Aufwachen, Kinder !
Erstellt von Redaktion am Samstag 11. April 2020
Wohlstandsgesellschaft und das Virus
Das Leben der Specknacken
Von Helmut Däubler
Wir sind eine Gesellschaft, die kein Bewusstsein für Krisen hat. Katastrophen fanden stets woanders statt. Bis jetzt.
Kaum geht die Krise los, sind wir ihrer schon wieder überdrüssig. Wie Kinder, die auf dem Weg in den Italienurlaub nach einer Stunde zu quengeln beginnen: Wie lange noch, Mama? Ich will ankommen, Papa!
Noch sind wir erst am Anfang, und schon haben wir über unsere Gesellschaft mehr gelernt als in Jahrzehnten der Ruhe, des Gleichlaufs. Seit Ewigkeiten kamen die kollektiven Härten immer nur aus den Medien. Waren es lange Zeit die zahlreichen Kriege und Katastrophen aus aller Welt, so müssen wir zuletzt beobachten, wie Menschen mangels einer ausreichenden Menge von Beatmungsgeräten in Italien unbehandelt sterben. Doch wer waren die Leidtragenden? Immer die anderen. Bis heute.
Darauf blicken wir wie Kinder, die sich das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein anschauen. Und wir erkennen dabei nicht, zu welcher in weiten Teilen hochgradig unreifen – man könnte schon fast sagen: infantilen – Gesellschaft wir geworden sind.
Täglich linsen wir mit Schaudern auf die Pressekonferenzen von Virolog:innen, die uns ansteigende Kurven zeigen, und von Politiker:innen, die uns sanft erklären, wie wichtig jetzt Vernunft, Maß und Mitte seien. Wir sollten uns einfach mal in unser Schneckenhaus zurückziehen. Und das tun wir auch.
Lasst uns endlich wieder raus!
Aber ist jetzt nicht langsam Schluss mit dem Theater? Es ist ja ganz nett, dass wir einmal eine Zeit lang Geisterbahn fahren durften, aber wann endlich können wir wieder aussteigen? Allmählich nerven die Gespenster. Lasst uns endlich wieder raus!
Wir leben wie in einer Traumwelt, wie in einem prickelnden Horrorfilm, der uns schaudern lässt. Wo aber ist der Ausschaltknopf? Wann endet dieser schreckliche Hollywood-Apokalypse-Thriller endlich? Wann können wir uns endlich wieder in den sanften Schlaf der Gerechten fallen lassen und uns versichern, dass alles nur fiction war?
Dass es diesmal Ernstcharakter hat, ja, das können wir ja gerade noch erfassen. Wir ahnen auch, dass Italien zu uns kommt. Aber glauben tun wir es nicht wirklich. So schlimm kann es bei uns doch niemals werden. Das kann gar nicht sein. Warum? Weil wir es nicht anders gewohnt sind. Bei uns ist doch immer alles gut gegangen.
Seit Jahrzehnten sitzen wir vor unseren immer größer werdenden Flachbildschirmen und lassen uns die Gruselgeschichten aus aller Welt erzählen. Wir schauen auf Bürgerkriege, auf Flüchtlingscamps, auf niederbrennende Textilfabriken und einstürzende Dämme, die Tausende im Schlamm verrecken lassen. Aber sehen wir es wirklich? Manchmal reiben wir uns die Augen und versuchen, die Welt da draußen, die schlimme, wahrzunehmen. Aber es fällt uns schwer. So schwer. Weil das Draußen immer draußen blieb. Es rückte uns in langen Jahrzehnten nie wirklich auf die Pelle.
Der Bildschirm als Brandmauer
Ja, Schrecken finden in der Welt statt, so dumm sind wir nicht, das nicht zu erkennen, aber sie finden eben nicht in unserer Welt statt. Unsere Welt ist eine prinzipiell andere. Unsere Welt ist die Welt der buchstäblich abgeschirmten Zuschauer. Wir sind die „Tagesthemen“-Generation, der Bildschirm ist unsere Brandmauer. Wir sind gewohnt, dass die Sintflut, so hat es der Soziologe Stefan Lessenich brillant formuliert, immer neben uns stattfindet. Wir sind die, die immer davon ausgehen konnten, dass die wahren Katastrophen die Katastrophen der anderen sind. Ebola hier, Fassbomben da, Genozide dort.
Wir sind gewohnt, dass die Dinge für uns niemals böse enden. Wir haben kein Bewusstsein entwickelt für die Wirklichkeit von Katastrophen, weil wir uns immer davor abgeschottet haben, uns davon haben abkapseln lassen. Ganz wie die Kinder auf dem Spielplatz, deren Helikoptereltern jeden Sturz voraus ahnen und präventiv verhindern. Wir sind es nicht anders gewohnt, als dass uns die Härten vom Leib gehalten werden.
Und nun soll sich das ändern? Von wegen. So schnell lassen wir nicht ab von dieser für uns immer schönen Welt. In Ordnung, für eine kurze Zeit wollen wir den Spuk ertragen. Wir schicken einander ulkige Toilettenpapierfilmchen zu und schauen weiter die „heute-show“ an. Ist ja alles halb so schlimm.
Wir sind eine Gesellschaft geworden, der das Bewusstsein für echte Krisen verloren gegangen ist. Hat uns nicht Draghi mit den EZB-Milliarden nach 2008 und dem Whatever-it-takes-Ding schon einmal den Hintern gerettet? Na klar. Denn anders konnte es ja gar nicht kommen. Wir werden immer gerettet. Warum sollte es diesmal anders sein? Ein paar Wochen Quarantäne, dann fahren wir wieder hoch. Das kriegen wir doch locker hin.
Dieses bei Kindern und Jugendlichen bekannte Unverletzlichkeitsgefühl haben wir uns über Jahrzehnte angeeignet. Uns kann keiner was. Ganz als wären wir Megahelden aus einem Comic. Ganz als wären wir Superwoman und Spiderman in einer Person. Wir können fliegen, wenn wir nur wollen. Und Bösewichter erledigen wir mit links. Ein kleines Virus: Was kann uns das schon anhaben? Und kommt es uns doch zu nahe, legen wir es kurzerhand auf die Matte.
Wir sind schließlich prädestinierte Sieger. Wir können mission impossible. Wir schaffen das. Und wenn dann doch was schiefgeht, Vater Staat ist ja immer da für uns: unser Überheld, unser Batman. Er hat uns immer rausgehauen. Die Dinge haben sich immer wieder eingeschaukelt, und so werden sie es auch diesmal tun. Wir sind in besten Händen!
Seit Generationen nur Kontinuität
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Von der Leyen with U.S. President Donald Trump in January 2020
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