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Alles hat seinen Preis

Erstellt von Redaktion am Samstag 1. September 2018

Freie Fahrt für freie Bürger

Farringdon station MMB 22 S-Stock.jpg

Von Eva-Lena Lörzer
und Luciana Ferrando

§ 265a Strafgesetzbuch:

Erschleichen von Leistungen

„Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“

Herr B. erscheint nicht. Zweimal hat ihn Richterin Pelz an diesem heißen ­Augustmorgen aufgerufen. Er soll in Saal 134 im Gebäude B des Amtsgerichts Berlin-Moabit erscheinen. Sie wartet. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Nichts passiert. Dann vollstreckt sie das Urteil: Der Strafbefehl wird rechtskräftig, Herr B. muss zahlen: ein Bußgeld für das Erschleichen von Leistungen und die Verhandlungskosten.

Sein Verteidiger kann nichts für ihn tun: Ihm fehlt eine Vollmacht. Während er seine Akten in die Tasche steckt, wirbt er – und es wirkt charmant – doch noch einmal bei der Richterin um Verständnis: Wie einfach man zum Erschleichen dieser Leistung komme, sagt er, habe er neulich in Hamburg erlebt: „Da war mit einem Mal ein Teil meines Zuges privat, und mein Ticket galt nicht.“ Die Richterin nickt. Noch im nach abgestandenem Schweiß riechenden Gerichtssaal stehend, sagt sie, dass niemand möchte, dass Verfahren wegen Beförderungserschleichung mit Haft enden. Die Medien berichteten jedoch einseitig. Es gebe viele Bemühungen, dass es nicht dazu kommt: Man kann das erhöhte Beförderungsentgelt in Raten zahlen oder die Geldbuße durch soziale Arbeit ableisten. „Nur, was soll die Justiz tun, wenn jemand auf nichts reagiert?“

Schwarzfahren – das Wort soll vom Jiddischen shwarz = arm abgeleitet sein und der sprachlichen Herkunft nach also „arm fahren“ bedeuten – ist eine Straftat und wird nach Ermessen der Verkehrsunternehmen meist ab dem dritten Mal angezeigt. Dann droht zusätzlich zum erhöhten Beförderungsentgelt von 60 Euro auch eine Geldstrafe. Wer die nicht begleicht, muss mit Haft rechnen. Derzeit verbüßen deutschlandweit etwa 7.000 Leute, die schwarzgefahren sind, eine Ersatzfreiheitsstrafe. Allein in Berlin laufen pro Jahr etwa 40.000 Ermittlungsverfahren wegen Beförderungserschleichung. In der Justizvollzugsanstalt Plötzensee saß zeitweise ein Drittel der Insassen Ersatzfreiheitsstrafen ab, meist wegen Schwarzfahrens. Ist diese Strafe angemessen? Löst man so das Problem?

Das WDR-Politikmagazin „Monitor“ hat bei den Bundesländern nachgefragt, wie viel die Verfahren den Staat jährlich kosten. Ergebnis: 200 Millionen Euro. Selbst der Deutsche Richterbund spricht sich für die Abschaffung des Straftatbestands aus. Durch die strafrechtliche Ahndung von Schwarzfahrvergehen kämen die ohnehin schon überlasteten Gerichte an ihr ­Limit.

An diesem Freitag verhandelt eine Kollegin von Richterin Pelz in einem anderen Saal des Berliner Amtsgerichts über drei weitere Fälle von Beförderungserschleichung: den einer Spanierin, die dreimal ohne Ticket gefahren ist, den einer Frau mit Schizophrenie, deren Akte neben 11-maliger Beförderungserschleichung auch Ladendiebstahl umfasst, und den eines Mannes, der wegen Beförderungserschleichung in sieben Fällen angeklagt wird. Niemand erscheint. Die Spa­nierin wird noch einmal bestellt, die an Schizophrenie Leidende für schuldfähig befunden und zu 80 Tagen verurteilt. „Schizophrenie ist keine Entschuldigung“, sagt die Richterin. Der chronische Schwarzfahrer soll das nächste Mal von der Polizei vorgeführt werden.

Einer, der schon mal im Gefängnis war wegen viermaliger Beförderungserschleichung, steht mit verwuschelten Haaren und schwarzem T-Shirt auf dem vollen Bahnsteig des S-Bahnhofs Sonnenallee in Berlin Neukölln. Paul soll er hier heißen. Paul Z. Im Jahr 2013 war er im Knast. 100 Tage lang. Obwohl er mittlerweile eine Monatskarte hat, schätzt er – alte Schwarzfahrergewohnheit – die anderen Wartenden ab: Es könnte ja doch ein Kontrolleur darunter sein. Er wurde hier schon mal erwischt.

Im Leben des 34-Jährigen lief einiges schief. Der Vater Alkoholiker. Einer, der zuschlug. „Schon mit neun habe ich mich geritzt, gezündelt und geklaut.“ Hilfeschreie seien das gewesen, Sachen, die ein Kind macht, um zu zeigen, dass etwas nicht stimmt. Seine Mutter schickte ihn zum Psychiater. Der verabreicht Psychopharmaka.

Er war zwölf, als er von den Medikamenten auf Alkohol und harte Drogen umstieg. Mit 14 lief er von zu Hause weg, war fortan einer der Punks, die am Berliner Zoo abhingen. Mit 26 bekam er eine drogeninduzierte Psychose: Aus der Zeit stammen seine vier Anzeigen. Er dreht sich eine Zigarette, leckt am Klebstreifen, sagt: „Schwarzfahren hat mir’s Genick gebrochen.“ Deswegen ist er verschuldet und vorbestraft. „Ich kriege keine Wohnung, nicht mal ’n Handyvertrag.“ Auf dem Bahnsteig versucht ein junger Mann, ein Straßenmagazin zu verkaufen. Die meisten fächern sich Luft zu und warten auf die S-Bahn, ohne zu reagieren. Paul Z. wirft ein paar Cent in seinen Pappbecher: „Mehr habe ich selber nicht.“

Die Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren – im Juristendeutsch „Ersatzfreiheitsstrafen“ genannt – sind eine Blaupause des Zustands der Gesellschaft. Paul Z. bringt das mit einem einfachen Satz auf den Punkt: „Mit der jetzigen Gesetzeslage wird Armut kriminalisiert.“

Die Soziologin Nicole Bögelein findet das auch: „Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft nur die sozial Schwachen, da die Zahlungsunfähigkeit quasi Voraussetzung zur Verhängung der Strafe ist“, sagt die Mitarbeiterin des Instituts für Kriminologie der Universität Köln am Telefon. Sie hat ein Buch über die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen geschrieben.

Tatsächlich zeigt eine Studie aus Nordrhein-Westfalen von 2018: Das Delikt ist ein Prekariatsproblem. 58 Prozent der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe in NRW verbüßen, sind langzeitarbeitslos, 21 Prozent obdachlos, 13 Prozent alkoholabhängig, 32 Prozent drogenabhängig. Bei 17 Prozent ist eine Suizidgefährdung doku­mentiert. Wenn sich daraus kein politischer Handlungsbedarf ableitet, woraus dann?

In Neugilching, einem Stadtteil von München, steigt Luna S. in die S-Bahn und packt ein Schild aus. „Ich fahre ohne Ticket! Alles für alle und zwar umsonst!“ steht darauf. Sie fährt bewusst ohne Fahrschein. Und zwar immer. Dass Schwarzfahren arme Menschen ins Gefängnis bringen kann, sei einer der Gründe, warum sie das tue. Die 21-Jährige versteht das Fahren ohne Fahrkarte als Teil ihrer politischen Arbeit.

Es ist heiß an diesem Nachmittag in München, Lunas Freund ist mitgekommen, barfuß, die beiden sind schwarz gekleidet und tragen Antifa-T-Shirts. Der Waggon ist recht leer, doch Luna S. fragt die wenigen Fahrgäste, ob sie einen Flyer mit Argumenten für den Nulltarif wollen. Die meisten schütteln den Kopf.

„Mobilität ist ein Menschenrecht“, sagt die Aktivistin, die auch im Hambacher Forst gegen den Braunkohletagebau kämpft. Sie fordert die Entkriminalisierung von Schwarzfahren und kostenfreie Verkehrsmittel: Menschen, die sich kein Ticket leisten können, würden doch in ihrer Bewegungsfreiheit und in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beschnitten. Zudem findet sie, dass es ökologisch untragbar sei, dass öffentliche Verkehrsmittel so teuer sind.

Dass das eine relevante Argumentation ist, meinen auch einige Politiker. Im Februar wurde im Bundestag über einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr debattiert. Grüne und Linke waren dafür. Kein Geld, meinten die Sprecher beider Parteien, sei kein Argument. Stefan Gelbhaar von den Grünen sagte: „Das Angebot von Bus und Bahn muss gut sein, aber eben auch bezahlbar. Das ist für viele Menschen nicht mehr gegeben. Deswegen gibt es so viele Schwarzfahrer.“ Und dann, an die Regierungsparteien gerichtet: „Da, wo Sie heute den Diesel subventionieren, müssen wir in Zukunft den ÖPNV sowie den Fuß- und Radverkehr unterstützen.“

Die Debatte wird kontrovers geführt

Die sozialen und ökologischen Probleme, die mit dem Nahverkehr zusammenhängen, sind in der Politik bekannt. In einigen Städten wird seit dem Dieselskandal mit 1-Euro-Tickets experimentiert. Auch über Beförderungserschleichung wird seit Jahrzehnten kontrovers debattiert. Im September 2017 sprach sich der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach, CDU, für die Entkriminalisierung des Delikts aus: um die Behörden zu entlasten. So setzte er eine neue Diskussion in Gang. Im April legten die Linke und die Grünen Entwürfe für eine entsprechende Gesetzesänderung vor. Die Linke fordert Straffreiheit, die Grünen wollen den Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabstufen. Es ist ein Vorstoß, die politische Mehrheit dafür ungewiss. Ende September soll es nun eine öffentliche Aussprache im Bundestag dazu geben.

Quelle    :    TAZ         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben    —       A new London Underground S Stock train departs Farringdon with a Metropolitan Line service to Aldgate.

2. ) von Oben    —      Automatische Bahnsteigsperre

 

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