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„Ich bin eine Griechin.“

Erstellt von Redaktion am Sonntag 9. August 2015

„Ich bin eine Griechin.“

 

Autor Uri Avnery

JEDER HAT schon seine (ihre) Meinung zur griechischen Krise geäußert, egal ob er  (oder sie) eine Meinung dazu hat. Ich fühle mich gezwungen, dasselbe zu tun.

Die Krise ist ungeheuer kompliziert. Doch mir scheint sie, ganz einfach zu sein.

Die Griechen haben mehr Geld ausgegeben, als sie verdienen. Die Gläubiger wollen  mit unglaublicher Unverschämtheit ihr Geld zurück haben. Die  Griechen haben kein Geld,  und sowieso erlaubt es ihr Stolz nicht, die Schulden zurückzuzahlen.

Also was tun? Jeder Kommentator, vom Wirtschaftsfachmann, der den Nobelpreis gewann, bis zu meinem Taxifahrer in Tel Aviv hat eine Lösung. Leider hört keiner auf sie.

Angela Merkel und Alexis Tsypras  kämpfen den 2. Weltkrieg weiter. Aber die Beziehungen zwischen den beiden Nationen spielten in meiner Familie schon lange vorher eine Rolle.

ALS JUNGE war mein Vater ein Schüler in einem deutschen „Humanistischen Gymnasium“. In diesen Schulen lernten die Schüler Latein und Altgriechisch, statt Englisch und Französisch.  So hörte ich lateinische und griechische Sprichwörter, bevor ich selbst zur Schule ging und lernte auch ein halbes Jahr Latein, bevor wir zum Glück Deutschland verließen und nach Palästina auswanderten.

Gebildete Deutsche bewunderten die Römer. Die Römer waren aufrecht gesinnte Menschen, die Gesetze machten und ihnen folgten, fast wie die Deutschen selbst.

Die Deutschen liebten die alten Griechen und verachteten sie. Ihr bedeutendster Dichter, Wolfgang von Goethe, sagte: „Das griechische Volk taugte nie recht viel“. .

Die Griechen erfanden die Freiheit, wovon die alten Hebräer nicht einmal träumten. Die Griechen erfanden die Demokratie. In Athen nahm jeder (außer den Sklaven, den Frauen, den Barbaren und anderes niedriges Volk)  an öffentlichen  Diskussionen und Entscheidungen teil. Dies ließ ihnen zum Arbeiten nicht viel Zeit.

In dieser Weise sah mein Vater sie an, und dies ist die Art und Weise, wie dezente Deutsche sie jetzt ansehen. Es sind nette Leute, die man während der Ferien gern um sich hat, aber keine ernsthaften Leute, mit denen man Geschäfte macht. Zu faul. Zu sehr das Leben liebend.

Ich habe den Verdacht, dass diese tief verwurzelte Haltung die Meinung der deutschen Regierung und Wähler beeinflusst. Sicherlich beeinflussen sie jetzt die Haltung der griechischen Führer und Wähler. Zum Teufel mit den Deutschen und ihrer Manie von Gesetz und Ordnung.

ICH BIN mehrfach in Griechenland gewesen und liebte immer die Leute dort.

Meine Frau Rachel liebte die Insel Hydra und nahm mich mit dorthin. Um ein Schiff zu finden, das von Piräus nach dort fährt, war eine Zerreißprobe. Das war natürlich, bevor es das Internet gab. Jede Schiffsagentur hat einen Zeitplan für ihre Schiffe, aber es gab keinen allgemeinen Fahrplan. Das würde zu ordentlich gewesen sein, zu deutsch. (Wenn Piräus Haifa gewesen wäre, dann hätte es an jedem Schaufenster einen vollständigen Fahrplan gegeben.)

Ich war zu mehreren internationalen Konferenzen nach Athen eingeladen. Den Vorsitz hatte bei einer Konferenz die wunderbare Melina Mercouri, eine so intelligente und so schöne Frau, die zu jener Zeit als Kabinettministerin diente. Die Konferenz befasste sich mit mediterraner Kultur und war vermischt mit einer Menge gutem Essen und Volkstänzen. Einmal half ich den Gastgebern von Mikis Theodorakis in Tel Aviv.

Ich habe also keine Vorurteile gegenüber Griechen. Im Gegenteil. Vor den letzten griechischen Wahlen empfing ich eine E-Mail-Botschaft von einer Person, die ich nicht kannte; sie bat mich darum, ein internationales Statement  für die Syriza-Partei zu unterstützen. Nachdem ich den Text gelesen hatte, unterschrieb ich. Ich sympathisiere jetzt mit ihrem heldenhaften Kampf.

Es erinnert mich an die „Matrosen-Revolte“ in Israel in den frühen 1950er-Jahren. Es war ein Aufstand gegen die Bürokratie der Regierung. Ich unterstützte diesen mit ganzem Herzen und war sogar ein paar Stunden verhaftet. Als dies alles  mit einer glorreichen Niederlage endete, traf ich einen berühmten linken General und erwartete, gelobt zu werden. Er sagte:  „Nur Toren beginnen einen Kampf, den sie nicht gewinnen können.“

Es läuft auf Folgendes hinaus: Die Griechen schulden eine Menge Geld, eine riesige Summe  Geld. Es ist jetzt unwesentlich, wie diese großen Schulden zusammenkamen und wer daran schuld ist. Europa (schon der Name ist griechisch) hat keine Chancen, die Milliarden zurückzubekommen. Aber die Griechen werden verdammt werden, wenn sie noch mehr Geld in dieses bodenlose Fass werfen. Wie kann Griechenland  ohne mehr Geld überleben?

Ich weiß es nicht. Ich habe stark den Verdacht, dass dies auch sonst niemand weiß, einschließlich der Nobelpreisträger.

FÜR MICH  ist der bedeutendste Teil der Katastrophe die Zukunft der zwei großen Experimente: die Europäische Union und die Euro-Währung.

Als die europäische Idee nach dem brudermörderischen 2. Weltkrieg  auf dem Kontinent an Boden gewann, gab es eine große Debatte über seinen zukünftigen Umfang. Einige schlugen so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa vor,  eine föderale Union wie die der USA. Charles de Gaulle, damals eine sehr einflussreiche Stimme, lehnte dies streng ab und schlug das „Europa der Nationen“ vor, eine viel  lockerere Konföderation.

Genau dieselbe Debatte fand in Amerika vor der Entscheidung statt, die Vereinigten Staaten zu gründen, und noch einmal während der Zeit des Bürgerkrieges. Am Ende gewannen die Föderalisten und die Flaggen der Konföderalisten werden sogar noch heute verbrannt.

In Europa siegte de Gaulles Idee. Es gab keinen starken Willen, einen vereinigten europäischen Staat zu gründen. Nationale Regierungen waren nach einigen Jahren bereit, eine Union unabhängiger Staaten zu schaffen, die widerwillig einen Teil ihrer souveränen Macht der Super-Regierung in Brüssel übergaben.

(Warum Brüssel?  Weil Belgien ein kleines Land ist. Weder war Deutschland bereit, die Hauptstadt der Unionnach Paris zu legen, noch war Frankreich bereit, sie in Berlin zu quartieren. Es erinnert mich an den biblischen König David, der seine Hauptstadt nach Jerusalem verlegte, das keinem Stamm gehörte,  und so vermied er die Eifersucht zwischen den starken Stämmen Juda und Ephraim.)

Die Brüsseler Bürokratie scheint von allen tüchtig gehasst zu werden, aber ihre Macht  wächst unaufhaltsam. Moderne Realität bevorzugt immer größer werdende Einheiten. Kleine Staaten haben keine Zukunft.

Das bringt uns zum Euro zurück. Die europäische Idee führt zur Bildung eines großen Blockes, in dem eine gemeinsame Währung sich frei bewegen kann. Einem Laien, wie mir, scheint es eine wunderbare Idee zu sein. Ich erinnere mich nicht an einen einzigen bedeutenden Ökonom, der davor gewarnt hätte.

Heute ist es einfach zu sagen, dass der Euro-Block von Anfang an mangelhaft war. Sogar ich verstehe, dass man keine gemeinsame Währung haben kann, wenn jeder Mitgliedstaat sein eigenes nationales Budget nach seiner eigenen Laune und seinen eigenen politischen Interessen entwickelt.

Das ist der fundamentale Unterschied zwischen einer Föderation und einer Konföderation. Wie würden die USA operieren, wenn jedes ihrer 50 Mitglieder ihre eigene Wirtschaft hätte –  unabhängig von den 49 anderen?

Wie der Ökonom uns lehrt, kann so etwas wie die Euro-Krise in den US nicht geschehen. Wenn der Staat Alabama in einer schlechten finanziellen Lage ist, schalten sich die andern Staaten automatisch ein. Die Zentralbank (oder Föderale Reserve) wirft das Geld zusammen. Kein Problem.

Die griechische Krise ergab sich aus der Tatsache, dass sich der Euro nicht auf solch eine Föderation gründet. Der griechische wirtschaftliche Zusammenbruch wäre von der europäischen Zentralbank lange bevor es den augenblicklichen Punkt erreicht hatte, gestoppt worden. Geld wäre von Brüssel nach Athen geflossen, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Tsipras könnte Merkel in ihrer Kanzlei umarmt haben und glücklich verkünden „Ich bin ein Berliner“.(Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Merkel nach Athen geht und ausruft: „Ich bin eine Griechin“).

Die erste Lektion der Krise ist, dass die Schaffung einer Währungsunion die Bereitschaft aller Mitglieder-Staaten voraussetzt, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit aufzugeben. Ein Land, das nicht bereit ist, dies zu tun, kann sich solch einer Union nicht anschließen. Jedes Land kann seine eigene heiß geliebte Fußballmannschaft haben und sogar seine  eigene heilige Flagge, aber sein nationales Budget muss der gemeinsamen wirtschaftlichen Super-Regierung unterworfen sein.

Heute ist das ganz klar. Leider war es den Gründern des Euro-Blocks nicht klar.

Insofern hat eine riesige Nation wie China einen sehr großen Vorteil. Es ist nicht einmal eine Föderation, aber praktisch ein einheitlicher Staat mit einer einheitlichen Währung.

Kleinen Staaten wie Israel fehlt die wirtschaftliche Sicherheit, zu einer großen Union zu gehören, sie erfreuen sich aber des Vorteils , in der Lage zu sein, frei zu manövrieren und unsere Währung, den Schekel, entsprechend unsern Interessen festzulegen. Wenn die Exportkosten zu hoch sind, wertet man ihn ab. So lang wie die Kredit-Bewertung hoch genug ist, kann man tun, was man will.

Zum Glück lud uns keiner ein, uns dem Euro-Block anzuschließen. Die Versuchung  wäre zu groß gewesen.

DA DIES so ist, können wir die griechische Krise mit einiger Gleichgültigkeit verfolgen.

Aber für die unter uns, die glauben, dass Israel nach einem Friedensabkommen mit den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt, ein Teil einer Art regionaler Konföderation werden müsste, ist dies eine aufschlussreiche Lektion.

Ich schrieb darüber, noch bevor der Staat Israel geboren wurde, und  schlug eine „semitische Union“ vor. Es wird wahrscheinlich nicht geschehen, während ich noch hier bin, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es vor Ende des Jahrhunderts dazu kommen wird.

Es kann nicht geschehen, solange die wirtschaftliche Kluft zwischen Israel und den arabischen Ländern so immens ist wie jetzt – mit einem pro Kopf-Einkommen, das in Israel 25mal höher ist als in Palästina und in vielen arabischen Ländern. Aber wenn die arabische Welt einmal seine gegenwärtigen Unruhen überwunden hat, kann sie auf einen schnellen Fortschritt hoffen, so wie es in der Türkei und in den moslemischen Ländern in Ostasien geschehen ist.

Irgendwann in nicht zu ferner Zukunft, mit historischem Maßstab gemessen, wird die Welt aus großen wirtschaftlichen Einheiten bestehen, die danach streben, eine funktionierende wirtschaftliche Weltordnung mit einer gemeinsamen Währung zu schaffen.

Es scheint töricht zu sein, in der gegenwärtigen Situation darüber nachzudenken, aber es ist nie zu früh nachzudenken.

Aber man denke an das, was der Grieche Sokrates sagte: „Die einzige wahre Weisheit ist die, zu wissen, dass man nichts weiß.“

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

Ein Kommentar zu “„Ich bin eine Griechin.“”

  1. Opa Fielmann sagt:

    „Das Geheimnis des Wandels: Konzentriere nicht all Deine Kraft auf das Bekämpfen des Alten, sondern darauf, das neue zu formen“.

    Sokrates

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