In Sippenhaft genommen
Erstellt von Redaktion am 5. Mai 2019
Mossul nach der IS-Herrschaft
Aus Mossul von Meret Michel
Sein Vater und vier Brüder waren bei der Terrormiliz Islamischer Staat. Der Iraker Khaled al-Madani fürchtet deshalb um sein Leben.
An jenem Frühlingstag wollte Khaled al-Madani nur kurz zum Markt. Dann merkte er, wie der Taxifahrer immer wieder verstohlen zu ihm hinüberschaute. Ob er das sei, habe der Fahrer gefragt. Und er, al-Madani, sei stutzig geworden. Denn die Wahrheit über ihn und seine Geschichte könnte ihn in Gefahr bringen.
So erzählte al-Madani es mir einige Wochen später bei einem unserer Treffen in Mossul. Dort habe ich al-Madani vor knapp einem Jahr kennengelernt – sein Freund Aziz Bashir, ein Journalismusstudent an der Universität Mossul, der in dieser Geschichte noch eine Rolle spielen wird, hatte mir von ihm erzählt.
Danach haben al-Madani und ich uns über ein halbes Jahr mehrmals getroffen, immer wenn ich in Mossul war. Er erzählte mir aus seinem Leben: Wie er in einer radikal-islamischen Familie aufgewachsen ist, wie er unter seinem dogmatischen und jähzornigen Vater gelitten hat. Wie sich seine Brüder nach dem Sturz Saddam Husseins durch die Amerikaner 2003 radikalisierten und wie bereitwillig sie sich dem IS anschlossen, als dieser im Sommer 2014 die nordirakische Großstadt Mossul überrannte.
Wie er, der selber nie radikal war, versuchte, sie davon abzuhalten. Und wie er heute den Preis für ihre Verbrechen bezahlt. Denn viele Bewohner Mossuls wollen nicht nur die Täter bestrafen, sondern auch ihre Familien.
Jeder ist verdächtigt
Seit die irakische Armee Mossul im Sommer 2017 vom „Islamischen Staat“ (IS) befreit hat, ist jeder verdächtig, der auch nur entfernt in Verbindung mit der Terrormiliz steht. Und al-Madani, mit seinen vier Brüdern, die sich ihr angeschlossen hatten, ist besonders verdächtig.
Seine Geschichte erzählt viel darüber, auf welche Weise der Irak die vergangenen Jahre aufarbeitet. Leute melden ihre Nachbarn den Behörden. Gerichte verurteilen mutmaßliche IS-Mitglieder im Schnellverfahren zu lebenslanger Haft oder zum Tod, ohne ihre Schuld wirklich zu prüfen. Witwen und Kinder toter oder zumindest tot geglaubter IS-Kämpfer werden von der Gesellschaft ausgegrenzt, viele sitzen in Lagern fest und werden nicht in ihre Dörfer zurückgelassen.
Wer wiederum Geld oder die richtigen Beziehungen hat, kann sich vor einer Strafverfolgung retten. Die Gesellschaft schwankt zwischen Hass auf die Verbrecher vom IS und der Angst, selber mit den Tätern in Verbindung gebracht zu werden. In dieser Gemengelage muss auch Khaled al-Madani fürchten, für die Verbrechen seiner Brüder zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Khaled al-Madani und alle anderen Personen in diesem Artikel heißen in Wirklichkeit anders. Ihre richtigen Namen zu erwähnen, könnte sie in Gefahr bringen. Die Extremisten könnten Khaled al-Madani als Verräter sehen, der sie entlarvt. Für andere wiederum – für den Staat ebenso wie für jene Bewohner Mossuls, die den IS ablehnen – wäre seine familiäre Nähe zu IS-Mitgliedern entweder Rechtfertigung genug, um ihn dafür bezahlen zu lassen. Oder um ihm gar nicht erst zu glauben. Auch wenn sich al-Madani die meiste Zeit seines Lebens gegen den Radikalismus in seiner Familie zur Wehr setzte.
Wer ist Freund, wer Feind?
Er selber ist dadurch umso misstrauischer. Woher kannte der Taxifahrer seinen Namen, fragte er bei jener Fahrt im Frühling 2018 denn auch sofort. Dieser antwortete, dass er ein alter Freund seines Vaters sei. Und dass er al-Madani zu seinen untergetauchten Eltern bringen könnte.
Diese Szene, die al-Madani erzählt, ist so filmreif, dass sie ausgedacht wirkt. Überprüfen lässt sie sich nicht – doch viele andere Details seiner Geschichte kann al-Madani belegen, oder sie werden durch Leute bestätigt, die ihn schon lange kennen: Sein Freund Aziz Bashir, der aus demselben Viertel stammt wie al-Madani. Der Imam der lokalen Moschee. Und sein Nachbar Ali Mahmoud, dessen Bruder vom IS ermordet wurde – und der al-Madani dennoch nicht für die Verbrechen anderer verurteilt.
Juli 2018, ein Einkaufszentrum im Universitätsviertel der Stadt. Al-Madani sitzt auf den Fliesen und kramt einen Wasserkocher hervor. Der winzige Raum war wohl eher als Abstellkammer gedacht, als dass jemand hier dauerhaft lebt. Eine zusammengefaltete Decke nimmt die Hälfte der Fläche ein.
Khaled al-Madani hat hier einen Job als Hausmeister gefunden. Er sei ganz zufrieden damit, sagt er, immerhin lassen ihn die Ladenbesitzer mit Fragen in Ruhe, solange der Boden gefegt ist. Nur manchmal würden sie sich wundern, warum der ledige Mann nicht bei seinen Eltern lebt, wie es sonst in der Region üblich ist. Al-Madani sagt dann, dass er sich mit ihnen nicht so gut versteht.
Zwei Brüder tot, einer verschollen
Was er nicht erzählt: wie er die Leiche seines jüngeren Bruders Qusay begraben hat, als sie vom Schlachtfeld zurückgebracht wurde. Dass Younes sich mit einem Lastwagen in die Luft gesprengt hat, zumindest wenn das Video echt ist, das al-Madani davon im Netz fand. Darin sieht man, wie ein IS-Kämpfer, von dem al-Madani überzeugt ist, es sei sein Bruder, in einen Lastwagen einsteigt, und dann von Weitem wie der Lastwagen in die Luft fliegt. Er erzählt nicht, dass Hassan jetzt in der Türkei lebt, reuig und unbehelligt, dass Abdulaziz und die Eltern bis vor Kurzem verschollen waren.
Und er verschweigt, dass die Armee ihr Haus konfisziert hat und jetzt ein Mitglied einer lokalen Miliz darin wohnt. Er sagt: „Ich lebe zwar mitten in der Gesellschaft. Aber ich fühle mich wie in Einzelhaft.“
Al-Madani, 41 Jahre alt, ist kräftig gebaut, meistens trägt er ein Hemd, das sich über seinem Brustkorb spannt, und Jeans. Sein Rücken ist stets kerzengerade, eine gute Haltung ist ihm ebenso wichtig wie eine gesunde Ernährung, seit er angefangen hat, Yoga zu machen. Sein Gesicht ist glattrasiert. Er glaubt nicht nur an Gott, sondern auch an die heilende Kraft von Energien im Universum – was dem IS schon reichen würde, um ihn als Ungläubigen zu verfolgen.
Sein Vater sei schon zu Saddam Husseins Zeiten ein Anhänger des saudischen Wahhabismus gewesen, dieser rigiden Auslegung des Islams, aus welcher der IS später seine mörderische Ideologie destillierte, erzählt al-Madani. Er trug, streng den Aussprüchen des Propheten Mohammed folgend, stets einen langen Bart und die Hosenbeine endeten über dem Knöchel. Genauso, wie es der IS später auch vorschreiben würde. Sein Sohn Khaled konnte damit nichts anfangen.
Erst Schläge, dann Yoga
Khaled al-Madani war 13, als sein Vater ihn als Strafe von der Schule nahm, weil er sich nicht den strengen Regeln des Vaters entsprechend verhielt. Von da an habe er in der Autowerkstatt des Vaters gearbeitet. Wenn er nicht gehorchte, wurde er geschlagen.
Die einzige Freiheit, die der Junge sich nahm, waren die amerikanischen Filme, die er nachts heimlich schaute. Mit 22 brach er mit dem Vater, indem er einmal zurückschlug, statt die Prügel zu erdulden. Von da an ließ der Vater ihn in Ruhe. Khaled al-Madani lebte zwar weiter bei der Familie. Doch er führte sein eigenes Leben, traf Freunde, arbeitete als Metzger, machte Sport.
Wenige Jahre bevor der IS nach Mossul kam, entdeckte er im Internet etwas, das ihm fortan Halt geben sollte: Yoga und Meditation. Mithilfe von YouTube-Videos brachte er sich selbst Techniken bei, denn Yogalehrer gab es keine in Mossul. Gut möglich, dass al-Madani der einzige Bewohner der konservativen Stadt ist, der überhaupt Yoga praktiziert.
Häufig setzte er sich in den Garten und meditierte – selbst wenn dies seinen Brüdern und seinem Vater missfiel. Für sie verstößt dies gegen die Regeln des Islams – es ist „haram“, verboten. Khaled al-Madani kümmerte dies nicht. Ohne Yoga, sagt er, wäre er vielleicht verrückt geworden, oder hätte sich selber dem IS angeschlossen.
Radikalisierung im Wohnzimmer
Seine vier Brüder hingegen folgten ganz dem Vater. Sie beteten fünf Mal am Tag, kleideten sich wie er, dachten wie er. Doch erst mit dem Sturz von Saddam Hussein durch die US-geführte Koalition 2003 wurde ihre weitere Radikalisierung unausweichlich.
Unter dem Diktator war das mehrheitlich sunnitische Mossul ein Sehnsuchtsort für viele Iraker. Jeder wollte mindestens einmal im Leben die „Stadt der zwei Frühlinge“, wie Mossul gemeinhin genannt wird, besucht haben. Saddam Hussein hatte das positive Image bewusst gefördert. Mossul war eine wichtige Machtbasis für ihn, zahlreiche seiner Armeegeneräle stammten von hier.
Dies änderte sich abrupt nach seinem Sturz. Die ehemaligen Staatsangestellten des Regimes und Mitglieder der Baath-Partei wurden von den Amerikanern entlassen. Die Armee wird seither von Schiiten aus dem Süden und dem Zentralirak dominiert. Mossul, nun die Heimat von zahlreichen entlassenen Armeeangehörigen, wurde zu einem Zentrum des Aufstands.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — دير مار كوركيس كما تم تصويره من فوق تل الصليب في حي العربي (فيصل جبر)
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