Lasstunskeine Freunde sein
Erstellt von Redaktion am 7. Mai 2019
Eltern werden immer älter, 80, 90, 100.
Von Ambros Waibel
Für Kinder bedeutet das: Diese unfreiwillige Beziehung verlängert sich. Warum das schmerzhaft ist – und wie wir dem entkommen.
Vergangenen Herbst wurde meine Mutter 80. Als ich leicht verspätet zu dem Lokal kam, wo die Feier stattfand, blieb ich erst mal in der Tür stehen. War ich hier richtig? Außer den engeren Familienmitgliedern war unter den Gästen niemand, den ich besser als vom Sehen kannte. Offensichtlich hatte das Umfeld meiner Eltern radikale Wandlungen erfahren, die mir entgangen waren. Aber seit wann eigentlich?
15 Jahre zuvor, beim 70. Geburtstag meines Vaters, waren sie doch alle noch da gewesen, die Freundinnen und Kollegen meiner Eltern, mit denen ich aufgewachsen war. Es war ein rundes Jubiläum, aber auch ein Fest zum Ende des aktiven Berufslebens der Älteren – eines, das die Kindheit von uns Jüngeren endgültig abschloss, eine Art Stabübergabe: Ab jetzt waren wir die Bestimmenden, die Verantwortlichen. Jenes Fest war ein Anfang, aber auch ein Ende, ihre Saison war vorbei, die neue konnte beginnen, mit einer Verlängerung hatte ich nicht gerechnet. Oder spielten meine Eltern jetzt in einer ganz anderen Liga?
15 Jahre später stand ich jedenfalls beim Fest für meine Mutter ohne organische Bindung an die fröhlich gemeinsame Erlebnisse besprechende Gemeinde. Niemand der „Neuen“ hatte meine Mutter als junge Frau erlebt, niemand mich oder meine Geschwister als Kinder; niemand kannte die Wohnung, in der wir aufgewachsen waren, all unsere familiären Tragödien und Freuden gehörten hier nicht her. Meine Mutter forderte mich auf, ihre neuen Freunde kennenzulernen, ich wollte das auch, aber ich kam nicht in Stimmung. Ich blieb gehemmt, ich spürte ein Ziehen in der Brust, ich war erleichtert, als das Essen zu Ende ging und ich mich ins Nachtleben absetzen konnte. Aber das Gefühl, dass hier etwas nicht mehr stimmte, ließ sich nicht durch ein paar Bier vertreiben.
Die letzten 2.000 Jahre war die Sache klar: Siebzig Jahre leben wir – wenn‘s hoch kommt, werden es achtzig. So steht es in den Psalmen der Bibel. Heute hat meine 1938 geborene Mutter statistisch gute Chancen, 90 Jahre alt zu werden. Und wenn sie dieses unbiblische Alter erreicht haben wird, dann können wir beide – ich bin gerade 50 geworden – auf sechs gemeinsame Jahrzehnte zurückblicken: So viel Zeit wie heute hatten Eltern und Kinder noch nie miteinander – bei den Lebenserwartungschampions in der Schweiz kommen jeden Tag sechs Stunden hinzu. Und wie immer, wenn Menschen mehr Zeit haben, stellt sich ihnen die Frage, was sie mit ihr eigentlich anfangen wollen. Die TV-Moderatorin und Autorin Charlotte Roche hat wie so oft die Nase vorn. Sie sieht die „hohe Lebenserwartung“ als Problem für Eltern und Kinder. „In den Zeiten der Pest“, schreibt Roche für das SZ-Magazin, „konnte man schon um 20 rum ein echter Erwachsener sein, weil Eltern so um die 40 gestorben sind. Man ist nämlich erst richtig erwachsen, wenn man keine Eltern mehr hat. Wenn sie noch leben, bleibt man immer irgendwie Kind. Wenn heutzutage alle 90, 100, 120 Jahre alt werden und wenn zum Pech noch Unglück dazu kommt, überleben sie einen, und man stirbt ohne je selbst in den Genuss zu kommen, wie es sich anfühlt, ein echter eigener, freier, selbstständiger Erwachsener zu sein.“ Roche schrieb, sie habe sich von ihren Eltern getrennt.
So radikal war ich nicht – oder doch? Ich hatte mich auf dem 80. meiner Mutter einfach nur überflüssig gefühlt, bei den Menschen, von denen ich gedacht hatte, dass sie mir am nächsten stünden, dass ich für sie am wichtigsten wäre, weil sie doch den Kern meiner Familie bildeten.
„Man ist nämlich erst richtig erwachsen, wenn man keine Eltern mehr hat“
Charlotte Roche
In den letzten Jahren hatte ich mich oft danach gesehnt, meinen Eltern näher zu sein. Wir wohnen weit voneinander entfernt, wir telefonieren oft. Aber was mir fehlte, hatte ich gemerkt, war die Alltäglichkeit der Begegnung, eine beiläufig-zärtliche Berührung, eine Hilfestellung im Alltag, ein gemeinsames Erlebnis. Aber nun war ich da gewesen und hatte festgestellt: Die hier feierten, waren sozusagen eine andere Mutter und ein anderer Vater. Und wer hier versammelt war, um meine Mutter zu ehren, die neuen Freunde, Nachbarn vor allem, die – so sagte es einer meiner Brüder in seiner Rede sehr treffend, sehr radikal eben – die waren nun „Familie“.
Wenn das so war – was sollte das überhaupt noch, dieses Konzept Familie in Zeiten einer immer längeren Lebenserwartung mit immer neuen, noch nie da gewesenen Lebenskapiteln? Was bedeutet Familie?
Es waren die alten Römer, die neben vielen anderen praktischen Dingen auch die „Familie“ erfunden haben. Sie verstanden darunter die „Gesamtheit der Dienerschaft“ (famulus bedeutet Diener, Sklave). In dieser römischen Veranstaltung familia hatte der Vater, der pater, die absolute Macht über Leben und Tod. Er durfte straflos alle Familienangehörigen töten, die gegen seine Regeln verstießen.
So, als Herrschaftsform, trat die Familie aus der privaten in die öffentliche Sphäre. Und als solche hat sie sich über die Jahrtausende gegen alle Versuche, sie zu schwächen oder durch ein antiautoritäres Modell abzulösen, mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit behauptet. Wenn wir gar nicht anders können, als uns nach den Riten und dem Mief der Familie zu verzehren, dann auch deswegen, weil Familie die berühmte Keimzelle des Staates ist, der seinerseits nichts anderes darstellt als die institutionalisierte Form der „Gesamtheit der Dienerschaft“. Als Unfreie werden wir geboren, und unfrei sollen und wollen wir in unserer Familienhysterie bleiben.
Und ich, als Jüngster von drei Söhnen, fiel mir küchenpsychologisch ein, hatte vielleicht einfach nicht genug mitbekommen von unserer ehemaligen Großfamilie mit Großeltern, Tanten, Onkeln und Verwandten. Während sich meine Brüder und Eltern dankend von der traditionellen Familienidee verabschiedet hatten, hinkte ich – nicht zum ersten Mal, fiel mir ein – sentimental hinterher, so wie früher, als ich der Einzige war, der noch aufgeregt mitkommen wollte, um die Oma vom Bahnhof abzuholen, während meine Brüder sich noch tiefer in ihre Legokonstruktionen versenkten.
Kam daher dieses Ziehen in der Brust? Konnte ich mich deswegen nicht zu einem nüchternen Bild von Familie durchringen? Wollte ich vielleicht gar kein „echter Erwachsener“ sein, wie Roche es formuliert?
Von meinem Vorher weiß ich nichts
Meine Erinnerung setzt mit ungefähr drei Jahren ein, mit einem Besuch bei den Urgroßeltern, im Frühjahr 1972. Von diesem Besuch ist mir ein vager Geschmack von Erdbeer-Eis geblieben, ein Geruch von Flieder, ein hinter Schleierfetzen durchblitzendes erstes Bild von mir selbst vor Teppichstangen. Es war das erste Mal, dass ich mich von außen sah, dass ich mir meiner Existenz bewusst wurde.
Von einem Vorher, meinem Vorher, weiß ich nichts. Ich war bewusstlos, wehrlos, ein Mensch im Ausnahmezustand, wie der Philosoph Giorgio Agamben das sagt – vollkommen der Gewalt anderer ausgeliefert. Es war die Entscheidung meiner Eltern, ob sie mich liebten oder vernachlässigten, ob sie mich wiegten oder tot schüttelten, ob sie mich missbrauchten oder beschützten.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber: Mir läuft es jetzt, da ich das schreibe, kalt den Rücken herunter. Würde sich irgendwer von uns freiwillig in eine solche Lage begeben? Zudem mit Leuten, die man gar nicht kennt?
Das ist nicht nur ein Witz: Denn die Familie – meine, unsere, Ihre – ähnelt auch darin der „Gesamtheit der Dienerschaft“, als die Kinder ja sozusagen zugekauft werden. Sie haben kein Mitspracherecht über ihre Entstehung und ihren Status und ihren Preis, was ziemlich relevant ist für die derzeitige Diskussion über globale Menschenrechte: Denn warum soll das Leben eines zufälligen Deutschen, der auf die Idee kommt, Steine auf ein zufällig als Flüchtling in Libyen geborenes Kind zu werfen, mehr wert sein als eben das dieses Kindes – dem man ja nun nicht schön neoliberal vorwerfen kann, es habe halt nichts aus seinem Leben gemacht (dem Deutschen schon eher)?
Aber ich will nicht abschweifen, nicht zu weltläufig werden. Ich bleibe hier noch ein vielleicht letztes Mal in der warmen Grießbrei-mit-Haut-Welt des westdeutschen Mittelstands. Doch auch da ist irgendwann für jede und jeden Frühjahr 1972. Irgendwann setzt Bewusstsein ein, das sich ein Leben lang als Erinnerung abrufen lässt. Von nun an beginnen wir, uns zu merken, welche Erfahrungen wir machen, welche Ideen und Werte in uns eingespeist werden, in dieser Familie, mit unseren Geschwistern, mit unseren Eltern. Diese Jahre, bis sich unser Interessengebiet in der Pubertät in andere Welten verschiebt, diese Jahre sind der bewusste Teil unseres Verhältnisses zu den Eltern, darauf beziehen wir uns ein Leben lang.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Oben — Vereinfachtes Logo der DVD-Box (2. Staffel).…
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Author | Evergreen68 |
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