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Erstellt von Redaktion am Donnerstag 12. Dezember 2019

Ein merkwürdiges Verbrechen

Ein Kommentar von

In Augsburg ist ein Mann durch eine Gewalttat zu Tode gekommen. Ein anderer Mann ist verletzt worden. Die öffentliche Behandlung dieses Geschehens wirft ein grelles Schlaglicht auf den Zustand der Gesellschaft.

Merkwürdigkeit

„Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen“ nannte einst der Wirkliche Staatsrat und Präsident des Appellationsgerichts Ansbach, der Strafrechtslehrer Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach eine von ihm herausgegebene Sammlung von Kriminalfällen. Er meinte mit „merkwürdig“ nicht „seltsam“, sondern: bemerkenswert. Und als bemerkenswert erschienen ihm die Fälle, weil man daraus etwas lernen konnte: Über die Taten, die Menschen, die sie begehen und erleiden, die Aufklärung und das Recht, das sie als strafwürdige Taten erfassen und „würdigen“ will. Seit dem Jahr 1828, als Feuerbach sein Buch veröffentlichte, hat sich die Schlagzahl der Berichte über Straftaten vertausendfacht. Die daraus zu ziehenden Lehren haben sich nicht im selben Maß entwickelt.

Seit dem 6. Dezember ist wiederum die Rede von einem merkwürdigen Verbrechen: In Augsburg ist ein Mann durch Gewalteinwirkung getötet worden; ein zweiter Mann wurde verletzt. Wenn man den seither anhaltenden Verlautbarungen und Berichten folgt, ist die Tat, vorab und auf jeden Fall, als entsetzlich, grauenhaft, fürchterlich, schockierend, zutiefst verstörend, unfassbar usw. zu bezeichnen. Alles andere wäre fast schon wieder selbst ahndungswürdig, da es „verharmlost“, die Opfer missachtet, die Realität verkennt, Verbrechen entschuldigt, usw. Man kann sich also vermutlich, sofern man nicht alsbald, ungefragt und bedingungslos in das lautest mögliche Wehgeschrei einstimmt, nur unbeliebt machen, mindestens aber verdächtig der Förderung von Gewalt, Verrohung und Menschenverachtung.

Dennoch ist es notwendig, auf Distanz zum Geschehen zu gehen, ein wenig Luft zu holen und die Geschehnisse von außen zu betrachten. Im Gegensatz zu den teils erlogenen, teils erfühlten Eindrücken, die rund um die Uhr vermittelt und berichtet werden, befinden sich nämlich annähernd 100 Prozent aller Menschen im „Außen“ des Geschehens: Sie sind nicht betroffen, auch wenn sie noch so laut ihre „Betroffenheit“ versichern. Sie waren nicht dabei, auch wenn sie noch so lang die Fotos vom Tatort anschauen. Und sie sind nicht Teil des nun ablaufenden „Verfahrens“ medialer, strafrechtlicher, politischer Art, sei es als Verletzte oder Hinterbliebene, sei es als Beschuldigte oder (deren) Angehörige.

Pressekonferenz

Bitte überlegen Sie einmal, wann Sie zuletzt in ARD oder ZDF eine live übertragene polizeiliche Pressekonferenz von 50 Minuten Dauer gesehen haben, und bei welchem Tat-Ereignis das der Fall war. Ich denke, da wird vielen gar nichts einfallen, andere werden vage Erinnerungen an Terroranschläge, andere katastrophale Ereignisse oder ungewöhnlich gravierende Ermittlungsverfahren haben. Zu den im vergangenen Jahr von der Polizei registrierten 3.200 vollendeten oder versuchten Tötungsdelikten hat die ARD, soweit ich weiß, keine Live-PK bundesweit übertragen.

Vor den Kameras: Ein Polizeipräsident, ein Leiter der Kriminalinspektion, ein Leitender Oberstaatsanwalt. Jeder der drei hat viele Jahre Berufserfahrung. Jeder weiß, was ein Totschlag ist, was eine Körperverletzung. Jeder kennt den Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, die Voraussetzungen für Haftbefehle und für Verurteilungen. Jeder kennt die Statistiken über Gewaltdelikte, und hat schon viele hundert Verfahren wegen solcher Delikte gesehen. Von all diesen Erfahrungen fließt in die Statements der drei Auskunftspersonen ein: Nichts. Und keiner der zahlreichen Journalisten fragt danach. Der Polizeipräsident versichert, er sei über die Tat ganz besonders betroffen, weil der „Blaulichtsektor“ (Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste) in Augsburg besonders gut zusammenarbeiten, und lobt die herausragend gute Zusammenarbeit in der vorliegenden Sache. Der KPI-Leiter erklärt ein ums andere Mal, wie ganz außerordentlich gut, erfolgreich und perfekt er und die von ihm geleitete Inspektion gearbeitet haben. Die „20-köpfige Ermittlungsgruppe“ habe in „herausragender Polizeiarbeit“ die Tat aufgeklärt und alle Verdächtigen festgenommen. Etwas später erläutert er: Ein Jugendlicher habe der Polizei auf Befragen mitgeteilt, er könne sich vorstellen, wer bei der Tat dabei gewesen sein könnte. Von diesem Hinweis aus habe man die Täter ermittelt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist allerdings nicht „herausragend“, sondern ziemlich schlichte Routinearbeit.

Der Leitende Oberstaatsanwalt (LOStA) bittet um Entschuldigung dafür, dass „seine Kapitaldezernentin“ (er meint: die für Tötungsdelikte zuständige Staatsanwältin) nicht anwesend sei: Gerade im Moment sei sie beim Amtsgericht, „um Haftbefehle zu erwirken“. Fünf habe sie schon erwirkt, er hoffe, dass er noch im Laufe der PK für die weiteren zwei Vollzug melden könne.

Alle sieben Haftbefehle sind, wie man erfährt, wegen dringenden Verdachts des Totschlags (ein Beschuldigter) bzw. der Beihilfe dazu (sechs Beschuldigte) am ersten Opfer sowie der gefährlichen Körperverletzung (alle sieben Beschuldigte) am zweiten Opfer ergangen. Das ist aus verschiedenen Gründen wichtig, vor allem deshalb, weil nach § 112 Abs. 3 StPO bei Verdacht eines Totschlags ein so genannter „Haftgrund“ nicht erforderlich ist: Die Annahme von Totschlagsverdacht führt auch ohne Flucht, Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr zur Anordnung von Untersuchungshaft. LOStA und KPI-Leiter erwähnen diesen Umstand nicht. Es trifft sich freilich gut, dass man der in Angst, Schrecken und Zorn aufgewühlten Bevölkerung und „Social-Media“-Nation nicht erklären muss, was Haftgründe sind und warum man Jugendliche mit „mehreren Staatsangehörigkeiten“ eventuell nicht in Haft genommen hat. Erst mal einsperren ist immer gut. Bayern ist sicher.

Tatverdacht

Die Sache selbst blieb in der Pressekonferenz im Vagen. Das Geschehen, aufgezeichnet von einer Überwachungskamera, soll sich nach Auskunft der Polizei innerhalb weniger Sekunden abgespielt haben: Die Opfer-Gruppe ging zunächst an der Tätergruppe vorbei; dann dreht sich das spätere erste Opfer um und ging auf die sieben Personen zu. Diese „umringten“ ihn kurz, es wurde geredet; dann schlug einer unvermittelt mit der Hand gegen den Kopf. „Und das führte so zum Tod“, wiederholte der KPI-Leiter gleich mehrmals; auf weitere Journalistenfragen gab es „aus Gründen des Opferschutzes“ keine Auskunft. Diese Schilderung lässt natürlich alles offen. Das kann vielleicht auch gar nicht anders sein, weil man halt noch nicht mehr weiß. Aber man sollte dann nicht so tun, als stünden irgendwelche ausschlaggebenden Tatsachen schon fest.

Quelle         :           Spiegel-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle         :

Oben        —        Augsburger Christkindlesmarkt

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Unten              —         Thomas Fischer auf der re:publica 2016

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