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Das Gedächtnis macht Zahnschmerzen

Erstellt von Redaktion am Freitag 18. März 2016

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Das Gedächtnis macht Zahnschmerzen

Innenansichten eines Geflohenen

In der U-Bahn in Berlin. Der Kopf in Rakka. Hier sucht unser syrischer Autor nach einem Netz für sein Handy. Und dort brennt die Welt.

von Amer Mater

Auch heute tun mir die Zähne weh. Ich beiße sie fest zusammen und beäuge die Gesichter in der U-Bahn um mich herum. Ich schiebe mir einen Kaugummi in den Mund, kaue langsam. In der Hand halte ich eine blaue Tüte, darin ein Kilo Lammfleisch, gekauft in einem türkischen Geschäft in Berlin-Mitte. An der umweltfeindlichen Tüte bleiben missbilligende Blicke haften. Blicke aus fahlen Augen. Wie die Augen der Schafe auf dem Viehmarkt in Rakka. Ich schere mich nicht darum, betaste mit den Fingerspitzen die Tüte. Sie fühlt sich gut an, so zart wie meine Hand.

Am meisten habe ich mich früher auf die Feiertage gefreut. Dann bin ich immer von zu Hause ausgebüxt und auf den Mâkif-Markt gegangen. So heißt der Viehmarkt in Rakka.

Mein Vater, ein Tierarzt, erklärte den Leuten, die zu ihm in die Praxis kamen, wie sie den Schafen die Medizin verabreichen sollen. Währenddessen aß ich, auf einem Plastikstuhl sitzend, ein Sandwich, belegt mit Kebab und Tomaten. Ich mochte keine Schafe, weil sie nicht mit mir spielen wollten. Sie standen nur da und atmeten mit der Luft den Geruch vom gegrillten Fleisch ihrer Artgenossen ein. Ich bot ihnen ein Stück von meinem Sandwich an. Keine Reaktion.

Ich hasse mein Gedächtnis. Es macht mir Zahnschmerzen. Die Schmerzen fallen über mich her, sobald die U-Bahn sich in Bewegung setzt. Offenbar reagiert mein Gedächtnis auf die Seelen der Toten in den Gräbern, an denen wir zwischen den Stationen vorbeifahren. Hier, in der U-Bahn sitze ich wie ein Schaf auf dem Mâkif-Viehmarkt, völlig apathisch. Ich rieche mein eigenes Fleisch, rieche, wie es gegrillt wird, und warte.

Stolpersteine aus Fleisch

Ich öffne YouTube auf dem Handy. Der Tod treibt sich herum auf den Straßen. Klettert die Bäume hoch in unserem Viertel, schnappt den Kindern den Ball weg, spielt ihn mir zu.

Ich steige aus der U-Bahn, strauchle über die Stolpersteine vor den Häusern. Ich überlege, mir selbst einen Stolperstein anzulegen. Ich will meinen Namen auf ein weißes Blatt schreiben, den Zettel in einen Würfel Fleisch aus meiner Tüte pressen und das Ganze vor unserem Haus in den Boden einlassen.

Mir kommt der Gedanke, alle Stolpersteine auszugraben, die Namen der Opfer zu löschen und durch die Namen von Opfern zu ersetzen, die ich kenne. Aber ich überlege es mir anders. Womöglich verbreitet die Presse dann, dass ein antisemitischer Flüchtling aus Syrien die Holocaust-Geschichte umzuschreiben beabsichtigt, ohne dass jedoch meiner Angst auch nur die geringste Beachtung geschenkt wird. Meiner Angst vor dem Lauf der Geschichte, meiner Angst vor dem gegenwärtig von der Welt an uns verübten Massenmord.

Die Geschichte rast in meinem Kopf, rast wie die U-Bahn. Ich schließe die Augen. Sehe, wie die Menschen unersättlich Lammfleisch in sich hineinschlingen. Ich öffne die Augen, sehe, wie wir uns selbst verschlingen.

Ich bin immer noch nicht gesund. Gestern habe ich mir einen Inhalator gekauft. In Blau. Ich besprühe meine Kleidung mit feuchtem Sauerstoff, entdecke grüne Stellen an meiner Lunge. Die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch in Berlin. Es riecht moderig. So moderig, wie ich es hier noch nie erlebt habe. Ich bleibe vor einem langen Spiegel stehen, den irgendjemand auf dem Bürgersteig abgestellt hat. Ich trete ganz nah an meinen Körper heran, hauche meine Brust an. Der Atem gelangt nicht in die Lunge. Ich hauche kräftiger. Vergeblich. Viel zu wenig Luft in dieser Welt.

Quelle: TAZ >>>>> weiterlesen

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Fotoquelle: Wikipedia- DXREigenes Werk  –/– CC BY-SA 3.0

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