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Brüchiges Eis

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 15. April 2020

Geopolitik in Zeiten abschmelzender Pole

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Von  Sandrine Baccaro und Philippe Descamps

Am 15. Januar 2020, wenige Stunden vor seinem Rücktritt, unterzeichnete der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedjew einen Scheck über 127 Milliarden Rubel (1,46 Milliarden Euro) für den Bau des größten Eisbrechers aller Zeiten. Die Schiffe der Lider-Klasse sollen mit 200 Metern Länge, 50 Metern Breite und 120 Megawatt Leistung doppelt so leistungsstark sein wie die fünf russischen Atomeisbrecher, die heute weltweit im Einsatz sind.

Die Auslieferung des ersten von drei Lidern ist für 2027 geplant. In der Zwischenzeit werden auf der Werft des Staatsunternehmens Rosatomflot in Sankt Petersburg im Rahmen des Projekts 22220 drei weitere kleinere atombetriebene Eisbrecher fertiggestellt, die das ganze Jahr durch den Arktischen Ozean fahren und Fahrrinnen durch das dickste Packeis bahnen können.

Mit diesen Projekten demonstriert Russland seine Ambitionen auf den Ozeanen und seine Entschlossenheit, dem Nördlichen Seeweg neue Bedeutung zu verleihen. Der Sewmorput, so das russische Akronym für die Nordostpassage, war zu Sowjetzeiten eine wichtige nationale Verbindung und könnte nun auch als internationaler Seeweg immer größere Bedeutung erlangen.

Am 14. Juli 2019 registrierte die kanadische Wetterstation auf dem Militärstützpunkt Alert, 842 Kilometer vom Nordpol entfernt, eine Temperatur von 21 Grad Celsius. Dieser Rekord überstieg die Durchschnittstemperatur für den Monat Juli in dieser nördlichsten dauerhaft bewohnten Siedlung der Erde um 15 Grad. Dass die Erwärmung der Arktis zwei- bis dreimal höher liegt als der geschätzte globale Durchschnitt von einem Grad Celsius, konstatierte bereits der letzte Bericht des Weltklimarats (IPCC).1

Die Folgen sind dramatisch. Das Eis bildet sich im Winter langsamer, wird immer dünner und die Fläche, die es am Ende des Sommers bedeckt, wird immer kleiner (siehe Karte auf Seite 12). Zu beobachten war das zum Beispiel am 18. September 2019: Seit 1979 war die Ausdehnung des Meereises nur im Jahr 2012 geringer.2 Nach Projektionen des IPCC ist „bei einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad ein eisfreier arktischer Sommer pro Jahrhundert“ zu erwarten. Bei einer globalen Erwärmung um 2 Grad stiege die Häufigkeit auf „mindestens einen Sommer pro Jahrzehnt“.

Der Temperaturanstieg ist unbestritten. Allerdings ist ungewiss, wie er sich auf das Packeis der Meere auswirken wird. Im Südlichen Ozean, dessen Oberfläche zwanzigmal so groß ist wie die des Mittelmeers,3 führt das verstärkte Schmelzen der Küstengletscher derzeit paradoxerweise zur Bewahrung des Meereseises, das den antarktischen Kontinent umgibt; auch die Zunahme von Niederschlägen in Form von Schnee könnte das Abschmelzen der dicken Eiskappe teilweise kompensieren.

Eine neue Studie lässt vermuten, dass die Erwärmung der Oberfläche des Arktischen Ozeans fast zur Hälfte den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) in der Atmosphäre zuzuschreiben ist, die der Ozonschicht schaden und einen starken Treibhauseffekt erzeugen.4 Seit dem Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht von 1987 wurden sie stufenweise verboten, und

man erwartet, dass sie innerhalb der nächsten 50 Jahren aus der Atmosphäre verschwinden. Die größere Gefahr droht heute durch die Erderwärmung. Wenn weniger Wasser- und Landflächen von Eis und Schnee bedeckt sind, wird weniger Sonnenstrahlung reflektiert. Stattdessen wird sie von der Erde und den Ozeanen aufgenommen, die sich weiter erwärmen. Das führt zu einem Schmelzen des Permafrostbodens – auch unter dem Meer –, was neue Treibhausgase freisetzt, vor allem Methan.

Insgesamt wird das Meereseis in den nächsten Jahren vermutlich weniger dick sein und eine weniger große Fläche bedecken. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Schiffe in den Polarmeeren durch offenes Wasser fahren können. Die meiste Zeit des Jahres wird sich weiterhin Packeis bilden. Daher rührt folgendes Paradox, das seit Mitte der 2000er Jahre zu beobachten ist: Je mehr Meereseis schmilzt, desto stärker wächst der Bedarf an Eisbrechern.

Diese Schiffe werden noch lange unverzichtbar sein für den Ausbau der Polarrouten, die die Entfernung zwischen zahlreichen Häfen im Pazifik und Atlantik verkürzen. Von Rotterdam nach Yokohama zum Beispiel müssen Frachter auf der Route durch den Suez­kanal 20 700 Kilometer zurücklegen, über den Nördlichen Seeweg verkürzt sich der Weg auf 12 700 Kilometer. Von New York nach Schanghai sind es über Panama 19 600 Kilometer, nördlich an Kanada vorbei nur 14 500 Kilometer.

Noch nie waren so viele Eisbrecher auf den Ozeanen unterwegs. Sie befördern Touristen zum Nordpol, im Sommer unter der Mitternachtssonne und im Winter durch den Frost der Polarnacht bei Temperaturen von bis zu minus 50 Grad. Allein die russische Atomflotte hat im letzten Jahr 510 Schiffen den Weg durchs Eis gebahnt, 2018 waren es rund 400.

Alle Schiffe, die durch die Eismeere fahren, müssen einen verstärkten Rumpf haben. Als Eisbrecher bezeichnet die International Association of Classification Societies (IACS) Schiffe, deren Profil und Leistung die Durchquerung von Eis mit einer Dicke von mindestens 70 Zentimetern ermöglicht. Die leistungsstärksten Schiffe können bei langsamer Geschwindigkeit mehrjähriges Eis von mehr als 4 Metern Dicke und Presseishügel zwischen zwei Eisschollen von mehr als 10 Metern bezwingen. In der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms, der Ostsee, dem Weißen und dem Ochotskischen Meer sind Eisbrecher unerlässlich für den Seehandel. Aber auf den Polarmeeren haben sie noch eine andere Funktion: Sie sind Symbole staatlicher Souveränität in Regionen, die derzeit viele Begehrlichkeiten wecken.

Im 1961 geschlossenen Antarktisvertrag ist festgelegt, dass die Region zwischen dem 60. und 90. Grad südlicher Breite ausschließlich einer friedlichen Nutzung, insbesondere der wissenschaftlichen Forschung vorbehalten bleibt. Etwa dreißig Staaten haben dort Forschungsstationen, um die Ent­wicklung des Klimas und die wichtigsten Meeresströmungen zu erforschen, die in dieser Region ihren Ursprung haben. Viele wollen sich aber auch einen guten Startplatz sichern, falls eines Tages das Rennen auf die Rohstoffe eröffnet wird.

In den internationalen Gewässern der Arktis hat dieses Rennen schon begonnen. Russland, Norwegen und Dänemark haben die Ausdehnung ihrer ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) beantragt, dafür müssen sie beweisen, dass sich ihr Festlandsockel weiter als die 200 Seemeilen erstreckt, die gewöhnlich als AWZ gerechnet werden. Kanada wird demnächst folgen. Für einige Gebiete zeichnet sich bereits ab, dass es erbitterte juristische und politische Auseinandersetzungen geben wird.

All diese Ansprüche beziehen sich auf das 1994 in Kraft getretenen Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, das die USA noch nicht ratifiziert haben. Die Anerkennung neuer Rechte für den Abbau von Bodenschätzen im Meeresuntergrund oder im Meerwasser hat grundsätzlich keine direkte Auswirkung auf die Schifffahrt in den darüberliegenden Gewässern. Dennoch verständigten sich Kanadier und Russen bereits, um eine „Basislinie“ festzulegen, die die wichtigsten Meerengen in ihren Küstenmeeren einschließt und innerhalb derer sie uneingeschränkte Hoheitsgewalt beanspruchen. Während die USA diese Zonen weiterhin als internationale Gewässer betrachten, die niemandem gehören, berufen sich Kanadier und Russen auf die „Arktisklausel“ des Übereinkommens. Mit dem Hinweis auf die Gefahr der Verschmutzung und die Bewahrung der Umwelt verweigern sie Schiffen die Durchfahrt, die nicht den Anforderungen genügen.5

In einem Klima wachsenden Argwohns bleibt auch die Polregion nicht von Souveränitätsansprüchen verschont: Im August 2007 tauchte ein russisches U-Boot 4261 Meter tief hinab und pflanzte am geografischen Nordpol eine blau-weiß-rote Flagge aus rostfreiem Titan. Regelmäßig patrouillieren MiGs über dem Nordpol. Und auf der seit 1993 verlassenen Insel Kotelny baut Moskau eine neue Basis, während die bestehende Basis auf Franz-Josef-Land vergrößert wurde.

Die USA ihrerseits mobilisierten im Oktober 2018 im Norden Norwegens zusammen mit ihren Nato-Alliierten 50 000 Soldaten für das Großmanöver „Trident Juncture“. Und als Präsident Trump am 18. August 2019 anbot, Grönland zu kaufen, offenbarte er mit der ihm eigenen Vulgarität das wachsende Interesse an den potenziellen Rohstoffen der Region.6

Dass Russlands eistaugliche Flotte alle anderen in den Schatten stellt, hat historische wie auch geologische und klimatische Gründe. Die Meereswinde und -strömungen, vor allem der warme Nordatlantikstrom, öffnen die Nordostpassage entlang der sibirischen Küste regelmäßiger als die Nordwestpassage durch das schwierig zu durchfahrende Labyrinth der kanadischen Inseln. Die Westroute durchs Nordmeer wurde zuerst vom Norweger Roald Amundsen in den Jahren 1903 bis 1906 bezwungen. Doch bis in die 2000er Jahre wurde sie nur selten genutzt. Die östliche Passage hingegen durchquerte der Schweden Otto Nordenskjöld bereits 1878/79 vollständig – von Norwegen bis zur Beringstraße.

„Lenin“, der Atomeisbrecher

Der Sewmorput war für die Erschließung des asiatischen Teils des UdSSR von entscheidender Bedeutung. Er war Schauplatz für zahlreiche sowjetische Heldentaten – und einige Tragödien. 1932 gelang dem Eisbrecher „Sibirjakow“ die erste Durchfahrt von Archangelsk bis Yokohama (Japan) in einer Saison. Ab Mitte der 1930er Jahre wurde die Nordküste im Sommer regelmäßig angefahren. Der Ost-West-Seeweg ergänzte die Süd-Nord-Flussrouten über die großen sibirischen Ströme Ob, Jenissei, Lena und Kolyma, die im Sommer ebenfalls eisfrei sind.

Um die sibirische Küste – vor allem die dortigen Abbaugebiete für Bodenschätze – auch im Winter ansteuern zu können, lief 1959 der erste Atomeisbrecher, die „Lenin“, vom Stapel. Sie blieb bis 1989 im Dienst. Am 14. August 1977 erreichte die „Arktika“ als erstes Überwasserschiff den Nordpol. 1978 gelang es erstmals, den westlichen Teil des Sewmorput bis zur Jenissei-Mündung mit Eisbrechern das ganze Jahr über offen zu halten. „Anfang der 1970er Jahre verfügte die UdSSR im arktischen Becken über 138 Frachtschiffe der Eisklasse“, schreibt der Historiker Pierre Thorez. „Am Ende der Sowjetzeit waren es fast 350, hinzu kamen 16 Langstreckeneisbrecher, 8 davon mit Atomantrieb.“7

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Auf dem Nördlichen Seeweg wurden vor allem Kohle, Erdöl, Holz und Mineralien transportiert. Ende der 1980er Jahre erreichte das Transportvolumen mit jährlich 7 Millionen Tonnen Fracht seinen Höhepunkt, bevor es nach dem Ende der UdSSR einbrach und bis 1998 auf 1,5 Millionen Tonnen sank. In den Förderregionen ging mit diesem radikalen Rückgang eine Welle der Abwanderung einher. 2001 präsentierte Wladimir Putin seine Marine-Doktrin, mit der diese Entwicklung umgekehrt werden sollte. Nach einem langsamen Anstieg erreichte das Volumen der transportierten Güter erst 2017 wieder das Niveau von 1989. Seitdem ist es allerdings rasant gestiegen: 2019 wurden über 31 Millionen Tonnen Fracht verschifft.8

Das starke Wachstum erklärt sich vor allem durch die Ausbeutung des gewaltigen Erdgasvorkommens auf der Jamal-Halbinsel im Obdelta.9 15 Gastanker der Eisklasse wurden in Dienst gestellt, um das verflüssigte Gas nach Nordeuropa und Asien zu bringen. Die Erschließung dieser gewaltigen Lagerstätte war nur durch finanzielle und technische Hilfe des Westens und Chinas möglich: Am Joint Venture Yamal LNG, das die Lagerstätte ausbeutet und die Schiffe ausrüstet, sind die französische Total und PetroChina mit je 20 Prozent und der chinesische Seidenstraßen-Fonds mit 9,9 Prozent beteiligt. Die Kapitalmehrheit bleibt jedoch unter Kontrolle der russischen Novatek.

Unter den russischen Großinvestitionen – die in die Erneuerung oder den Ausbau von Häfen, Flughäfen und Eisenbahnlinien fließen – nehmen die Eisbrecher der Lider- und der 22220-Reihe einen wichtigen Platz ein. Die neue „Arktika“, die „Ural“ und die „Sibir“ sollen 2020, 2021 und 2022 in See stechen. Nicht nur was ihre Leistungsstärke betrifft, setzen sie neue Maßstäbe; durch ein neues Konstruktionsprinzip können sie ihren Tiefgang mittels Ballasttanks so anpassen, dass sie auch in flachen Flussmündungen navigieren können.

Quelle      :        Le Monde diplomatique         >>>>>        weiterlesen

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Unten     —    German polar research vessel POLARSTERN in Atka Bay, Antarctica during supply of Neumayer-Station

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