Erstellt von Redaktion am 10. Februar 2019
Gedanken zu Leben und Tod und der Mord an Juden in meiner Familie
Quelle : Scharf – Links
von Gerd Elvers
Der Sozialismus stand in der Vergangenheit bei existenziellen Fragen und Antworten unter dem Diktum von Karl Marx. Marx war – wie viele Philosophen vor ihm – mit den Problemen des Lebens beschäftigt, mit der Zukunft der Menschheit, der kommunistischen Utopie. Da hatten Themen wie Sterben und Tod einen niedrigeren Stellenwert. Das überließ er lieber den Friedhof-Experten, den Pfaffen. Beschäftigte der junge Marx sich mit der christlichen Theologie dann als politische Institution mit ihren negativen Folgen für die Gesellschaft. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schrieb er 1844: „Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes“. Er sagte nicht „ Opium für das Volk“, wie oft fälschlich zitiert wird. Ein feiner Unterschied. Er wollte sagen, das Volk bedient sich des betörenden Duftes des kommenden Paradieses, um sich vom elenden Leben abzuwenden. Das Volk ist es, das sich sein Heilmittel sucht. An diesen Stellen bringt Marx nicht die Kirchen als die großen Manipulatoren über die Menschen ins Spiel sondern die Sehnsüchte der Menschen selber.
Falko Schmieder von der rote-ruhr-uni.com stellt fest, dass im Zuge der aktuellen Bemühungen um eine kritische Neuaneignung der Marxschen Theorie die etablierten traditionellen Interpretationen der Marxschen Thesen über Feuerbach zunehmend in Frage gestellt werden. Marx verliert zunehmend auch unter Linken dem ihm früher zugesprochenen politischen und moralischen Alleinvertretungsanspruch, den er selber nie erhoben hat. In der Tat: Was ist aus heutiger Sicht so falsch, wenn Feuerbach darauf beharrt, dass die Religion auf der Gewissheit des Individuums von Tod und Sterblichkeit beruht? Betreffen solche persönlichen Erfahrungen nicht alle Menschen? Damit bejaht Feuerbach noch nicht die inhaltlichen Visionen der Pfaffen. Was trieb Marx also an, mit Feuerbach abzurechnen? Mit seinen scharfen Reaktionen wollte er seine materialistischen Vorstellungen über das Menschsein heraus arbeiten. Heute sind sie überzogen. Vergessen werden darf nicht, dass in der Zeit von Marx der Begründer des Existenzialismus, der Protestant Sören Kierkgeaard, im fernen Kopenhagen den Existenzialismus begründete, der von ähnlichen Gedanken wie Feuerbach ausging, ohne dass Marx davon Notiz nahm.
Wenn heute viele Linke sich als Atheisten verstehen, so gewiss nicht wegen der Feuerbach-Thesen von Marx. Eher haben sie eine geschichtliche Vorstellung über die Bündnisse von Kirche und Herrschenden, womit die Kirchen lange Zeit Front gegen den aufkommenden Sozialismus machten. Das „Gottesgnadentum“ der Fürsten und Könige, das „Gott mit uns“ auf den Koppeln der Soldaten. Womit die Kirchen die Soldaten in den Tod schickten, sind nicht vergessen. Heute noch versteht sich der politische Konservatismus in Deutschland mit dem C in seinem Parteinamen als „Bollwerk“ gegen linke Ideen. Ein Geschichtsklitterer wie Söder erwähnt zum 100-jähringen Staatsakt zum Freistaat Bayern den „Kommunisten“ Kurt Eisner mit keinem Wort. Andererseits haben lateinamerikanische Katholiken ihre Befreiungstheologie für die Armen entwickelt (Gerd Elvers, revolution-heute.de), und der Papst Franziskus kritisiert den Neoliberalismus, eine deutliche Wendung fort von seinem deutschen Vorgänger.
Der heutige Marx in der Umklammerung von China?
Indem Linke sich vom Diktum ihres alten Übervater freier machen, stellt sich die Frage einer Neuorientierung, ohne zugleich die Verbindung mit Marx zu verlieren. Das marxistische Erbe in Deutschland von deutschen Sozialisten zu verteidigen, erfordert schon das Bemühen der chinesischen Regierung, ihn zunehmend für ihre nationalistische Politik zu vereinnahmen (missbrauchen), wenn Staatschef Xi Jingping seinem Politbüro im Rahmen seiner Ideologisierung fort von der reinen Anbetung des Mammon zur Festigung der „Parteimoral“ Extraschulungen im Marxismus aufdrängt, und China vor dem Geburtshaus von Marx in Trier eine Marxfigur aufstellt.
Zur Aktualisierung von Marx ist es erforderlich, in seinem geistigen Arsenal nach Elementen zu suchen, die Aussagen zu existenziellen Fragen wie Leben und Tod geben. Auf dieser Suche kann man in überraschender Weise ein Thema aufgreifen, auf das man nicht sofort kommt: die Dialektik. Die Dialektik, von Hegel erarbeitet, von Marx und Engels in ihren dialektischen Materialismus eingearbeitet, hat eine vielfältige Bedeutung: In Hegels Idealismus geht es um die Auflösung von Widersprüchen, um das Umschlagen von einer Quantität in eine neue Qualität, um das Schaffen des Positiven aus der Negation des Negativen; bei Marx geht es um die Revolution des Proletariats, das der Kapitalismus selber schafft, bei Engels um die Dialektik der Natur.
Das alles ist bekannt. Weniger bekannt sind Mao Zedongs Arbeiten über „Praxis und Widerspruch“ vor allem in seinen Militärschriften, mit den – auf das Bauerntum beruhenden – dialektischen Strategien er die Kuomintang in die Niederlage trieb. Uns SDS-lern war es in den 60iger Jahren eine faszinierende Lektüre, die von der chinesischen Botschaft in Bonn billig vertrieben wurde. Wir lernten: Mao war wohl der rigoroseste Dialektiker aller damaligen Staatschefs, der mit seinen „frischen“ Gedanken gegen die ermüdenden Thesen des Sowjetkommunismus sogar das Scheitern der chinesischen Revolution für möglich hielt, wenn es mit dem dialektischen Dreierschritts nicht klappen sollte. Von solchen Sorgen erfüllt, trieb er sein Volk in die Kulturrevolution und nicht nur – wie überall zu lesen ist – um seine persönliche Macht zu sichern. Den Bulgarins, Honeckers und Chruschtschows lagen solche Gedanken vom Ende ihres Systems fern, weil sie keine Dialektiker waren.
Für das Thema von Leben und Tod ist die Arbeit von Engels über die „Dialektik der Natur“ am wichtigsten, über den dialektischen Übergang von toter Materie zum Leben und vice versa. Leben und Tod stehen sich in einer dialektischen Verschränkung gegenüber, die sich gegenseitig bedingt:
Der Tod muss sein, um dem Leben Platz zu machen, die Alten räumen ihre Plätze für die Jungen. Andererseits: Der Mensch begibt sich mit seinem ersten Atemzug in die Richtung seines Todes – eine banale Erkenntnis des Menschseins, der sein Ende mit seiner Logik als einziges Lebewesen erkennen kann, und der dennoch seine Schwierigkeiten damit hat. Heute weiß man: Die Logik ist das Eine, die Instinkte sind das andere. Die meisten Menschen können an ihrem Verstand über die Notwendigkeit ihres eigenen Endes noch so festhalten, die Angst vor dem Sterben überwiegt. Die meisten Anhänger sozialistischer Ideen werden nicht in die „große Lebenslüge“ eines religiösen Heilsversprechens flüchten, aber die Angst wird dominieren. Das ist urmenschlich.
Sein und Nichtsein in der Kosmologie
Friedrich Engels übertrug die Dialektik auf die Natur und damit in den strengen Wissens-Bereich der Naturwissenschaften, ein Gebiet mit engeren Regeln als die Ebene von Politik und menschlicher Geschichte, wo nach Nietzsche und Schopenhauer der lustvolle (voluptas) und irritierende menschliche Wille (voluntas) eingreift. Engels war in das (beschränkte) Wissen seiner Zeit eingebunden. Die Kosmologie war auf erste Einblicke in die Astronomie und die Gravitationslehre von Newton beschränkt. Sie hatte noch nicht den Stellenwert wie in heutigen Zeiten, wo die Kosmologen zunehmend die Position der Philosophen einnehmen, die letzten Rätsel an Stelle der Philosophen zu lösen (Stephen Hawking: Die kürzeste Geschichte der Zeit). Auch in der Kosmologie gilt der Grundsatz, dass der Anfang eines Objektes sein Ende provozierend produziert. Nicht nur das Individuum ist auf sein Ende hin orientiert sondern die Menschheit insgesamt.
Der Beginn der Menschheit wird vor über 2 Millionen Jahren mit dem homo habilis und später mit dem homo erectus in Afrika angesetzt, vom Tierreich durch seine zielgerichtete Arbeit getrennt (Friedrich Engels). Im klassischen Griechenland traten die ersten Atomisten auf, über die Marx seine Doktorarbeit schrieb. Vor 500 Jahren begann mit der Renaissance die moderne Wissenschaft, und erst seit einige Jahrzehnten haben wir mit dem sogenannten Standardmodell auf Mikro- und Makroebene einen ersten Überblick über den Kosmos. Die dialektischen Prozesse schreiben der Menschheit apodiktisch ihr Ende vor, wobei Ursache und Zeitmoment unbekannt sind. Nehmen wir als Beispiel die Dinosaurier der Trias- bis Kreidezeit. so hatte diese Spezies eine Lebensspanne von rund 200 Millionen Jahre, wenn wir die Vogelwelt als ihre Nachkommen nicht mitzählen. Diese durchaus „erfolgreiche“ Spezies wurde nach gängiger Überzeugung durch einen Riesenmeteoriten in der heutigen Gegend von Yucatan ausgelöscht, also durch ein „zufälliges“ extraterrestrisches Ereignis, was der Menschheit ebenfalls blühen kann. Aber vielleicht löscht sie sich schon in einigen Jahren atomar selber aus, wenn der INF-Vertrag nicht mehr erneuert wird, der Kalte Krieg wieder auflebt und die neuen russischen und amerikanischen Mittelstreckenraketen in oder nahe Deutschland stationiert werden.
„Die letzten Tage der Menschheit“, um Karl Kraus zu zitieren, werfen einige philosophische Fragen auf, die bisher ungeklärt, ja noch nicht einmal gestellt worden sind. Eine spekulative These von G. W. F. Hegel über das Walten des „Weltgeistes“ wäre erledigt. Für Hegel war der metaphysische Prozess des Weltgeistes die historische Wirklichkeit als Endzweck der Weltgeschichte. Seine „Phänomenologie des Geistes“ entsprang dem deutschen Idealismus, den Marx dadurch begegnen wollte, dass er die idealistische Kopfgeburt wieder auf die materialistischen Füße stellen wollte. Eine modifizierte These des Weltgeistes lautet, dass in dem Weltgeist der Kosmos sich selbst bewusst wird. Demgemäß wäre der Endzweck der Menschheit als logisches Sein, dem Kosmos sein Bewusstsein zu verschaffen. Marx und Engels, die viel von Hegel hielten, waren sich nicht zu schade, den spekulativen Weltgeist von Hegel nicht als Ballast ihrer Gedanken über Bord zu werfen, sondern ihn als kapitalistischen Weltmarkt (Globalismus) zu materialisieren.
Dass der „Weltgeist“ mehr als eine Lachnummer in der heutigen philosophischen Welt herum“geistert“, ohne im Sinne Heideggers das Seiende zu sehen, das Marx und Engels mit dem Globalismus dem Hegelschen „Geist“ umgehängt haben, liegt vielleicht auch im deutschen doppeldeutigen „seifigen“ Sinnbegriff von „Geist“. Im Englischen wird begrifflich sauber zwischen „ghost“ und „spirit“ unterschieden, im Deutschen steht der „Geist“ für vieles: für hochprozentigen Schnaps, für alpine nachtspukende Perchten in Tirol und für den Weltgeist. Vielleicht auch deswegen hat anders als bei dem „seriöseren“ Begriff der Dialektik Hegels der Weltgeist ein trauriges Schicksal erlitten. Hegel war nicht nur der große Philosoph sondern zugleich preußischer Beamter, der eilfertig in „seinem Chef“, König Friedrich Wilhelm III, einen Teil des Weltgeistes inkorporiert sah. Aber da gibt es noch einen Protagonisten des „Geistes“, den amerikanischen Philosophen Francis Fukuyama, der beim Untergang der Sowjetunion vom „Ende der Geschichte“ faselte, weil nur noch der amerikanische Kapitalismus dominiert. Er hat sich geirrt. Das Gegenteil ist der Fall. Geschichte fängt heute erst richtig an.
Der Philosoph und Nazi Heidegger und der existentialistische Sozialist Sartre
wollten sich dem Tod als unvermeidbaren Schicksalsbruch nicht in seiner Totalität beugen – zumindest solange sie noch lebten. Der spätere Naziprofessor Heidegger verschaffte in seiner Schrift „Sein und Zeit“ von 1926 sich und seinen Lesern einen neuen Zugang zur menschlichen Existenz, dem Verstehen von Zeit, der Sorge und dem Tod im menschlichen Alltagsgeschehen. Der linke Sartre wiederum, der von Heidegger beeinflusst war, baute seine Dialektik in seinem Buch: „Das Sein und das Nichts“ aus. Wie passten der Nazi und der Sozialist zueinander? Sartre hatte als deutscher Kriegsgefangener 1940 wie seine neuen Übersetzer von: „ Das Sein und das Nichts“, Schöneberg und König, in ihrem Kommentar schrieben, Deutsch gelernt, um Heidegger besser im Original kennen zu lernen. Bis 1943 schrieb er an seinem Werk, das während der deutschen Besetzung veröffentlicht wurde. Er bestand darauf, dass Heidegger ein Existenzialist sei, was dieser heftig ablehnte. Es ist ein merkwürdiges Ereignis, dass unter der Nazi-Herrschaft in Frankreich dieses Werk eines französischen Intellektuellen erschien, der im humanistischen Erbe der abendländischen Philosophie stand, ebenso merkwürdig wie die Bilder, die Picasso in Paris während der deutschen Besetzung malte, die dem Postkarten-Maler Hitler ein Graus gewesen wäre. Das Auktionshaus Weidler versucht in diesen Tagen, 34 Hitler-Bilder am Nürnberger Burgberg zu zig-Tausenden von Euros je Bild unters Volk zu bringen. Käufer wird es genug geben, wenn nicht die Staatsanwaltschaft die meisten Bilder als Fälschungen entlarvt. Die Expertisen sind nichts wert, weil man einen „echten Hitler“ stilistisch nicht erkennen kann, weil es an signifikanten Charakteristika als Künstler fehlt. Und müsste ein „echter Hitler“ nicht der gesellschaftspolitischen Verachtung anheimfallen, anstatt in einer Münchener Millionärsvilla aufgehängt zu werden?
Zurück zu Heidegger und Sartre. Dass es sich womöglich um eine dialektische Verschränkung beider Persönlichkeiten handeln könnte, darauf kamen sie nicht, und so auch nicht ihre Leser. In einem Internet-Quorum (www.quora.com) wird dargestellt, dass beider Hauptinteresse es war, die individuelle Existenz zu entschlüsseln mit anderen Methoden als den Naturwissenschaften. Ihre Methoden waren jedoch unterschiedlich. Sartre bediente sich Heidegger, sowie der französischen Literatur, um das Menschsein in gewagten Satz – Pirouetten zu entschlüsseln. Über Tausende von Seiten vertiefte er sich in sein Werk: „Der Idiot der Familie“ aus dem Roman von Gustave Flaubert, „Madame Bovary“. Heidegger entwickelte seine eigensinnig gestalteten Denk- Sprach- und Begriffsmethoden, wie es einem deutschen Philosophen zukam. Als Sartre Hochdeutsch lernte, musste er zusätzlich auch die sprachlichen Eigenkreationen von Heidegger sich zu eigen machen.
Aber da gibt es noch eine Ähnlichkeit trotz ihrer ideologischen Verschiedenheit. Nach der Machtergreifung Hitlers wurde Heidegger ein Nazi ohne seine bisherigen existenziellen Denkmethoden zu verändern, während Sartre gleichzeitig in diesem Nazideutschland und später während der Nazibesetzung von Frankreich seinen existentiellen Forschungen nachging, ohne sich bei seinen Gedankengängen von den politischen Ereignissen um sich herum ablenken zu lassen, wie es im zweiten Teil seines Lebens danach geschah. Zumindest im Fall Heidegger kann man eine Prognose für seine Affinität zu den Nazis wagen: Weil ein Teil der obersten Nazis als Frontsoldaten des 1. Weltkrieges mit dem alltäglichen Tod konfrontiert und sozialisiert worden waren, das heißt den (kriegerischen, gewaltsamen) Tod als naturgegebenes Drama des menschlichen Lebens missverstanden, so dass man dem Nationalsozialismus, vor allem der SS, einen offenen Todeskult bis zu einer unterschwelligen Todessehnsucht nachsagt, kann Heidegger sich von einer solchen Ideologie angesprochen gefühlt haben, und existenzialistisch von der Todespraxis fasziniert worden sein.
Heutiger Lifestyle lebensbejahend durch Tabuisierung des Todes
Der heutige Lifestyle der Wellnesskultur, bei Intellektuellen nicht gerade positiv bewertet, weil der sich besonders in bunten Frauenzeitschriften wie Brigitte, Für Sie, Women Health widerspiegelt, repräsentiert die Lebenslust von Menschen, die durch den ökonomischen Aufstieg Westdeutschlands das Grau der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen ihrer Großeltern-Generation hinter sich gelassen haben. „Schlank und schön sind wieder die Ideale“, sagt Paula-Irene Villa, Professorin für „Gender-Studies an der LMU München. „Alles was mit Körperlichkeit zu tun hat, wird im normativen Sinn wesentlich als kontrolliert und optimiert gedacht“ (S.Z., 23. 1. 2019). Das Negative dieser Einstellung: Nicht jede und jeder hat einen perfekten Body wie die androgyne Ruby Rose. Wer nicht die Disziplin des Abhungerns beherrscht, um die weihnachtlich angefressene Bauchschwarte im Januar abzuspecken, entspricht nicht dem heutigen Körperideal. In dieser Normierung der Schönheit passen nicht Krankheit und Gebrechlichkeit. Solange es geht, wird der natürliche Gang des Alterns aus dem eigenen Leben verbannt. Der Erfolg ist nicht dauerhaft. Wenn gegen die Naturgesetze gehandelt wird, sind die Lebenskrisen vorprogrammiert. „Body Positivity“ zur Optimierung des Körpers ist der verzweifelte Versuch zu einem positiven Existenzialismus.
Wer Lust auf authentisch tote Körper hat, kann diese in der amerikanischen Serie „On the case“ in Plus RTL sich zu Gemüte führen. Die dort von Frauen ermordeten Männer sind zehn mal kälter und toter als die mit viel roter Farbe geschminkten Leichen bei den Rosenheim-Cops, die am Vorabend ihre Fernsehkunden finden. Die von der Arbeit Gestressten erholen sich an dieser Vorspeise im ZDF vor dem Abendessen. Sie will eine leichte Vorkost sein, ist es aber nicht. Jeden
Dienstag Abend wird aus dem lebenden Menschen eine Leiche, juristisch gesehen eine Sache, weswegen die Serie sich nicht lange bei der Leiche als Sache aufhält und sich um die Lebenden
kümmert. Für einige ist diese rasche Transformation von Leben zum Tod ein untragbarer Zustand. Deshalb kam das Christentum auf die dialektische Idee, den ganzheitlichen Menschen in den sterblichen Körper und in die unsterbliche Seele aufzuteilen. Das Ergebnis ist aber auch nicht befriedigend; es entsteht ein Zwitter in einer Grauzone. Die Seele hat ein Manko: Dem Seelenheil wird dialektisch die Hölle gegenüber gestellt. So entsteht eine weitere Grauzone. Der Feiertag Allerseelen ist in der katholischen Kirche dem Gedächtnis aller verstorbenen Christen gewidmet, die im Fegefeuer bis zum Jüngsten Gericht schmoren werden. Der Christ weiß nicht, wo er nach
den zwei Herausforderungen – dem Fegefeuer und dem Jüngsten Gericht – verbleibt. Gegenüber einem Atheisten, der sich allein mit dem Nichts konfrontiert sieht, hat er nicht viel gewonnen – weil das Urteil eines grausamen Gottes letztlich bis in aller Ewigkeit dauern wird.
Das Sein und das Nichts, das Endliche oder das Ewige des Kosmos
Während Heidegger und Sartre sich in ihren Werken in ihren phänomenologischen Welten mit eigener Spracheleganz bewegten, mit der sie zwischen sich und ihren Lesern das Faszinosum einer elitären und zugleich spannenden Distanz erzeugten, bemerkten sie nicht, dass eine neue Disziplin
ihnen ihre Hegemonie auf ihren Gebieten von Zeit und Raum, dem Sein und dem Nichts entzog: die Kosmologie. Sie ist die Tragödie der modernen Philosophie. Auf einmal entwertete sich ihr Wissen über die Werke ihrer philosophischen Vorgänger, ihre reichhaltigen Zitatenschätze, mit denen sie ihre Leser verblüfften, die Kapriolen ihrer Gedankengänge. Ihnen passierte das, was neue Zeiten so bieten: Die Entwertung des Alten. Auf einmal ersetzt der einfachere Elektromotor den Diesel. Die neuen Erkenntnisse in Naturgesetzen wie die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik, die Heisenbergsche Unschärfen-Relation konnte die moderne Philosophie nicht durch literarisch-philosophische Bezüge auf die „Ontologie“ auffangen.
Sofern sie die Grundbausteine, die die Kosmologie und moderne Physik legen, respektiert, ist die Philosophie in ihren Denkprozessen und Traditionen nicht total erledigt. Nicht zu übersehen ist aber folgendes: Prüft man mit diesem Blick Lehrbücher der Kosmologie auf die Relevanz, die sie der abendländischen Philosophie von Jahrhunderten eigentlich zollen sollten, stößt man auf wenige Treffer. Zu nennen ist z. B, der letzte Universalphilosoph Leibniz mit seiner Monadentheorie (Alan Guth, Die Geburt des Kosmos aus dem Nichts). Wenn Leibniz von dem besten aller möglichen Welten ausgeht, kann die moderne Kosmologie diese These mit ihrer Sprache übersetzen: Nach ihr leben wir in der einzigen aller möglichen Welten, denn würden ihre Parameter nur um Bruchteile verstellt werden, wären die Sternen- und Planetenwelten nicht mehr möglich. Daraus folgt: Die einzig mögliche Welt ist die beste, weil sie die einzige ist.
Greifen wir als ein Beispiel der Zerrung zwischen Philosophie und Kosmologie Sartres Vorstellungen vom Nichts auf, ein zentraler Begriff, dem er in seinem 1000seitigen dicken Schmöker von rororo „Das Sein und das Nichts“ (9. Auflage, 2003) den ersten Teil widmet. Er geht das Problem dialektisch an. Kurz gesagt, das Nichts ergibt sich aus dem Seienden. Deshalb verwendet er auch das Wort „néant dètre, Seins-Nichts in Anlehnung an Heidegger (S. 1120). Seine These ist eine philosophische Spekulation aus seiner Gedankenwelt der „phänomenologischen Ontologie“, der er Beweischarakter zuspricht (S. 33). Die moderne Kosmologie (Guth, Hawking, die heutige Quantenphysik) ist da anderer Meinung: Innerhalb unseres heutigen Kosmos gibt es nicht das Nichts. Die angebliche Leere zwischen den Sternen und Milchstraßen war ein Messfehler. In dem angeblich leeren Raum gondeln Spuren von Molekülen herum, wie Sonden gemessen haben. Und das sichtbare Universum macht nur 15 Prozent des Raumes aus, der „Rest“ sind die dunkle Materie und Energie, von ontologischer Struktur und Wirkung, weil dieser Rest verantwortlich dafür ist, dass sich der Raum beschleunigt ausdehnt.
Mit verschiedenen Faktoren kann die Dialektik ihre Position verteidigen, aber anders als Sartre glaubte: In der Singularität vor dem Urknall vor 14 Milliarden Jahren existierten nicht Zeit und
Raum, Begriffe wie Leere und Nichts haben dort keinen Platz, weil sie aus der Vorstellungswelt dieses späteren Seins herrühren, das aber aus der dialektischen Dichotomie von Sein und Nichts entstanden ist. Und Weiterhin: The big Chrunch, der große Knall ist die älteste Vorstellung vom finalen Ende des Weltalls. Nach dem Urknall der Entstehung des Universums gewinnt die Gravitation langsam die Oberhand über die Ausdehnung des Universums. Die Materie stürzt zu einem winzigen, unendlich heißen Energiepunkt zusammen, aus dem „ex nihilo“ ein neuer Big Bang entsteht. The Big Rip, das große Zerreißen oder Endknall ist Resultat einer beschleunigten inflationäre Ausdehnung des Raumes, die auf Erkenntnissen von Alan Guth beruht (S. 393 ff.). und der ein Ende in 100 Millionen Jahren prognostiziert wird, bis alle Energie erloschen ist, und selbst die Protonen sich in ihre Teilchen, den Quarks aufgelöst haben. The Big Freeze (Chill), das Einfrieren als jüngste Alternative ist die neueste Theorie vom Ende. Es baut ebenfalls auf die inflationäre Expansion des Weltalls von Guth auf, allerdings wird das Ende mit den Schwarzen Löchern von Hawking verbunden. In einer Billion Jahren und länger dauert das quälende Ende. Wenn die leuchtende Energiekraft der Sterne und Milchstraßen erlöscht, der Raum weiter, dunkler und kälter wird, bleiben nur noch die Schwarzen Löcher übrig, die sich durch die Hawking-Strahlung auflösen.
Hier gilt es eine Entscheidung zu treffen. Für welches Ende des Weltalls entscheidest Du, Menschheit, dich, der du dich schon längst als lebenden Organismus verabschiedet haben wirst, zwischen den drei Möglichkeiten des Endes? The Big Chrunch, die älteste Theorie, wäre mir und damit dir, so spekuliere ich, am liebsten. Die Entstehung durch den Big Bang, der Absturz zu einem Energiepunkt und die Wiederauferstehung in einem neuen Universum entspräche deinem Hang zur christlichen Dramatik. Leider ist diese Variante nach den heutigen Kenntnissen die unwahrscheinlichste. Das Einfrieren, die dritte Alternative, übertriff in ihrer kosmo-physischer Trostlosigkeit die menschlichen Dramen von Sartre. Die Überschriften seiner Theaterstücke: Die Tote ohne Begräbnis, Die schmutzigen Hände, Das Spiel ist aus und Im Räderwerk lesen sich wie Kurzprogramme von Verzweiflung und Einsamkeit des Menschen, die vom chilly Kosmos an seinem Ende übertroffen werden.
Und dennoch: Selbst kritisch-pessimistische Existenzialisten wie Jean Paul Sartre oder Albert Camus, der im Banne des Sisyphus Mythos steht, der durch die Götter dazu verdammt ist, einen schweren Stein zu einem Gipfel zu wuchten, der vor dem Gelingen wieder ins Tal rollt, wollen dem Elend ein Trotzdem entgegen halten. Unzweifelhaft ist der Mensch von Geburt aus an mit einige Überlebensgütern durch die Natur ausgestattet, mit einer angeboren fröhlichen Natur des Babys, dessen Lachen wenige Erwachsene widerstehen können. Und auch dem alltäglichen Kampf gegen Milliarden von mörderischen Bazillen und Bakterien stellen sich tapfere Antikörper als schützende Immunmauer entgegen.. Mit ihrem fröhlichen Lachen füllen ältere Kuchendamen am Nachmittag das Neuburger Cafe am Schrannenplatz, die meisten sind Witwen. Und auch die Fußballarenen sind kein Ort von Traurigkeit, selbst wenn man zu den notorischen Verlierern wie die Nürnberger Cluberer gehört. Wir leben in der längsten Friedensperiode deutscher Geschichte, und das will gefeiert werden. Trotz Trump und INF-Ende.
Der heutige Stand des Lehrgebäudes der Kosmologie spielt hier trotz des elenden Ende des Weltalls mit. Solange die großen Geheimnisse des Kosmos: die dunkle Materie und Energie noch nicht von der Naturwissenschaft entschlüsselt sind, bleibt dem Menschen ein Stück Freiheit der Seinsbetrachtung, die der Phantasie Raum lässt, wie z. B. über das Ende des Kosmos. Hollywood zehrt von den Reisen durch Wurmlöcher zu fernen Galaxien, Automobilkonzerne begeistern sich am autonomen Fahren, und die Bundesregierung will an den internationalen Standard der künstlichen Intelligenz (KI) mit seinen sagenhaften Zukunftsversprechen anknüpfen. Entgegen dem Kulturpessimismus der Existenzialisten eröffnen sich momentan weite Räume einer inflationären Expansion in der irdischen Technologie.
Das Ende der Erinnerungskultur der Shoah.
Momentan machen sich Politik und Feuilleton Sorgen über das Ende der Erinnerungskultur der Shoah. Die letzten Zeitzeugen des unaussprechlichen Grauens sterben. Die Erinnerung an mehr als 6 Millionen von Deutschen Ermordeten schwindet. Nur 40 Prozent der heutigen deutschen Jugend haben eine Vorstellung von dem Holocaust. Der Spruch über den Vogelschiss der Nazis angesichts der 1000jährigen gloriosen deutschen Geschichte des AFD-Vorsitzenden Gauland macht die Runde. Die Empörung macht sich über die Relativierung der Nazi-Morde breit. Der Ausspruch von Gauland beinhaltet aber noch einen anderen Skandal. Sein Bezug auf ein angeblich 1000jähriges Reich im Mittelalter entstammt dem Nazi-Jargon.
Die Gefahr der Relativierung des Entsetzlichen kommt nicht nur von den Rechten. Die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“, das begehrenswerte Ziel der Rechten, hat sich selber mit dem Gift infiziert. Sie hat wie weiland Kleopatra in die Schlangen-Büchse der Pandora gegriffen. „Takis Würgers „Stella“ verrät die Stimmen der Toten an die Maschinerie des Liebesromans“, schreibt Lothar Müller in der SZ vom 19/20. Januar. Die literarische Figur Stella ist an die reale Jüdin Stella Goldschlag angelehnt, die als „Greiferin“ ihre jüdischen Mitbürger in Berlin an die GESTAP0 verriet, und mitverantwortlich dafür war, dass von den 7000 Juden, die ab 1942 in den Untergrund gingen, um für die Häscher unsichtbar zu werden, nur 1500 durch die Rote Armee Mai 1945 aus dem Dunkel ihrer Verstecke ans Tageslicht gezogen wurden. Der Roman-Schriftsteller von Stella, Takis Würger, ist zugleich Spiegel-Reporter. Aber nicht deshalb ist Stella ein deutscher Bestseller auf der Bücherliste des Spiegels geworden, sondern weil die fiktionale Liebesgeschichte mit einem Jüngling namens Friedrich, den es vom Genfer See in das Nazi-Berlin verschlagen hat, das Hauptthema ist, vor der Hintergrund des nichthörbaren Geschreis von Tausenden von sterbenden Juden. Ihr Sterben dient dem Schriftsteller Takis Würger als eine widerliche Ornamentik und Staffage für das heutige Leserpublikum aus der Mitte der Gesellschaft, das die Einbettung einer fiktiven Liebe in die historische Aktenlage des Mordes an den Juden goutiert, womit der Autor seine Liebesgeschichte garniert.
Mein persönliches Geständnis des Verbrechens an den Juden in meiner Familie
An dieser Stelle fühle ich, dass es Zeit wird, die Verwicklungen meiner eigenen Familie in die Nazi-Verbrechen zu dokumentieren, gemäß der Aussage von Peter Weiss, man könne nur dokumentarisch über die nationalsozialistischen Verbrechen erzählen. In der Gedenkstunde des Bundestages mit Saul Friedländer meinte die Bundeskanzlerin, dass „Gedenken neu zu gestalten“ seien, und Außenminister Maas sagte, „Geschichte muss von einer Erinnerungs- noch stärker zu einem Erkenntnisprojekt werden“. Ich will aber keine Geschichte über die Opfer sondern über die Täter erzählen. Und ich will auch nichts über Akten und romanhafte Literatur aussagen, sondern über Verbrechen in meiner Familie.
Kurz vor dem Tod meiner 92jährigenMutter vor einigen Jahren teilte sie mir mit, dass ihre Mutter, die ehemalige Hebamme Frau Arendt, geborene Prohl, wohnhaft in Danzig und auf der Halbinsel Hela, 1941 unmittelbar an Verbrechen von Tausenden von jüdischen Frauen, Kindern und Alten bei der Besetzung des Baltikums durch die Wehrmacht und SS-Verbände beteiligt gewesen ist. Zur Vorgeschichte: Meine Großmutter hatte als Hebamme wegen verbotener Abtreibungen der Frauen von Werftarbeitern in der Schichau-Werft, später die polnische Lenin-Werft, vor Gericht die Approbation ihres Titels in den 30iger Jahren verloren. Das Elend kam über meine Mutter und meine Oma. Später heiratete sie den Fischer Arendt von der Halbinsel Hela, nachdem diese 1939 wieder deutsch geworden war, und betrieb ihre Wiedergutmachung, lange ohne Erfolg. 1941 boten die Nazis meiner Großmutter einen „Deal“ an. Sie könne wieder freie Hebamme werden, wenn sie dem Deutschen Reich einen „Dienst“ erweise. Sie solle ihre weiße Hebammen-Uniform wieder anziehen und im gerade besetzten Baltikum verängstigte jüdische Kinder und Frauen „betreuen“. Die Betreuung bestand darin, in Reval und anderswo zusammengetriebene jüdische Familien zu ihren Hinrichtungsstätten aus den Städten in die Wälder zu begleiten, wo sie in Gruben zusammen geschossen wurden. Damit diese Familien nicht zu rasch in Panik gerieten, begleiteten sie die Hebamme in die Wälder, wo die Mörder auf sie warteten, und ein Entkommen unmöglich wurde.
Frau Arendt tat ihren Dienst, kehrte von ihrer „“Reichs-Dienst-Pflicht“ nach ein paar Monaten nach Hela zurück, wurde Hebamme der Frauen der Marineoffiziere auf dem Stützpunkt und als „Dreingabe“ bekam sie am weißen Badestrand neben dem Fischerhafen mit ihrem Mann eine schöne Villa einer 1939 vertriebenen polnischen Familie aus Gdingen. Ich konnte eine unbeschwerte Jugend verbringen, während jüdische Kinder meines Alters ermordet wurden. Nach ihrem Geständnis hatte ich keine Möglichkeiten mit ihr darüber zu reden, weil sie kurz darauf verstarb und meinem Vater ins Grab in der neuen Heimat München nachfolgte. Es brauchte seine Zeit, bis ich mir meinen eigenen Reim machte. Dass die Geschichte stimmte, bekam ich mit, weil nach dem Tod von Frau Arenth ein aufwendig gedrucktes „Hebammen-Lehrbuch“ in meinen Familien-Besitz kam, das eine persönliche Danksagung des stellvertretenden Gauleiters von Danzig enthielt, dass sie in schwieriger Zeit dem Reich einen Dienst getan hatte. Was mich beschäftigte, war nicht nur die Massenmörderin sondern das Verhalten meiner Eltern. Sie hatten seit 1941 aus einer direkten Täterhand von den Massenmorden an den Juden erfahren, aber sich nichts anmerken lassen, nicht während des Krieges und nicht danach, selbst nicht gegenüber ihrem einzigen Sohn. In der langen Nachkriegszeit hatte ich nie bei ihnen antisemitische Ressentiments kennen gelernt, aber auch keine positive Rückmeldungen. Da war nichts als das Schweigen.
Langsam stellte ich mein Denken um. Auf meinen langen Wanderungen um Ingolstadts Dörfer stießen die auf Tafeln gesammelten Fotos von Gefallenen und Vermissten des 2. Weltkrieges in den Kircheneingängen auf mein Interesse. Zuerst versuchte ich in ihren Gesichtern unter den Stahlhelmen und am Ende des Krieges unter den Feldmützen, die ich als Kind mit dem Schirm und den Ohrenschützern auch getragen hatte, um mich gegen die Kälte zu schützen, den sinnlosen Tod heraus zu lesen. Ich versuchte aus den spärlichen Daten: Geburt, Tod, Ort des Todes: Ost-West-Südfront, Smolensk, Kiew, Dnjepropetrowsk, wo mein Onkel 1943 gefallen war, mir eine eigene Geschichte zu erzählen. Dann kam mir langsam der Verdacht, dass unter diesen unschuldigen Gesichtern Kriegsverbrecher der Wehrmacht sich befinden könnten, und mein anfängliches Andenken fehl am Platz sei. Aber wie die Kriegsverbrecher aus der Masse heraus fischen? Und weswegen und warum und vor allem: Für wen sollte eine solche Suchaktion sein?
Die Statistik der deutschen Massenmörder erfordert ein Neubeleben des Gedenkens
In diesen Tagen finden Gedenktage der Shoah statt: die Befreiung Auschwitz, wobei die Kommentatoren manchmal sagen, durch wen die Befreiung kam, nämlich durch die Rote Armee. Der Bundestag kommt zu einer Gedenkveranstaltung mit dem Überlebenden des Holocaust, Saul Friedländer, zusammen, in der Spitzenpolitiker einige Gedanken absondern, die sofort wieder vergessen sind. Eine Minderheit hört überhaupt zu, viele haben wie die Leser der „Stella“ aus der Mitte der Gesellschaft innerlich mit diesem Kapitel deutscher Geschichte auf ihre Art abgeschlossen. Wer von ihnen hat sich als Nachgeborener jemals Gedanken über mögliche Verbrechen in der eigenen Familien gemacht? Der erste deutsche Nachkriegsfilm hieß: „Die Mörder sind unter uns“ von Wolfgang Staudte 1946 unter der sowjetischen Oberhoheit (DEFA), der bis heute zu den besten deutschen Filmen gehört, in Ost und West geehrt. Es geht um die Ermordung von 129 Polen 1942 durch einen Deutschen, der nach dem Krieg schnell wieder Fuß gefasst hat und den bürgerlich-moralisch guten Menschen spielt. Wolfgang Staudte wollte mit dem Film – wie wikipedia schreibt – etwas gut machen, weil er an dem Nazifilm „Jud Süß“ in einer Nebenregie selber beteiligt war. Hätte es mehr solcher Filme gegeben, hätten die deutschen Massenmörder sich nicht so leicht in der Menge verstecken können oder gar sich frech in der (west)deutschen Öffentlichkeit ihrer Verbrechen noch gebrüstet. Dann wären Globke und der langjährige Bürgermeister von Sylt, Heinz Reinefarth, SS-General und verantwortlich für die Ermordung von 20 – 50 000 Polen im Warschauer Aufstand nicht als hohe Politiker geehrt worden, obwohl ihre Verbrechen bekannt waren. Aber diese beiden waren nur die Spitze des Eisberges. Die Nachkommen des vormaligen Leningrad ehren in diesen Tagen ihre 1 Million Mitbürger, die durch eine mörderische Politik der Wehrmacht verhungert waren. Auf diese Weise kann man die Statistik der deutschen Verbrechen weiter führen: 2 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, in deutschen Kriegsgefangenlager zu Tode gebracht, die 6 Millionen in den Vernichtungs-KZ ermordeten Juden und 23 Millionen getötete russische Zivilisten, die meisten durch einen rassistischen Völkermord von den Wehrmachtssoldaten umgebracht, angestiftet von ihren Offizieren und aus eigener Initiative. Sie bekamen von höchster Stelle für ihre Verbrechen Straffreiheit zugesichert.
2 Millionen plus 6 Millionen plus 23 Millionen machen grob gerechnet 31 Millionen getötete Polen (zumeist Juden) und Russen aus. Und nun kommt die Frage, die sich viel zu wenige stellen: Wie hoch muss die Zahl der überwiegend deutschen Täter gewesen sein, die hinter ihren Opfern stehen? Es waren Hunderttausende, als Wehrmachtsangehörige überwiegend Soldaten. Ein Teil ist gefallen und vermisst, sehr viele haben überlebt und sind nie zur Rechenschaft gezogen worden. Es mögen ein Prozent Straftäter gewesen sein, die vor den Kadi kamen. Die anderen kehrten zu ihren Familien zurück, einige traumatisiert von ihren Schandtaten, die meisten begannen wieder ein „normales“ Familienleben, brave Deutsche, denen wir im Westen das Wirtschaftswunder verdanken. Inzwischen sind die meisten verstorben, an Herzinfarkt, Krebs und Gehirnschlag, im Frieden und zumeist in Frieden. Es heißt: Die Toten soll man in Frieden ruhen lassen. Wenn das so einfach wäre! Mit ihnen sind nicht ihre Taten vergangen. Mehr als in den Akten über Kriegsverbrechen sind die weiter erzählten Geschichten der verstorbenen Eltern und Großeltern in dem Erinnerungs-Hort der Nachkommen aufbewahrt, die heute noch leben. So wie bei mir. Das Schreien der Ermordeten schrillt nicht mehr in den Ohren der Täter, weil diese verstorben sind. Wir, die Nachkommen der Täter und noch Lebende, haben eine Verpflichtung, unsere Form von Liebe, Zuneigung und Achtung den Ermordeten zu geben und nicht den Tätern. Erst dann wird den Noch-Überlebenden und Nachkommen der Ermordeten Genugtuung geleistet, auch Saul, der seinen ermordeten Eltern nachtrauert.
Um diese Familiengeschichten an die Öffentlichkeit zu bringen, braucht es mehr als generalisierende Proklamationen wie von Merkel und Maas, die ins Leere gehen. Wer als Politiker, Schriftsteller, Historiker, Kulturschaffender und sonstige Prominenz den Mund über den Holocaust aufmacht, sollte vorher sich um Aufklärung bemühen, dass in ihren Familien keine Kriegsverbrechen ruhen. Solche Vorschläge mögen naiv klingen, sie sind aber die einzige Erinnerung, die in späteren Generationen wirken könnten. Auf diese Weise kann eine dauerhafte Erinnerungs-Kultur entstehen, die Ernst genommen wird. Es müssen viele familiäre Erinnerungen in die Öffentlichkeit treten, die das Dunkle der deutschen Geschichte ausleuchtet und die Augen der Rechtsradikalen blendet.
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