesetzte stützen, an denen sie selbst mitgewirkt haben, sei es direkt oder über die überall gepflegte Lobby. Nein, das ist kein Missbrauch unserer kapitalistischen Marktwirtschaft, sondern Kapitalismus in Reinform, der jetzt allen seine widerliche Fratze zeigt.

Diese Eliten und Finanzkonstrukte, die wir allzuoft ob ihrer Gestaltungskunst geradezu bewundert haben, sind tatsächlich und bewusst in einer Weise tätig, dass Land, Leute und Geld ihre soziale Bedeutung verloren haben und zu handelbarer Masse verkommen sind. Außer den ruchlosen Akteuren kann sich die breite Öffentlichkeit nicht erklären oder vorstellen, wie wir in einem globalen System verfangen sind, in dem große Vermögen unversteuert und vor der Öffentlichkeit bewusst verborgen „offshore“ , also außerlandes verschoben werden. Naiv sind wir immer wieder auf die Propaganda der Kapitalisten hereingefallen, dass Arbeit reich mache, und haben übersehen, wie wir in eine tiefe soziale Spaltung in unserem Land geschlittert sind. Während es für Normalbürger verständlich ist, dass sie die räuberischen Schliche nicht verstehen, darf sich die gebildete Elite nicht einbilden, hier besonders schlau gehandelt zu haben. Es ist einfach ruchlos, wie diese Elite uns als Verbraucher missbraucht und unsere Sozilasystme plündert,imdem sie an sich geschuldete Beiträge zu unserem Gemeinwohl arrogant und willentlich verweigert.

Wenn selbst Anwälte und Steuerberater diese Machenschaften nicht auf Anhieb durchschauen, müssen wir uns nicht unbedingt einen Vorwurf wegen unserer Unkenntnis machen. Durch die Pandora Papers sind jetzt aber unsere Augen geöffnet, und weder wir noch die von uns gewählten Politker können uns/sich mit der faden Erklärung einlullen, dass wir doch alles tun, um den Kapitalismus zu bändigen bzw. zu reformieren. Bisher hat die Politik dazu so ziemlich alles falsch gemacht, hat möglicherweise aus Eigennutz solche Umtriebe zugelassen und ist so vom Bock zum Gärtner geworden. Heute wissen wir zumindest, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

Tony Blair  —  Und der Haifisch, der zeigt Zähne    …………

Und kein Bock darf zu groß sein, dass man ihm die Hörner nicht stutzen könnte. Die rein formal für viel Geld juristisch korrekt konstruierten Briefkastenfirmen müssen aus unserem Wirtschaftssystem verschwinden. Ihr einziger Zweck ist die Anonymität und damit das Verbergen von Vermögen und Geldströmen zum Nachteil des Gemeinwohls. Daher müssen wir unsere Politiker knallhart wegen ihrer nicht gehaltenen Versprechen und schlecht gemachten Gesetze (wenn überhaupt) und Regelungen zur Rechenschaft und angemessenem Handeln zwingen. Allein der Gedanke, dass ein führender Politiker ein BlackRock-Mann ist, muss uns kalte Schauern über den Rücken jagen. Eine solche Personalie gehört ausgemerzt.

Urheberecht
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Das liberalste Schland ?

Erstellt von Redaktion am 12. September 2021

Was das liberalste Deutschland, das es je gab, alles nicht aushält

Lieber tanz ich als G20! 09.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Renate Dillmann

Polizeigesetze, Versammlungs- und Pressefreiheit, Staatstrojaner. Die öffentliche Meinung in Deutschland ist sich weitgehend einig, dass es in dieser Welt indiskutabel repressive und autoritäre „Regime“ gibt: Nordkorea und China zählen mit Sicherheit dazu, auch Putins Russland und die Mullahs im Iran.

Und wenn man auch nicht so sehr viel weiss über diese Länder, ist man sich sicher: In diesen Ländern wird die Meinungs-und Pressefreiheit mit Füssen getreten, es herrschen Zensur und allgegenwärtige staatliche Überwachung, Proteste und Demonstrationen, so es sie überhaupt gibt, werden niedergeschlagen, Teilnehmer und Aktivisten mit übelsten Polizeistaat-Methoden behandelt.Warum ist das so? Die gängige Antwort lautet: Die dort regierenden Politiker haben keinen Respekt vor den Menschenrechten. Sie setzen den Machterhalt ihrer „Regime“, ob über Schein-Wahlen legitimiert oder nicht, über alles. Die deutsche Öffentlichkeit, ob Bürger oder Journalisten, verachten solche Staatswesen deshalb unisono.

Diese Verachtung begründet man damit, dass es „bei uns“ ganz anders zugeht. Hier in Deutschland sind Meinungs- und Pressefreiheit grundgesetzlich garantiert. Unsere Verfassung erlaubt Versammlungen und Demonstrationen. Als Lehre aus dem „Bösen“ des Nazi-Staats werden hohe rechtliche Ansprüche angelegt, wenn staatliche Exekutiv-Organe in diese Rechte eingreifen wollen. Geheime Dienste, die „natürlich“ auch das liberale Deutschland unterhält, um nach eigener Darstellung all diese Freiheiten gegen Gefahren von aussen und innen zu schützen, stehen unter der Kontrolle des Parlaments und machen ihre Resultate teilweise sogar öffentlich, in einem jährlichen „Verfassungsschutzbericht“ etwa. So ungefähr sieht das populäre Bild von der heutigen Staatenwelt aus.

Seltsames im Land der Guten und Freien

Schaut man – als in diesem Sinne politisch gebildeter Bürger oder von Sowi-Lehrern mit dem eigenen Staatswesen vertraut gemachte Schülerin – auf einige Ereignisse und Gesetzesvorhaben der letzten Zeit, müsste man eigentlich ins Grübeln geraten:

  • Der Chefredakteur einer angesehenen Online-Zeitung wird von Nato- und EU-Ausschüssen der Desinformation bezichtigt.
  • Die einzige linke Tageszeitung Deutschlands soll laut Bundesregierung finanziell in die Enge getrieben werden.
  • Der deutsche Verfassungsschutz darf die Kommunikation seiner Bürger in den Messenger-Diensten mittels Staatstrojaner mitlesen.
  • Das Demonstrationsrecht im grössten deutschen Bundesland soll massiv verschärft werden.
  • Eine Demonstration gegen dieses Vorhaben wurde von der Polizei gewaltsam attackiert.

Da vermutlich nicht alle diese Nachrichten allgemein bekannt sind, hier zunächst die etwas ausführlichere Version – mit den entsprechenden links.

  • In einer Studie der Nato, die auch die EU veröffentlicht hat, wird der Tatbestand der „Informationswäsche in Deutschland“ untersucht. Darunter fassen die Autoren journalistische Positionen, die Zweifel an (aussen)politischen Informationen bzw. Begründungen äussern. Untersucht werden die Themen COVID-19, EU-Sanktionen gegen Russland, Nord Stream 2 sowie die Vergiftung von Alexei Nawalny. Als Resultat wird der Tatbestand der „Desinformation“ festgehalten, als einer der „Hauptakteure“ wird neben Sputnik und RT Deutsch Florian Rötzer von Telepolis genannt. Rötzer hat im Fall Nawalny übrigens das getan, was guter Journalismus kann: Er lieferte gute Recherchen und fragte hartnäckig nach, z.B. hier.In Grossbritannien ist zu sehen, was passieren kann, wenn ein Journalist Regierungsinteressen in die Quere kommt: Craig Murray, früher britischer Diplomat und inzwischen Journalist, der beharrlich den Assange-Fall begleitet, ist unter Vorwänden zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Seine Berichterstattung wird die Fortsetzung dieses Verfahrens nicht mehr stören.
  • Anfang Mai 21 stellt sich die Bundesregierung nach einer Anfrage der Linkspartei explizit hinter die inzwischen gut fünfzehn Jahre andauernde Beobachtung einer linken Tageszeitung durch den Verfassungsschutz. Die dezidiert marxistische Position inklusive „Klassenbegriff“, Mobilisierung für linke Konferenzen und Demonstrationen sowie eine nicht genügende Distanzierung von Gewalt bei Befreiungsbewegungen der 3. Welt werden als Gründe angeführt; finanzielle Schädigung für die Tageszeitung als explizit gewollte Folgen genannt.
  • Am 25.6.21 wird dem Verfassungsschutz per Gesetz erlaubt, auf die sogenannten Messenger-Dienste zuzugreifen und verschlüsselte Kommunikation der Bürger mitzulesen.
  • Noch vor der Sommerpause 21 will die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ein neues Versammlungsgesetz verabschieden. Es erlaubt die (verdeckte) Überwachung und Aufzeichnung von Demonstrationen durch Drohnen und Hubschrauber; es verlangt (mehr) Daten über Anmelder und Ordner; es verbietet – ausser der sogenannten „Vermummung“, mit der Protestierende einer Identifizierung vorbeugen wollen – einheitliche Kleidung, mit der ein inhaltliches Anliegen, aber auch „Militanz“ ausgedrückt wird. Gerade will Bayern mit einem neuen Artikel im Polizeiaufgabengesetz nachziehen, das eine anlasslose Personenüberprüfung bereits vor dem Zutritt zu Veranstaltungen bzw. Demonstrationen gestattet.
  • Eine Demonstration gegen diese Pläne (Düsseldorf, 26.6.) wird von einem „massiven Polizeieinsatz“ „begleitet“, der den Geist des neuen Gesetzes vorweg nimmt. Die mediale Aufregung angesichts des behördlichen Einsatzes von „Reizgas und Einsatzmehrzweckstock“ (Presseerklärung der Polizei), stundenlanger Einkesselung von Hunderten Leuten, Abbruchs der Demonstration und vielen Verletzten (Video) gilt einem DPA-Fotografen, der zwischen die Fronten geraten war. Die Kommentare der Leser einer Düsseldorfer Zeitung bewegen sich zu einem nicht geringen Teil zwischen „der Fotograf wollte wieder mal nur die Polizeigewalt ablichten“ bis hin zu „geschieht der Antifa (wahlweise: den Kommunisten, den Chaoten, den Linken) sowieso Recht“…

Jugend gegen G20 02.jpg

Zusammengefasst: Nach aussen – Richtung China, Belarus, Russland oder andere übliche Verdächtige – laute Anklagen gegen mangelnde Presse- und Demonstrationsfreiheit. Im Innern ständig zunehmende Repression: geheimdienstliche Schikanen gegen eine linke Tageszeitung und einen unbequemen Journalisten; ein neues Polizei- und Versammlungsrecht, das deutlich auf Abschreckung, Unterordnung und Kriminalisierung von Demonstrationen zielt; eine Polizei, die das schon mal durchexerziert, und Bürger, die dabei applaudieren – ohne dass all das das Bild von der freiheitlichen Gesellschaft irgendwie ankratzen könnte. Man kann jetzt natürlich abwinken – nach dem Motto: Was geht’s mich an? Oder sagen: In China und Nordkorea ist es sicher noch schlimmer. Das mag sein. Obwohl zumindest auffallen könnte, dass man dieses Argument in seiner ganzen Abstraktheit durchhalten kann, ohne das Geringste über Presse, Öffentlichkeit, Staat und Polizei hier wie dort zu wissen.

Man kann natürlich auch voll dafür sein, dass die Linken, die ewigen Nörgler und die Antifa was „in die Fresse“ kriegen, weil man der Auffassung ist, dass damit alles besser wird in diesem schönen Land. Man kann sich genau umgekehrt in der trüben Meinung bestätigt sehen, dass Deutschland im Kern eben doch ein faschistisches Land ist, das jetzt wieder seinen wahren Charakter enthüllt. Oder – und das ist die Alternative, die ich hier vorschlage – man kann sich der Frage widmen, wie das alles zusammen gehört: Die Verankerung von Meinungs-,Presse- und Demonstrationsfreiheit im Grundgesetz, das Selbstbewusstsein von der Güte der deutschen Demokratie im Wettstreit der Staaten – und die oben zitierte Realität. Wen das interessiert, der sollte weiter lesen.

Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit

Die Gesellschaft, in der wir leben, beruht wesentlich darauf, dass ihre Mitglieder in wirtschaftlicher Konkurrenz zueinander versuchen, ihr „Glück zu schmieden“, also den für sie grösstmöglichen Vorteil zu erlangen. Dabei brauchen sie sich einerseits: der Verkäufer den Kunden, der Mieter den Vermieter, der Unternehmer die Arbeitskräfte. Andererseits stehen sie mit ihren Interessen gegeneinander: Was zu zahlen ist und was dafür geliefert werden muss, ist und bleibt notwendigerweise strittig. Selbst wenn in Kauf-, Miet- oder Arbeitsverträgen zu einem bestimmten Zeitpunkt darüber Einigkeit erzielt wird, versuchen alle Seiten, mit ihrer eigenen Willenserklärung so kreativ umzugehen, dass im Vollzug dann doch der Vertragspartner schlechter und man selbst besser fährt – Rechtsanwälte und Zivilgerichte leben von diesem Dauerstreit.

Was hat das mit unserem Thema zu tun? Viel! Es macht deutlich, warum in dieser Gesellschaft kaum zu erwarten ist, dass sich ihre Mitglieder in irgendetwas einig sind oder werden. Schon die simple Beschreibung eines x-beliebigen Gegenstandes wird verschieden ausfallen, je nachdem, wer mit welchem Interesse auf ihn schaut. Wie laut wird wohl die Wohnung neben der Eisenbahn in den Ohren eines potenziellen Mieters klingen – und wie leise in denen des Vermieters, der die Bude anpreisen will? Wie gut sieht der angebotene Gebrauchtwagen aus, wie sehr ist den Auskünften von Handwerkern zu trauen, wie wirtschaftsverträglich erscheint eine Lohnforderung? Eine „Objektivität“ kann es unter diesen Bedingungen nicht geben. Das liegt nicht daran, dass es so schwer wäre, sie tatsächlich zu ermitteln, sondern daran, dass es in dieser Art Streit gar nicht um so etwas wie die Wahrheit der Sache geht. Auf das jeweilige „Objekt“ richten sich unterschiedliche bis gegensätzliche Interessen, die die „Meinung“ über es notwendig subjektiv ausfallen lassen – je nach „Perspektive“ eben, wie jeder weiss.

Insofern gehört der freie Streit der Meinungen zu einer Gesellschaft konkurrierender Interessen essentiell dazu. Er findet seine Fortsetzung in einer pluralistischen Presse, die über das Weltgeschehen berichtet und dieses kommentiert. Das Handeln der Regierenden, der Zustand der Wirtschaft, die aussenpolitische Lage – sie sehen je nach Standpunkt der jeweiligen Redaktion sehr verschieden aus; je nachdem eben, ob aus christlicher, wirtschaftsliberaler oder arbeiterbewegter Sicht geschrieben wird.

Die durchgesetzte „Mainstream-Presse“ sorgt sich tagtäglich vor allem um den Erfolg der Nation, für die sie berichtet. Deshalb enthalten ihre Artikel – entgegen der journalistischen Selbstdarstellung von „erst Information, dann Kommentar“ – bereits in der Darstellung der angeblich „puren Fakten“ einen eindeutigen Bezug auf die nationalen Anliegen: Sie berichten selektiv, haben klare Freund-Feind-Kriterien und ordnen damit die wirtschaftlichen Erfolge, staatlichen Gewaltakte und Kollateralschäden der Weltordnung zuverlässig zu. In ihren Kommentarspalten sind sie dann notorisch kritisch – gegenüber dem unbefriedigenden Durchsetzungsvermögen der Regierung wie den Erfolgen der Nation auf allen denkbaren Feldern, von den Schlagern über den Sport bis hin zum Kriegseinsatz.

Das alles kann man vom Standpunkt des Bedürfnisses, Bescheid wissen zu wollen über den Lauf der Welt, eher ungünstig finden; die Mitglieder dieser Gesellschaft finden es aber im Normalfall völlig selbstverständlich, ja geradezu natürlich (wie soll es anders gehen?), dass Aussagen nicht objektiv, sondern interessegeleitet sind. Gewohnheitsmässig vermuten sie deshalb umgekehrt auch hinter jeder noch so nüchtern daherkommenden Sachaussage ein verborgenes Interesse und fragen, worauf ein Argument eigentlich „hinauslaufen“ soll, was der Sprechende also „eigentlich“ im Sinn hat mit seinem Gerede.

Die Garantie von Meinungs- und Pressefreiheit im Grundgesetz trägt dem Konstruktionsprinzip einer Konkurrenz-Gesellschaft Rechnung: Die freien und vor dem Recht gleichen Eigentümer, die nach ihrem Vorteil streben sollen, sind sich in nichts einig; sie formulieren ihre unterschiedlichen bis gegensätzlichen Anschauungen und Interessen in der Form von Meinungen und sie streiten in Form von Parteien – auch das ist ihnen erlaubt – um die jeweils aktuelle Fassung des „allgemeinen Wohls“, das durch die Regierung umgesetzt werden soll.

Für den Fall, dass Bürger mit politischen Entscheidungen nicht einverstanden sind, dürfen sie das öffentlich zum Ausdruck bringen. Die Verankerung des Demonstrationsrechts in der Verfassung zeigt, dass der demokratische Staat damit rechnet, dass sein Regierungshandeln permanent Unzufriedenheit erzeugt – kein Wunder angesichts der gegensätzlichen Interessen in seinem Volk. Im Umgang mit dieser Unzufriedenheit ist er so liberal, demonstrativen Protest gegen seine Entscheidungen grundsätzlich zuzulassen.

Dass Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit grundgesetzlich zugestanden werden, heisst allerdings auch, dass n u r das erlaubt ist. Jeder Bürger, jede Bürgerin kann sich zu allen Tatbeständen dieser Welt denken, was er bzw. sie will. Zeitungen dürfen Unfug aller Art drucken und Demonstranten dürfen für oder gegen alles Mögliche protestieren.

Block G20 @ Hamburg (36024084366).jpg

Ein Recht auf praktische Umsetzung haben sie damit nicht. „Allen gesellschaftlichen Ansprüchen und Interessen wird ein ganz formelles ,verbales‘ Daseinsrecht zuerkannt und ihnen zugleich als Preis dafür die Anerkennung ihrer Unverbindlichkeit abverlangt, die den tatsächlich statt¬ findenden Interessenabgleich, die Herstellung gesellschaftlicher Verbind-lichkeit, einer Macht ausserhalb des Reiches der Privatinteressen überlässt: nämlich der höchsten Gewalt, die in diesem System alle Lizenzen vergibt. Anders ausgedrückt: Wenn alle divergierenden Meinungen gleichermassen gelten sollen, dann gilt keine. Dann gilt eben das, was vom staatlichen Ge¬waltmonopol erlaubt und geboten wird.” (Albert Krölls, Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern? Eine Streitschrift gegen den Verfassungspatriotismus. Hamburg 2009, S. 180)

Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit

Gerade indem also Meinungs-, Presse und Demonstrationsfreiheit per Verfassung anerkannt werden, werden alle Gedanken, alle Kritik und alle daraus entspringenden Willensbekundungen zu praktischer Ohnmacht verurteilt. Zudem werden auch diesen Freiheiten, kaum dass sie in Kraft gesetzt sind, rote Linien gezogen. Historisch gab und gibt es von Staats wegen mit jedem neuen Kommunikationsmittel ein Bedürfnis nach Aufsicht, Sortieren und Zensur – ob das der Buchdruck war, die ersten Zeitungen, der Rundfunk und das Fernsehen oder die heutigen „sozialen Medien“. Die neue Technik soll von den Bürgern genutzt werden können – was der demokratische Staat im Unterschied zu seinen vorbürgerlichen Kollegen explizit anerkennt. Gleichzeitig aber soll das zum Funktionieren dieser Gesellschaft beitragen und sie nicht etwa in Frage stellen.

Artikel 18 Grundgesetz legt fest: „Wer die Freiheit der Meinungsäusserung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmass werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“Nicht jede Meinung, jede Presseäusserung, jede Versammlung geniesst also den Schutz der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes, sondern nur diejenigen, die keine prinzipielle Gegnerschaft gegen diese Ordnung formulieren und es damit auch noch ernst meinen („Kampf“). Wer seine Freiheit so versteht, „missbraucht“ per definitionem seine Rechte – und verliert sie.

Daran zeigt sich ein weiterer Pferdefuss der im Grundgesetz ausgesprochenen Freiheit zum Meinen, zum Schreiben und zum Demonstrieren: Mit der Erlaubnis dazu ist zugleich eine Instanz installiert, die darüber wacht und entscheidet, was erlaubt und was verboten ist. Wenn Unzufriedenheit zur Äusserung von Kritik führt, darf diese nicht zu weit gehen; „das System“ in Frage zu stellen und dafür zu mobilisieren, wirft aus der Warte der staatlichen Aufsicht die Frage auf, ob das nicht weniger Gebrauch als Missbrauch der gewährten Freiheit ist.

Kritik soll konstruktiv sein – sie soll sich, schon beim Formulieren der Beschwerde fragen, wie es denn besser gehen könnte und sich damit einbringen in den öffentlichen Diskurs. Alles andere ist auch in dieser Sphäre schnell an der Kippe zum Problemfall, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird und mit diversen Verboten belegt werden kann: Berufsverbot, Parteienverbot, Einschränkung der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit usw. usf.

Das Bedürfnis nach permanenter Verschärfung ist notwendig

Es gibt also keineswegs nur in China oder Nordkorea, sondern mitten in der freiheitlichsten Demokratie ein elementares staatliches Bedürfnis, die Meinungsbildung der Bürger im Auge zu behalten und rechtzeitig festzustellen, ob Ge- oder Missbrauch der erlaubten Freiheiten vorliegt – was naturgemäss eine nicht leicht zu beantwortende Frage bzw. „Einschätzung“ darstellt. Konkreter formuliert: Das Bespitzeln von Bürgern, von Journalisten sowie Protestierenden aller Couleur und das Ausforschen ihrer weltanschaulichen Gesinnung und politischen Loyalität gehört zur freiheitlich-demokratischen Ordnung dazu und stellt keinen Widerspruch zu ihr dar – wie möglicherweise Leute denken, die zuviel Stasi-Filme gesehen haben (interessant übrigens, dass es davon erheblich mehr gibt als Filme über die Überwachungsmethoden der Nazis).

Kein Wunder also, dass die Bundesrepublik sich 1950, kaum war das Grundgesetz verabschiedet, an den Aufbau eines solchen Dienstes machte – übrigens auf Vorschlag ihrer demokratischen Besatzungsmächte hin. Kein Wunder auch, dass sie dabei auf in der „Sache“ erfahrene Nazis zurückgegriffen hat – schliesslich ging es sofort wieder gegen den alten wie neuen Feind: den „Bolschewismus“ im eigenen Land, der aller faschistischen Verfolgung zum Trotz noch nicht ganz ausgerottet war.

Für die entsprechenden Behörden, die mit dieser Aufgabe betraut werden, ist die verlangte Unterscheidung nicht ganz einfach; aus ihrer Sicht stellt sich die Welt ziemlich unübersichtlich dar. Überall scheint es potentiellen Missbrauch zu geben – neben den notorisch verdächtigen Linken, Autonomen, Verfolgten des Naziregimes, Antifas usw. inzwischen eine ganze Menge an Rechten, Identitären, Reichsbürgern, Preppern und Querdenkern; dazu Islamisten usw. usf. Man könnte fast sagen: Je weniger es eine grosse, geeinte Opposition gibt (wie die frühere Arbeiterbewegung), je schwerer haben es die Dienste, all das mitzukriegen und fachkundig zu sortieren, was sie interessiert und was sie verdächtig finden. Die akribische Arbeit des deutschen Verfassungsschutzes, der noch kleinste Gruppierungen beobachtet und gewissenhaft auflistet, sollte in dieser Hinsicht vielleicht auch einmal gewürdigt werden.

Da zudem dauernd neue Kommunikationsmittel erfunden werden, hinken die Möglichkeiten und Befugnisse der politischen Polizei immer mal wieder hinterher – wie ab und an bedauernd mitgeteilt wird. Das ist ein unschöner Zustand, der deshalb permanente Anpassungsleistungen, sprich: Verschärfungen erforderlich macht.

  • Dass sich beispielsweise eine linke Tageszeitung halten und ihre Auflage sogar steigern kann, ist eigentlich nicht vorgesehen. 20.000 Abos für ein linkes Blatt – das ist offenbar zuviel für die deutsche Demokratie. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz soll Abonnenten, Autoren und Geschäftspartner abschrecken, der „jungen Welt“ schlechtere Konditionen bescheren und sie so schädigen. Die vorgetragenen Rechtfertigungen dafür sind hanebüchen (kommt die FAZ unter Beobachtung, weil sie dogmatisch wirtschaftsliberal ist und keinen Marxisten zu Wort kommen lässt? Weil sie in Konferenzen für die „Zukunft Europas“ mobilisiert? Weil sich Jasper von Altenbockum nicht genügend von den Gewalttaten der deutschen Armee distanziert?)
  • Dass es mit den Online-Plattformen ein paar neue Medien geschafft haben, journalistische Produkte neben den etablierten Verlagen anzubieten und, weil kostenlos, nicht wenige Leser haben, ist eine weitere Neuerscheinung, die selbstverständlich kontrolliert werden muss. Auch hier sammeln sich vielleicht Autoren jenseits des Mainstreams und können glatt ein paar Gedanken und Fragen äussern, die nicht dem üblichen Standpunkt entspringen, sich um den Erfolg des deutschen Staatswesens Sorgen zu machen. So war es natürlich nicht gemeint mit der Meinungs- und Pressefreiheit – das ist „Desinformation“. (Liebe Leser, ist Ihnen eigentlich klar, wie offen damit der Zweck benannt wird, dem die nicht! zensierte! freie! Presse zu dienen hat? Journalismus, der den Verlautbarungen der deutschen bzw. Nato-Politik mit dummen Rückfragen kommt und ihre diplomatischen Konstrukte stört, wird mit regelrechten Kriegs-Terminologien belegt.) Konsequenz: Die russischen Medien in Deutschland werden madig gemacht, indem man sie als „vom Kreml finanziert“ ausweist, Online-Zeitungen und ihre Redakteure unter Beobachtung gestellt und damit eingeschüchtert.
  • Privatmenschen, darunter auch die Feinde der Freiheit, kommunizieren verschlüsselt, um das Mitlesen ihrer Botschaften und Verabredungen zu erschweren; da muss sich ein effektiver und moderner Staatsschutz selbstverständlich den Zugriff auf die gesamte angeblich private Kommunikation der Bürger gestatten lassen – Postgeheimnis hin oder her.
  • Und Demonstrationen stören zunehmend einfach nur noch. Zwar ist es nicht mehr viel und zunehmend hilfloser Protest. Aber gerade deswegen: Warum soll man als gewählter Politiker eigentlich noch hinnehmen, dass die so wichtigen und vor allem sowieso „alternativlosen“ Staatsgeschäfte von naiv-idealistischen und hartnäckig-opferbereiten Jugendlichen behindert werden? Mit dem Vorgehen gegen die angeblich so unerträglich gewaltsamen G-20-Demonstranten von Hamburg hat man sich den Vorwand verschafft, Landes-Polizei-Gesetze und nun auch Landes-Versammlungs-Gesetze zu verschärfen. Die Wahrnehmung des Demonstrations-Rechts, das „wir“ gegen China und die anderen „autoritären“ jederzeit selbstzufrieden hochhalten, soll in der deutschen Heimat zu einem echten kleinen Harakiri-Erlebnis für jeden gemacht werden, der das glaubt.

Kein Fall für Streit

Halten wir das bisherige Resultat fest: Die staatlichen Ansprüche an das reibungslose und störungsfreie Funktionieren der Sphäre von Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit sind in der liberalsten Demokratie, die Deutschland je hatte, ziemlich hoch – um nicht zu sagen: totalitär. Man könnte fast meinen, es solle bewiesen werden, dass eine fortgeschrittene Demokratie ihre politische Stabilität effektiver gewährleisten kann als jede Diktatur.

Gut, ein wenig profitiert die deutsche Republik sicher immer noch von dem disziplinierenden Effekt zweier Weltkriege und eines faschistischen Drittes Reichs, das die oppositionelle Arbeiterbewegung ziemlich komplett eliminiert hat. Aber daraus haben „wir“ ja auch „gelernt“ und operieren heute deutlich eleganter als damals: All die schönen, im Grundgesetz garantierten Freiheiten werden gar nicht angetastet. Ganz im Gegenteil: Um diese Freiheiten zu verteidigen, muss die „innere Sicherheit“ mit all ihren Behörden, Spitzeln und Methoden dauernd stärker bewacht werden – die „Feinde“ schlafen schliesslich nicht.Und so können „wir“ den Chinesen (wahlweise Russen, Weissrussen, Iranern, und überhaupt jedem, wo es nötig ist) zum Glück auch immer wieder ganz ungeniert mit dem grossen Freiheitsbanner kommen, wenn die sich mit ihren inneren (von „uns“ protegierten und finanzierten) Feinden herumschlagen.

Mit dem Widerspruch, Freiheiten anderswo lauthals einzuklagen und gleichzeitig im Innern immer mehr einzuschränken, kommt die deutsche Öffentlichkeit, Mainstream-Redaktionen wie Publikum, bemerkenswert gut klar. Mit grosser Anteilnahme verfolgt man das Schicksal drangsalierter Journalisten oder Aktivisten im hintersten Erdenwinkel – und schert sich nicht die Bohne darum, wenn in Hamburg oder Düsseldorf Demonstranten fertig gemacht werden. Man engagiert sich für tapfere Frauen im Iran und ist begeistert von unbeugsamen Künstlern in China; von der Einschüchterung kritischer Journalisten oder finanziellen Attacken auf linke Zeitungen bzw. antifaschistischen Verbänden im schönen Deutschland will man nichts wissen oder legt die entsprechenden Meldungen ungerührt beiseite. Solcherart Schizophrenie ist nur durch einen sehr gesunden Patriotismus zu erklären. Hier, bei „uns“, ist es allemal besser als im Rest der Welt. Fakten über dort und hier können das nicht in Frage stellen. Und für eine grössere Aufregung um „unsere Werte“ ist in dieser Frage einfach kein Platz in der freien, unzensierten Öffentlichkeit unserer schönen Demokratie.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben     —     Impressionen von der Demo Lieber tanz ich als G20! in Hamburg

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Über Cum-Ex-Geschäfte

Erstellt von Redaktion am 17. August 2021

Nicht alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt

CumEx-Files - Countries affected by the fraud.svg

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von Zgraggen Jacob /   

Der Drahtzieher der Cum-Ex-Geschäfte, Hanno Berger, sitzt in Untersuchungshaft. Vorwurf in der BRD: kriminelle Steuerhinterziehung.

Red. Der Autor ist Wirtschaftsanwalt und Verwaltungsrat bei diversen KMU. Er erklärt hier, wie einfach die Steuerzahlenden mit krummen Börsengeschäften betrogen wurden.

Der deutsche Bundesgerichtshof geht von krimineller Steuerhinterziehung aus. Die Straftaten wurden im Börsenhandel begangen. Das sei vorerst erklärt:

Vor Auszahlung ihrer meist jährlichen Dividenden werden börsenkotierte Aktien «cum», also «mit» Dividende gehandelt. Nach Auszahlung der Dividende werden Aktientransaktionen als «ex» bezeichnet, also «ohne». Deshalb ist der Börsenkurs nach der Dividendenauszahlung in aller Regel tiefer als vorher.

Cum-Ex: Das Diebesgut wird aufgeteilt

Die von einer börsenkotieren Gesellschaft automatisch abgezogene und dem Fiskus überwiesene Quellensteuer kann nicht in allen Fällen zurückgefordert werden. In der Schweiz geht es um die Verrechnungssteuer, in Deutschland um die Kapitalertragssteuer. Die Frage der Rückforderung ist abhängig vom nationalen Recht und vom riesigen, durchaus nicht durchsichtigen Netz von Doppelbesteuerungs-Abkommen (DBA) zwischen den Staaten. DBA tragen zum internationalen Steuergewirr bei.

Einfaches Beispiel eines Steuermissbrauchs mit einem Cum-Ex-Geschäft: Wenn ein ausländischer Aktionär einer schweizerischen börsenkotierten Gesellschaft einen Tag vor dem Ex-Datum seiner Schweizer Bank die Aktien verkauft, und am Ex-Tag in Absprache wieder zurückkauft, liegt ein solcher Fall vor. Den dem Fiskus entgangenen Betrag teilen sich die zwei beteiligten Parteien oft wie zwei Diebe, die unter sich das Diebesgut aufteilen. Diese Untugend wird seit den neunziger Jahren praktiziert.

Vom Einzelgeschäft zum Massengeschäft

Nach der Finanzkrise von 2008 wurde dieses einfache «Geschäftsmuster» zu einem erspriesslichen und ausgeklügelten Massengeschäft entwickelt. Die Banken suchten damals neue Ertragsquellen. Mehr als tausend Anwälten, Bankern, Brokern, Investoren und Beratern sollen allein in Deutschland Strafrechtsverfahren bevorstehen. Planmässig sollen diese den deutschen Staat wie eine Weihnachtsgans ausgenommen haben.

Laut Schätzungen haben betrügerische und raffinierte Cum-Ex-Geschäfte den jeweiligen Fiskus insgesamt Milliarden gekostet. Allein dem deutschen Staat sind über zehn Milliarden Euro entgangen. Nur bei den internationalen Mehrwertsteuer-Betrügereien dürften die Beträge noch höher sein.

Strafbare Steuerhinterziehung?

Der deutsche Bundesgerichtshof hat am 28. Juli 2021 ein wegweisendes Urteil zu Cum-Ex- Geschäften gefällt. Zum ersten Mal hat der Gerichtshof zwischen 2007 und 2011 abgeschlossene Cum-Ex-Geschäfte als strafbare Steuerhinterziehung beurteilt. Die Richter bestätigten ein Urteil des Landgerichts Bonn aus dem Jahr 2000.

Angeklagt sind zwei britische Investmentbanker. Eine zentrale Rolle spielt das Hamburger Bankhaus M.M. Warburg. Dieses hat falsche Steuerbescheinigungen ausgestellt und damit ungerechtfertigten Rückforderungen Tür und Tor geöffnet. Bei dieser Bank hat der deutsche Staat bereits rund 177 Mio. Euro eingezogen. Falsche Erklärungen von Banken, oft kombiniert mit Leerverkäufen von Aktien und abgesprochen mit Kunden, machten die Cum-Ex-Betrügereien erst möglich. Es wird nun eine Prozesswelle über Deutschland rollen, wie es sie bisher nicht gegeben hat. Der Staat wird sich warm anziehen müssen; er steht den besten Anwälten und finanzstarken Banken gegenüber, die mit allen Mitteln versuchen werden, die Geschäfte verjähren zu lassen. Im Jahr 2020 wurde in Deutschland die Verjährung für Cum-Ex-Geschäfte nachträglich verlängert, was rechtsstaatlich allerdings problematisch ist. In der Schweiz scheinen keine Strafverfahren hängig zu sein.

Kunden der Bank J. Safra Sarasin gewannen Zivilprozesse, weil ihnen diese Bank Anteile des Luxemburger Anlagefonds Sheridan verkaufte, dessen effektiver Zweck einzig darin lag, Quellensteuern in vielen Ländern unrechtmässig zurückzufordern. Kein Ruhmesblatt für das Finanzwesen.

Ramponierter Ruf der Finanzwelt

Der Cum-Ex-Skandal beschädigt den Ruf der Banken. Die Berufung auf Steuerlücken tönt hohl. Die Schlaumeier übersehen: Wer die gleiche Forderung zweimal geltend macht, wohlwissend, dass die Gegenseite dies nicht realisiert, handelt nicht wie ein ehrbarer Kaufmann. Wer darüber hinaus sogar ein raffiniertes Geschäftsmodell entwickelt, um Vater Staat übers Ohr zu hauen, gehört erst recht nicht zu einer ehrbaren Zunft.

Die einflussreiche internationale Anwaltskanzlei Freshfield ist tief im Dividendenskandal verstrickt. Ihr Steuerchef hat die Rezepte für die kriminellen Steuerdeals entworfen und massentauglich gemacht. Internationale Anwaltsfirmen sind heute Geldmaschinen. Freshfield berät z.B. Siemens, das britische Verteidigungsministerium und die Regierung von Chile. Man kann sie als heimliche Strippenzieher der Weltwirtschaft bezeichnen. Hanno Berger gilt ebenfalls als geistiger Vater des Cum-Ex-Massengeschäftes. Früher war er Finanzbeamter, er kennt die Steuer- und die Finanzwelt aus dem Effeff. Er wird sich der Auslieferung nach Deutschland mit allen Mitteln widersetzen.

Leider kommen Skandale bei Banken nur allzu häufig vor. Weitere Fälle sind im Kryptobereich zu erwarten. Warum fordert die Finanzwelt den Gesetzgeber immer zuerst mit Skandalen heraus? Sie zwingt den Staat damit, ein Gesetz nach dem anderen zu erlassen. Gesetze sind viel zu weitmaschig. Fusst das Verhalten im Geschäftsverkehr nicht auf simplem und einfachem Anstand, werden sich Skandale weiter häufen.

Bereits im letzten Dezember geriet die Hoffnung der Krypto-Anhänger auf Fortsetzung ihrer Geldwäsche-Bonanza ins Wanken. Die US-Strafbehörden erwachen, die Wertschriftenbehörde scheint das Heft in die Hand zu nehmen. Gehandelte Krypto-Werte sollen in die Wertpapiergesetzgebung integriert werden. Der US-Sheriff übernimmt das Kommando. Auch die chinesische Regierung hat die Schraube angezogen.

Die Abzockerei geht weiter – trotz Minder- Abstimmung

Die Schere zwischen Arm und Reich war weltweit noch nie so weit offen. Da könnte man sagen: Ja und, was soll’s? Aber leider steht die Finanzwelt im Verbund mit Kräften, die aus reiner Geldgier gezielt und planmässig den Fiskus hintergehen, was nicht nur die Klimajugend auf die Palmen treiben sollte. Es geht nicht darum, ob ein Land ein paar «Fränkli» mehr oder weniger im Staatssäckel hat, sondern um planmässiges unanständiges Verhalten.

Banque J. Safra Sarasin @ Genève (50685996598).jpg

In der Finanzwelt hat sich in den letzten Jahren, wie ein enger Kenner behauptet, unanständiges Verhalten «systemisch» eingenistet. Das heisst, es wird als solches nicht einmal erkannt und wahrgenommen. Dieses Verhalten beschränkt sich nicht nur auf die Finanzwelt. Social Media, Big Tech, auch unser Bundesparlament scheinen in einer Sackgasse zu stehen. Sonst wären die Absichten von Ständerat Thomas Minder mit seiner erfolgreichen Volksinitiative gegen «Abzockerei» nicht ins Gegenteil verkehrt worden. Die »Abzockerei» geht fröhlich weiter.

Damit kommen wir zurück auf Hanno Berger. Er behauptet, im liberalen Rechtsstaat sei alles erlaubt, was nicht verboten ist. Der Bürger müsse nicht in vorauseilendem Gehorsam antizipieren, was der Gesetzgeber hätte regeln sollen.

Mit dieser extremen These macht Berger den Liberalismus zum Komplizen jeglichen unanständigen Verhaltens. Vorschriften und Gesetze können nicht alle Fälle unanständigen Verhaltens abdecken. Das schweizerische Zivilgesetzbuch weist auf den Grundsatz von Treu und Glauben hin. Dieser Grundsatz bedarf einer moralischen Richtschnur.

Kompliziertes und lückenhaftes Steuerrecht

In einem Punkt hat Hanno Berger recht: Die Steuersysteme sind weltweit kompliziert und haben zu viele Schlupflöcher. Sie öffnen Tür und Tor für Betrügereien aller Art. Unser Steuersystem muss dramatisch vereinfacht werden.

Die vorgeschlagene Mikrosteuer auf dem Zahlungsverkehr würde mithelfen, das undurchsichtige Steuerwirrwarr auszumisten. Das bestehende System ist eine Einladung, planmässig Steuern zu umgehen. Das grosse Potential der Mikrosteuer – auch weltweit – wird erlauben, Steuern abzuschaffen und damit einen Boost zugunsten der wichtigen realen Wirtschaft auslösen. Diese bestimmt die Qualität unseres Lebens.
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Dieser Beitrag erschien erstmals auf Journal21.ch.

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Oben        — Map showing countries affected by the CumEx fraud.

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Femizide in Österreich

Erstellt von Redaktion am 12. August 2021

Tödliches Pflaster für Frauen

Von Ralf Leonhard

17 Femizide wurden 2021 in Österreich verübt. Gleichzeitig wer­den Fall­kon­fe­ren­zen seltener und es fehlt Geld für Frauenhäuser und Initiativen.

Mitte Juli wird in Graz eine 17-Jährige in ihrer Wohnung mit tödlichen Schnitt- und Stichverletzungen aufgefunden. Tot ist auch der fünf Monate alte Fötus in der werdenden Mutter. Als Tatverdächtigen nimmt die Polizei wenig später den 19-jährigen Freund der jungen Frau fest.

Im April starb eine 35-jährige Frau, die der Ex-Partner in ihrer Wiener Trafik mit Benzin überschüttet und angezündet hatte. Der mutmaßliche Täter gestand die Tat, leugnete aber die Tötungsabsicht. Ende April wurde kurz nach dem tödlichen Schussattentat auf eine Krankenschwester deren ehemaliger Lebensgefährte festgenommen. Es handelt sich um den Betreiber eines Craft-Beer-Lokals, den die Öffentlichkeit seit Jahren als „Bierwirt“ kennt. Er hatte wegen Persönlichkeitsrechts gegen die Grünen-Fraktionschefin Sigrid Maurer geklagt, weil sie obszöne Postings, die von seinem Computer versandt wurden, öffentlich gemacht hatte. Der Prozess wurde inzwischen eingestellt, der „Bierwirt“ hatte seine Anzeige nach mehreren juristischen Instanzen zurückgezogen.

Österreich ist ein tödliches Pflaster für Frauen. Nach einer Zählung der „Autonomen Österreichischen Frauenhäuser“ sind im Jahr 2021 bis jetzt 17 Frauen in Österreich ermordet worden. In mindestens 22 weiteren Fällen überlebte das weibliche Opfer den Mordversuch oder schwere Gewalttaten, die auch tödlich hätten ausgehen können. Tatverdächtig ist fast immer der Partner oder Ex-Partner, Auslöser meist die bevorstehende oder vollzogene Trennung.

In einer Statistik, die Eurostat im Herbst 2020 veröffentlichte, wird Österreich als das einzige EU-Land geführt, wo mehr Frauen als Männer Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. Einen Höchstwert erreichten Femizide in Österreich 2018, als 41 Opfer registriert wurden – mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2014. 2020 waren es 31. Für die feministische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz ist es das katholische Erbe, das im Land der erfolgreichen Gegenreformation eine latente und offene Frauenfeindlichkeit erzeugt habe. Dass nicht wenige der Femizide von muslimischen Zuwanderern verübt werden, ist für sie im Interview mit der taz kein Widerspruch: „Es gibt einen Schulterschluss zwischen Fundamentalismen jeder Art.“

Relativ sicher, nur nicht für Frauen

Für die Linzer Psychiaterin und Gerichtsgutachterin Adelheid Kastner gibt es noch eine andere Erklärung. „Wir haben eine geringe Zahl an männlichen Opfern, weil Männer meist in kriminellen Subkulturen und eskalierenden Streiten getötet werden“, so Kastner vergangenen Mai in der Tageszeitung Der Standard. Es gebe in Österreich wenig Bandenkriminalität und keine Tradition, Waffen mitzuführen, wenn sich „die Männer im Wirtshaus ansaufen“. Kastner weiter: „Wir sind ein relativ sicheres Land, was das betrifft. Für Frauen sind wir nicht so sicher, weil sie in über 90 Prozent der Fälle in Beziehungskonstellationen getötet werden.“ Sie trifft sich in ihrer Analyse aber mit Streeruwitz, wenn sie die dahinterstehenden Rollenbilder verantwortlich macht.

Nach jedem Femizid ruft das feministische Bündnis „Claim the Space“ zu einer Kundgebung am Wiener Karlsplatz auf. Es orientiert sich an der 2015 in Argentinien entstandenen Bewegung „ni una menos“, die sich als „kollektiven Aufschrei gegen machistische Gewalt“ definiert. Gelegentlich wird auch in größeren Demonstrationen gegen Gewalt an Frauen protestiert. Zuletzt im vergangenen Mai. Mit dem Slogan „Stoppt Femizide, man tötet nicht aus Liebe“ wandte sie sich auch gegen die Boulevardpresse, die Frauenmorde oft als „Beziehungstat“ verharmlost.

Österreich hat eigentlich gute Gesetze, um Frauen zu schützen. 1997 trat in Österreich das Gewaltschutzgesetz in Kraft. Das war Pionierarbeit, weil nicht mehr die – meist weiblichen – Opfer häuslicher Gewalt aus der Wohnung fliehen müssen, sondern die Täter von der Polizei weggewiesen werden können. Sie kann Gewalttäter selbst aus deren eigener Wohnung weisen und über sie ein Rückkehrverbot verhängen. 2020 wurden 11.652 Betretungs- und Annäherungsverbote ausgesprochen.

Doch obwohl die Regelung regelmäßig angewandt wird, also dass Männer und nicht Frauen das eigene Zuhause verlassen müssen, sind die Frauenhäuser in Österreich weiterhin überfüllt. Und immer wenn die konservative ÖVP mit der rechten FPÖ koaliert, sind Rückschritte paktiert. So wurde unter der türkis-blauen Regierung unter Sebastian Kurz (ÖVP) das Budget für Fraueninitiativen, die nicht in das konservative Weltbild passen, gekürzt. Die Fallkonferenzen, bei denen in Fällen akuter Gewaltdrohungen Frauenschutzorganisationen und Polizei präventive Maßnahmen diskutieren und planen konnten, wurden 2018 ohne Begründung abgeschafft. Unter Türkis-Grün sind sie wiederbelebt worden, doch jetzt nur auf Initiative der Polizei. Früher habe es allein in Wien bis zu 80 Fallkonferenzen gegeben, vergangenes Jahr keine einzige, sagt Maria Rösslhumer, die Leiterin der Autonomen Frauenhäuser.

Es fehlt das Geld für die Opferhilfe

Quelle        :        TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Demonstration am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November 2019 in Mexiko-Stadt vor dem Anti-Monumento (Gegen-Denkmal) „Ni Una Más“, das zum Internationalen Frauentag am 8. März 2019 vor dem Palacio de Bellas Artes errichtet wurde[79]

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Ein Jahr nach Beirut

Erstellt von Redaktion am 11. August 2021

Tiefe Narben, keine Gerechtigkeit

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Von Julia Neumann

Während der libanesische Staat auf allen Ebenen versagt, wird die Gesellschaft von einzelnen Initiativen zusammengehalten.

In ihrer schwarzen Robe steht die Anwältin Maya Lamah in der Nähe der Allgemeinen Sicherheitsbehörde in der Beiruter Innenstadt. „Ich bin sehr traurig, dass Gerechtigkeit in unserem Land noch nicht erreicht ist“, sagt sie. „Ich wurde am 4. August verletzt. Ich habe überlebt. Es war ein Albtraum. Ich konnte nicht laufen, nicht sehen, nicht atmen. Ich bin nur durch ein Wunder noch am Leben.“

Tania Youakim, Anwältin

„Es kommt mir so vor, als wäre es gestern passiert. Wenn ich die Bilder sehe, weine ich. Ich habe das alles noch nicht verdaut“

Im August letzten Jahres ist im Beiruter Hafen ungesichert gelagertes Ammoniumnitrat detoniert. Es war eine der schwersten nichtnuklearen Explosionen aller Zeiten, die über 200 Menschen tötete, mehr als 6.000 verletzte und das Zuhause von rund 30.000 zerstörte. Die Explosion hinterließ Traumata, Angststörungen, seelische und physische Narben.

Die Menschen sind erschöpft. Und hin und her gerissen in der Frage: Sollen wir gehen oder bleiben? Wer bleibt, hat maximal zwei Stunden Strom am Tag

Maya Lamah verlor zeitweise ihr Augenlicht, ihre Kopfhaut war gerissen, die Stirn komplett offen. „Ich hatte Verletzungen an den Händen und am ganzen Körper“, sagt Lamah. Sie schiebt den langen, weiten Ärmel ihrer Robe hoch. Glasscherben haben an den Unterarmen Verletzungen verursacht, die ein Jahr danach als Narben zu sehen sind. „Ich habe mit viel Glück überlebt“, sagt sie, „und deshalb bin ich heute hier: für die Menschen, die keine Chance hatten zu überleben.“

Am 4. August 2020 um 18.07 Uhr befand sich Lamah im Haus ihrer Freundin Tania Youakim. Beide Frauen sind 49 und Anwältin, spezialisiert auf Handelsrecht, sie demonstrieren gemeinsam an diesem ersten Jahrestag in der Beiruter Innenstadt. Das Haus hatte Youakim von ihren Groß­eltern geerbt. „Drei Monate lang wurde es restauriert. Elf Monate später ist alles in die Luft geflogen.“

Zunächst sei sie sehr wütend gewesen, sagt Youakim, wegen des Geldes, das sie investiert hatte. „Aber ich glaube, alles passiert aus einem Grund. Vielleicht wollte Gott, dass ich mein Haus elf Monate vorher restauriere. Denn trotz all der Schäden sind wir nicht gestorben. Hätte ich die Arbeiten nicht ausgeführt, wären die Decken vielleicht komplett heruntergekommen.“

Trotzdem musste sich Youakim eine neue Bleibe suchen. „Es gab keinen Meter mehr im Haus, wo wir noch hätten leben können. Ich musste alle Möbel in ein Warenlager bringen, weil wir nicht wussten, ob die Träger das Haus halten würden.“ Eine Freundin ihrer Schwester bot für den Übergang eine Wohnung an – mietfrei. Nun hofft Youakim, bald zurückkehren zu können, Gardinen und Lampen müssen noch angebracht werden.

Youakim bittet, sich für das Gespräch in den Schatten zu stellen. Sie hat Fieber, und ihr Arzt hat ihr empfohlen, nicht zu lange in der Sonne zu stehen. Dennoch ist sie am 4. August zur Kund­gebung gekommen, als wäre es ihre Pflicht.

Zum ersten Jahrestag der Explosion schlossen Geschäfte, Banken und offizielle Einrichtungen. Krankenhäuser, in denen Mitarbeitende ums Leben gekommen sind und die von der Explosion stark beschädigt wurden, hielten Gottesdienste ab. Am Nachmittag, der wieder sehr schwül ist, ziehen Märsche von verschiedenen Punkten der Stadt aus zur langen Hauptstraße vor dem Hafen. Dort versammeln sich über tausend Menschen. Nachdem sie den Nachmittag und frühen Abend in der Hitze auf den Straßen verbracht haben, gehen­ viele von ihnen fertig und müde nach Hause. Nur wenige wagen sich vor das Parlament, wo sie mit Tränengas und Wasserwerfern vom Militär vertrieben werden.

Es zeigt sich in der Woche rund um den ersten Gedenktag besonders, wie anstrengend es ist, im Libanon durch den Alltag zu kommen. In den sozialen Medien mehren sich die Posts mit Videos von der orangefarbenen Riesenpilzwolke, mit Erinnerungsbildern von zerstörten Häusern, Glassplittern und Fotos der Opfer. „Ich bin sehr emotional“, sagt Youakim. „Es kommt mir so vor, als wäre es gestern passiert. Wenn ich die Fernsehbilder sehe, weine ich. Ich habe das alles noch nicht verdaut. Wir haben alle emotionale Schäden davongetragen.“ Lamah und Youakim schließen sich, beide in ihrer Robe, dem eingetroffenen Protestmarsch an.

Doch nicht nur Trauer treibt die Menschen am Jahrestag auf die Straße. Maroun Karam steht mit Gasmaske in der Hand am Sassine-Platz. Aus einem Lautsprecher dröhnen revolutionäre Lieder und Oden an die Stadt Beirut. Karam ist Aktivist der politischen Jugendgruppe Mintashreen. „Wir wollen Gerechtigkeit, und wir wollen die Wahrheit!“, sagt er. Für ihn ist der 4. August nicht nur ein Gedenk-, sondern ein Kampftag, an dem Druck auf die politische Klasse des Landes ausgeübt werden soll. Das Motto: Niemals vergessen, niemals verzeihen.

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Denn noch immer fehlt von staatlicher Seite jegliche Aufklärung der Vorfälle. Journalistischen Recherchen zufolge war das Ammoniumnitrat, das seit 2014 ungesichert in der Halle am Hafen lagerte, für die schiitische Hisbollah gedacht. Diese ist Partei und Miliz zugleich, ihre Verbündeten sind der Iran und das syrische Regime.

Sprengstoff für die Hisbollah

Wie die libanesische Nachrichtenseite Beirut Observer aus prominenter französischer Quelle erfahren haben will, kamen verschiedene Geheimdienste und französische Sicherheitsbehörden zu dem Ergebnis, dass die Hisbollah die „völlige Kontrolle“ über den Hafen besitze. Die Organisation habe genug Mitarbeitende, um Transfers von Waffen und illegalen Substanzen und deren Lagerung im Hafen zu decken. Der Quelle zufolge führten die libanesischen Ermittlungen ins Nichts – aus Angst vor der Hisbollah und ihren Verbündeten.

Mindestens drei Minister, der Direktor der Staatssicherheit, der ehemalige Regierungschef sowie der Präsident sollen laut Recherchen von Jour­na­lis­t*in­nen sowie von Human Rights Watch von der gefährlichen Fracht gewusst, aber nicht gehandelt haben. Deshalb fordern die Demonstrierenden, die Immunität hochrangiger Beamten aufzuheben, damit diese befragt und strafrechtlich belangt werden können.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Menschen aus Wut und Frustration auf die Straßen gehen. Im Oktober 2019 protestierten Hunderttausende im ganzen Libanon gegen Klientelismus und ­Vetternwirtschaft, die das Land laut Weltbank in eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen weltweit seit dem Jahr 1850 gebracht hat. Die libanesische Währung hat über 95 Prozent ihres Wertes eingebüßt, Familien müssen monatlich für Lebensmittel das Fünffache des Mindestlohns aufwenden. Die UN schätzen, dass 78 Prozent der Menschen im Libanon in Armut leben, dabei trifft die Krise syrische und palästinensische Geflüchtete besonders hart.

Wohl kaum ein Einzelschicksal kann exemplarisch dafür stehen, was die Menschen im Libanon kollektiv durchleben: die Hoffnung der größten Massenproteste des Landes 2019 auf ein Ende des Klientelismus und die Euphorie der Aussöhnung der Konfessionen auf den Straßen, 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs. Die Ernüchterung, dass auch eine neue Regierung keine Reformen durchbringen wird und monatelang keine Einigung mit dem Internationalen Währungsfonds erzielt, um Finanzhilfen zu erhalten. Der rasante Währungsverlust der libanesischen Lira, die steigenden Lebensmittelpreise, der Verlust von Arbeitsplätzen, dazu die Coronapandemie und dann die Explosion, nach der die Regierung geschlossen zurücktrat – und noch immer hat sich kein Nachfolgekabinett gebildet.

Währenddessen hat die Zivilgesellschaft die Aufgaben des Staates übernommen. Um­welt­in­ge­nieu­r*in­nen setzen Gullydeckel aus recyceltem Kunststoff auf Löcher in Straßen, weil die Gullydeckel geklaut wurden, um sie gegen Geld an Schrotthändler zu verkaufen. Frauen sammeln ehrenamtlich Gelder, um Menstruationsprodukte zu spenden. Über Whatsapp- und Facebook-Gruppen organisieren Li­ba­ne­s*in­nen Lebensmittel- und Medizinspenden.

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„Wir können uns nicht auf unsere Regierung verlassen – aber die Gesellschaft ist sehr stark“, sagt Nadine Kheshen. Die 33-Jährige hat die kanadische Staatsbürgerschaft, arbeitet aber im Libanon als Menschenrechtsanwältin und kümmert sich um ihre Großeltern. Ihr Großvater, 88 Jahre alt, brauchte einfache Medikamente für seine Nierenerkrankung, doch in keiner Apotheke waren sie auffindbar. Ein Apotheker erklärte der Familie, das Medikament sei „abgeschnitten“. Das kann heißen: Die Regierung subventioniert die Pillen nicht mehr, Menschen horten sie, oder sie werden nach Syrien geschmuggelt und dort für mehr Geld verkauft. „Ich dachte, ich habe keine andere Wahl, als den Libanon zu verlassen und diese Medikamente woanders aufzutreiben “, erzählt Kheshen. „Ich habe mich so geärgert, dass ich auf Twitter darüber geschrieben habe. Ich wollte einfach, dass die Leute wissen, wie schwierig die Situation im Libanon ist und dass nicht jeder wie ich das Privileg hat zu reisen und diese Medikamente vielleicht woanders herzuholen.“

Laut Verband der libanesischen Medikamenten-Importeur*innen sind die Importe im Juni fast vollig zum Erliegen gekommen. Der Mangel an Devisen erschwert die Bezahlung ausländischer Lieferant*innen. Über den Post fand Kheshen einen hilfsbereiten Menschen, der ihr das Medikament aus Russland schickte.

Es mangelt an allem

Quelle      :         TAZ -online        >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Aftermath of the 2020 Beirut explosions

File:Aftermath of the 2020 Beirut explosions august 10 2020 8.jpg

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Das Meer oder die Armut

Erstellt von Redaktion am 5. August 2021

Der Libanon ein Jahr nach der Explosion

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Von Karim El-Gawhary

Seit der Explosion im Beiruter Hafen haben sich die Lebensumstände der Menschen im Libanon weiter verschlimmert. Ein Ortsbericht.

An die Hafenmauer von Beirut sind die entscheidenden Fragen gepinselt: Wer, wie, warum – und wie geht es weiter? Dazu die Namen einiger der über 200 Toten, die die Explosion damals hinterlassen hat.

Ein paar Hundert Meter von den zerstörten Hafensilos entfernt, in denen vor einem Jahr das dort gelagerte Ammoniumnitrat in die Luft geflogen ist, steht Noaman Kinno auf seinem Balkon und erzählt von dem schicksalshaften Tag. Wie er, seine Frau und seine Kinder damals verletzt wurden und seine Wohnung zerstört.

NOAMAN KINNO, ÜBERLEBENDER UND FAMILIENVATER :

„Von der Regierung habe ich bisher keinerlei Unterstützung bekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt“

Er zeigt Fotos auf seinem Handy, von der verwüsteten Wohnung, von den Verletzungen seiner Kinder und denen seiner Frau, die durch einen Glassplitter fast ihr Auge verlor. Von den Verletzungen, meist von zerbrochenen Scheiben, sind nur noch die Narben über.

Die seelischen lauern im Verborgenen. „Meine zwei Kinder zucken bis heute zusammen, wenn sie ein lautes Geräusch hören“, erzählt Noaman. Die Wohnung wurde inzwischen wieder renoviert, mit der Unterstützung privater libanesischer Selbsthilfeorganisationen. „Von der Regierung habe ich bisher keinerlei Unterstützung bekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt“.

Keine Medikamente, kein Strom

Das libanesische Pfund hat seit der Explosion 95 Prozent seines Werts verloren. In einem Land, in dem so ziemlich alles importiert wird, heißt das, dass auch die Menschen 95 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben. Man sieht es im Apothekenschrank des größten staatlichen Krankenhauses des Landes, der Rafik-Hariri-Universitätsklink, den Muhammad Ismail öffnet.

Bei den Präparaten für eine Krebschemotherapie herrscht gähnende Leere. Im Lagerschrank daneben, der für Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente bestimmt ist, liegen ein paar vereinsamte Packungen. „Selbst zu den Zeiten des Bürgerkriegs waren unsere Bestände nicht so aufgebraucht“, sagt Ismail. Der Grund ist einfach: Weil der Libanon schon länger nicht mehr seine Rechnungen für die im Ausland gekauften Medikamente bezahlt hat, liefert niemand mehr.

Hassan Moaz sieht im Kontrollraum seiner sechs riesigen Ge­ne­ra­to­ren besorgt auf die Temperaturanzeige. Bei 90 Grad schaltet sich der Generator wegen Überhitzung ab. Der Zeiger steht zwischen 88 und 89 Grad, weil die Generatoren zu lange durchlaufen.

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Im Moment hat das Krankenhaus im Schnitt nur 12 Stunden am Tag Strom aus dem libanesischen Netz, den Rest müssen die Generatoren schaffen. „Ich lasse mich jeden Tag von neuen Herausforderungen überraschen. Vor Kurzem gab es drei Tage lang keinen Strom aus dem Netz, und auch das haben wir überstanden“, erzählt Moaz.

Der Geruch der Krise: Faules Fleisch

Auch in der nordlibanesischen Stadt Tripoli, eineinhalb Autostunden von Beirut entfernt, riecht es auf dem Markt nach wirtschaftlichem Kollaps oder besser gesagt: nach verrottetem Fleisch, weil die Kühlketten kaum aufrechterhalten werden können. Das ist ein Grund, warum es im Land vermehrt Lebensmittelvergiftungen gibt. Aber wer kann sich schon Fleisch leisten.

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

Der große Knall und die Gründe

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Von Julia Neumann

Vor einem Jahr explodierten tonnenweise Chemikalien im Hafen von Beirut. Für die Katastrophe sollen Korruption und Mafia verantwortlich sein.

Fünf Tage sollte die eingesetzte Untersuchungskommission brauchen, um dem libanesischen Kabinett einen ersten Bericht vorzulegen. Das versprach die Regierung am Tag nach der gigantischen Explosion in Beirut am 4. August vergangenen Jahres. An jenem Dienstag um 18.08 Uhr waren Hunderte Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der libanesischen Hauptstadt explodiert.

Es waren wohl Schweißarbeiten, die zunächst ein Feuer entfacht hatten. Feuerwerkskörper in einem Warenhaus gingen hoch, bevor schließlich eine gewaltige Bombe aus Kerosin und Säure sowie tonnenweise Ammoniumnitrat explodierten. Ein orange-schwarzer Feuerball stieg auf, die Druckwelle erschütterte die Küstenstadt.

Die Explosion war stärker als 1986 in Tschernobyl. Die Explosion des Nuklearreaktors hatte eine Stärke von 10 Tonnen TNT. Die Sprengkraft des Beiruter Ammoniumnitrats verglichen Ex­per­t*in­nen mit 200 bis 300 Tonnen TNT. Dabei war nach jüngst bekannt gewordenen Erkenntnissen des FBI nur ein Bruchteil des Ammoniumnitrats in die Luft gegangen, das Jahre zuvor in den Hafen gebracht worden war.

Das FBI geht davon aus, dass von der Gesamtladung lediglich ein Fünftel, rund 552 Tonnen, explodierten, wie die Nachrichtenagentur Reuters vergangene Woche berichtete, der ein entsprechender FBI-Bericht vorliegt. Der Rest muss zuvor entfernt worden oder durch die Explosion im Meer verschwunden sein.

Jour­na­lis­t*in­nen machen Job der Regierung

„Ich werde nicht ruhen, bis wir die Verantwortlichen für das Geschehene zur Rechenschaft gezogen und die Höchststrafe verhängt haben“, sagte Libanons damaliger Regierungschef Hassan Diab. Doch noch immer gibt es keinen Bericht der Untersuchungskommission. Auch zur Rechenschaft gezogen wurde bislang niemand.

Dank journalistischen Recherchen ist jedoch zumindest bekannt, wie die Fracht nach Beirut kam: Eine ukrainisch-russische Crew hatte sie im Jahr 2013 auf dem Tanker „Rhosus“ geladen, um sie zu einem Sprengstoffhersteller in Mosambik zu transportieren. Das Schiff verließ einen Hafen in Georgien, bevor libanesische Behörden der „Rhosus“ in Beirut wegen Sicherheitsmängeln die Weiterfahrt untersagten.

LIBANONS EX-REGIERUNGSCHEF HASSAN DIAB VOR EINEM JAHR :

„Ich werde nicht ruhen, bis wir die Verantwortlichen für das Geschehene zur Rechenschaft gezogen und die Höchststrafe verhängt haben“

Beirut Explosion Aftermath PIA23692.jpg

Der Kapitän, Boris Prokoshev, gab nach der Explosion der Fracht an, seine Crew sei 2014 im Libanon festgehalten worden, da der Besitzer der „Rhosus“ die Gebühren nicht zahlte. Als Besitzer nannte Prokoshev einen russischen Geschäftsmann.

Recherchen des Spiegel und des Jour­na­lis­t*in­nen­netz­werks Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) zufolge war der wahre Besitzer jedoch der zyprische Reeder Charalambos Manoli. Gerichtsprotokolle zeigen, dass Manoli einen Millionenkredit bei der tansanischen FBME-Bank aufgenommen hatte, diesen jedoch nicht begleichen konnte.

Ein Gefallen für die Hisbollah?

US-Ermittler*innen haben der Bank in der Vergangenheit vorgeworfen, für die libanesische Partei und Schiitenmiliz Hisbollah als Geldwäscherin fungiert zu haben. Die Bank sei dafür bekannt gewesen, säumige Schuldner zu Gefälligkeiten gegenüber Kun­d*in­nen zu drängen.

Quelle       :      TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Zerstörungen in der City von Beirut nach der Explosionskatastophe 2020

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Aus den Berliner Exil

Erstellt von Redaktion am 25. Juli 2021

„Im Krankenwagen dachte ich plötzlich: Ich bin in der Türkei“

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Von Erk Acarer

Der türkische Journalist Erk Acarer, der in Berlin im Exil lebt und auch für die taz gearbeitet hat, wurde in seinem Wohnhaus überfallen und bedroht. Er vermutet dahinter den langen Arm Erdoğans – und lässt sich nicht mundtot machen.

Es sind jetzt zwei Wochen vergangen, seit ich im Innenhof meines Berliner Wohnhauses überfallen und tätlich angegriffen wurde. Dabei schrien die Täter mich auf Türkisch an: Ich solle nicht mehr schreiben, denn bald werde ich sowieso nichts mehr schreiben können.

Meine Reaktion auf diesen Angriff: Ich recherchiere und schreibe noch mehr als zuvor.

Seit Jahren ist die türkische Regierung mit Vorwürfen konfrontiert, die von Korruption, Drogenhandel und paramilitärischen Aktivitäten im In- und Ausland bis zur Unterstützung dschihadistischer Gruppen reichen. Nun sorgt der Mafiaboss Sedat Peker dafür, dass diese Vorwürfe nicht mehr als Gerüchte abgetan werden können.

Nachdem Peker mit seinen langjährigen Partnern innerhalb der türkischen Regierung gebrochen hatte, verließ er die Türkei und sendete Youtube-Videos, in denen er auspackt, was er über kriminelle Machenschaften innerhalb der Regierung und rund um die Regierung weiß. Unter anderem geht es um illegale Waffenlieferungen und Drogenschmuggel aus Venezuela, häufig sollen Kinder hochrangiger AKP-Mitglieder darin verwickelt sein.

Peker spricht als ein unmittelbarer Kronzeuge, der über Jahre hinweg ein wichtiger Weggefährte der Erdoğan-Regierung war, und kann seine Aussagen mit Dokumenten bekräftigen. Seine Aussagen haben ein riesiges Echo, und viele Wäh­le­r*in­nen glauben seinen Aussagen. Der Regierung passt es natürlich überhaupt nicht in den Kram, dass Peker die schmutzige Wäsche hervorkramt. In der Bevölkerung wächst die Kritik an der Regierung ohnehin schon gefährlich rapide, und die wohlwollende Zustimmung nimmt sichtbar ab.

Die Konsequenz daraus sind verschärfte Repressionsmaßnahmen gegen Medienschaffende, die den Spuren nachrecherieren, die Peker gelegt hat. Dabei werden einzelne Jour­na­lis­t*in­nen gezielt für vogelfrei erklärt. Ich gehe davon aus, dass auch der Angriff auf meine Person den gleichen Hintergrund hat: die Furcht vor dem Auffliegen schmutziger Geheimnisse und der Wunsch, kritische Jour­na­lis­t*in­nen mundtot zu machen. Ich bin mir sicher, dass ich aus politischen Gründen angegriffen wurde, dass es sich um einen politischen Angriff handelte.

Istanbul2010.jpg

Investigative Jour­na­lis­t*in­nen sind bei Macht­ha­be­r*in­nen weltweit nicht sehr beliebt. Und bekanntlich auch nicht in der Türkei. Die feindliche Stimmungsmache gegen Medienschaffende hat auch den Boden für den Angriff auf mich bereitet. Schon Ende April griff mich der türkische Innenminister Süleyman Soylu auf Twitter persönlich an und bezeichnete mich aufgrund einer Meldung, die ich geteilt hatte, als „Narren“. Und er beschuldigte mich, für den deutschen Geheimdienst zu arbeiten.

Als direkte Antwort auf den Tweet des Innenministers Soylus schlug der Vorsitzende der Ethikkommission der AKP, Kemalettin Aydın, der auch Rektor einer medizinischen Hochschule ist, auf Twitter vor, mich mit Strychnin einzuschläfern.

Mir ist also schon lange klar, dass ich auf einer Feindesliste der AKP stehe.

Es ist deswegen kein unwichtiges Detail, dass einer der Täter mich auf Türkisch anbrüllte und dabei ein Wort sagte, das sowohl bedeuten kann, dass ich nicht mehr schreiben soll, oder auch, dass ich nichts mehr schreiben können werde. Ich glaube, dass an mir ein Exempel statuiert werden sollte. Dass der Überfall auf mich als Abschreckung ini­tiiert wurde. Der Palästebauer Erdoğan will zeigen, dass sein starker Arm bis nach Europa reicht, und wenn er hier solche Taten veranlassen und damit ungestraft davonkommen kann, es im Inland erst recht niemand wagen können sollte, den Mund aufzumachen.

Deshalb habe ich in meinen ersten Reaktionen auf den Angriff schon darauf hingewiesen, dass Erdoğan und seine Schergen die Täter sind.

Und genau deshalb ist es auch so wichtig, zu betonen, dass ich weitermachen werde. Ich werde meinen Beruf weiter ausüben.

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben        —       Rettungstransportwagen der Feuerwehr des Flughafen Tegel

Unten        —       Istanbul – aerial overview about historical Sultanahmet and Galata district

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Mut einer Richterin

Erstellt von Redaktion am 19. Juli 2021

Die Justiz ist das Bollwerk gegen Willkür und Hybris

Jacob Zuma and his wife Mrs. Nompumelelo Ntuli-Zuma being welcomed by the Prime Minister, Dr. Manmohan Singh on their arrival at the ceremonial reception hosted by the President, Smt. Pratibha Devisingh Patil.jpg

Afrobeat :  Von Dominic Johnson

In Südafrika brauchte es das Verfassungsgericht, um Expräsident Jacob Zuma Grenzen zu setzen.

Sisi Khampepe ist nicht die geborene Heldin. Aber als die Präsidentin des südafrikanischen Verfassungsgerichts am 29. Juni Expräsident Jacob Zuma zu 15 Monaten Haft wegen Missachtung der Justiz verurteilte, wurde sie weltberühmt. Das nicht nur wegen ihres Muts gegenüber einem der mächtigsten Männer des Landes, sondern auch wegen der Empörung, die sie in ihrem Urteil zum Ausdruck brachte.

Zumas Boykott der Untersuchungskommission, die sich mit den Korruptionsaffären während seiner Amtszeit 2009 bis 2018 beschäftigt, und sein herablassender Umgang mit diesen Untersuchungen bedrohten „die Integrität der Verfassung, des Rechtsstaats und dieses Gerichts“, so die Richterin. „Missachtung besteht nicht nur im Akt der Nichterfüllung einer richterlichen Anordnung, sondern umfasst die Art der Missachtung, ihr Ausmaß und ihre Umstände. Ich muss daher die einzigartigen und skandalösen Aspekte dieser besonderen Missachtung einbeziehen. Würde ich diese Aspekte ignorieren, würde ich mit einem geschlossenen Auge urteilen und mich davor scheuen, angstfrei zu entscheiden.“ Zuma genieße als Expräsident besondere politische Stellung: „Er hat viel Macht, andere dazu zu verleiten, richterliche Verfügungen ebenfalls zu ignorieren, denn seine Handlungen und jedwede Konsequenzen daraus oder ihr Ausbleiben werden von der Öffentlichkeit genau beobachtet. Wenn sein Verhalten straflos bleibt, fügt er der Rechtsstaatlichkeit erheblichen Schaden zu.“

Selten hat ein höchstrichterliches Urteil solche massiven Folgen gehabt. Kurz nachdem Zuma die Haft antrat, zündelten seine Anhänger und Scharfmacher. In seiner Heimatprovinz KwaZulu/Natal und rund um Johannesburg haben Plünderer fast alle Einkaufszentren ausgeraubt und in Brand gesteckt, über 200 Menschen sind ums Leben gekommen – es sind die schwersten Gewaltausbrüche in Südafrika seit Ende der Apartheid. Zumindest die Anfänge dieser bürgerkriegsähnlichen Gewalt hat Zumas Umfeld organisiert – als Kampfansage an den Staat.

Viele Hoffnungen der Menschen in Südafrika auf ein besseres Leben nach Ende der Apartheid sind unerfüllt geblieben. Die Integrität der Justiz bleibt jedoch eine zentrale Errungenschaft, wenn nicht sogar die wichtigste: Ohne Rechtsstaat gibt es keine Investitionen, wird historisches Unrecht nicht aufgearbeitet, werden die alten Segrega­tions­strukturen und das extreme Gefälle zwischen Arm und Reich nicht überwunden. Die Gerichte sind in Südafrika die letzte Hoffnung derer, die bis heute auf die Früchte der Freiheit warten.

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Sind es nicht immer die gleichen weiblichen und männlichen Lumpen welche sich vor die Kameras aufbauen ?

Es entbehrt nicht der Ironie, dass Sisi Khampepe ihren Posten ausgerechnet Zuma verdankt. Die Juristin aus Soweto war eine der ersten unabhängigen schwarzen Rechtsanwältinnen ihres Landes, sie trat schon zu Apartheidzeiten mutig auf – und als Verfassungsgerichtspräsidentin schrieb sie 2019 ein bahnbrechendes Urteil, das den Rechtsbegriff der kriminellen Vereinigung auf Gruppenvergewaltigungen ausdehnte, damit beteiligte Männer unabhängig von ihren konkreten Handlungen verurteilt werden können. Sie weist nun Zuma in die Schranken und mit ihm den Anspruch vieler Herrscher, auf ewig über dem Gesetz zu stehen.

Die Renaissance des Rechts ist in ganz Afrika eine begrüßenswerte Kehrseite des Niedergangs politischer Institutionen. Wo Willkür um sich greift, bleiben am längsten diejenigen staatlichen Akteure übrig, die sich auf höhere Prinzipien berufen können: also Richter mit ihren Gesetzen und Verfassungen. So konnten in den letzten Jahren Verfassungsrichter in Kenia und in Malawi im Namen des Gesetzes manipulierte Wahlen annullieren und neu ansetzen. In Sudan und in Mauretanien wird gegen bisher als unantastbar geltende Exdiktatoren ermittelt.

Quelle        :      TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   The President of the Republic of South Africa, Dr. Jacob Zuma and his wife Mrs. Nompumelelo Ntuli-Zuma being welcomed by the Prime Minister, Dr. Manmohan Singh on their arrival at the ceremonial reception hosted by the President, Smt. Pratibha Devisingh Patil, in their honour at Rashtrapati Bhavan, in New Delhi on June 04, 2010.

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Unten      —       Participants at the 2015 G20 Summit in Turkey

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Zum Tod von Peter de Vries

Erstellt von Redaktion am 18. Juli 2021

Vierter Journalistenmord in der EU in vier Jahren

Peter R. de Vries.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von ROG

Nach dem Tod des Journalisten Peter R. de Vries in Amsterdam am gestrigen Donnerstag (15.07.) fordert Reporter ohne Grenzen (RSF) die Niederlande auf, den Mordanschlag auf den Kriminalreporter lückenlos aufzuklären und so gegenüber anderen EU-Mitgliedstaaten mit gutem Beispiel voranzugehen. An die anderen Länder der Europäischen Union appelliert RSF, eine Lehre aus diesem Mord zu ziehen, indem sie Journalistinnen und Journalisten besser vor organisierter Kriminalität schützen.

„Nach dem Tod von Peter de Vries sind es nun vier Medienschaffende, die innerhalb von nur vier Jahren in der Europäischen Union ermordet wurden. Der hinterhältige Anschlag auf Peter de Vries zeigt erneut, welch immense Gefahr für Journalistinnen und Journalisten inzwischen in Europa vom organisierten Verbrechen ausgeht“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Morde an Daphne Caruana Galizia in Malta, Ján Kuciak in der Slowakei und Giorgos Karaivaz in Griechenland sind immer noch nicht aufgeklärt. Die Niederlande als eins der bestplatzierten Länder weltweit auf unserer Rangliste der Pressefreiheit sind jetzt in der Pflicht, beispielhaft zu zeigen, dass solche Taten nicht ungestraft bleiben dürfen. Zugleich müssen alle Mitgliedstaaten der EU gewährleisten, dass Investigativjournalistinnen und Kriminalreporter ihre wichtige Arbeit machen können, ohne Angst um ihr Leben haben zu müssen.“

Peter R. de Vries, der sich auf Berichterstattung über organisierte Kriminalität spezialisiert hatte, starb am Donnerstag an seinen schweren Kopfverletzungen, nachdem er am 6. Juli in Amsterdam niedergeschossen worden war. Die niederländische Polizei nahm nach dem Attentat rasch zwei mutmaßliche Täter fest, konnte aber bislang weder den Auftraggeber noch das konkrete Motiv ermitteln. Unmittelbar vor der Tat hatte de Vries an der Live-Sendung RTL Boulevard teilgenommen, wo er regelmäßiger Gast war. Eine weitere Ausgabe der Sendung musste am Samstag (10.07.) abgebrochen werden, nachdem der Sender eine ernstzunehmende Drohung erhalten hatte. Seit Montag (12.07.) wird die Sendung aus einem speziell gesicherten Studio ausgestrahlt.

Der 64-jährige de Vries war in der niederländischen Medienwelt und Öffentlichkeit sehr bekannt und geschätzt. Er beschäftigte sich sowohl mit aktuellen Fällen mit Verbindungen zur organisierten Kriminalität als auch mit unaufgeklärten Altfällen. Dabei ging sein Engagement über journalistische Arbeit hinaus: In 40 Jahren als Kriminalreporter gewann er das Vertrauen mehrerer Opfer und stellte sich ihnen als Sprachrohr oder Berater zur Verfügung. So hatte er zum Beispiel den Hauptbelastungszeugen im Prozess gegen Ridouan Taghi, den meistgesuchten Verbrecher der Niederlande und mutmaßlichen Chef einer Drogenbande, beraten.

In den vergangenen Jahren wurden zunehmend Medienschaffende in den Niederlanden von Mitgliedern des organisierten Verbrechens bedroht. So wurde im Dezember 2020 eine scharfe Granate vor dem Haus eines Kriminalreporters der Zeitung De Limburger gefunden. Im Juni 2018 wurden die Redaktionen der Zeitungen De Telegraaf sowie Panorama und Nieuwe Revu attackiert. In ersterem Fall wurde ein Lieferwagen in die Hausfassade gerammt, in letzterem eine Panzerabwehrrakete gegen das Gebäude abgefeuert.

Drei weitere Morde in der EU in Verbindung mit organisierter Kriminalität

Es wird vermutet, dass Mitglieder des organisierten Verbrechens auch mit allen drei weiteren Journalistenmorden zu tun haben, die seit 2017 in der EU begangen wurden und alle bislang nicht restlos aufgeklärt sind. Die bis zum Anschlag auf de Vries letzte Tat war der Mord an dem griechischen Kriminalreporter Giorgos Karaivaz, der am 9. April am helllichten Tag in Athen niedergeschossen wurde. Trotz des Versprechens der griechischen Regierung, schnell zu handeln, sind die Ermittlungen bis heute nicht vorangekommen.

Der mutmaßliche Auftraggeber des Mordes an dem slowakischen Enthüllungsjournalisten Ján Kuciak im Februar 2018, der Geschäftsmann Marián Ko?ner, ist bis heute nicht verurteilt worden. Allerdings hat das oberste slowakische Gericht Mitte Juni den Freispruch Ko?ners in erster Instanz aufgehoben. Zwei Auftragsmörder und ein Mittelsmann wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Auch im Fall der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia, die im Oktober 2017 mit einer Autobombe getötet wurde, ist der mutmaßliche Anstifter noch nicht verurteilt. Der Geschäftsmann Yorgen Fenech befindet sich derzeit in Haft und wartet auf seinen Prozess, der nicht vor diesem Herbst beginnen soll. Von den angeheuerten Auftragsmördern wurde einer im Februar dieses Jahres zu 15 Jahren Haft verurteilt. Caruana Galizia hatte zu Korruption bis in die höchsten Regierungskreise in Malta recherchiert.

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Gerade im Süden der Europäischen Union sind Medienschaffende oft das Ziel des organisierten Verbrechens. Etwa 20 Journalistinnen und Journalisten stehen in Italien 24 Stunden am Tag unter Polizeischutz, was sie aber nicht vollständig vor Angriffen schützt. Das Auto des Journalisten Fabio Buonofiglio wurde im April 2020 in Kalabrien angezündet und komplett zerstört. Der Reporter Michele Santagata wurde im September 2020 in der Stadt Cosenza in derselben Region überfallen und zusammengeschlagen.

Auch in Bulgarien, das auf der Rangliste der Pressefreiheit den schlechtesten Rang aller EU-Länder einnimmt, leben Journalistinnen und Journalisten, die zu Korruption und organisierter Kriminalität recherchieren, gefährlich. Zu den jüngsten Opfern gehört der investigative Journalist Slavi Angelov, der im März 2020 vor seinem Haus schwer verprügelt wurde. Der Täter ist bis heute nicht identifiziert worden.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit stehen die Niederlande auf Platz 6 von 180 Staaten. Die Slowakei steht auf Platz 35, Italien auf Platz 41, Griechenland auf Platz 70, Malta auf Platz 81 und Bulgarien auf Platz 112. Mehr zur Lage der Pressefreiheit in den Niederlanden finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/niederlande .

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Der Deutsche Alltag

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2021

Kassel, Hanau, Halle – und München

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Von Dominik Baur

Am 22. Juli 2016 ermordete ein Jugendlicher bei einem Münchner Einkaufszentrum neun Menschen. Lange kämpften die Hinterbliebenen darum, dass das OEZ-Attentat als rassistischer Anschlag anerkannt wird. Nun fürchten sie das Vergessen.

Als der erste Schuss fällt, denkt sich Lumnije Azemi noch nicht wirklich etwas dabei. Hast du das gehört?, fragt sie ihren Mann. Sie weiß, wie Schüsse klingen, sie hat während des Krieges im Kosovo gelebt. Aber vielleicht war es ja doch nur ein geplatzter Luftballon. Sonst würden die Leute hier im McDonald’s wohl kaum so ruhig bleiben. Die Azemis sitzen mit ihren drei Kindern beim Essen. Draußen auf der Terrasse, gerade haben sie sich noch ein Eis geholt.

Es ist wenige Tage vor Ferienbeginn, sie freuen sich auf den Urlaub, wollen in das Kosovo fahren, Familie besuchen. Gegenüber im Olympia-Einkaufszentrum, dem OEZ, haben sie vorher noch ein paar Sachen dafür eingekauft. Sie wohnen in der Gegend und kommen gern hierher. Im McDonald’s können die Kinder zwischen Burger, Pommes und der Rutsche hin- und herspringen.

Es sind die Bilder dessen, was dann passierte, die Lumnije Azemi nicht mehr loswird. „Es ist für mich wie ein Film. Während ich jetzt darüber spreche, ist das, als hätte ich einen Fernsehbildschirm vor mir, und es laufen die ganzen Bilder von diesem Abend ab.“ Bilder wie ein Albtraum. Nur dass Azemi sie den ganzen Tag über sieht.

Azemi ist zum Gespräch in die Münchner Innenstadt gekommen. Zwischen Hamam und Trattoria hat sich hier in der Nähe des Sendlinger Tors in einem Rückgebäude die Opferberatungsstelle Before einquartiert. Before unterstützt Menschen, die in München von Diskriminierung, Rassismus und rechter Gewalt betroffen sind. Jetzt sitzt die 49-Jährige im Besprechungsraum und schildert den Inhalt dieses Filmes, der keiner ist. Lumnije Azemi ist eine Überlebende des Attentats am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, das sich am Donnerstag zum fünften Mal jährt.

Inzwischen weiß Azemi, warum es nach dem ersten Schuss so ruhig blieb. Ein Angestellter des McDonald’s hat ihr später erzählt, dass der Attentäter zunächst auf der Toilette die Waffe getestet habe. Es ist der Knall, den die Gäste in dem Moment noch nicht zuordnen konnten. Erst zehn Minuten später, vielleicht auch 15, das Eis ist noch nicht aufgegessen, fällt der zweite Schuss. Und der dritte und der vierte … Es hört nicht mehr auf. Allein in dem Schnellrestaurant soll der Attentäter 18 Schuss aus einer Glock 17, einer Selbstladepistole, abgefeuert haben. Ein Mitarbeiter kommt auf die Terrasse gerannt und schreit: Alle raus!

In Panik laufen alle, die eben noch auf der Terrasse saßen, los, versuchen sich in den benachbarten Saturn-Markt zu retten, etwa 50 Meter sind es bis dort. Auf dem Weg suchen die Azemis zunächst Deckung hinter einer Hecke. Der Vater wirft sich schützend über die Kinder, die Mutter kauert neben ihm. Hinter sich hören sie noch immer die Schüsse. Ein Jugendlicher fasst sich an den Hals, schreit „Hilfe“, dann fällt er zu Boden, ist tot. „Er lag genau neben mir“, erzählt Azemi.

File:Solingen - Mahnmal Solinger Bürger und Bürgerinnen 04 ies.jpg

Zu dieser Zeit hatte noch niemand auch nur eine Ahnung, was hier vor sich ging.

Inzwischen haben die Ermittler recht genau rekonstruiert, wie das Attentat am 22. Juli 2016 ablief: Gegen 17 Uhr kam der 18-jährige Täter David S. zum McDonald’s am OEZ. Zuvor hatte er noch via Facebook unter falschem Namen Jugendliche aufgefordert, ebenfalls dorthin zu kommen. Um 17.51 Uhr fielen dann die ersten Schüsse im Schnellrestaurant. Fünf Jugendliche starben. Anschließend ging S. nach draußen, schoss weiter um sich, tötete weitere Personen, überquerte die Straße und betrat schließlich das Einkaufszentrum. Dort traf er auf sein letztes Opfer. Insgesamt waren es nur acht Minuten, in denen er neun Menschen erschoss und fünf weitere schwer verletzte. Danach versteckte er sich über zwei Stunden in ­einem Fahrradkeller. Als er ihn verließ und von Polizisten gestellt wurde, erschoss er sich.

Juli 2021, ein heißer Sommervormittag. Auf der Hanauer Straße, die den McDonald’s vom Olympia-Einkaufszentrum trennt, herrscht reger Verkehr. Es riecht nach Döner, die Imbissbude steht gleich neben dem McDonald’s. Dort, wo jetzt das Denkmal für die Opfer des Attentats ist, muss damals der Obststand gestanden haben. Mitten im Schussfeld. Fünf Kugeln bekam der Stand ab, der Händler überlebte unverletzt. Um das Denkmal befindet sich ein Bauzaun. Es soll vor dem Jahrestag noch mal herausgeputzt werden, heißt es.

Die Münchner Künstlerin Elke Härtel hat es gestaltet. Ein Edelstahlring windet sich bis auf zweieinhalb Meter Höhe um einen Ginkgobaum. Titel: „Für Euch“. Neun Fotos erinnern an die Todes­opfer. Auf der Innenseite des Rings steht: „In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22. 7. 2016“. Um den Begriff des „rassistischen Attentats“ mussten die Angehörigen hart kämpfen. Drei Jahre lang war in der Inschrift lediglich von einem „Amoklauf“ die Rede.

Ein paar Meter weiter geht es zur U-Bahn. Katharina Schulze kommt die Treppe hoch. Die Grünen-Politikerin hat vor wenigen Wochen ein Kind bekommen, ist noch im Mutterschutz. Doch für ein Gespräch über die Folgen des OEZ-Attentats nimmt sie sich Zeit, das Thema sei ihr „superwichtig“. Sie zeigt die Straße runter. Dahinten habe ihr Bruder gewohnt. Entsprechend groß war an dem Abend der Schrecken, als sie von den Schüssen am OEZ hörte. Sie selbst war zu dem Zeitpunkt im unterfränkischen Kahl am Main, sollte bei ­einer Veranstaltung ihrer Partei sprechen. Thema: Rassismus in der Gesellschaft. Wenigstens konnte sie ihren Bruder schnell erreichen, er befand sich in Sicherheit.

Schulze, inzwischen Oppositionsführerin im bayerischen Landtag, machte sich schon früh dafür stark, das Attentat als rechten Terror einzustufen. Eine Bewertung, die ursprünglich keineswegs der Lesart der bayerischen Staatsregierung entsprach. Die war sich mit Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt einig, dass David S. zwar rechtsextremes Gedankengut gehabt habe, dies aber nicht das ausschlaggebende Motiv für das Attentat gewesen sei. Vielmehr sei der 18-Jährige psychisch krank gewesen und habe sich dafür rächen wollen, dass er an der Schule jahrelang gemobbt worden sei.

Während der Attentäter noch immer um sich schoss, wagten die Azemis einen letzten Sprint zum Saturn. Bis zum Eingang des Elektromarkts waren es vielleicht zehn Meter. Vorne er mit den Kindern, sie hinterher.

„Schmerzen habe ich erst gar nicht gespürt“, erzählt Lumnije Azemi. „Nur wie das Blut aus meinen Beinen gespritzt ist.“ Die Kugeln haben sie getroffen, als sie gerade loslaufen wollte. In beide Unterschenkel, oberhalb der Wade. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zum Eingang. „Ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe.“

Saturn-Mitarbeiter binden die Wunden ab. Ohne sie, glaubt Azemi, wäre sie verblutet. Sie ziehen die Frau weiter ins Innere des Ladens, verstecken sie hinter Kühlschränken. Um sie herum Menschen in Panik, Schreie, weinende Kinder. Ihre eigenen Kinder sehen die Mutter in der Blutlache. „Es war die Hölle da drin“, sagt sie. „Wir haben uns so ausgeliefert gefühlt. Wir haben gedacht, jetzt kommt er jeden Moment rein und das war’s dann.“

File:MKBler - 393 - Synagogen-Mahnmal (Halle).jpg

Mit diesem Gefühl sind die am OEZ verbarrikadierten Menschen an diesem Abend nicht allein: Kurz nach 18 Uhr ist der Attentäter erst einmal von der Bildfläche verschwunden – und noch immer ist nicht klar, ob es nicht doch mehrere Täter sind. Es folgen Stunden, in denen nichts passiert – und doch scheinbar so viel. Genug jedenfalls, um ganz München in Angst und Schrecken zu versetzen. Es ist ein Phänomen, das so zuvor noch nirgends beobachtet wurde: Überall in der Stadt werden Schüsse gemeldet – am Stachus, am Marienplatz, am Max-Joseph-Platz. Im Hofbräuhaus beobachtet eine Frau sogar, wie ein Mann von Kugeln getroffen von der Balustrade stürzt.

Am Ende wird die Polizei für den Zeitraum von 17.51 Uhr bis 24 Uhr 4.310 Notrufe registriert haben, darunter 310 Mitteilungen über konkrete Terrorakte an insgesamt 71 verschiedenen Orten. Doch nichts davon ist tatsächlich passiert. Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins führt dafür den bislang in der Kriminalistik unbekannten Begriff des Phantomtatorts ein. Der Filmemacher Stefan Eberlein hat die vermeintlichen Ereignisse dieser Nacht 2018 in einer Dokumentation nachgezeichnet. „München – Stadt in Angst“ heißt der Film.

Die Panik freilich ist echt, die Menschen verbarrikadieren sich stundenlang in Läden, Anwohner öffnen ihre Wohnungen für verängstigte Passanten. Die öffentlichen Verkehrsmittel stellen den Betrieb ein, Tausende Polizeibeamte sind im Einsatz. Die Terroranschläge von Paris sind erst acht Monate her. Gefühlt herrscht in München nun dieselbe Situation: Mordende Terroristenbanden ziehen durch das gesamte Stadtgebiet.

Quelle       :           TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     McDonald’s-Restaurant in der Hanauer Straße 83 in München.

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2.) von Oben    —     Mahnmal Solinger Bürger und Bürgerinnen in Solingen

Autore Frank Vincentz

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Unten     ––    Auf dem Jerusalemer Platz in Halle an der Saale befindet sich das Synagogen-Mahnmal. Von der 1870 gebauten Synagoge konnte nur das Portal, welches nun das Mahnmal darstellt, erhalten werden, während das sonstige Gebäude in der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten zerstört wurde.

MKBler (CC BY-SA 4.0)

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