Gelbwesten erst der Anfang
Erstellt von Redaktion am 7. Dezember 2018
Die Gelbwesten sind dabei,
Frankreichs politisches System auf den Kopf zu stellen.
Aus Amien und Paris Klara Fröhlich und Rudolf Balmer
Ein Besuch in Amiens zeigt, was viele Franzosen auf die Barrikaden treibt.
Am Dienstagabend steigt Aurélien Dechamps aus seinem kleinen silbernen Renault und begrüßt ein kleines Grüppchen im Dämmerlicht. Sie alle tragen gelbe Warnwesten. Hier, an einem der vielen Kreisverkehre des Schnellstraßenrings um die Stadt Amiens, der ehemaligen Industriehochburg im Norden Frankreichs, hat für ihn alles angefangen. Hier zog Dechamps – Ende 20, schmales Gesicht, Bartschatten und leichte Augenringe – Mitte November zum ersten Mal seine gelbe Warnweste an und blockierte für mehrere Stunden die Ausfahrten für Laster, Pkws und Motorräder. „Am Anfang waren wir um die zweitausend, vielleicht sogar dreitausend“, erzählt er. „Aus den umliegenden Orten sind viele gekommen. Die Biker sind auch mitgefahren. Das war groß.“
Auch heute sind sie wieder gekommen, um zu protestieren. Gegen die hohen Benzinpreise, gegen die Gleichgültigkeit der fernen Regierung in Paris, aber auch gegen die eigenen Abstiegsängste. In den vergangenen Wochen seien immer weniger gekommen, erzählt Dechamps. Er selbst aber will nicht so schnell aufgeben. Von seinem Gehalt als Angestellter einer Baufirma, die Fassaden renoviert, bleibt ihm kaum genügend zum Leben übrig. „Es geht uns darum, zu zeigen, dass wir in unserer Kaufkraft blockiert sind“, sagt er mit dem für die Region typischen regionalen Einschlag, der das „a“ wie ein „o“ klingen lässt.
Seinen Frust teilt Thomas Durand, 18 Jahre, rotweißer Sportpulli, braune Haare. Auch er ist an diesem Abend mit seiner Warnweste zum Kreisverkehr außerhalb von Amiens gekommen. Durand, der wie Dechamps nicht seinen Nachnamen nennen möchte und deshalb in diesem Text anders heißt, ärgert vor allem die Steuerpolitik des Präsidenten Emmanuel Macron. „Ich arbeite 40 Stunden die Woche und verdiene 700 Euro im Monat. Allein 300 Euro von meinem Geld geht für Benzin drauf“, sagt Durand, der eine Ausbildung zum Maschinenbauer macht. 200 Euro gingen noch für Versicherungen drauf. Eine einfache kleine Studentenwohnung in Amiens kostet rund 450 Euro. In den umliegenden Orten sei es billiger. Aber dafür brauche man eben ein Auto. Und genau darin liegt das Problem vieler Gelbwesten in den ländlichen Gegenden. Man sei aufs Auto angewiesen, habe keine öffentlichen Verkehrsmittel wie in Paris. Als Macron vergangenes Jahr ankündigte, die Steuern auf Diesel und Benzin erst 2018 und dann erneut Anfang 2019 zu erhöhen, brach sich der Unmut Bahn. Im ganzen Land blockierten Menschen in ihren Warnwesten Tankstellen, Autobahnauffahrten, Einkaufszentren. Die Gilets jeunes waren geboren – die Gelbwesten.
So wie Dechamps und Durand geht es vielen, die in Amiens leben. Zwar strahlt die Weltkulturerbestadt mit seinen mittelalterlichen Fassaden und verwinkelten Altstadtgassen im Zentrum noch immer den Reichtum und die Gemütlichkeit früherer Tage aus, doch in den Vororten zeigt sich ein anderes Bild. Firmen und Fabriken schließen, ziehen ins billigere osteuropäische Ausland, hinterlassen Arbeitslosigkeit, Frust – und eine hohe Wählerquote für Marine Le Pen und ihre Partei, den Rassemblement National, wie der Front National mittlerweile heißt. Amiens steht heute für ein neues, immer ärmer werdendes postindustrielles Frankreich. Dieses Bild kann auch die flimmernde Weihnachtsdekoration im Gewerbegebiet nicht überstrahlen.
Ein Indiz für die Verarmung der französischen Mittelschicht ist die Statistik der „Restos du Cœur“, die Nahrung an Bedürftige verteilen. Deren Zahl wächst von Jahr zu Jahr, und was besonders bedenklich ist: Der Anteil der unter 25-Jährigen unter den Empfängern von Hilfe ist in zwei Jahren von 10 auf 15 Prozent gestiegen. 1986 bei der Gründung des Hilfswerks beanspruchten 70.000 Franzosen diese Unterstützung, heute sind es mehr als 900.000. Ein anderer Beleg: In den vergangenen acht Jahren ist die verfügbare Kaufkraft um 1,8 Prozent gesunken.
Die zunehmende Armut ist einer der Erklärungen für den großen Zulauf der Gelbwesten. Bei der ersten großen Mobilisierung im November zählte das Innenministerium in Paris 284.000 Teilnehmer im ganzen Land. Manche Beobachter schätzen die aktiven Gelbwesten sogar auf doppelt so viele. Spätestens seit dem vergangenen Wochenende, an dem Hunderte gewaltbereite Gelbwesten für Chaos mitten in der französischen Hauptstadt sorgten, fragt sich das Land: Wer sind diese Menschen? Junge Franzosen wie Aurélien Dechamps und Thomas Durand, die nie in einer Partei und nie in einer Gewerkschaft waren? Die über Facebook auf die Proteste aufmerksam geworden sind und sich in ihrer Unzufriedenheit angesprochen fühlen? Die, wie viele derer, die an diesem Dienstagabend in Amiens erneut auf die Straßen gegangen sind, Gewalt als legitimes Mittel ansehen, um „denen“ in Paris eins auszuwischen.
Die Bilder brennender Autos und regelrechter Straßenschlachten mitten in der französischen Hauptstadt am vergangenen Samstag haben das Land schockiert. Rund 200 Geschäfte, vor allem an der schicken Avenue Kleber, wo sich Luxusboutique an Luxusboutique reiht, wurden geplündert oder verwüstet. Selbst ein nationales Symbol, der Triumphbogen, blieb nicht unversehrt. Die Gewalt hat die französische Regierung offenbar aber auch beeindruckt. Am Dienstag kündigte sie an, die zum Jahreswechsel geplanten Steuererhöhungen um sechs Monate zu verschieben und die staatlich regulierten Strom- und Gaspreise über den Winter stabil zu halten. Am Mittwochabend hieß es aus dem Élysée-Palast sogar, die Steuern seien für das gesamte Jahr 2019 vom Tisch.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Manifestation des gilets jaunes sur l’A51 (1)
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Author | Jean-Paul Corlin |
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Unten — Amiens
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