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Aufbruch von unten

Erstellt von Redaktion am Sonntag 26. Februar 2017

In vielen Städten Spaniens haben Bürgerinitiativen
die Rathäuser erobert

von Pauline Perrenot und Vladimir Slonska-Malvaud

Auf der Plaza del Pilar in Saragossa liegt zum jährlichen Stadtfest Mitte Oktober ein Berg von Blumen und Kruzifixen. Die Straßen sind voller Touristen, und die Kaufhäuser bieten alles, was das Herz begehrt. Ein Sturm auf irgendein spanisches Winterpalais ist nicht in Sicht. In Saragossa hat wie in Madrid, Cádiz, Santiago de Com­pos­tela, Barcelona, Valencia, Ferrol, La Co­ru­ña und Badalona eine Koalition aus Bürgerplattformen und linken Parteien die Kommunalwahlen vom Mai 2015 gewonnen. Die überrumpelten Konservativen riefen lauthals Alarm, doch die Revolution blieb sehr diskret.

„Man kann eine Stadt nicht in anderthalb Jahren umkrempeln“, meint Guillermo Lázaro, Koordinator von Zaragoza en Común (ZeC) im Stadtrat. Er fügt hinzu, dass die Bevölkerung nicht unbedingt das Privateigentum, sondern eher die politische „Kaste“1 abschaffen wolle: „Die Menschen wollten vor allem normale Leute an der Regierung, die so ähnlich sind wie sie selbst.“

In Santiago de Compostela regiert die Plattform Compostela Aberta (Offenes Compostela). Gegründet wurde sie „aus Abscheu“, wie ihre Sprecherin Marilar Jiménez Aleixandre erklärt. „Kaum ein Jahr nach seiner Wahl wurde der konservative Bürgermeister Ge­rar­do Conde Roa wegen Steuerbetrugs verurteilt.“ Innerhalb derselben Legislaturperiode folgten zwei weitere Bürgermeister, die ebenfalls in Korrup­tions­skandale verwickelt waren, sodass man die Stadt fortan „Santiago de Corruptela“ nannte.

Schon am 15. Mai 2011 hatte die Krise der politischen Klasse in Madrid die Bewegung 15-M hervorgebracht; nach und nach führte sie zu bunt zusammengewürfelten Koalitionen, in denen ganz neue Volksvertreter saßen: „Compostela Aberta besteht zum Teil aus früheren Mitgliedern der großen Volksparteien“, sagt Jiménez Aleixan­dre. „Aber viele unserer Mitglieder haben noch nie Politik gemacht, oder sie kommen aus den Nachbarschaftsvereinen,2 der Frauenbewegung, den Gewerkschaften oder Bürgerinitiativen gegen Immobilienspekulation. Es sind auch Prominente dabei, Schriftsteller, Kulturschaffende und Leute von 15-M.“ Längst nicht alle sehen sich als Linke.

Ihre politischen Gegner und manche Medien bezeichnen sie als „Podemos-Stadtverwaltungen“; doch das entspricht nicht den tatsächlichen, oft konfliktreichen Beziehungen der Bürgerlisten zu Podemos, der im Oktober 2014 gegründeten Linkspartei.

Die Koalitionen in den verschiedenen Rathäusern sind durchaus unterschiedlich. Aber eine Gemeinsamkeit, meint Jiménez Aleixandre, gibt es: „Wir betrachten uns nicht als Partei. In klassischen Parteien haben die Interessen der Kader meistens Vorrang: den Posten behalten, ohne im permanenten Austausch mit der Basis zu sein. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir auch bei Podemos. Wir probieren dagegen verschiedene Organisationsformen aus, bei uns soll das Wahlprogramm Prio­rität haben.“ Die Wahlprogramme sprechen von großen Zielen: mehr Demokratie, gerechte Verteilung des Reichtums, Beschneidung der Macht der Kirche, Rekommunalisierung öffentlicher Dienste, Frauenrechte und so weiter.

Der Bürgermeister von Santiago de Compostela, Martiño Noriega Sánchez, steht auf, kaum dass unser Interview begonnen hat: „Ich gehe runter in den Hof. Wir legen jedes Mal eine Schweigeminute ein, wenn eine Frau an den Schlägen eines Mannes stirbt.“ Solche Aktionen begleiteten die Wiedereröffnung des Frauenhauses in der 100 000-Einwohner-Stadt, und es gab weitere Kampagnen, um Gewaltopfer zu unterstützen: Am 25. November, dem von der UNO ausgerufenen Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, wurde die ganze Stadt schwarz beflaggt, Busse und Schaufenster trugen die Aufschrift „Contra a violencia“.

Später zeigt uns der Bürgermeister seinen Sozialplan, der im Oktober in Kraft getreten ist. „Das ehrgeizigste Programm, das wir bis jetzt umgesetzt haben, ist ‚Compostela Suma‘. Wir haben Verträge mit Hotels und Organisationen wie dem Roten Kreuz geschlossen und Mittel freigemacht, um Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu geben; dafür haben wir auch kommunale Gebäude umgenutzt.“

Santiago de Compostela – Schutz für Frauen

Mit dem Programm soll Bürgern geholfen werden, die nach den Gesetzen der Provinz Galizien „zu reich“ für die Sozialhilfe sind. Zudem erklärt Noriega Sánchez ganz offen, dass er die Streikenden der prekär oder bei Subunternehmen Beschäftigten im Arbeitskampf mit dem größten spanischen Telefonanbieter Telefónica-Movistar unterstützt.

Auch einige Symbole sind ins Fadenkreuz der neuen Kommunalregierungen geraten. In Barcelona sorgte eine kopflose Statue des Diktators Franco – im Rahmen einer von der Stadtregierung unterstützten Ausstellung – für heftige Proteste seitens der Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit.3

Und in Madrid traten zum spanischen Weihnachtsfest am 6. Januar 2016 statt der Heiligen Drei Könige auch Königinnen auf. Das sind keine leeren Provokationen, sondern Angriffe auf das franquistische und katholische Erbe Spaniens, ein Echo der republikanischen Ideen der Bewegung 15-M, die auf den Demonstrationen weiterhin mit der violett-gelb-roten Fahne präsent ist – den Farben der Spanischen Republik von 1931, die mit dem Bürgerkrieg unterging.

Der Einzug vieler Engagierter aus Vereinen und Bürgerinitiativen in ein Rathaus, mit dem sie in der Vergangenheit häufig problematische Beziehungen verbanden, führte zu einer neuen Haltung der Stadträte. „Man will uns in die Entscheidungsprozesse einbinden“, freut sich Enrique „Quique“ Villalobos, Vorsitzender des Bündnisses der Nachbarschaftsvereine von Madrid (FRAVM). „Wir kommen leichter an Informationen. Das klingt so einfach, aber das ist ein Riesenschritt, denn erst wenn wir Informationen haben, wissen wir, was wir fordern müssen. Das Rathaus selbst erleichtert uns jetzt also den Protest gegen das Rathaus!“

Man arbeitet Hand in Hand, pflegt aber auch das Streitgespräch: Die Zusammenarbeit der Bürgergruppen mit ihren früheren Mitstreitern bedeutet nicht automatisch sozialen Fortschritt, und Herzlichkeit im Umgang bedeutet noch lange nicht Übereinstimmung. „Unsere Bilanz der ersten Regierungstage von Barcelona en Comú fällt gemischt aus“, berichtet Daniel Pardo vom Verband der Stadtviertel für nachhaltigen Tourismus (ABTS). „Es gibt jetzt einen Dialog, während vorher nur Verwaltung und Industrie für den Tourismus zuständig waren: Die Indus­trie entschied, die Verwaltung unterschrieb. Aber wir waren doch etwas erstaunt, dass unsere Stimme, die ja für das Gemeinwohl eintritt, nicht mehr zählt als die Meinung irgendeines dahergelaufenen Hotelbesitzers.“

Carlos Macías, Sprecher der Plattform für Hypothekenopfer (PAH) in Barcelona, die gegen Zwangsräumungen vorgeht, demonstrierte im Oktober 2016 gemeinsam mit 20 anderen in T-Shirts mit launigen Aufschriften vor dem Rathaus. Drinnen tagte der Stadtrat und verhandelte über einen Antrag der Initiative. Es ging um Zinsberechnungen für Immobilienkredite, die nach einem Gesetz vom September 2013 zum Vorteil der Banken geändert werden konnten. Davon sollen über eine Million Kredite betroffen sein. Zahlreiche Familien konnten ihre Schulden aufgrund der überzogenen Zinslast nicht mehr bedienen. In Barcelona verpflichtete sich nun die Stadtregierung, nicht mehr mit den entsprechenden Banken zusammenzuarbeiten und den Opfern behördliche Unterstützung zu gewähren.

Barcelona – für einen nachhaltigen Tourismus

Quelle : Le Monde diplomatique  >>>>>  weiterlesen

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Fotoquelle: Wikipedia – Urheber Bettenburg in der Wikipedia auf Deutsch

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